Die Katze - Joy Fielding - E-Book
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Die Katze E-Book

Joy Fielding

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Beschreibung

Wer die Wahrheit sucht, begibt sich in tödliche Gefahr

Charley Webb ist Journalistin und allein erziehende Mutter von zwei Kindern. Eines Tages erhält sie eine schockierende E-Mail: Jill Rohmer, die des kaltblütigen Mordes an drei Kindern überführt wurde und im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartet, bietet Charley ihre Geschichte exklusiv für ein Buchprojekt an. Zunächst zögert Charley, doch schließlich willigt sie ein. Während sie aber noch damit beschäftigt ist, erste Recherchen über Jill einzuholen, bekommt sie plötzlich entsetzliche Drohbriefe, in denen der Tod ihrer Kinder angekündigt wird. Charley ist außer sich vor Angst, denn sie ahnt, dass sie Geister rief, die ihr selbst zum mörderischen Verhängnis werden können …

Eine Psychopathin in der Todeszelle. Eine Frau auf der Suche nach der Wahrheit. Und ein perfides Spiel, bei dem nur einer gewinnen kann.

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Seitenzahl: 640

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Joy Fielding

Die Katze

Roman

Deutsch

von Kristian Lutze

Buch

 

Charley Webb lebt in Florida und ist allein erziehende Mutter von zwei kleinen Kindern. Mit Leidenschaft übt sie ihren Beruf als Journalistin aus, und dank ihrer viel beachteten Artikel ist sie keine Unbekannte in Palm Beach. Eines Tages erhält sie eine schockierende E-Mail – denn die Absenderin ist niemand anderes als Jill Rohmer, eine berüchtigte Psychopathin, die des kaltblütigen Mordes an drei Kindern überführt wurde und im Gefängnis in der Todeszelle sitzt. Jill präsentiert sich als leidenschaftliche Leserin von Charleys Artikeln und macht ihr im selben Atemzug einen Vorschlag, der Charley das Blut in den Adern gefrieren lässt: Sie bietet ihr ihre Geschichte exklusiv für ein Buchprojekt an. Zunächst ist Charley entsetzt, doch dann erwacht der Ehrgeiz in ihr, und sie fasst den Entschluss, sich der Herausforderung zu stellen. Während sie aber noch damit beschäftigt ist, die Puzzlesteine aus Jills Vorleben zusammenzusetzen, bekommt sie plötzlich entsetzliche Drohbriefe, in denen der Tod ihrer Kinder angekündigt wird. Charley ist außer sich vor Angst – und kann noch nicht ahnen, dass sie in eine Situation geraten ist, über die sie längst die Kontrolle verloren hat …

 

 

Autorin

 

Joy Fielding gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller »Lauf, Jane, lauf« waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Charley’s Web« bei Atria Books, New York

Copyright © der Originalausgabe 2008 by Joy Fielding, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Covermotiv: FinePic ®, München

CN · Herstellung: Str.

ISBN 978-3-641-21529-3V006

www.goldmann-verlag.de

Für Annie, ich bewundere dich

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungKAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16KAPITEL 17KAPITEL 18KAPITEL 19KAPITEL 20KAPITEL 21KAPITEL 22KAPITEL 23KAPITEL 24KAPITEL 25KAPITEL 26KAPITEL 27KAPITEL 28KAPITEL 29KAPITEL 30KAPITEL 31KAPITEL 32KAPITEL 33KAPITEL 34KAPITEL 35KAPITEL 36KAPITEL 37

KAPITEL 1

Von: Wütende Leserin An: Charley@Charley’sWeb.com Betreff: DIE SCHLECHTESTE KOLUMNISTIN ALLER ZEITEN!!! Datum: Montag, 22. Januar 2007, 07:59:47 EST

 

Hey, Charley,

ich wollte Ihnen nur eins kurz sagen: Sie sind nicht nur DIE SCHLECHTESTE KOLUMNISTIN ALLER ZEITEN!!!, sondern wahrscheinlich auch die EGOZENTRISCHSTE FRAU AUF DIESEM PLANETEN!!! Man sehe sich nur Ihr Foto an – die langen, blonden, leicht gelockten Haare, der wissende, gesenkte Blick, das subtile Grinsen Ihrer garantiert mit Restylane aufgespritzten Lippen. Daran erkennt man gleich, wie sehr Sie von sich eingenommen sind. Und Ihre geistlosen Kolumnen über den Kauf perfekter High Heels, den idealen Rouge-Ton und die Schindereien Ihres neuen Personal Trainers haben mein Urteil nur bestätigt. Aber wie um alles in der Welt sind Sie auf den Gedanken verfallen, dass irgendjemand auch nur mäßiges Interesse an Ihrem jüngsten Ausflug in die Welt der totalen Oberflächlichkeit aufbringen könnte – an einem Intimwaxing?!!! Vor Ihrer plastischen und unnötig grausigen Schilderung der Enthaarung Ihrer unteren Gefilde in der Sonntagsausgabe Ihrer Zeitung – (WEBB SITE, Sonntag, 21. Januar) – hatte ich offen gestanden keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gibt, geschweige denn, dass eine erwachsene Frau sich freiwillig einer derart barbarischen Prozedur unterziehen würde. Immerhin sind Sie, wie ich aus Ihrer letzten Kolumne weiß, dreißig Jahre alt und kein Teenager mehr. Ich frage mich, wie Ihr armer Vater reagiert hat, als er von seiner Tochter, einer Harvardabsolventin, derart infantiles und erniedrigendes Zeug lesen musste. Ich frage mich, wie Ihre Mutter ihren Freundinnen erhobenen Hauptes gegenübertreten kann, während Sie in aller Öffentlichkeit permanent private – um nicht zu sagen intime – Fragen erörtern. (Zum Glück haben Ihre Eltern zwei weitere Töchter, an denen sie sich aufrichten können!!! Meinen Glückwunsch an Anne übrigens zu dem Erfolg ihres neuesten Romans Denk an die Liebe – Platz 9 auf der Bestsellerliste der New York Times, mit weiter aufsteigender Tendenz!!! Und an Emily, die als Vertretung von Diane Sawyer bei Good Morning, America wirklich großartig war!!!) Das sind zwei Töchter, auf die Eltern stolz sein können.

Apropos Töchter. Was muss Ihre achtjährige Tochter wohl denken, wenn sie Sie nackt durchs Haus stolzieren sieht?? Ich nehme mal an, dass jemand wie Sie, der sich mit solch offensichtlicher Lust in gedruckten Worten entblößt, auch davor keine Hemmungen hat!!!! Nicht zu erwähnen den Spott, den Ihr fünfjähriger Sohn sich in der Vorschule von den anderen Kindern anhören muss, deren Eltern wahrscheinlich ähnlich entsetzt über Ihre sonntägliche Kolumne sind wie ich! Der Artikel vom letzten Sonntag über Sexspielzeuge war schon schlimm genug!!

Können Sie nicht über Ihre – garantiert dank eines kostspieligen Schönheitschirurgen – kesse kleine Nasenspitze hinausschauen und die Auswirkungen Ihres taktlosen Tratsches auf diese unschuldigen Kinder bedenken? (Aber was kann man schon von einer Frau erwarten, die stolz darauf ist, keinen der Väter ihrer beiden Kinder geheiratet zu haben?!!!)

Ich habe die Nase gestrichen voll von Ihrem geistlosen Alles-Charley-Geplapper. (Vielen Dank, dass Sie nicht Ihren Taufnamen Charlotte benutzen. Damit haben Sie uns zumindest die Entweihung des gleichnamigen wundervollen Kinderbuchs erspart!) Nachdem ich drei Jahre lang Ihre beschränkten Betrachtungen gelesen und entsetzt den Kopf geschüttelt habe!!!, ist mein Langmut nun endgültig zu Ende. Ich würde mich lieber an meinem bis dato unversehrten Schamhaar aufhängen, als noch ein weiteres Wort Ihrer kindischen Prosa zu lesen, und ich kann auch nicht länger eine Zeitung unterstützen, die dieselbe veröffentlicht. Deshalb kündige ich mit sofortiger Wirkung mein Abonnement der Palm Beach Post.

Ich bin sicher, dass ich für viele verärgerte und angewiderte Leser spreche, wenn ich sage: WARUM HALTEN SIE NICHT EINFACH DIE KLAPPE UND VERSCHWINDEN?!!!!

Charley Webb starrte den wütenden Brief auf ihrem Bildschirm an und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Irgendetwas darin jagte ihr Angst ein, nicht nur weil die Mail so gehässig war; im Laufe der Jahre hatte sie viel schlimmere erhalten, davon einige an diesem Morgen. Es lag auch nicht an dem hysterischen Ton des heutigen Schreibens, denn auch an die Empörung der Leserschaft war sie gewöhnt. Die vielen, drastisch eingesetzten Satzzeichen konnten es auch nicht sein. Schreiber wütender E-Mails neigten dazu, jeden ihrer Sätze für so bedeutend zu halten, dass sie den inflationären Einsatz von Großbuchstaben und Ausrufezeichen rechtfertigen. Es lag auch nicht am persönlichen Ton der Anwürfe. Eine Frau, die ihrem jüngsten Intimwaxing tausend Wörter gewidmet hatte, musste mit persönlichen Attacken rechnen. Manche – darunter auch etliche Kollegen – waren vermutlich der Ansicht, dass sie es geradezu darauf anlegte, die Leute zu provozieren. Und dass sie es letztlich nicht anders verdient hätte.

Und vielleicht hatten sie sogar recht.

Charley zuckte die Achseln. Sie war an Kontroversen und Kritik ebenso gewöhnt wie daran, als inkompetent und oberflächlich abgestempelt zu werden. Dass ihre Motive und ihre Seriosität angezweifelt wurden, dass man giftige Kommentare über ihr Aussehen machte, war ebenfalls nichts Neues. Gleichzeitig wurde ihr genauso regelmäßig vorgeworfen, ihre Kolumne überhaupt nur wegen ihres guten Aussehens bekommen zu haben. Oder weil eine ihrer berühmteren Schwestern ihre Beziehungen hatte spielen lassen. Oder weil ihr Vater, ein hochgeachteter Professor für englische Literatur in Yale, seinen Einfluss geltend gemacht hatte.

Sie war es gewohnt, als schlechte Tochter, noch schlechtere Mutter und furchtbares Vorbild hingestellt zu werden. Doch derlei Schmähungen perlten für gewöhnlich an ihr ab. Was an dieser speziellen E-Mail ließ sie also zwischen Lachen und Weinen schwanken? Warum fühlte sie sich plötzlich so verdammt verletzlich?

Vielleicht hatte sie immer noch an der Kolumne vom vergangenen Sonntag zu knapsen. Ihre Nachbarin Lynn Moore, die ein paar Häuser weiter in der vormals heruntergekommenen und jetzt schon fast wieder schicken kleinen Straße in der Innenstadt von West Palm Beach wohnte, hatte sie kurz vor Weihnachten zu einer sogenannten Passion Party eingeladen. Dahinter verbarg sich eine Variante der guten alten Tupperparty mit dem Unterschied, dass statt strapazierfähiger Plastikbehälter Dildos und Vibratoren vorgestellt wurden. Charley hatte sich beim Hantieren mit den diversen objets und bei der blumigen Präsentation, mit der die Passion-Vertreterin ihre Waren angepriesen hatte, köstlich amüsiert – »Und diese unscheinbare kleine Perlenkette, meine Damen, wirkt, wie ich Ihnen versichern kann, wahre Wunder! Ich sage nur multipler Orgasmus! Das ist mal ein Weihnachtsgeschenk, an dem man das ganze Jahr Freude hat!« – und den Abend einen Monat später in ihrer Kolumne genüsslich ausgeweidet.

»Wie konntest du das tun?«, hatte Lynn am Tag des Erscheinens persönlich zu wissen verlangt. Sie stand auf der Stufe vor Charleys winzigem Bungalow, Charleys Kolumne in ihrer geballten Faust zusammengeknüllt, die Finger um Charleys Hals auf dem Foto. »Ich dachte, wir wären Freundinnen.«

»Wir sind Freundinnen«, hatte Charley protestiert, obwohl sie in Wahrheit wohl eher gute Bekannte als echte Freundinnen waren. Echte Freundinnen hatte Charley nicht.

»Und wie konntest du dann so etwas tun?«

»Das verstehe ich nicht. Was habe ich denn gemacht?«

»Das verstehst du nicht?«, hatte Lynn ungläubig wiederholt. »Du weißt nicht, was du getan hast? Du hast mich gedemütigt, das hast du getan. Du hast mich als eine Sex-verrückte Idiotin hingestellt. Mein Mann ist außer sich, meine Schwiegermutter in Tränen aufgelöst. Meine Tochter weiß vor Verlegenheit nicht wohin mit sich. Das Telefon steht den ganzen Morgen nicht still.«

»Aber ich habe doch nicht geschrieben, dass du es bist.«

»Das war auch gar nicht nötig. Meine Gastgeberin«, zitierte Lynn aus dem Gedächtnis, »eine Brünette Mitte vierzig in engen Capri-Hosen und High Heels, trägt lackierte Fingernägel – vier Zentimeter lang und mit kleinen Straßsteinchen beklebt – und wohnt in einem charmanten, mit weißem Holz verkleideten Haus. Die frisch geschnittenen Blumen stammen aus ihrem prachtvollen Garten. Auf dem sauber gemähten Rasen vor dem Haus steht ein Mast, an dem eine große amerikanische Fahne weht. Himmel, wer mag das wohl sein?«

»Das könnte jeder sein. Ich finde, du reagierst überempfindlich.«

»Ach wirklich? Ich reagiere überempfindlich? Ich lade dich zu einer Party ein, stelle dich meinen Freundinnen vor, schenke dir nicht nur ein, sondern mehrere Gläser Champagner aus …«

»Mein Gott, Lynn, was hast du erwartet?«, unterbrach Charley sie, ärgerlich, dass sie sich verteidigen musste. »Ich bin Journalistin. Das weißt du. Diese Geschichte war genau mein Ding. Natürlich schreibe ich darüber. Das wusstest du, als du mich eingeladen hast.«

»Ich habe dich nicht als Reporterin eingeladen.«

»Das ist mein Beruf«, erinnerte Charley sie. »Das bin ich.«

»Mein Fehler«, erwiderte Lynn schlicht. »Ich dachte, du wärst mehr als das.«

In dem nachfolgenden verlegenen Schweigen versuchte Charley, die Kränkung wegzustecken. »Tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.«

Lynn tat Charleys Entschuldigung mit einem Wink ihrer vier Zentimeter langen Fingernägel ab. »Aber es tut dir nicht leid, die Kolumne geschrieben zu haben. Stimmt’s?«

»Lynn …«

»Ach, halt einfach die Klappe.«

WARUM HALTEN SIE NICHT EINFACH DIE KLAPPE UND VERSCHWINDEN?!!!!

Charley starrte auf ihren Computerbildschirm. War es möglich, dass Lynn Moore die wütende Leserin war? Mit besorgtem Blick überflog sie deren Worte auf der Suche nach einem Widerhall von Lynns feinem Südstaaten-Akzent, aber vergeblich. Die wütende Leserin könnte jede sein. In den dreißig Jahren auf diesem Planeten und den dreien an ihrem Schreibtisch in der Redaktion hatte Charley Webb einen Haufen Leute verärgert. Es gab jede Menge Zeitgenossen, die sich wünschten, sie würde einfach die Klappe halten und verschwinden. »Ich dachte, du wärst mehr als das«, wiederholte sie leise. Wie viele andere hatten schon den gleichen Fehler begangen?

Von: Charley Webb An: Wütende Leserin Betreff: Eine durchdachte Antwort Datum: Montag, 22. Januar 2007, 10:17:24 EST

 

Verehrte wütende Leserin,

WOW!!!! Das war aber mal ein Brief!!! (Wie Sie sehen, hat meine Tastatur auch ein Ausrufezeichen!!!!!) Danke, dass Sie mir geschrieben haben. Es ist immer interessant zu erfahren, was die Leser von meinen Kolumnen halten, selbst wenn ihr Urteil nicht jedes Mal positiv ausfällt. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, waren Sie in der Tat nicht allzu begeistert von meinen jüngsten Artikeln. Das tut mir wirklich leid, aber wie heißt es noch so schön: Allen Herren recht getan ist eine Kunst, die niemand kann. Nicht wahr? Ich habe jedenfalls schon vor langer Zeit gelernt, dass der Versuch zwecklos ist. Lesen ist etwas Subjektives, und was dem einen wie das Paradies erscheint, ist für den anderen die Hölle. Ihrer Ansicht nach bin ich offensichtlich der wiedergeborene Satan!!!!

Natürlich dürfen Sie über mich denken, was Sie wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Einige Ihrer ungeheuerlichen und irrigen Unterstellungen kann ich allerdings nicht so stehen lassen. Erstens habe ich meine Lippen weder kürzlich noch sonst irgendwann mit Restylan aufspritzen lassen. Meine Lippen sind die Lippen, mit denen ich geboren wurde, und ich bin eigentlich ganz zufrieden damit. Jedenfalls habe ich sie nie für besonders bemerkenswert gehalten, sonst hätte ich wahrscheinlich schon längst eine Kolumne darüber geschrieben. Außerdem habe ich mir als Kind die Nase gebrochen, als ich auf der Flucht vor meinem jüngeren Bruder gegen eine Mauer gerannt bin (mein Bruder jagte mich damals mit einer Vipernatter, die er in unserem Garten gefunden hatte). Davon habe ich eine lebenslange Furcht vor Reptilien und eine leicht – manche mögen auch sagen charmant – nach links stehende Nase zurückbehalten. Ich hatte nie das Bedürfnis, sie richten zu lassen, obwohl ich das vielleicht überdenken sollte, nachdem Sie sie »kess« genannt haben.

Ich bin überrascht, dass Sie noch nie von Intimwaxing gehört hatten, bevor ich es in meiner Kolumne erwähnt habe, denn ich kann Ihnen versichern, dass es das schon sehr lange gibt. Aber nachdem Sie begriffen hatten, worum es ging – warum haben Sie dann um Himmels willen weitergelesen?!!! (Endlich kann ich auch mal die Kombination?!!! benutzen. Macht richtig Spaß!!!!)

Und was mein Vater darüber denkt, dass sich seine Tochter derart kindisch auslässt (nette Formulierung!), so vermute ich, er hat es – eingemauert in seinen Elfenbeinturm in Yale – nicht mitbekommen, oder wenn doch, ist es ihm egal, da wir seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben. (Regelmäßige Leser von WEBB SITE sollten das wissen!!!) Was meine Mutter betrifft, muss sie sich keine Sorgen darüber machen, wie sie ihren Freundinnen erhobenen Hauptes gegenübertreten kann, weil sie wie ich keine hat. (Mögliches Futter für eine kommende Muttertags-Kolumne, die Sie leider verpassen werden.) Meine Kinder haben hingegen jede Menge Freunde und leben in glücklicher Ahnungslosigkeit über das geistlose Geplapper ihrer Mutter. Da ich – welch Wunder! – nicht die Gewohnheit habe, nackt durchs Haus zu stolzieren, waren sie auch noch nicht zu ästhetischen Urteilen über die Enthaarung meiner unteren Gefilde genötigt. Wow – das sind auch geschrieben noch große Worte!!! Was die Tatsache betrifft, dass ich keinen der Väter meiner Kinder geheiratet – oder, wie ich hinzufügen möchte, auch nur mit ihnen zusammengelebt – habe, so lässt sich dazu nur sagen, dass mir auf diese Weise immerhin die Unannehmlichkeiten einer Scheidung erspart geblieben sind; im Gegensatz zu meinen Schwestern, die es zusammen auf viereinhalb Scheidungen bringen – Emily auf drei und Anne auf eine Scheidung und eine Trennung. (Ich werde Ihre Glückwünsche zu ihren jüngsten, hochverdienten Erfolgen übrigens gerne weiterleiten.)

Was meine Kolumne betrifft, sollten Sie wissen, dass ich genau das mache, wofür ich engagiert wurde. Als ich vor drei Jahren zur Palm Beach Post kam, erklärte der Chefredakteur Michael Duff, dass er eine jüngere Leserschaft ansprechen und daher unbedingt wissen wollte, was Leute meines Alters denken und machen. Kurzum, im Gegensatz zu Ihnen interessierte er sich sehr für Alles Charley. Was er auf keinen Fall wollte, war objektiver Journalismus. Im Gegenteil, er wollte, dass ich völlig subjektiv schreibe – ehrlich, offenherzig und hoffentlich auch kontrovers.

Nach den E-Mails zu urteilen, die ich heute Vormittag bekommen habe, ist mir dies gelungen. Es tut mir leid, dass Sie meine Prosa für kindisch halten und Ihr Abonnement unserer wundervollen Zeitung kündigen, aber das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht. Ich werde weiter meinen Job machen, die aktuelle gesellschaftliche Szene kommentieren, über Trends und Wertvorstellungen meiner Generation berichten und neben meinen Ausflügen in die Welt der totalen Oberflächlichkeit auch so wichtige Themen wie die Misshandlung von Ehefrauen und die Verbreitung von Pornografie ansprechen. Schade, dass Sie nicht mehr dabei sind.

Mit freundlichen Grüßen, Charlotte Webb

(Sorry, konnte nicht widerstehen.)

Charleys Finger schwebte mehrere Sekunden über dem SENDEN-Button, bevor sie stattdessen LÖSCHEN anklickte. Sie sah zu, wie die Worte unverzüglich von ihrem Monitor verschwanden, während die Geräusche eines geschäftigen Montagmorgens zu ihr vordrangen: klingelnde Telefone, klappernde Tastaturen, prasselnder Regen gegen die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster in der zweiten Etage des dreistöckigen Gebäudes. Sie hörte, wie vor ihrem winzigen Kabuff Kollegen einander höflich nach dem vergangenen Wochenende fragten. Sie lauschte ihrem freundlichen Geplauder, dem harmlosen Klatsch und dem Lachen und fragte sich kurz, warum niemand an ihrem Schreibtisch stehen blieb, um sich nach ihrem Wochenende zu erkundigen. Aber das machte nie jemand.

Es wäre leicht, den Grund dafür in beruflichem Neid zu suchen – sie wusste, dass die meisten ihrer Kollegen ihre Kolumnen und damit auch sie für albern und belanglos hielten und ihr ihre Prominenz missgönnten –, aber in Wahrheit war sie an der zunehmenden Kälte ihrer Kollegen zum großen Teil selber Schuld. Als Charley bei der Palm Beach Post angefangen hatte, hatte sie alle Annäherungsversuche abgewiesen, weil sie glaubte, es wäre besser, Job und Privatleben strikt voneinander zu trennen. (Genauso wie sie stets der Ansicht gewesen war, dass man lieber nicht zu kumpelig mit den Nachbarn wurde, womit sie verdammt recht behalten hatte!) Sie war nicht direkt unfreundlich, sondern bloß ein wenig distanziert. Ihre Kollegen hatten die Botschaft rasch begriffen. Niemand mochte Zurückweisungen, vor allem Autoren nicht, die schon zu oft zurückgewiesen worden waren. Bald versiegten die beiläufigen Einladungen zum Abendessen zusammen mit der Aufforderung, noch auf einen Drink nach der Arbeit mitzukommen. Inzwischen würdigte man sie kaum noch eines »Hallo, wie geht’s?«.

Bis zum heutigen Morgen, dachte sie schaudernd, als sie sich an den anzüglichen Blick erinnerte, den der leitende Redakteur Mitchell Johnson ihr zugeworfen hatte, als sie an seinem verglasten Büro vorbeigegangen war. Von Natur aus ohnehin kein besonders feinfühliger Mensch, hatte Mitch auf den Schritt ihrer Rock&Republic-Jeans gestarrt und gefragt: »Läuft alles glatt? Gut, meinte ich, gut, nicht glatt, verbesserte er sich, als wäre es ein unabsichtlicher Versprecher gewesen.

Er glaubt, mich zu kennen, dachte Charley jetzt, lehnte sich auf ihrem braunen Lederstuhl zurück und starrte an der Trennwand vorbei, die ihren Arbeitsplatz von Dutzenden ähnlicher Klausen abteilte, die den Kern der Redaktion bildeten. Der große Raum war in drei Hauptbereiche unterteilt. Das größte Areal wurde von den Journalisten der Nachrichtenredaktion belegt, die täglich Artikel veröffentlichten; ein zweiter Bereich war für die Kolumnisten reserviert, die wie sie selbst wöchentlich oder zu speziellen Themen schrieben; ein dritter war dem Sekretariat und der Dokumentation vorbehalten. Menschen arbeiteten stundenlang an ihren Computern, bellten in ihre Headsets oder balancierten altmodische schwarze Hörer zwischen Ohr und Schultern. Es gab Storys aufzudecken und weiterzuverfolgen, Deadlines einzuhalten, die Ausrichtung einer Geschichte zu besprechen und Zitate zu autorisieren. Irgendjemand rannte ständig rein oder raus, bat um Rat, eine Meinung oder Hilfe.

Niemand bat Charley je um irgendwas.

Sie glauben, mich zu kennen, dachte Charley noch einmal. Sie glauben, weil ich über Passion-Partys und Intimwaxing schreibe, sei ich ein seichtes Dummchen. Im Grunde sei alles über mich gesagt.

Dabei wussten sie gar nichts.

WARUM HALTEN SIE NICHT EINFACH DIE KLAPPE UND VERSCHWINDEN?!!!!

Von: Charley Webb An: Wütende Leserin Betreff: Eine durchdachte Antwort Datum: Montag, 22. Januar 2007, 10:37:06 EST

 

Verehrte wütende Leserin, Sie sind gemein.

Mit freundlichen Grüßen, Charley Webb.

Diesmal klickte Charley direkt auf SENDEN und wartete, bis ihr Computer bestätigte, dass er die Mail abgeschickt hatte. »Das hätte ich wahrscheinlich besser gelassen«, murmelte sie. Es war nie klug, einen Leser vorsätzlich gegen sich aufzubringen. Dort draußen gab es jede Menge Pulverfässer, die nur auf einen Vorwand zur Explosion warteten. Sie hätte die Frau einfach ignorieren sollen, dachte Charley, als ihr Telefon zu klingeln begann. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich mit »Charley Webb«.

»Sie nichtsnutzige Schlampe«, knurrte eine Männerstimme. »Irgendjemand sollte Sie ausnehmen wie einen Fisch.«

»Mutter, bist du das?«, fragte Charley und biss sich auf die Zunge. Warum hatte sie nicht auf die Anruferkennung geschaut? Und was war mit ihrem eben gefassten Vorsatz, nicht ständig alle Menschen gegen sich aufzubringen? Sie hätte einfach auflegen sollte, tadelte sie sich, doch der Anrufer kam ihr zuvor. Das Telefon begann sofort erneut zu klingen, und wieder nahm sie ab, ohne nachzusehen. »Mutter?«, fragte sie, weil sie einfach nicht widerstehen konnte.

»Woher wusstest du das?«, erwiderte ihre Mutter.

Charley musste lächeln, als sie sich den verwirrten Ausdruck auf dem langen, eckigen Gesicht ihrer Mutter vorstellte. Elizabeth Webb war fünfundfünfzig Jahre alt mit schulterlangen pechschwarzen Haaren, die die jenseitige Blässe ihrer Haut noch betonten. Auf nackten Füßen maß sie 1,80 Meter, meist trug sie lange wehende Röcke, die ihre Beine kürzer, und tief geschnittene Blusen, die ihren Busen größer wirken ließen. Sie war eine klassische Schönheit, heute noch genauso wie damals, als sie in Charleys Alter und bereits Mutter von vier kleinen Kinder gewesen war. An jene Zeit hatte Charley jedoch nur wenig Erinnerungen und noch weniger Fotos, weil ihre Mutter aus ihrem Leben verschwunden war, als sie selbst gerade acht Jahre alt geworden war.

Vor zwei Jahren war Elizabeth Webb dann plötzlich wieder aufgetaucht, begierig darauf, den vor gut zwanzig Jahren abgebrochenen Kontakt mit ihren Kindern wieder aufzunehmen. Charleys Schwestern hatten beschlossen, loyal gegenüber ihrem Vater zu bleiben, und sich geweigert, der Frau zu vergeben, die nicht mit einem anderen Mann, was vielleicht noch verzeihlich gewesen wäre, sondern mit einer anderen Frau nach Australien durchgebrannt war, was definitiv unentschuldbar war. Nur Charley war neugierig genug gewesen – oder trotzig, wie ihr Vater zweifelsohne behaupten würde –, einem Wiedersehen zuzustimmen. Ihr Bruder mied natürlich weiterhin jeden Kontakt zu beiden Elternteilen.

»Ich wollte dir bloß sagen, dass ich deine Kolumne gestern mit Vergnügen gelesen habe«, sagte ihre Mutter mit einem halb-australischen Zungenschlag, der sich kaum merklich in ihre Sätze eingeschlichen hatte. »Ich war schon immer neugierig, was es damit auf sich hat.«

Charley nickte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, dachte sie unwillkürlich. »Danke.«

»Ich habe gestern mehrmals versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da.«

»Du hast keine Nachricht hinterlassen.«

»Du weißt doch, dass ich die Dinger hasse«, sagte ihre Mutter.

Charley lächelte. Nachdem sie nach zwei Jahrzehnten im Outback erst vor kurzem nach Palm Beach gezogen war, lebte ihre Mutter in schrecklicher Furcht vor allen auch nur vage technisch anmutenden Gerätschaften und besaß weder einen Computer noch ein Handy. Eine Mailbox war ihr nicht geheuer, das Internet schlicht jenseits ihres Fassungsvermögens. »Ich bin nach Miami gefahren und habe Bram besucht«, erklärte Charley ihr.

Schweigen. Dann: »Wie geht es deinem Bruder?«

»Ich weiß es nicht. Er war nicht in seiner Wohnung. Ich habe stundenlang auf ihn gewartet.«

»Wusste er, dass du kommst?«

»Ja.«

Erneutes Schweigen, länger als das erste. »Glaubst du, er …?« Die Stimme ihrer Mutter verlor sich.

»… trinkt und nimmt Drogen?«

»Glaubst du?«

»Kann sein. Ich weiß es nicht.«

»Ich mache mir solche Sorgen um ihn.«

»Ein bisschen spät, findest du nicht?« Die Worte waren heraus, bevor Charley sich bremsen konnte. »Tut mir leid«, entschuldigte sie sich sofort.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte ihre Mutter versöhnlich. »Das habe ich wohl verdient.«

»Ich wollte nicht gemein sein.«

»Natürlich wolltest du das«, gab ihre Mutter ohne Groll zurück. »Deswegen bist du auch eine so gute Autorin. Und deine Schwester eine so mittelmäßige«, konnte sie sich nicht verkneifen hinzuzufügen.

»Mutter …«

»Tut mir leid, Liebes. Ich wollte nicht gemein sein«, borgte sie sich Charleys Worte.

»Natürlich wolltest du das.« Charley lächelte und spürte, dass ihre Mutter das Gleiche tat. »Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Ich dachte, ich könnte vielleicht später vorbeikommen und die Kinder sehen …«

»Klingt super.« Abwesend öffnete Charley eine weitere E-Mail.

Von: Eine Person mit Geschmack An: Charley@Charley’sWeb.com Betreff: Böse Mädchen Datum: Montag 22. Januar 2007 10:40:05 EST

 

Liebe Charley,

auch wenn ich normalerweise ein Mensch bin, der an die Devise LEBEN UND LEBEN LASSEN glaubt, hat mich deine letzte Kolumne doch ins Grübeln gebracht. Deine vorletzte Kolumne über Sexspielzeuge war schon schlimm genug, aber deine jüngste ist ein Affront gegen gute Christen überall. Du bist abscheulich, widerlich und pervers. Du hast es verdient, IN DER HÖLLE ZU SCHMOREN. Deshalb STIRB, SCHLAMPE, STIRB und nimm deine Bastardkinder gleich mit!

P.S.: Ich würde sie an deiner Stelle gut im Auge behalten. Du wärst entsetzt darüber, wozu manche Menschen fähig sind.

Charley spürte, wie ihr der Atem in der Lunge gefror. »Mutter, ich muss jetzt wirklich Schluss machen.« Sie legte den Hörer auf, warf beim Aufspringen ihren Stuhl um und stürzte aus ihrer Zelle.

KAPITEL 2

»Okay, Charley, versuchen Sie, sich zu beruhigen.«

»Wie soll ich mich beruhigen? Irgendein Irrer bedroht meine Kinder.«

»Verstehe. Atmen Sie ein paarmal tief durch und erzählen Sie mir noch einmal …«

Charley schnappte zweimal tief Luft, während Michael Duff sich hinter seinem massiven Eichenschreibtisch erhob und zur Tür des verglasten Büros in der südwestlichen Ecke des Stockwerks ging.

Davor hatten sich bereits etliche Kollegen versammelt, um zu sehen, was es mit dem Tumult auf sich hatte. »Probleme?«, fragte irgendjemand.

»Alles in bester Ordnung«, erklärte Michael ihnen.

»Alles Charley«, hörte sie jemanden abschätzig murmeln, als Michael die Tür schloss.

»Okay, erzählen Sie mir noch einmal genau, was in der E-Mail stand«, forderte er sie auf und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.

Aber Charley ignorierte die beiden grünen Lederstühle vor Michaels Schreibtisch, Sie lief lieber auf dem sandfarbenen Teppich auf und ab. Der Regen prasselte weiter unablässig gegen die Fenster und übertönte beinahe den Verkehrslärm von der nahen I-95. »In der E-Mail stand, ich solle in der Hölle schmoren. Und dann wörtlich: ›Stirb, Schlampe, stirb und nimm deine Bastardkinder gleich mit.‹«

»Okay, der Schreiber ist offensichtlich nicht Ihr größter Fan …«

»Und dann stand da noch, dass ich sie gut im Auge behalten solle, weil man nie wisse, wozu Menschen fähig seien.«

Michael legte besorgt die Stirn in Falten, hockte sich auf die Schreibtischkante und kniff die Augen zusammen. »Sonst noch was?«

»Nein, das war alles. Das reicht ja wohl.«

Michael rieb sich mit seiner Pranke über das kräftige Kinn, strich ein paar graue Strähnen aus der breiten Stirn und verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. Charley beobachtete ihn und dachte, dass alles an dem älteren Mann einen Tick zu groß war. Normalerweise hätte sie das als tröstlich empfunden, heute Morgen jedoch trug es nur noch mehr zu ihrem wachsenden Gefühl der Hilflosigkeit bei. Sie lauschte dem Dröhnen seiner Stimme, spürte die beiläufige Autorität in jeder noch so kleinen Geste und fühlte sich geschrumpft und unwesentlich. Als sie ihn ansah, begriff sie zum ersten Mal, was die Leute meinten, wenn sie von jemandem sagten, er würde »die Kontrolle übernehmen«. Übernehmen, dachte sie. Nicht ergreifen oder an sich reißen. Ein Mann wie Michael Duff brauchte im Gegensatz zu ihr nicht darum zu kämpfen. Die Kontrolle gehörte ihm – ganz natürlich. Er übernahm sie völlig selbstverständlich, er setzte sie einfach voraus.

»Ich hätte hier nicht einfach so reinplatzen sollen«, entschuldigte Charley sich eingedenk ihres dramatischen Auftritts. Sie hatte nicht mal geklopft. Sie blickte zu den Journalisten, die jenseits der Glaswand an ihren Schreibtischen saßen und jetzt nicht mehr in ihre Richtung sahen, obwohl sie sie weiter verstohlen beobachteten. Beurteilten.

»Sie sind verständlicherweise ganz durcheinander.«

»Das ist bestimmt nicht die erste hässliche E-Mail, die ich bekomme. Und auch nicht die erste Morddrohung.« Starreporter waren solche Bosheiten gewöhnt; meistens waren sie genauso wenig ernstzunehmen wie die ebenfalls eingehenden Heiratsanträge. Neben Beleidigungen erhielten Journalisten auch oft genug Lob für gute Arbeit und nicht wenige Liebeserklärungen. Manche Leser machten Vorschläge für künftige Kolumnen oder legten Nacktfotos von sich bei, und überraschend viele waren auf der Suche nach jemandem, der ihre Lebensgeschichte aufschrieb. In den vergangenen Wochen hatte Charley zwei solcher Anfragen erhalten und sie möglichst höflich abgelehnt – andere Verpflichtungen, ich bin nicht geeignet für den Job, Sie sollten es selber versuchen. Aber was, wenn manche Leute eine derartige Zurückweisung womöglich persönlich nehmen? »Es ist nur das erste Mal, dass jemand meine Kinder bedroht«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Sie meinen, dass ich überreagiere, nicht wahr?«

»Überhaupt nicht. Wir nehmen solche Drohungen sehr ernst. Sie haben die Mail doch hoffentlich gespeichert.«

»Selbstverständlich.«

»Gut. Ich werde der Polizei melden, was passiert ist, und eine Kopie der E-Mail mitschicken. Vielleicht kann man sie ja zurückverfolgen.«

»Wahrscheinlich wurde sie von einem Internetcafé aus abgeschickt.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Michael. »Die meisten von diesen Verrückten sind nicht besonders schlau. Es würde mich nicht wundern, wenn der Mistkerl seinen Computer zu Hause benutzt hätte.«

»Seinen? Sie glauben, es ist ein Mann?«

»Für mich hört sich das schwer nach Macho-Getue an.«

»Und was mache ich jetzt?«

»Sie können nicht viel machen, außer besonders vorsichtig zu sein«, sagte Michael achselzuckend. »Öffnen Sie keinem Fremden die Tür; versuchen Sie, niemanden gegen sich aufzubringen; passen Sie gut auf Ihre Kinder auf und lassen Sie die Polizei alles Weitere regeln. Ich glaube nicht, dass er Sie noch einmal belästigen wird. Solche Typen sind im Grunde Feiglinge. Mit dieser E-Mail hat er sein Pulver garantiert schon verschossen.«

Charley lächelte und fühlte sich schon viel sicherer. »Die gestrige Kolumne scheint etliche Leser empört zu haben.«

»Das bedeutet bloß, dass Sie gute Arbeit leisten.«

»Danke.«

»Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen«, sagte Michael, als sie die Tür seines Büros öffnete und hinaustrat.

»Alles in Ordnung?«, fragte eine der Sekretärinnen, als Charley an ihrem Schreibtisch vorbeiging.

»Alles bestens«, antwortete sie, ohne stehen zu bleiben oder sich umzudrehen, weil sie Angst hatte, dass sie sonst in Tränen ausbrechen würde.

»Das haarlose Wunder«, flüsterte irgendjemand vernehmlich.

»Muss ja höllisch jucken.«

Begleitet von leisem Lachen kehrte Charley an ihren Schreibtisch zurück. Was würde sie für eine Tür geben, die sie zuknallen konnte, dachte sie und bückte sich, um ihren umgestoßenen Stuhl aufzurichten. Die bedrohliche E-Mail war von ihrem Monitor verschwunden, stattdessen leuchtete ihr der Bildschirmschoner entgegen, ein ein Jahr altes Foto ihrer Kinder. Charley betrachtete ihre wunderschönen Gesichter und ging im Kopf stumm die Veränderungen durch, die die vergangenen zwölf Monate gebracht hatten – mit den endlich nachgewachsenen beiden Schneidezähnen war Frannys Lächeln nicht mehr so zahnlos schüchtern wie auf dem Foto, und ihr Haar war mittlerweile dunkler und länger geworden, aber das Funkeln in ihren grünen Augen war noch immer dasselbe. Sie hatte einen sommersprossigen Arm um die Schulter ihres kleinen Bruders gelegt, scheinbar liebevoll, obwohl sie wahrscheinlich nur versucht hatte, ihn festzuhalten. James war ein wahres Energiebündel, unfähig, auch nur einen Moment still zu stehen. Und auch wenn sein Gesicht heute nicht mehr so pausbäckig und er etliche Zentimeter gewachsen war, hatte er nichts von dieser Energie verloren. Mit seiner weißblonden Mähne und seinen dunkelblauen Augen sah er vielleicht aus wie ein kleiner Cherubin, dachte sie und fuhr mit dem Finger über das Grübchen in seinem Kinn, aber er war ein veritables kleines Teufelchen. Sie vergötterte ihn. Wenn sie von ihm zu seiner Schwester blickte, konnte Charley kaum glauben, dass sie es geschafft hatte, etwas so Perfektes hervorzubringen. Sie liebte ihre Kinder über alles. Warum hatte sie niemand darauf vorbereitet? Warum hatte ihr nie jemand erzählt, dass man so sehr lieben konnte?

Wahrscheinlich weil niemand da gewesen war, der es ihr hätte erzählen können.

Charley ließ sich auf ihren Stuhl sinken, griff in die oberste Schreibtischschublade und zog ein Exemplar von Denk an die Liebe heraus, dem letzten Roman ihrer Schwester Anne, den jene ihr vor zwei Wochen zugeschickt hatte, ohne dass sie bisher einen Blick hineingeworfen hatte. Wenn nicht schon der Umschlag gereicht hätte, um sie abzuschrecken – das Bild einer jungen Braut mit tränenumflortem Blick, die Augen von ihrem Schleier nur halb verdeckt –, hätte es die Widmung garantiert getan. Für meinen wundervollen Vater Robert Webb. Was sollte das? Charley dachte an den kalten, verbitterten Mann, in dessen Haus sie aufgewachsen war, ein Haus voller wütendem Schweigen und dem Widerhall strenger Tadel. Hatte ihr Vater je ein freundliches Wort gesagt? Zu irgendjemandem?

Charley schlug das Titelblatt auf. Für Charlotte, hatte ihre Schwester in kunstvollen Schnörkeln darunter geschrieben, an deren Perfektion sie wahrscheinlich Wochen gefeilt hatte. Mit den besten Wünschen, Anne. Als ob sie nicht mehr als Fremde wären. Und vielleicht waren sie ja genau das.

Sie schlug das erste Kapitel auf und las den Anfang: Als Tiffany Lang Blake Castle zum ersten Mal sah, wusste sie, dass sich ihr Leben für immer verändert hatte.

»Oje.«

Er war nicht nur der attraktivste Mann, den sie je gesehen hatte, obwohl sich auch das nicht bestreiten ließ. Es war nicht das Blau seiner Augen und nicht einmal die Art, wie er direkt durch sie hindurchzublicken schien – so als könnte er auf den Grund ihrer Seele starren und jeden ihrer geheimsten Gedanken lesen. Noch war es die anmaßende Nonchalance, mit der er den Raum beherrschte, die Daumen provokant in die Taschen seiner engen Jeans gehakt, die vollen Lippen zu einer stummen Einladung geschürzt, die sie herausforderte, näher zu kommen. Auf eigene Gefahr, sagte er wortlos.

»Gütiger Gott.«

»Was lesen Sie denn da?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Charley klappte das Buch eilig zu. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mitch?«, fragte sie zurück, ohne sich umzudrehen.

»Ich hab gehört, dass Sie eine Morddrohung bekommen haben.«

Charley dreht sich auf ihrem Stuhl um. Mitch Johnson war ein Mann mittleren Alters mit Bierbauch und Halbglatze, der sich aus für Charley unerfindlichen Gründen für einen unwiderstehlichen Frauenheld hielt. Er lehnte sich in einer einstudierten Pose, die er vermutlich für sexy hielt, an die Trennwand ihrer Zelle, die Stirn gerunzelt, die Miene bemüht ernsthaft.

»Damit hätten Sie zu mir kommen sollen«, ermahnte er sie. »Ich bin leitender Redakteur. Ihr direkter Vorgesetzter. Sie sollten nicht mit jedem kleinen Problemchen zu Michael rennen.«

»Ich habe es nicht für ein kleines Problemchen gehalten.«

»Trotzdem hätten Sie zuerst zu mir kommen sollen«, sagte Mitch.

»Tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht.«

»Dann denken Sie nächstes Mal nach«, sagte er.

»Ich hoffe, es wird kein nächstes Mal geben.«

»Dann sollten Sie vielleicht für Ihre nächste Kolumne ein weniger kontroverses Thema wählen«, sagte er, und sein Blick schweifte auf ihren Schritt. Charley verschränkte die Hände über dem Buch in ihrem Schoß, um ihm die Sicht zu versperren. »Damit will ich nicht sagen, dass mir Ihr kleines, wie soll ich sagen, Exposé von gestern persönlich nicht gut gefallen hätte. Ich versuche schon seit Ewigkeiten, meine Frau davon zu überzeugen.« Er zwinkerte ihr zu. »Sie ist wohl nicht so abenteuerlustig wie Sie.«

Charley wandte sich wieder ihrem Computer zu. »Ich leite Ihnen die E-Mail weiter«, erklärte sie ihm und drückte auf die entsprechenden Tasten.

»Machen Sie das. Und beim nächsten Mal …«

»Erfahren Sie es als Erster.«

»Gut. Ich war schon immer gern der Erste.«

Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, konnte Charley sein Zwinkern spüren. Was war bloß mit manchen Männern los?, dachte sie. Hatten sie noch nie von sexueller Belästigung gehört? Dachten sie, es beträfe sie nicht? Sie bezweifelte allerdings, dass sie auf dieser Etage viele Sympathisanten finden würde. Forderte sie mit der Art Kolumne, die sie schrieb, solche Anmache nicht geradezu heraus?, konnte sie ihre Kollegen fragen hören. Von ihnen war jedenfalls kein Mitleid zu erwarten.

Keine Sorge, dachte sie und drehte das Buch in ihrer Hand um. Ich erwarte schon lange nichts mehr von irgendwem.

Charley ertappte sich dabei, das Hochglanzfoto ihrer Schwester auf dem Rückumschlag zu betrachten. Anne saß zwischen dekorativen weißen Spitzenkissen auf einem rosafarbenen Samtsofa, das lange kastanienbraune Haar locker hochgesteckt, sodass ein paar fotogene Löckchen ihr herzförmiges Gesicht rahmten. Trotz all der Schichten dicker Schminke war sie unbestreitbar eine schöne Frau. Aber kein Mascara, Kajal und Smokey-Eyes-Lidschatten konnte die Traurigkeit in ihren Augen übertünchen. Charley hatte in der Boulevardpresse über Annes Trennung von ihrem Bad-Boy-Ehemann Nummer zwei gelesen. Angeblich verlangte er Unterhalt und drohte, andernfalls das Sorgerecht für ihre kleinen Töchter zu erstreiten. Wenn Charley sich recht erinnerte, war Darcy zwei Jahre und Tess erst acht Wochen alt. Was für ein Chaos, dachte sie und griff zum Telefon. Sie kramte die Nummer ihrer Schwester aus ihrer Erinnerung und wählte die New Yorker Vorwahl, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Schon nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen. »Bei Webb«, meldete sich die Haushälterin knapp.

»Kann ich Anne sprechen, bitte? Hier ist ihre Schwester.«

»Miss Anne«, rief die Haushälterin. »Es ist Emily.«

»Nein, hier ist …«

»Em, wie geht’s?«, meldete sich ihre Schwester.

»Es ist nicht Emily«, korrigierte Charley.

»Charlotte?«

»Charley«, korrigierte sie erneut.

Es entstand eine lange Pause.

»Anne? Bist du noch da?«

»Ja, natürlich.«

»Einen Moment lang dachte ich, die Verbindung wäre unterbrochen.«

»Ich bin bloß überrascht, von dir zu hören. Ist alles in Ordnung?«

»Alles bestens.«

»Und Mutter?«

»Ihr geht es gut. Und Vater?«

»Auch gut.«

»Schön.«

Wieder entstand eine Pause, noch länger als die vorherige.

»Und wie geht es den Kindern?«, fragte Charley.

»Gut. Und deinen?«

»Super.«

»Ich nehme an, du hast gehört, dass A.J. und ich uns trennen.«

»Das tut mir wirklich leid.«

»Glaub mir, ich kann froh sein, den elenden Mistkerl los zu sein. Der Wichser betrügt mich mit zwei meiner besten Freundinnen und hat dann noch den Nerv, Unterhalt zu verlangen. Ist das zu toppen?«

Charley war sich nicht sicher, was sie mehr überraschte: die Tatsache, dass ihr Ex-Schwager in spe mit zwei der besten Freundinnen ihrer Schwester schlief, oder der Umstand, dass Anne so viele Freundinnen hatte.

»Wie geht es Emily?«, fragte Charley.

»Em geht es prächtig. Ich nehme an, du hast sie in Good Morning, America gesehen.«

»Nein, das hab ich verpasst. Niemand hat mir Bescheid gesagt …«

»Sie war fantastisch. Der Sender überlegt offenbar, ihr einen festen Platz einzurichten.«

»Das wäre toll.«

»Ja. Das wäre es. Wie geht es Bram?«

»Okay. Hast du in letzter Zeit etwas von ihm gehört?«

»Soll das ein Witz sein? Er ruft sogar noch seltener an als du. Warum? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Nein, nein.«

»Was ist los, Charley? Warum rufst du an?«

Warum hatte sie angerufen?

»Hat sich irgendjemand von People bei dir gemeldet?«

»Wer?«

»Das People-Magazin. Meine PR-Managerin versucht schon seit einiger Zeit, sie zu einem Porträt über mich zu überreden. Sie dachte, dass man vielleicht die ganze Brontë-Geschichte benutzen könnte.«

»Was?«

»Emily findet die Idee großartig. Hat man dich noch nicht angerufen?«

»Nein. Noch nicht. Also, warum ich angerufen habe … ich wollte mich bloß für das Buch bedanken. Es war sehr nett von dir, mir ein Exemplar zu schicken.«

»Oh ja. Das war die Idee meiner PR-Agentin. Sie dachte, dass du es vielleicht in deiner Kolumne erwähnst. Ich habe ihr erklärt, dass du es wahrscheinlich nicht mal lesen würdest. Hast du?«

»Noch nicht, aber ich will am Wochenende damit anfangen.«

»Ja, sicher.«

»Ich hab gehört, es ist richtig gut«, wich Charley aus.

»Alle sagen, es wäre mein Bestes.«

»Platz neun.«

»Ab nächster Woche sogar Platz sechs.«

»Das ist wundervoll.«

»Alle sind sehr zufrieden.«

»Das sollten sie auch sein.«

»Ich bin für die kommenden zwei Monate mit Lesungen ausgebucht.«

»Wirklich? Kommst du dabei vielleicht auch in meine Richtung?«

»Kann sein. Ich habe den genauen Terminplan nicht im Kopf.«

»Ruf mich an, sobald du etwas weißt.«

»Warum?«

Die Frage war ebenso schlicht wie stechend. »Ich dachte, wir könnten uns vielleicht treffen«, fuhr es Charley heraus, während sie versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich zum letzten Mal gesehen hatten.

Wieder entstand eine Pause, die bisher längste von allen.

»Vielleicht. Sorry, ich muss jetzt Schluss machen. Danke für den Anruf.«

»Danke für das Buch.«

»Viel Spaß«, sagte Anne und legte auf.

»Viel Spaß«, wiederholte Charley, legte den Hörer auf die Gabel, schloss die Augen und versuchte den genauen Punkt zu bestimmen, an dem der langsame, stetige Zerfall ihrer Familie seinen Anfang genommen hatte. Ihr Vater würde die Schuld zweifelsohne ihrer Mutter geben, weil sie die Familieneinheit mit ihrem Weggehen irreparabel beschädigt hatte. Ihre Mutter würde ebenso sicher dagegenhalten, dass es Robert Webbs Kälte gewesen sei, die sie in fremde Arme getrieben hat. Dass es sich dabei um die Arme einer Frau gehandelt hatte, habe die Flamme der Wut bei ihrem Vater nur weiter geschürt.

Es hätte nicht so kommen sollen.

Oberflächlich betrachtet waren Robert und Elizabeth Webb das perfekte Paar gewesen, gut aussehend und gebildet, jung und verliebt. Selbst ihre Namen passten perfekt zueinander, vor allem für einen renommierten Professor für englische Literatur. Robert und Elizabeth, genau wie Browning und seine Frau Elizabeth Barrett Browning, die beiden berühmten romantischen Dichter. Wie wunderbar angemessen, hatten sie gescherzt. Aber Robert Webb hatte sich als alles andere als ein Romantiker erwiesen, und Elizabeth hatte schon bald gemerkt, dass sie sich in einen Robert verliebt, jedoch einen Bob geheiratet hatte.

Innerhalb von acht Jahren bekamen sie vier Kinder. Charlotte kam als Erste – Charlotte’s Web war das Lieblingskinderbuch ihrer Mutter gewesen, und einem so feinsinnigen Wortspiel konnte eine Liebhaberin der englischen Literatur nicht widerstehen –, zwei Jahre später gefolgt von Emily und noch einmal zwei Jahre später von Anne. »Unsere eigenen Brontë-Schwestern«, hatte ihre Mutter jedem erklärt, der es hören wollte. Und dann kam der Junge, auf den ihr Vater die ganze Zeit gehofft hatte. Ihre Eltern hatten ernsthaft erwogen, ihn nach dem einzigen Bruder der Brontë-Schwestern Bramwell zu nennen, aber da Bramwell im Gegensatz zu seinen berühmten Schwestern in allem, worin er sich versucht hatte, ein totaler Versager gewesen war, hatten sie sich auf Bram geeinigt, nach Bram Stoker, dem Autor von Dracula, dem Blut saugenden Grafen. Doch dieser Namenswechsel hatte nichts genützt. So wie die Webb-Schwestern dem Beispiel ihrer berühmteren Namensschwestern gefolgt waren, so hatte auch Bram seinen Part erfüllt und es in Bramwells Fußstapfen nie weit in irgendetwas gebracht. »Das ist mein Schicksal«, sagte er gerne, wenn er Bramwells Alkohol- und Drogensucht als Inspiration für seine eigene anführte.

Wieder griff Charley zum Telefon. Sie könnte Bram anrufen, überlegte sie, obwohl ein Gespräch mit ihrem jüngeren Bruder immer ziemlich frustrierend und sie für diesen Tag schon frustriert genug war. Vor allem nachdem Bram sich am Wochenende nicht hatte blicken lassen, obwohl sie im Urlaubsverkehr – in Südflorida dauerte die Touristensaison von Dezember bis März – den ganzen Weg nach Miami gefahren war, nur um dort eine leere Wohnung und keine Spur von ihrem Bruder vorzufinden.

Früher hätte sie das wahrscheinlich beunruhigt, aber jetzt nicht mehr. Dafür passierte es einfach zu oft. »Wir sehen uns um acht«, sagte er und kreuzte um Mitternacht auf. »Ich komme am Freitag um sechs zum Abendessen«, versicherte er und erschien am darauffolgenden Montag zum Mittagessen. Charley wusste schon seit Jahren von den Drogen. Sie hatte gehofft, das Wiederauftauchen ihrer Mutter könnte helfen, seinem Leben eine Wende zu geben. Aber nach beinahe zwei Jahren weigerte Bram sich nach wie vor, irgendetwas mit ihr zu tun zu haben. Wenn überhaupt, ging es ihm jetzt noch dreckiger als vorher.

»Klopf, klopf«, sagte eine Frau hinter Charleys Schreibtisch.

Charley drehte sich mit ihrem Stuhl um und sah Monica Turnbull vor sich stehen, Anfang zwanzig, pechschwarze, kurze Haare, einen Silberring im linken Nasenloch und Finger mit blutroten Nägeln, die einen schlichten weißen Umschlag hielten.

»Sie haben Post«, zwitscherte Monica. »Und ich meine nicht den virtuellen Scheiß. Ich meine einen echten Brief.« Sie ließ den Umschlag in Charleys ausgestreckte Hand fallen.

Charley starrte auf die mädchenhafte Handschrift auf der Vorderseite und stutzte, als sie den Absender las. »Pembroke Correctional. Ist das nicht ein Gefängnis?«

»Sieht so aus, als hätten Sie einen Fan.«

»Das hat mir gerade noch gefehlt.« Das Telefon klingelte. »Danke«, sagte Charley, als Monica ihr beim Gehen zuwinkte. »Charley Webb«, meldete sie sich.

»Hier ist Glen McLaren. Ich habe Ihren Bruder.«

»Was?«

»Sie wissen, wo Sie mich finden.«

Und dann brach die Verbindung ab.

KAPITEL 3

»Wo ist mein Bruder?«, fragte Charley, als sie durch die schwere Eingangstür des Prime platzte, des Schickimicki-Nachtclubs, der als der momentan angesagteste Hot-Spot von Palm Beach galt. Im Prime tummelten sich überwiegend junge, überwiegend reiche und überwiegend schöne – beziehungsweise durch ihr Geld zu Schönheiten geadelte – Gäste, trafen ihresgleichen, schüttelten fotogen ihr stufig geschnittenes Blondhaar, präsentierten ihre in die neueste Designer-Mode gewandeten Körper und kamen mit alten Freunden, zukünftigen Geliebten und diskreten Dealern zusammen. In einer nicht allzu schmeichelhaften Kolumne aus jüngerer Zeit hatte Charley das Lokal »Prime Meat« genannt, was ihr für einen Umschlagplatz für Frischfleisch durchaus angemessen schien und der ständig wachsenden Popularität des Clubs auch absolut keinen Abbruch getan hatte.

Zum ersten Mal hatte Charley das Prime in den frühen Morgenstunden an einem Wochenende Ende Oktober besucht. Wie die meisten Leute ihres Alters hatte sie die Mischung aus Spiegeln und Mahagoni, lauter Musik und gedämpfter Beleuchtung, teurem Parfüm und schwitzenden wohlgeformten Körpern unglaublich verführerisch gefunden. In den fünf Minuten, die sie gebraucht hatte, um sich durch die Menge der unauffällig teuer ausstaffierten Gäste zu der auffällig teuer ausgestatteten Bar vorzukämpfen, die die gesamte linke Seite des Raumes einnahm, war sie von einem Trio attraktiver Männer, einer Frau mit unechten Ballonbrüsten und einem ganzen Chor scheinbar körperloser Stimmen angesprochen worden, die alles von Ecstasy bis Heroin feilboten. »Was immer Sie wollen, ich hab es«, hatte jemand in Charleys Ohr gesäuselt, während ein junges Society-Girl, noch mit Krümeln von weißem Pulver in den Nasenlöchern, auf hohen Absätzen schwankend an ihr vorbeistöckelte. Lärm und Lachen folgten Charley an die Bar, streunende Hände grabschten achtlos nach ihrem Po, und das andauernde Wummern der Musik blockierte jeden vernünftigen Gedanken. Charley hatte begriffen, wie leicht es wäre, sich der Sinnlosigkeit des Ganzen einfach hinzugeben, zu tanzen, sich treiben zu lassen, zu verdrängen … alles.

Ich denke nicht. Also bin ich nicht.

Es war so verlockend gewesen.

Aber im unschmeichelhaften Licht eines verregneten Vormittags strahlte der Raum wenig von dem Glanz und der Dekadenz dieses nächtlichen Treibens aus. Er wirkte leblos, wie ein überbelichtetes Foto. Bloß ein weiterer leerer Raum mit verlassenem Tanzparkett. In der rechten Ecke drängten sich zwanzig Tische mit jeweils vier Stühlen für Gäste, die tatsächlich etwas essen wollten, im übrigen Raum waren kleine Stehtische mit jeweils zwei Barhockern verteilt, bewacht von Bronzestatuen nackter gesichtsloser Frauen, die, die Ellbogen angewinkelt, die Handflächen vorgestreckt, mit den Fingern in einer Geste totaler Kapitulation zur etwa sieben Meter hohen Decke wiesen.

»Wo ist mein Bruder?«, fragte Charley noch einmal. Glen McLaren saß auf einem braunen Lederhocker an der Bar, den Sportteil der Morgenzeitung aufgeschlagen vor sich auf dem braunen Marmortresen.

McLaren war ganz in Schwarz gekleidet, etwa fünfunddreißig Jahre alt, groß und schlank, jedoch nicht ganz so gut aussehend, wie Charley ihn von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung hatte. Bei Tageslicht wirkten seine Gesichtszüge gröber, die Nase breiter, die braunen Augen verschlafener, obwohl sie trotzdem spürte, wie er sie mit Blicken auszog, als sie näher kam. »Miss Webb«, begrüßte er sie. »Schön, Sie wiederzusehen.«

»Wo ist mein Bruder?«

»Ihm geht es so weit gut.«

»Ich habe Sie nicht gefragt, wie es ihm geht. Ich habe gefragt, wo er ist.«

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Glen, als hätte er sie gar nicht gehört. »Orangensaft vielleicht oder …«

»Ich möchte nichts trinken.«

»… eine Tasse Kaffee?«

»Ich will auch keinen Kaffee. Hören Sie, Sie haben mich angerufen. Sie haben gesagt, Sie hätten meinen Bruder.«

»Und Sie haben im letzten Monat in Ihrer Kolumne eine Menge sehr unschmeichelhafter Dinge über mich und meinen Club gesagt. Habe ich jedenfalls gehört.« Er grinste. »Ich persönlich lese Ihre Kolumne nie.«

»Dann müssen Sie sich ja auch nicht übermäßig echauffieren.«

»Leider haben viele Leute, darunter unser geschätzter Bürgermeister und der Polizeichef, keinen so differenzierten Geschmack wie ich. Ich habe in den letzten Wochen sehr viel unerwünschte Aufmerksamkeit bekommen.«

»Das tut mir leid.«

»Wirklich?«

»Nein, eigentlich nicht. Was hat all das mit meinem Bruder zu tun?«

»Nichts. Ich mache nur Konversation.«

»Ich bin nicht an Konversation interessiert, Mr. McLaren.«

»Glen«, verbesserte er sie.

»Ich bin nicht an Konversation interessiert, Mr. McLaren«, wiederholte Charley und hievte ihre große, beige Umhängetasche auf die andere Schulter. »Ich bin daran interessiert, meinen Bruder zu finden. Wollen Sie mir nun sagen, ob Sie ihn haben oder nicht?«

»Ja, ich will.« McLaren grinste einfältig. »Gott, als ich das zum letzten Mal gesagt habe, hat es mich ein Vermögen gekostet.« Er senkte das Kinn und hob kokett den Blick. »Was – nicht einmal ein kleines Lächeln? Ich versuche, charmant zu sein.«

»Warum?« Charley sah sich in dem Raum um, sah jedoch nur einen Kellner, der die Tische auf der anderen Seite der Tanzfläche abwischte.

»Warum ich versuche, charmant zu sein? Oh, ich weiß nicht. Weil Sie eine schöne Frau sind? Weil Sie eine Reporterin sind? Weil ich Sie umstimmen will? Oder vielleicht auch nur rumkriegen.«

Charleys ungeduldiger Seufzer hallte in dem leeren Lokal wider. »Ich stehe nicht auf Racheficks, Mr. McLaren.«

Glen zuckte die Achseln, und sein Blick schweifte zum Sportteil seiner Zeitung zurück. Wenn er von ihrer Wortwahl schockiert war, ließ er es sich nicht anmerken. »Seltsam, wo sich doch offenbar so viele Leute von Ihnen und Ihrer Kolumne gefickt fühlen.«

Er war fix, dachte Charley, das musste sie ihm lassen. »Ich nehme an, das wird Ihnen eine Lehre sein, nicht mit Reporterinnen zu reden.«

»Nur dass ich, wie Sie sich vielleicht erinnern, bei unserer letzten Begegnung keine Ahnung hatte, dass Sie Reporterin sind. Ich wusste nicht mal, dass es die WEBB SITE gibt. Cleverer Titel für eine Kolumne übrigens.«

»Danke.«

»Ich hatte lediglich den Eindruck, mit einer schönen jungen Frau zu sprechen, die ich unbedingt beeindrucken wollte.«

»Womit Sie sofort aufgehört haben, als Ihnen klar wurde, dass ich nicht mit Ihnen ins Bett steigen würde.«

»Ich bin ein Mann, Charley. Gespräche interessieren mich nur bedingt.«

»Und warum reden wir dann jetzt?«

Glen lächelte erneut – etwas, was er beunruhigend regelmäßig tat –, wobei sich jedes Mal kleine Fältchen um seine schläfrigen braunen Augen bildeten. »Ich amüsiere mich bloß und spiele ein bisschen mit Ihnen«, gab er zu.

»Ich mag es nicht, wenn man mit mir spielt.«

»Ging es bei Ihrem kleinen cholerisch-literarischen Wortanfall also eigentlich nur darum? Sie hatten das Gefühl, dass man mit Ihnen spielt, und das hat Sie verletzt?«

»Es geht hier nicht um verletzte Gefühle«, sagte Charley und versuchte, sich nicht zu sehr an dem Ausdruck »kleiner cholerisch-literarischer Wortanfall« zu freuen. »Und das war auch ganz bestimmt nicht der Grund, warum ich heute Morgen meinen Arbeitsplatz verlassen und im strömenden Regen den weiten Weg hierher gemacht habe.«

»Ach, so weit ist es auch wieder nicht«, bemerkte Glen.

»Wo ist mein Bruder?«

Glen wies mit dem Kopf auf die Tür im hinteren Teil des Clubs. »In meinem Büro.« Charley stürzte sofort in die angegebene Richtung los.

»Links«, wies Glen sie an und folgte ihr.

Mit ein paar eiligen Schritten und flatternder Handtasche hatte Charley den hinteren Teil des Clubs erreicht und stieß die handgeschnitzte Mahagonitür zu Glens Büro auf. Die Jalousien waren halb geschlossen, und der holzgetäfelte Raum lag zum größten Teil im Dunkeln, trotzdem konnte sie die Gestalt eines Mannes ausmachen, der auf einem roten Samtsofa auf dem Rücken lag, das rechte Bein auf dem Boden, den linken Arm dramatisch über den Kopf gelegt, ein paar schlaffe hellbraune Haarsträhnen in der Stirn. »Mein Gott. Was haben Sie mit ihm gemacht?«

Glen knipste das Licht an. »Bleiben Sie locker. Er schläft nur.«

»Er schläft?« Charley ließ ihre Handtasche zu Boden fallen und stürzte an die Seite ihres Bruders. Sie kniete sich neben ihn, bettete seinen Kopf an ihre Brust und lauschte dem Geräusch seines Atems.

»Völlig hinüber, um genau zu sein.«

»Hinüber? Was haben Sie ihm gegeben?«

»Nun, ich habe versucht, ihm Kaffee einzuflößen, aber er ist stur. Genau wie Sie. Hat gesagt, er wollte keinen.«

»Bram?«, fragte Charley und rüttelte erst sanft und dann zunehmend unsanfter an seiner Schulter. »Bram, wach auf.« Sie blickte von ihrem Bruder zurück zu McLaren. »Das verstehe ich nicht. Was macht er hier?«

»Oh, jetzt wollen Sie plötzlich reden?« Glen ließ sich auf das kleinere Sofa sinken, das im rechten Winkel zu der Couch stand, auf der Bram offensichtlich die Nacht verbracht hatte.

»Woher kennen Sie meinen Bruder?«

»Ich kenne ihn gar nicht«, gab Glen zu. »Ich habe ihn gestern Abend, als ich ihn aufgefordert habe, das Lokal zu verlassen, zum ersten Mal gesehen.«

»Wovon reden Sie überhaupt?«

»Laut meinem Barkeeper kam Ihr Bruder gestern Abend gegen zehn Uhr in meinen Club, trank mehrere Drinks und versuchte, diverse junge Damen anzumachen, die ihn jedoch abwiesen. Dann fing er an, rumzukrakeelen und sich ganz allgemein unflätig aufzuführen, und erklärte jedem in Rufweite, dass er eigentlich hier sei, um Dope zu kaufen, und wo denn all die Dealer wären, von denen er in der Kolumne seiner Schwester gelesen hätte.«

»Deshalb wussten Sie, dass er mein Bruder war«, stellte Charley fest und verdrehte die Augen.

»Deshalb und weil ich in seiner Brieftasche nach einem Ausweis gesucht habe, als er dann ausgeknockt war.«

»Wann genau war das?«

»Ungefähr um eins.«

»Woher hat er den Bluterguss im Gesicht?« Charley strich mit dem Finger besorgt über die blasse Wange ihres Bruders. Sie spürte, wie er zuckte, obwohl seine Augen geschlossen blieben. »Haben Sie ihn geschlagen?«

»Ich hatte keine andere Wahl.«

»Was soll das heißen, Sie hatten keine anderen Wahl?«

»Er war betrunken und wahrscheinlich auch bekifft. Ich habe ihm erklärt, dass ich ihm ein Taxi rufen würde, aber er lehnte ab und meinte, er wäre absolut in der Lage, alleine zurück nach Miami zu kommen. Das konnten wir nicht zulassen. Also bin ich ihm auf den Parkplatz gefolgt und habe ihm erklärt, dass er nicht mehr fahrtüchtig sei, und er sagte, ich könne ja versuchen, ihn aufzuhalten.« Glen zuckte mit den Schultern. »Ich hatte wie gesagt keine Wahl.«

»Sie waren ein guter Samariter?«

»Ich wollte bloß nicht, dass er sich betrunken hinters Steuer setzt und am Ende vielleicht noch jemanden umbringt. Eine Schadensersatzklage ist das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann.«

Charley sah hinter den halb geschlossenen Metalljalousien einen Blitz am Himmel zucken, Sekunden später gefolgt von einem Donnerschlag. »Also haben Sie ihn hierhergebracht?«

»Hätte ich ihn lieber draußen liegen lassen sollen?«

»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich mich bei Ihnen bedanke«, sagte Charley.

»Gott behüte! Ich dachte nur, Sie wüssten vielleicht gern, wo er ist.«

»Sind Sie immer so dramatisch?«, fragte Charley und imitierte seine Stimme am Telefon. »Ich habe Ihren Bruder. Sie wissen, wo Sie mich finden.«

Glen lachte. »Ich hab nur Spaß gemacht. Da Sie mich sowieso für einen Gangster halten, dachte ich, ich könnte mich auch wie einer benehmen.«

»Ich glaube, der Ausdruck, den ich verwendet habe, war ›Möchtegern-Gauner‹. Das ist nicht ganz dieselbe Liga wie ›Gangster‹«, korrigierte Charley ihn.

»Autsch.« Glen griff sich an die Brust, als wäre er tödlich verletzt.

»Sind Sie ein Gangster?«, fragte Charley nur Sekunden später, unwillkürlich neugierig.

»Ganz unter uns? Versprechen Sie mir, dass ich über diese Unterhaltung nicht nächste Woche in der Zeitung lesen werde?«

»Ich dachte, Sie lesen meine Kolumnen nie.«

Glen lächelte. »Ich bin kein Gangster.« Er blickte auf ihren schlafenden Bruder. »Macht er so was öfter?«

»Das geht Sie nun wirklich nichts an.«

»Nein, aber es ist mein Sofa. Sie könnten zumindest versuchen, nett zu tun, bis er aufwacht.«

»Tut mir leid. Nett tun war noch nie meine Stärke.«

»Warum überrascht mich das bloß nicht?«

»Weil Sie ein Mann von großer Intelligenz und rascher Auffassungsgabe sind. Wie finden Sie das als Versuch im Netttun?«

»Ein bisschen plump.«

»Machen Sie doch, was Sie wollen.«

»Heißt das, dass Sie es sich vielleicht noch mal überlegen, mit mir zu schlafen?«

»Keine Chance.«

Ein weiterer Blitz. Ein weiterer Donner.

»Das Gewitter kommt näher«, bemerkte Glen.

»Super«, sagte Charley sarkastisch. »Ich bin schon immer gerne im strömenden Regen über die I-95 gefahren.«

»Ich glaube, dass Sie zumindest noch ein Weilchen nirgendwo hinfahren werden.«

Charley blickte vom Fenster zu ihrem Bruder, der jetzt friedlich neben ihr schnarchte. »Super«, sagte sie noch einmal.

»Wollen Sie sich das mit dem Kaffee noch mal überlegen?«

»Warum sind Sie so nett zu mir?«

»Haben Sie ein Problem damit, wenn Menschen nett zu Ihnen sind?«

Charley warf die Hände in die Luft, eine Geste der Kapitulation, die der der gesichtslosen Bronzestatuen im Nebenraum nicht unähnlich war. »Klar, lassen Sie uns Kaffee trinken«, sagte sie. »Warum auch nicht?«

»Warum auch nicht?«, ließ sich Glen wie ein Echo vernehmen und ging zur Tür. »Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«

»Schwarz.«

»Das hatte ich mir fast gedacht. Bin sofort zurück«, sagte er, während im selben Moment am Himmel ein weiterer Blitz zuckte, unmittelbar gefolgt von einem spektakulären Donnerkrachen.

»Du verpasst ein ziemlich imposantes Schauspiel«, erklärte Charley ihrem schlafenden Bruder und trat ans Fenster. Sie öffnete die Schlitze der Jalousie und starrte auf die Sintflut. Regen in Florida war wie nirgendwo sonst auf der Welt, dachte sie, als riesige Tropfen wie wütende Fäuste an die Fensterscheiben schlugen. Er kam unbarmherzig über einen, fegte alles aus dem Weg und machte einen blind. Wenn sie losgefahren wäre, hätte sie anhalten und das Schlimmste abwarten müssen.

Und wäre das wirklich unbequemer, als im Büro des Mannes zu warten, den sie in der Zeitung als »Möchtegern-Gauner« verunglimpft hatte, während ihr Bruder auf der roten Samtcouch desselben Mannes seinen Rausch ausschlief? »Warum tust du mir das an?«, fragte sie Bram, als ein weiterer Blitz am Himmel zuckte und ihren verbeulten silbernen Camry neben Brams altem, makellos gepflegtem, dunkelgrünem MG auf dem Parkplatz erleuchtete. »Du hast diesen Wagen immer mehr geliebt als alles andere auf der Welt«, murmelte sie, während ein weiterer Donnerschlag das Gebäude erschütterte. »Mein Gott, Bram. Was ist bloß los mit dir? Warum vermasselst du immer alles?« Sie kehrte zu dem Sofa zurück und setzte sich neben ihn. »Bram, wach auf. Los. Schluss mit dem Scheiß. Zeit, erwachsen zu werden und nach Hause zu gehen. Los komm, Bram«, sagte sie noch einmal. »Genug ist genug.«

Bram sagte nichts, auch wenn seine langen Wimpern provokant flatterten, als ob er sich mit ein paar wohl gewählten Worten überreden lassen könnte, die Augen aufzuschlagen.

»Bram«, sagte Charley ungeduldig und stupste ihn an. »Bram, kannst du mich hören?«

Nach wie vor keine Reaktion.

»Du kannst nicht immer so weitermachen, Bram«, dozierte Charley. »Du kannst nicht ständig Scheiße bauen und dann erwarten, dass irgendjemand dich rettet. Und du wirst auch nicht jünger«, fügte sie hinzu, obwohl er mit vierundzwanzig wohl kaum ein Kandidat fürs Seniorenheim war. »Es wird Zeit, dass du endlich erwachsen wirst.« Sie seufzte. Im Grunde hatte ihr Bruder das Leben schon vor ziemlich langer Zeit aufgegeben. »Unsere Mutter hat heute Morgen angerufen«, fuhr sie fort und erinnerte sich daran, dass ihr Bruder von allen vier Geschwistern scheinbar am besten damit zurechtgekommen war, dass ihre Mutter sie verlassen hatte. Vielleicht lag es daran, dass er damals mit zwei Jahren noch zu jung war, die Geschehnisse zu begreifen. Ein paar Tage hatte er weinend nach seiner Mama gerufen und war dann unbekümmert in die Arme der Frau gekrabbelt, die ihr Vater engagiert hatte, um den Platz ihrer Mutter einzunehmen. Dort war er als bedürftiges Kind mehr oder weniger geblieben, bis die Frau zwei Jahre später nach einem Streit über ihre Bezahlung gekündigt hatte. Auch sie war gegangen, ohne sich zu verabschieden. Danach hatte es eine Folge von Haushälterinnen gegeben, so gesichtslos wie die Bronzestatuen in Glens Club. Keine war lange geblieben, dafür hatte die unnachgiebige Kälte ihres Vaters gesorgt. »Sie macht sich Sorgen deinetwegen«, erklärte Charley ihrem Bruder jetzt, während sie an ihre eigenen Kinder dachte und sich fragte wie jedes Mal, wenn sie zu lange über ihre Mutter nachdachte, wie die Frau sie einfach hatte verlassen können.

»Ich wollte euch mitnehmen«, hatte ihre Mutter versucht zu erklären, als sie vor zwei Jahren in Charleys Leben zurückgekehrt war. »Aber ich wusste, dass euer Vater nie zulassen würde, dass ich euch mit außer Landes nehme. Und ich musste weggehen. Wenn ich noch länger in diesem Haus geblieben wäre, wäre ich gestorben.«

»Also hast du stattdessen uns zum Sterben zurückgelassen«, erwiderte Charley, die sie nicht so leicht davonkommen lassen wollte.

»Aber schau dich doch an«, gab ihre Mutter prompt zurück. »Du hast dich prächtig entwickelt. All meine Mädchen haben sich prächtig entwickelt.«

»Und Bram? Was ist mit ihm?«

Auf diese Frage hatte Elizabeth Webb keine Antwort parat.