Nur wenn du mich liebst - Joy Fielding - E-Book

Nur wenn du mich liebst E-Book

Joy Fielding

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Beschreibung

Seit dem Tag, an dem sich Chris, Vicky, Barbara und Susan zum ersten Mal begegnen, sind die vier jungen Frauen unzertrennliche Freundinnen, die füreinander durchs Feuer gehen würden. Voller Zuversicht blicken sie auf ein Leben, das ihnen Glück und Zufriedenheit verspricht. Doch ihre Träume werden schon bald von einer unfassbar grausamen Realität eingeholt: Eine von ihnen wird brutal ermordet. Die Anwältin Vicky setzt alles daran, den Täter zu finden – und stößt bald auf eine Spur, die ihre schrecklichsten Befürchtungen noch übertrifft …

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Das Buch

Chris, Vicky, Barbara und Susan sind Anfang dreißig und leben mit ihren Familien in einem Vorort von Cincinnati. Gemeinsam schmieden sie Pläne, voller Vertrauen darauf, dass ihnen nichts passieren kann auf der Welt. Und tatsächlich scheint es lange Zeit, als gäbe es in ihrem Leben keine Schattenseiten. Der Schock ist deshalb groß, als die jungen Frauen eines Tages erfahren, dass die Ehe von Chris einem Albtraum gleicht: Tony ist ein herrschsüchtiger Mann, der die sanfte Chris mit seinen Wutausbrüchen tyrannisiert und sie immer wieder schlägt. Als er seinen Job verliert, macht er Chris das Leben endgültig zur Hölle. Auch in Barbaras Leben verändern sich die Dinge dramatisch: Ihr Mann Ron verliebt sich in eine jüngere Frau und verlässt Barbara, die darüber fast zu zerbrechen droht. Doch dann geschieht etwas, das all diese Ereignisse in den Schatten stellt – eine Tragödie, welche die Freundinnen fassungslos zurücklässt: Eine von ihnen wird mit zerschmettertem Gesicht in ihrem Schlafzimmer aufgefunden, brutal und heimtückisch ermordet. Vicky, die als Anwältin arbeitet, ist fest entschlossen, den Täter zu finden. Dabei stößt sie auf eine Spur, die selbst ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertrifft ...

 

Joy Fielding
gehört zu den unumstrittenen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller „Lauf, Jane, lauf“ waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida. Weitere Informationen unter www.joy-fielding.de
Mehr von Joy Fielding:
Die Schwester • Sag, dass du mich liebst • Das Herz des Bösen • Am seidenen Faden • Im Koma • Herzstoß • Das Verhängnis • Die Katze • Sag Mami Goodbye • Nur der Tod kann dich retten • Träume süß, mein Mädchen • Tanz, Püppchen, tanz • Schlaf nicht, wenn es dunkel wird • Nur wenn du mich liebst • Bevor der Abend kommt • Zähl nicht die Stunden • Flieh wenn du kannst • Ein mörderischer Sommer • Lebenslang ist nicht genug • Schau dich nicht um • Lauf, Jane, lauf! 
(alle auch als E-Book erhältlich)

Joy Fielding

NUR WENN DUMICH LIEBST

Roman

Deutschvon Kristian Lutze

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel»Grand Avenue« bei Pocket Books, New York.

  

Copyright © der Originalausgabe 2001 by Joy Fielding Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München Umschlagmotiv: © FinePic®, München AG ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-89480-779-5V003

www.goldmann-verlag.de

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungEinführungERSTER TEIL 1982–1985 - Chris
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9
ZWEITER TEIL 1988–1990 - Barbara
Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17
DRITTER TEIL 1991–1992 - Susan
Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25
VIERTER TEIL 1992–1993 - Vicki
Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34
EpilogDanksagungCopyright

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Beverly SlopenEine wahrhafte Grande Dame

Einführung

Wir nannten uns die Grandes Dames: Vier Frauen, die auf den ersten Blick und dem äußeren Anschein nach erschreckend wenig gemeinsam hatten. Wir wohnten nur in derselben, ruhigen, von Bäumen gesäumten Straße, waren mit ehrgeizigen und erfolgreichen Männern verheiratet und hatten eine ungefähr zwei Jahre alte Tochter.

Die Straße heißt Grand Avenue und ist trotz der Veränderungen, die Mariemont, eine gutbürgerliche Randgemeinde von Cincinnati, im Laufe der Jahre durchgemacht hat, erstaunlich gleich geblieben. Eine Reihe von adretten Holzhäusern liegt ein gutes Stück von der Straße zurück, die ihrerseits die geschäftige Hauptstraße kreuzt und sich dann träge zu einem kleinen Park an ihrem anderen Ende windet. In diesem Park – dem Grand Parkette, wie der Stadtrat das winzige dreieckige Stückchen Land genannt hatte, ohne sich der Ironie bewusst zu sein – haben wir uns vor fast einem Vierteljahrhundert, genauer gesagt vor dreiundzwanzig Jahren, zum ersten Mal getroffen, vier erwachsene Frauen, die schnurstracks zu den drei Kinderschaukeln strebten, weil sie wussten, dass der Verliererin nur die Sandkiste bleiben und das missfällige Schreien ihres frustrierten Töchterchens weithin zu hören sein würde. Sicherlich war sie nicht die erste Mutter, die die Erwartungen ihrer Tochter enttäuscht hat, und bestimmt nicht die letzte.

Ich weiß nicht mehr, wer das Rennen verloren hat, wer angefangen hat, mit wem zu reden, oder auch nur, worum es in diesem ersten Gespräch ging. Ich erinnere mich nur noch daran, wie unbeschwert wir plauderten, wie nahtlos wir von einem zum anderen Thema wechselten, die familiären Anekdoten und das wissende Lächeln der anderen, an die willkommene, wenn auch unerwartete Vertrautheit, umso willkommener, eben weil sie so unerwartet war.

Vor allem jedoch erinnere ich mich an das Lachen. Selbst heute, so viele Jahre und Tränen weiter – und trotz allem, was geschehen ist, trotz der unvorhersehbaren und manchmal grausamen Umwege, die unsere Leben genommen haben –, höre ich ihn noch, den undisziplinierten, aber eigenartig melodiösen Chor aus Kichern und Glucksen in unterschiedlicher Tonlage und Intensität, jedes Lachen eine Unterschrift, so verschieden wie wir selbst. Und doch verschmolzen diese verschiedenen Stimmen zu einer harmonischen Melodie. Jahrelang habe ich den Klang jenes frühen Lachens überall mit mir herumgetragen. Ich konnte ihn willentlich heraufbeschwören. Er hat mich gestützt und aufrecht gehalten. Vielleicht weil es später so wenig davon gab.

An jenem Tag blieben wir im Park, bis es anfing zu regnen, ein plötzlicher Sommerschauer, auf den niemand vorbereitet war, und eine von uns schlug eine spontane Party in einem unserer Häuser vor. Wahrscheinlich war ich es selber, denn wir landeten bei mir. Vielleicht lag es auch nur daran, dass unser Haus gleich am Park lag. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich, dass wir vier es uns in dem holzgetäfelten Partykeller mit feuchten Haaren und ohne Schuhe bei frischem Kaffee fröhlich und noch immer lachend bequem gemacht und mit schlechtem Gewissen zugesehen haben, wie unsere Töchter jede für sich allein zu unseren Füßen spielten. Denn wir wussten, dass wir mehr Spaß hatten als sie, dass unsere Kinder viel lieber zu Hause wären, wo sie ihr Spielzeug nicht teilen und nicht mit Fremden um die Aufmerksamkeit ihrer Mütter konkurrieren mussten.

»Wir sollten einen Club gründen«, schlug eine der Frauen vor, »und uns regelmäßig treffen.«

»Super Idee«, stimmten wir anderen ihr sofort zu.

Um den Anlass festzuhalten, kramte ich die arg vernachlässigte Super-8-Kamera meines Mannes hervor, deren Bedienung mich ebenso überforderte wie die ihrer modernen Entsprechungen, sodass das Ergebnis eine unbefriedigende Folge schneller und wackeliger Schwenks auf verschwommene Frauen mit oben angeschnittenen Köpfen ist. Vor ein paar Jahren habe ich den Film auf eine Videokassette überspielen lassen, und jetzt sieht er seltsamerweise viel besser aus. Vielleicht liegt es an der modernen Technik oder dem Breitwandbildschirm, der sich per Knopfdruck aus der Decke herabsenkt. Vielleicht ist mein Blick mittlerweile auch so unscharf, dass er mein technisches Versagen kompensiert, denn die Frauen erscheinen mir klar und deutlich.

Was mir besonders auffällt, wenn ich den Film heute ansehe, was mir, genau genommen, jedes Mal den Atem stocken lässt, egal, wie oft ich ihn betrachte, ist nicht nur, wie unbeschreiblich und unerträglich jung wir alle waren, sondern, wie alles, was wir waren – und alles, was wir werden sollten –, schon in jenen fabelhaft faltenlosen Gesichtern geschrieben stand. Doch wenn man mich auffordern würde, in diese scheinbar glücklichen Gesichter zu blicken und ihre Zukunft vorherzusagen, könnte ich es auch heute nicht, dreiundzwanzig Jahre später, da ich nur zu gut weiß, wie alles geendet hat. Selbst mit diesem Wissen ist es mir unmöglich, die Bilder dieser Frauen mit ihrem Schicksal in Einklang zu bringen. Kehre ich deshalb immer wieder zu dieser Kassette zurück? Suche ich Antworten? Vielleicht suche ich Gerechtigkeit. Vielleicht Frieden.

Oder eine Erklärung.

Vielleicht ist es so einfach – und so kompliziert.

Ich weiß nur, wenn ich diese vier jungen Frauen betrachte, mich selbst eingeschlossen, unsere Jugend eingefangen, eingesperrt auf einem Videoband, dann sehe ich vier Fremde. Keine von uns kommt mir besonders vertraut vor, ja, selbst ich bin mir so fremd, dass ich in meiner Erinnerung nur ein Vorname von vieren bin – und nicht »ich«.

Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Kann irgendjemand, der in die Augen dieser vier Frauen blickt, wirklich behaupten, so tief zu sehen? Und diese süßen, unschuldigen Kleinkinder auf den Armen ihrer Mütter – gibt es überhaupt irgendwen, der hinter diese großen, sanften Augen blicken und darunter das Herz eines Ungeheuers schlagen hören kann? Ich glaube nicht.

Wir sehen, was wir sehen wollen.

Da sitzen wir also in einer Art losem Halbkreis, winken und lächeln nacheinander in die Kamera, vier betörend durchschnittliche Frauen, die der Zufall und ein Regenschauer an einem Sommertag zusammengeführt haben. Unsere Namen sind so gewöhnlich, wie wir es waren: Susan, Vicki, Barbara und Chris. Für Frauen unserer Generation vollkommen gebräuchliche Namen. Die Namen unserer Töchter stehen natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Als Kinder der 70er, Früchte unserer privilegierten und phantasievollen Schöße, war unser Nachwuchs selbstverständlich alles andere als gewöhnlich, davon waren wir zumindest zutiefst überzeugt, und die Namen unserer Kinder spiegeln diese Überzeugung wider: Ariel, Kirsten, Tracey und Montana. Ja, Montana. Das ist sie, dort ganz rechts, das blonde, pausbackige Kind, das wütend gegen die Knöchel seiner Mutter tritt, während seine großen marineblauen Augen sich mit bitteren Tränen füllen, kurz bevor seine pummeligen kleinen Beinchen seinen steifen kleinen Körper aus dem Bild tragen. Niemand kann sich diesen plötzlichen Ausbruch erklären, am allerwenigsten ihre Mutter, Chris, die sich nach Kräften bemüht, das kleine Mädchen zu besänftigen und sie zurück in die Geborgenheit ihrer ausgestreckten Arme zu locken. Ohne Erfolg. Montana bleibt störrisch außerhalb des Bildes und lässt sich nicht überreden oder trösten. Chris verharrt eine Weile in der unbequemen Position auf der Stuhlkante, die dünnen Arme ausgestreckt und leer. Mit ihren schulterlangen, blonden, aus dem herzförmigen Gesicht gekämmten und zu einem hohen Pferdeschwanz gebundenen Haaren sieht sie aus wie ein properer Babysitter und nicht wie eine Frau Ende zwanzig. Ihr Gesichtsausdruck sagt, sie werde zur Not für immer darauf warten, dass ihre Tochter ihr die eingebildeten Verfehlungen verzeiht und dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört.

Auch wenn ich weiß, dass es stimmt, scheint es mir heute unbegreiflich, dass sich keine von uns für hübsch hielt, von schön ganz zu schweigen. Selbst Barbara, eine ehemalige Miss Cincinnati und Finalistin für den Titel der Miss Ohio, die ihre Liebe zu wallendem Haar und Stilettoabsätzen nie abgelegt hatte, war von permanenten Selbstzweifeln geplagt. Sie sorgte sich ständig um ihr Gewicht und grämte sich über jedes Fältchen, das sich in die Haut um ihre großen braunen Augen und ihre vollen, beinahe obszön sinnlichen Lippen grub. Das ist sie dort neben Chris. Ihre hoch toupierte dunkle Lockenmähne ist vom Regen ein wenig platt gedrückt worden, und ihre eleganten Ferragamo-Pumps liegen verlassen vor der Haustür zwischen den Sandalen und den Turnschuhen der anderen Frauen, doch ihre Haltung ist immer noch schönheitswettbewerbperfekt. Barbara hat nie flache Schuhe getragen, nicht einmal im Park, und Jeans besaß sie erst gar nicht. Sie war immer absolut makellos gekleidet, und seit ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte niemand, einschließlich ihres Ehemanns Ron, sie je ungeschminkt gesehen. Sie gestand uns, dass sie in den vier Jahren, die sie nun verheiratet war, jeden Morgen um sechs Uhr, eine halbe Stunde vor ihrem Mann, aufgestanden war, sich geduscht, geschminkt und frisiert hatte. Ron hatte sich in eine Miss Cincinnati verliebt, erklärte sie wie vor einem Kollegium aus Preisrichtern, und bloß weil sie jetzt eine Mrs. sei, gäbe ihr das nicht das Recht, sich gehen zu lassen. Selbst an Wochenenden war sie so früh auf den Beinen, dass sie auf jeden Fall hinreichend präsentabel war, bevor ihre Tochter Tracey aufwachte und gefüttert werden wollte.

Nicht, dass Tracey große Ansprüche gestellt hätte. Laut Barbara war ihre Tochter ein in jeder Hinsicht perfektes Kind. Die einzige Schwierigkeit, die sie je mit Tracey gehabt hatte, war in den Stunden vor ihrer Geburt aufgetreten, als das gut 4000 Gramm schwere Baby, das es in sicherer Steißlage nicht besonders eilig hatte, zur Welt zu kommen, sich geweigert hatte, mit einer Drehung in die Beckenlage zu rutschen. Also musste es mit einem Kaiserschnitt geholt werden, der eine Narbe von Barbaras Bauch bis zu ihrem Schambein hinterließ. Heutzutage entscheiden sich Ärzte in der Regel für den weniger entstellenden und kosmetisch behutsameren Unterbauchquerschnitt, der weniger Muskeln in Mitleidenschaft zieht und unterhalb der Bikinilinie verborgen bleibt. Barbaras Bikinizeiten waren jedenfalls vorbei, wie sie sich wehmütig eingestand. Ein weiterer Grund, sich zu grämen, noch etwas, was die vielen Mrs. von den Miss Cincinnatis dieser Welt trennte.

Wie majestätisch sie von ihrem Stuhl zu Boden gleitet, den Rock elegant zwischen die Knie klemmt, um ihrer achtzehn Monate alten Tochter, die sich vergeblich mit den Bauklötzen abmühte, zu zeigen, wie man einen Turm bauen kann. Wenn die Klötze auf den Boden purzeln, hebt sie sie jedes Mal geduldig auf und ermutigt Tracey, es noch einmal zu versuchen, bis sie sie schließlich selbst übereinander stapelt und immer wieder von vorn beginnt, wenn ihre Tochter den Turm versehentlich umstößt. Tracey wird jetzt jeden Moment in die schützenden Arme ihrer Mutter kriechen, die Augen schließen und einschlafen, ihr Porzellanpüppchengesicht von schwarzen Locken gerahmt, die sie von Barbara geerbt hat.

»Es war einmal ein Mädchen klein«, kann ich Barbara sagen hören, während sich ihre Lippen auf dem Bildschirm stumm bewegen, in jenem besänftigenden Singsang, mit dem sie immer mit ihrer Tochter sprach, »das hatte hübsche Locken fein, aus glänzend schwarzem Haar. Und war sie brav, war sie sehr, sehr brav. Doch wenn sie einmal böse war –«

»– dann war sie ganz gemein!«, quiekte Tracey fröhlich in ihrer Babysprache und riss ihre schokoladebraunen Augen auf. Und wir lachten alle.

Barbara lachte am lautesten, obwohl sie das Gesicht dabei kaum bewegte. In panischer Angst vor drohenden Falten und mit zweiunddreißig die Älteste der Anwesenden hatte sie es zu einer Kunst entwickelt zu lachen, ohne dabei zu lächeln. Sie öffnete den Mund und stieß raue, laute Töne aus, während ihre Lippen eigenartig starr blieben und sich weder kräuselten noch verzogen. Im deutlichen Kontrast dazu lachte Chris übers ganze Gesicht, den Mund in achtloser Selbstvergessenheit verzogen, obwohl das entstehende Geräusch zart, ja beinahe zögernd klang, als wüsste sie, dass Ausgelassenheit ihren Preis hatte.

Barbara und Chris hatten sich vor diesem Nachmittag erstaunlicherweise noch nie gesehen, obwohl wir alle seit mindestens einem Jahr in der Grand Avenue wohnten, doch sie wurden sofort beste Freundinnen, ein schlagender Beweis für das alte Sprichwort von den Gegensätzen, die sich anziehen. Neben den offenkundigen äußeren Unterschieden – blond gegenüber brünett, klein gegenüber groß, ein wie frisch gewaschen strahlendes Gesicht gegenüber künstlichem, kosmetischem Glanz – waren sie auch ihrem Wesen nach vollkommen verschieden. Doch sie ergänzten einander perfekt, Chris war weich, zurückhaltend, wo Barbara alles andere als schüchtern war. Sie wurden rasch unzertrennlich.

Das ist Vicki, die sich ins Bild drängt und ihre Präsenz spürbar macht, wie sie es in ihrem Leben praktisch überall getan hat. Mit achtundzwanzig war Vicki die jüngste und bestimmt die erfolgreichste der Frauen. Sie war Anwältin und damals die Einzige von uns, die außer Haus arbeitete, obwohl Susan an der Universität immatrikuliert war und einen Abschluss in englischer Literatur anstrebte. Vicki hatte kurzes rotbraunes Haar, das sie als einen asymmetrischen Bob trug, der die scharf geschnittenen Züge ihres langen, schmalen Gesichts betonte. Sie hatte kleine, haselnussbraune Augen und einen beinahe beunruhigend stechenden, um nicht zu sagen einschüchternden Blick, garantiert hilfreich für eine ehrgeizige Anwältin einer angesehenen Kanzlei in der Innenstadt. Vicki war kleiner als Barbara, größer als Chris und mit knapp achtundvierzig Kilo die Schlankste unserer Gruppe. Ihr feingliedriger Körper ließ sie sogar trügerisch zerbrechlich wirken, doch sie verfügte über versteckte Kraftreserven und schier grenzenlose Energie. Selbst wenn sie wie in dem Film still saß, sah es aus, als wäre sie immerzu in Bewegung, als würde ihr Körper wie eine Stimmgabel vibrieren.

Ihre Tochter Kirsten war im Alter von nur zweiundzwanzig Monaten schon ein Klon ihrer Mutter. Sie hatte die gleiche zarte Statur und die klaren haselnussbraunen Augen ihrer Mutter, konnte auf die gleiche Art an einem vorbeigucken, wenn man mit ihr sprach, als könnte hinter einem etwas Interessanteres, Faszinierenderes, Wichtigeres passieren, das sie auf gar keinen Fall verpassen durfte. Die Kleine war ständig auf den Beinen, tapste hierhin und dorthin und forderte laut krähend die Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer Mutter ein. Vicki tätschelte hin und wieder abwesend ihren Hinterkopf, ohne dass ihre Blicke sich wirklich trafen. Vielleicht war das Kind wie wir alle anfangs geblendet von dem riesigen Diamantring am Mittelfinger von Vickis linker Hand. Selbst auf dem Film scheint er für einen Moment alle anderen Bilder zu überstrahlen, sodass der Bildschirm gespenstisch weiß wird.

Vicki war mit einem gut fünfundzwanzig Jahre älteren Mann verheiratet, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie war sogar mit seinem ältesten Sohn zur High-School gegangen, und zwischen den beiden hatte sich eine schüchterne Romanze entwickelt, die natürlich jäh endete, als Vicki beschlossen hatte, den Vater attraktiver zu finden. Der folgende Skandal hatte die Familie zerrissen. »Eine glückliche Ehe kann man nicht zerstören«, zitierte Vicki an jenem Nachmittag einen Satz aus Elizabeth Taylors Lebenslauf, und wir anderen Frauen nickten einmütig, obwohl wir unseren Schock nicht völlig verbergen konnten.

Vicki schockierte gern, wie die Frauen schnell merkten und heimlich genießen lernten. Denn bei all ihren Fehlern, und das waren nicht wenige, war Vicki in der Regel unbedingt unterhaltsam. Sie war der Funken, der die Flamme entzündete, ihre Anwesenheit war das Zeichen, dass die Party offiziell beginnen konnte, sie brachte alles in Bewegung und zur Not auch durcheinander; sie war die Frau, über die jeder tratschte und gackerte. Und auch wenn sie den Ball nicht unbedingt ins Rollen brachte – das tat überraschenderweise häufig die unscheinbarere Susan –, war Vicki diejenige, die ihn am Laufen hielt und dafür sorgte, dass ihr Team gewann. Denn Vicki spielte immer, um zu gewinnen.

Neben Vicki mit ihrer angespannten Intensität wirkt Susan, die Hände entspannt im Schoß gefaltet, hellbraunes, kinnlanges Haar mit adretter Innenrolle, beinahe wie ein schüchternes Mädchen, wenn man von der Tatsache absieht, dass sie noch gut zehn der dreißig Pfund mit sich herumschleppte, die sie während ihrer Schwangerschaft mit Ariel zugelegt hatte. Das Übergewicht machte sie sichtlich verlegen und kamerascheu, wenngleich sie sich am Bühnenrand schon immer wohler gefühlt hatte als in der Mitte. Die anderen Frauen machten ihr Mut und berichteten von ihren Diäten und Fitnessbemühungen, und Susan hörte zu, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie schon immer lieber zugehört als geredet hatte, ihr Verstand war wie ein Schwamm, der jede Kleinigkeit aufsog. Später notierte sie die Vorschläge in dem Tagebuch, das sie seit Ariels Geburt führte. Auf Drängen der anderen gab sie zu, dass sie einmal davon geträumt hatte, Schriftstellerin zu werden, und Vicki meinte, sie solle mit ihrem Mann reden, der eine Reihe von Zeitschriften besaß und sein Imperium weiter ausbauen wolle.

Susan lächelte, während ihre Tochter fröhlich mit ihren nackten Zehen spielte und sie an den Füßen kitzelte, und wechselte das Thema, weil sie lieber über ihre Seminare an der Uni sprach. Die waren greifbarer als irgendwelche Träume, und Susan war ein durch und durch praktischer Mensch. Sie hatte ihr Studium nach der Heirat aufgegeben und ihren Mann bei seinem Medizinstudium unterstützt. Erst nachdem seine Praxis eingerichtet war und florierte, hatte sie beschlossen, an die Universität zurückzukehren, um ihr Studium abzuschließen. Ihr Mann hätte diese Entscheidung sehr unterstützt, erklärte sie den anderen Frauen, und ihre Mutter half, indem sie tagsüber auf Ariel aufpasste.

»Du hast Glück«, sagte Chris. »Meine Mutter lebt in Kalifornien.«

»Meine Mutter ist kurz nach Traceys Geburt gestorben«, sagte Barbara, und Tränen schossen ihr in die Augen.

»Ich habe meine Mutter nicht mehr gesehen, seit ich vier war«, verkündete Vicki. »Sie ist mit dem Geschäftspartner meines Vaters durchgebrannt. Seither habe ich nichts mehr von dem Miststück gehört.«

Und dann herrschte Schweigen wie so oft nach einer von Vickis kalkulierten Provokationen.

Susan blickte auf die Uhr, und die anderen folgten ihrem Beispiel. Eine von ihnen meinte, dass es spät geworden sei und man sich wohl besser auf den Heimweg machen solle. Wir beschlossen, den Nachmittag mit einer abschließenden Gruppenaufnahme festzuhalten, stellten die Kamera auf der anderen Seite des Raumes auf einen Stapel Bücher und arrangierten uns und unsere Töchter so, dass alle im Bild waren.

Und da sind wir, meine Damen und Herren.

Auf der einen Seite Susan in Jeans und einem schlabberigen, weiten Hemd, auf dem Schoß ihre Tochter Ariel, deren drahtiger Körper einen deutlichen Kontrast zu der gemütlichen Fülligkeit ihrer Mutter bildet.

Auf der anderen Seite Vicki in weißen Shorts und einem gepunkteten, rückenfreien Oberteil, die versucht, die Arme ihrer Tochter Kirsten von ihrem Hals zu lösen, während sie, eine stumme unanständige Bemerkung auf den Lippen, mit mutwillig blitzenden Augen direkt in die Linse der Kamera blickt.

Dazwischen Barbara und Chris; Chris, in einer weißen Hose und einem rotweiß gestreiften T-Shirt, die versucht, ihre Tochter davon abzuhalten, sie wieder zu verlassen, während Tracey brav auf dem berockten Schoß ihrer Mutter sitzt, die ihre kleine Hand hebt und senkt, sodass Mutter und Tochter wie eine Person wirken.

Die Grandes Dames.

Freundinnen fürs Leben.

Dabei sollte sich herausstellen, dass eine von uns gar keine Freundin war, aber das wussten wir damals noch nicht.

Genauso wenig wie eine von uns hätte vorhersagen können, dass zwei von uns dreiundzwanzig Jahre später tot sein würden, eine auf grausame Weise ermordet.

Damit bleibe nur noch ich.

ERSTER TEIL1982–1985

Chris

1

Chris lag mit geschlossenen Augen in ihrem Messingbett, von den Zehen bis zum Kinn fest in das steife weiße Baumwolllaken gewickelt, die Arme wie gefesselt starr an ihren Körper gepresst. Sie stellte sich vor, sie wäre eine ägyptische Mumie, die einbalsamiert in einer antiken Pyramide lag, während Horden neugieriger Touristen in schmutzigen, ausgelatschten Sandalen über ihrem Kopf hin und her wanderten. Das würde zumindest meine Kopfschmerzen erklären, dachte sie und hätte beinahe gelacht, wenn da nicht das Pochen in ihren Schläfen gewesen wäre, das wie ein Echo ihres dumpfen Herzschlags klang. Wann hatte sie sich zum letzten Mal so ängstlich und verloren gefühlt?

Nein, Angst war ein zu starkes Wort, verbesserte sich Chris sofort, ihre Gedanken zensierend, noch bevor sie ganz ausformuliert waren. Es war keine Angst, die sie lähmte, sondern ein vages, beunruhigendes Unbehagen, das wie ein vergifteter Strom durch ihren Körper sickerte. Diese unbestimmte, vielleicht sogar undefinierbare Befindlichkeit war es, die sie die Augen fest geschlossen halten und die Arme starr an ihren Körper drücken ließ, als wäre sie im Schlaf gestorben.

Spürten Tote dieses eindringende, alles durchdringende Gefühl des Unbehagens, fragte sie sich, bevor sie ihrer morbiden Gedanken überdrüssig wurde und die Geräusche des Morgens in ihren Kopf sickern ließ: Unten im Flur sang ihre sechsjährige Tochter Montana, der dreijährige Wyatt spielte mit der Spielzeugeisenbahn, die er zu Weihnachten bekommen hatte; und direkt unter ihr in der Küche öffnete Tony Schranktüren und schlug sie klappernd wieder zu. Nach einigen Minuten war die lähmende Angst zu bloßem Unbehagen geschrumpft, das sich besser in den Griff bekommen und letztendlich leichter ganz abtun ließ. Noch ein paar Minuten, und Chris konnte sich vielleicht einreden, dass das, was vergangene Nacht geschehen war, in Wahrheit ein böser Traum gewesen war, Produkt ihrer überhitzten – überreizten, wie Tony vielleicht sagen würde – Phantasie.

»It’s a heartache!«, schmetterte Montana in ihrem Zimmer am Ende des Flurs.

»Tsch-tsch-tsch-tsch, tsch-tsch-tsch-tsch«, zischte Wyatt, das Geräusch einer Eisenbahn imitierend, laut.

Irgendwo unter ihr ging eine weitere Schranktür auf und klappernd wieder zu. Geschirr klirrte.

»Nothing but a heartache!«

Chris schlug die Augen auf.

Ich habe ein Geheimnis, dachte sie.

Sie ließ ihren Blick durch das kleine Schlafzimmer wandern, ohne den Kopf von dem riesigen Daunenkopfkissen zu heben. Durch die schweren, bernsteinfarbenen Vorhänge fielen ein paar Sonnenstrahlen, die die hellblauen Wände gespenstisch blass erscheinen ließen und in deren Licht über ihrem Kopf kleine Staubpartikelchen tanzten. Der schwarze Rollkragenpullover, den Tony gestern Abend zum Essen getragen hatte, hing achtlos hingeworfen über der Lehne des kleinen blauen Stuhls in der Ecke, einen leeren Arm ausgestreckt zu dem breiten blauen Webteppich, der noch immer klebrig von vor langer Zeit verschüttetem Apfelsaft war. Die Tür zu dem kleinen, direkt angrenzenden Bad stand ebenso offen wie die oberste Schublade der Korbkommode. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte 9.04 an.

Sie sollte wahrscheinlich aufstehen, sich anziehen und nach Wyatt und Montana sehen. Tony hatte ihnen offensichtlich Frühstück gemacht, was sie nicht überraschte. Sonntags stand er immer mit den Kindern auf. Außerdem war er nach einem großen Streit immer besonders nett zu ihr. Sie hatte gespürt, wie er beim ersten Gepolter aus Wyatts Zimmer leise aus dem Bett geschlüpft war, aber so getan, als würde sie schlafen, während er sich eilig angezogen hatte, und bevor er sich über sie gebeugt und ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht hatte. »Schlaf«, hatte sie ihn flüstern hören und seinen Atem beruhigend sanft auf ihrer Haut gespürt.

Sie hatte versucht, wieder einzudösen, doch es war ihr nicht gelungen, und als ihre Lider jetzt endlich gnädig schwer wurden, war es zu spät. Die Kinder würden sich jede Minute bei ihren einsamen Beschäftigungen langweilen, durch die Schlafzimmertür stürmen und ihre Aufmerksamkeit einfordern. Sie musste aufstehen, duschen und sich auf den vor ihr liegenden, anstrengenden Tag vorbereiten. Entschlossen schlug Chris das Laken zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und spürte unsichtbare Kekskrümel unter ihren nackten Füßen zerbrößeln, als sie in Richtung Bad tapste. »Oh, Gott«, sagte sie, als sie ihr geschwollenes Gesicht in dem Spiegel über dem Waschbecken sah. »Ich weiß, dass du irgendwo da drinnen steckst.« Vorsichtig tupfte sie über die Schwellung um ihre Augen. Wurde sie nicht langsam zu alt, um sich in den Schlaf zu weinen?

Außerdem hatte sie gar nicht geschlafen, die ganze Nacht lang keine Minute. »Chris«, hatte sie Tony in regelmäßigen Abständen in ihr Ohr flüstern hören, bevor er sich, als sie nicht geantwortet hatte, wieder auf seine Seite des Bettes zurückgezogen hatte. »Chris, bist du wach?«

Er hat also auch nicht geschlafen, dachte sie mit nicht geringer Befriedigung, als sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzte, einen nassen Waschlappen auf ihre Augen drückte und spürte, wie ihre müde Haut langsam wieder auf Normalgröße schrumpfte. »Wer bist du?«, fragte sie sich nicht zum ersten Mal müde und strich sich ein paar Strähnen ihres strubbeligen blonden Haars aus dem Gesicht. »Weiß der Teufel«, antwortete ihr Spiegelbild mit Vickis Stimme, und Chris kicherte. Das Geräusch kratzte in ihrer Kehle wie eine Katze an einer Fliegengittertür.

»It’s a heartache!«, sang Montana auf der anderen Seite der Badezimmerwand.

Das kann man laut sagen, dachte Chris, stieg unter die Dusche, drehte den Hahn auf und genoss den Schwall heißen Wassers auf ihren Armen und Beinen, spürte ihn wie tausend kleine Peitschenhiebe auf ihrem Rücken. Was gestern Nacht geschehen war, war ebenso sehr ihre Schuld wie Tonys, gestand sie sich ein. Sie stellte sich direkt unter den Strahl, sodass er ihr Haar in der Mitte teilte, bevor er sich über ihr Gesicht ergoss.

Hatten die Kinder sie streiten hören? Sie hörte über dem Rauschen des Wassers das entfernte Echo der Stimmen ihrer sich anschreienden Eltern, das drei Jahrzehnte später immer noch so laut und mächtig klang wie eh und je. Chris erinnerte sich, wie sie in ihrem Bett gelegen und gelauscht hatte, wenn ihre Eltern unten gestritten hatten. Ihre wütenden Worte waren ungeduldig im Flur gekreist und hatten an die Wände ihres Zimmers geklopft, als wollten sie sie unbedingt einbeziehen, bis sie schließlich durch die Bodenritzen in die Luft eingedrungen waren, die sie atmete. Sie hatte sich ihr kleines Kissen aufs Gesicht gedrückt, um das Gift nicht einzuatmen, hatte sich mit zitternden Händen die Ohren zugehalten und versucht, die hässlichen Geräusche zu dämpfen. Einmal war sie sogar aus dem Bett gekrabbelt und hatte sich in der hintersten Ecke des Kleiderschranks verkrochen, doch die Stimmen waren immer lauter geworden, bis sie das Gefühl hatte, dass jemand mit ihr im Schrank war. Als unsichtbare Finger von den Säumen der über ihr hängenden Kleider nach ihr tasteten und fremde Zungen ihre Wangen ableckten, war sie weinend zurück in ihr Bett gelaufen, hatte die Decke bis unters Kinn gezogen, die Arme fest an den Körper gepresst, die Augen zugekniffen und war bis zum Morgen so liegen geblieben.

Hatte sie vergangene Nacht nicht im Grunde dasselbe getan?

War sie kein bisschen erwachsen geworden?

Chris drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und wickelte ein weiches, blau-weiß gestreiftes Handtuch um ihren Kopf und ein zweites um ihren Körper, dankbar dafür, dass sie sich im beschlagenen Spiegel nur schemenhaft erkennen konnte. Sie öffnete die Badezimmertür und spürte die kalte Umarmung der Luft. Wie bin ich nur hier gelandet, fragte sie sich, als sie ins Schlafzimmer zurückschlurfte, mitten im Albtraum meiner Eltern.

»Hallo Schatz«, sagte Tony leise.

Chris nickte wortlos und blickte weiter zu Boden, während ihre Nase den Geruch frisch zubereiteter Pfannkuchen witterte.

»Ich habe dir Frühstück ans Bett gebracht«, sagte er.

Chris ließ sich aufs Bett sinken und lehnte sich gegen die Kissen, während wie von Zauberhand ein Tablett mit einem Teller voll Blaubeerpfannkuchen, einem Glas frisch gepressten Orangensafts und einer Kanne wunderbar duftenden Kaffees vor ihr auftauchte. Neben einer Butterdose aus Edelstahl standen ein kleiner weißer Keramikkrug mit echtem Ahornsirup und eine kleine gläserne Stielvase mit einer roten Butterblume aus Plastik. »Das musstest du doch nicht«, sagte Chris leise, den Blick weiterhin abgewandt. Das habe ich nicht verdient, dachte sie.

Tony saß am Fuß des Bettes. Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie ihre Pfannkuchen mit Butter bestrich und mit warmem Sirup beträufelte, bevor sie vorsichtig erst eine, dann eine weitere Gabel voll zum Mund führte. Paradoxerweise wurde sie mit jedem Bissen hungriger und mit jedem Schluck, den sie trank, durstiger. Binnen Minuten waren die Pfannkuchen verputzt, das Saftglas war leer und der Kaffee ausgetrunken. »Gut?«, fragte Tony erwartungsvoll, und sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

»Wundervoll«, antwortete sie, entschlossen, ihn nicht anzusehen, weil sie wusste, dass das Spiel dann vorüber war.

»Es tut mir so Leid, Chris.«

»Nicht.«

»Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe.«

»Bitte …«

»Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«

Chris spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, und hasste sich dafür. »Bitte, Tony …«

»Willst du mich nicht mal ansehen? Hasst du mich so sehr, dass du meinen Anblick nicht ertragen kannst?«

»Ich hasse dich nicht.« Chris hob kurz den Blick und verschlang ihren Mann mit den Augen.

Auch wenn man Tony nie als attraktiv bezeichnet hätte wie Barbaras Mann oder vornehm wie Vickis, nicht einmal gütig, das erste Wort, was einem in den Sinn kam, wenn man Susans Mann beschreiben sollte, gab es, wenn man sich erst einmal in seinem Blick verloren hatte, kein Zurück mehr. Ein Mann voller Geheimnisse, hatte Barbara verkündet; eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte Susan vorgeschlagen; sexy, hatte Vicki knapp zusammengefasst. Ein Rohdiamant, waren sie sich alle einig gewesen.

Mehr roh als glitzernd, dachte Chris jetzt, während sie beobachtete, wie ihr Mann Zentimeter für Zentimeter auf dem Bett nach oben rutschte und mit der Hand über ihre feuchten Beine strich, was ein Kribbeln wie einen verirrten Stromschlag bis zu ihrem Herz rasen ließ. Von nahem war er kleiner, als er auf den ersten Blick wirkte, allerdings auch muskulöser, als seine schmalen Schultern vermuten ließen. Er trug Jeans und den moosgrünen Pullover, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, weil sie fand, dass der weichere Farbton der Wolle das harte Grün seiner Augen unterstrich. Sein Haar war bis auf eine weiße Strähne nahe seiner rechten Schläfe braun und dicht. Tony erzählte jedem, dass die Strähne die Folge eines Kindheitstraumas war, wobei das Trauma sich mit jedem Erzählen veränderte, genauso wie die Erklärung für die Narbe, die sich von seinem linken Ohrläppchen bis zu seinem Unterkiefer durch seine Haut schnitt. Im Laufe ihrer elfjährigen Ehe hatte Chris so viele Versionen darüber gehört, wie er sich diese Narbe zugezogen hatte, dass sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, ob sie das Ergebnis eines beinahe tödlichen Sturzes in Kindertagen, die Folge eines Autounfalls, den er wie durch ein Wunder überlebt hatte, oder das Resultat einer Kneipenschlägerei war. Sie war sich sicher, dass der wahre Grund unendlich viel prosaischer als all diese Variationen war, obwohl sie Tonys Geschichten nie in Zweifel ziehen würde. Tony brauchte das Dramatische. Er übertrieb die profanen Kleinigkeiten des Lebens, vergrößerte das Gewöhnliche und feierte das Alltägliche. Das machte ihn ja gerade so charmant und feuerte seine Kreativität an. Man konnte keine Zeitung aufschlagen, ohne eine Anzeige zu erblicken, die er gestaltet, nicht bis zur nächsten Straßenecke laufen, ohne ein Plakat zu sehen, das er entworfen hatte. Ein Werbefeldzug für Edelkatzenfutter stammte genauso von ihm wie die »Alles Käse!«-Kampagne einer Großmolkerei. War er nicht schneller als irgendjemand vor ihm zum Senior Artdirector von Warsh & Rubican aufgestiegen? Und war nicht sein natürlicher Hang zur Übertreibung zumindest ein Teil dessen gewesen, was sie zu ihm hingezogen hatte? In jenen frühen Jahren war ihr durch Tony alles so aufregend, grenzenlos und so machbar erschienen.

Chris lächelte, und mehr Ermutigung brauchte er nicht. Sie beobachtete, wie er sofort weiter auf dem Bett nach oben rutschte, das Tablett behutsam auf den Boden stellte und ihre Hände ergriff.

»Tony …«

»Es wird nie wieder passieren, Chris.«

»Das darf es auch nicht.«

»Bestimmt nicht.«

»Du hast mir Angst gemacht.«

»Ich hab mir selbst Angst gemacht«, stimmte er ihr zu. »Ich habe diese brüllende Stimme gehört und konnte nicht glauben, dass ich das selbst war. Die schrecklichen Dinge, die ich gesagt habe …«

»Das meine ich nicht.«

»Ich weiß. Bitte verzeih mir.«

Kann ich das?, fragte Chris sich. Konnte sie ihm verzeihen? »Vielleicht sollten wir es mit einer Beratung oder Therapie versuchen.« Chris hielt den Atem an und wappnete sich gegen seinen garantiert folgenden Wutausbruch. Hatte Tony seine Meinung über Eheberatung nicht schmerzhaft deutlich gemacht? Hatte er ihr nicht erklärt, dass er es bestimmt nicht zulassen würde, dass ein paar überstudierte Seelenklempner in seinem Privatleben herumpfuschten?

»Eine Therapie wird nicht helfen«, sagte er leise.

»Vielleicht doch. Wir könnten es zumindest probieren. Was immer auch unser Problem sein mag –«

»Ich bin gefeuert worden!«

»Was!« Chris war sich sicher, ihn falsch verstanden zu haben. »Wovon redest du überhaupt?«

»Sie haben mich vor die Tür gesetzt«, sagte er, ohne das weiter auszuführen.

Chris sah die Worte vor ihren Augen tanzen wie die Staubteilchen in der Sonne, versuchte, sie festzuhalten, bis sie ihre Bedeutung begriffen hatte, doch so leicht ließen sie sich nicht in Reih und Glied bringen. »Sie haben dich vor die Tür gesetzt?«, wiederholte sie hilflos, doch auch laut ausgesprochen ergaben die Worte nicht mehr Sinn. »Warum?«

Tony zuckte die Achseln. »Dan Warsh meinte irgendwas davon, dass sie frische Perspektiven und neue Ideen bräuchten.«

»Aber sie waren doch immer begeistert von deinen Ideen. Die Katzenfutterreklame, die ›Alles Käse!‹-Kampagne, ich dachte, sie wären ganz hin und weg gewesen.«

»Waren sie auch – letztes Jahr. Jetzt haben wir 1982, Chris. Wir stecken mitten in einer größeren Rezession. Allen geht der Arsch auf Grundeis.«

»Aber…« Chris hielt inne. Beschwerte Tony sich nicht immer darüber, dass sie nie wusste, wann sie es gut sein lassen sollte? »Wann ist es passiert?«

»Freitagmorgen.«

»Freitag! Warum hast du es mir nicht erzählt?«

Tränen schossen in Tonys Augen, und er wandte sich ab. »Gestern Abend habe ich versucht, es dir zu erzählen.«

Chris atmete tief ein und versuchte, sich an die Ereignisse vom Vorabend zu erinnern, an die genaue Abfolge dessen, was gesagt worden war, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten waren. Doch sie hatte die wütenden Worte so angestrengt verdrängt, dass sie sich jetzt nicht wieder hervorlocken lassen wollten. Lediglich geknurrte und abgerissene Satzfetzen fielen ihr ein, potenziell bedeutungsvolle Bilder prasselten auf sie nieder und verschwammen wie Schnee auf einer Windschutzscheibe in einem Wintersturm. Tony warf ihr immer vor, dass sie nicht zuhörte. Hatte er etwa Recht?

»Es tut mir Leid«, erklärte sie ihm und nahm seinen Kopf in ihre Hände und drückte ihn gegen das Handtuch um ihre Brüste.

»Wir werden schon zurechtkommen«, versicherte er ihr eilig. »Es ist schließlich nicht so, als ob ich keinen anderen Job finden könnte.«

»Natürlich wirst du einen anderen Job finden.«

»Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Ich wünschte bloß, ich hätte es gewusst. Vielleicht wäre das mit gestern Nacht nie …«

»Damit will ich mein Verhalten von gestern Nacht nicht entschuldigen.«

»Das weiß ich.«

»Es war vollkommen daneben.«

»Du warst erregt, weil du deinen Job verloren hast.«

»Das gibt mir noch lange nicht das Recht, es an dir auszulassen.«

»Es war ebenso sehr meine Schuld wie deine. Tony, es tut mir so Leid …«

»Ich liebe dich, Chris. Ich liebe dich so sehr. Der blöde Job ist mir egal. Ich kann eine Million Jobs verlieren, aber dich darf ich nicht verlieren.«

»Du wirst mich nicht verlieren. Bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht.«

Und dann lagen sie sich in den Armen, und er küsste sie so, wie er sie geküsst hatte, als sie neunzehn war und er versucht hatte, sie zu überreden, mit ihm durchzubrennen, wie er sie geküsst hatte, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, und wie er sie immer küsste, wenn sie sich nach einem Streit versöhnten, kurze, zärtliche Küsse, die ihre Lippen kaum streiften, als hätten sie Angst, länger zu verweilen als erwünscht. Sie spürte, wie er das Handtuch um ihren Kopf löste, sodass es auf ihre nackten Schultern glitt. Feuchtes Haar fiel ihr in ungebändigten Strähnen ins Gesicht, und Chris hob instinktiv die Hand, um sie hinter die Ohren zu streichen. Tony zupfte schon an dem Handtuch um ihre Brüste, öffnete es und drückte sie aufs Bett.

»Mami!«, ertönte plötzlich ein Schrei vor der geschlossenen Schlafzimmertür.

Chris spürte, wie Tony erstarrte, und hielt den Atem an, um seine Reaktion abzuwarten. Doch er lachte nur, und in jenem unerwarteten, vollen und kehligen Geräusch hörte sie all die Gründe, aus denen sie vor so vielen Jahren tatsächlich mit ihm durchgebrannt war. Es klang nach Sicherheit und Dauer, und beides hatte sie in ihrer Kindheit vermisst.

»Mami ist im Moment ein bisschen beschäftigt«, rief Tony, eine Hand am Reißverschluss seiner Jeans.

»Ich will Mami!«, beharrte das Kind und rüttelte an der Türklinke.

»Ich komme sofort, mein Mopperchen«, rief Chris und wollte sich aufrichten. Tonys unerwartet fester Griff hielt sie davon ab, während das Kind weiter gegen die Schlafzimmertür trommelte. Warum hatte Tony abgeschlossen?

»Wisst ihr noch, worüber wir beim Frühstück geredet haben, Kinder?«, fragte Tony, dessen Jeans sich mittlerweile über einer unübersehbaren Erektion spannte. »Darüber, dass Mami sich nicht so wohl fühlt und dass ihr sie ganz lange schlafen lassen wolltet? Wisst ihr das noch?«

»Aber jetzt ist sie auf«, insistierte Montana. »Ich hab euch reden hören.«

»Ja, aber sie fühlt sich immer noch nicht besonders wohl.«

»Was hat sie denn?« Montanas Stimme klang eher anklagend als besorgt.

»Mami! Mami!«, rief Wyatt.

»Tony«, flüsterte Chris und küsste sein Kinn. »Das können wir doch auch später noch machen.«

Tony fasste ihre Schulter fester. »Geht wieder in eure Zimmer, Kinder. Mami kommt gleich.«

»Jetzt!«, forderte Montana.

»Tony, bitte«, sagte Chris. »So kann ich mich sowieso nicht entspannen.«

»Es wird nicht lange dauern.« Tony zog seine Jeans in die Kniekehlen und zog ihren Kopf an sich. »Komm schon, Chris. Du kannst mich doch jetzt hier nicht so stehen lassen.«

»Mami! Lass mich rein!«

»Bitte, Chris.«

»Mammmmmmi!«

»Warum singst du Mama nicht etwas vor?«, schlug Tony vor, schob sein Geschlecht zwischen Chris’ Lippen und bewegte ihren Kopf langsam vor und zurück.

»Was soll ich denn singen?«

»Was du möchtest, mein Herzchen«, sagte Tony und grub seine Finger in Chris’ Kopfhaut.

»It’s a heartache!«, begann Montana aus Leibeskräften zu singen. »Nothing but a heartache!«

Gütiger Gott, dachte Chris. Passierte das wirklich?

»Gets you if you’re too late. Feels just like a clown.«

War sie wirklich dabei, ihrem Mann einen zu blasen, während ihre sechsjährige Tochter vor der Schlafzimmertür von Herzschmerz sang? Nein, dass konnte sie nicht. Es war zu absurd, zu bizarr.

Als ob er ihr wachsendes Unbehagen gespürt hätte, wurde Tony schneller. Chris stützte sich auf der Bettkante ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

»Mein Gott, Chris, das ist so gut. Ich liebe dich so sehr.«

»Nothing but a heartache …«

»Tony …«

»Jetzt, Chris, jetzt!«

Sie spürte, wie sein Körper zu zittern begann und er ihre Haare losließ. Er zog seine Jeans rasch wieder hoch. Chris schluckte, wischte sich den Mund ab und massierte ihren Kiefer, während Tony zur Tür ging und sie aufmachte. Sofort stürzten Montana und Wyatt herein, sprangen aufs Bett und rangelten um die beste Position auf Chris’ Schoß.

»Du riechst komisch«, sagte Montana.

»Morgenatem«, sagte Tony zwinkernd und hob Wyatt hoch über seinen Kopf, während der Kleine begeistert quiekte.

»Igitt«, sagte Montana, rutschte vom Schoß ihrer Mutter und warf sich gegen Tonys Beine.

Tony hob sie mit der freien Hand mühelos hoch und ließ sie an seiner Seite baumeln. »Wer gewinnt den Super Bowl?«, fragte er herausfordernd.

»Bengals!«, rief Wyatt.

»Das ist mein Junge.«

»Bengals, Bengals!«, kreischte Montana noch lauter, um ihren Bruder zu übertrumpfen.

Du lieber Gott, der Super Bowl, dachte Chris und schlug sich verlegen eine Hand vor den Mund. Das hatte sie völlig vergessen. Sie hatte so viel zu tun und sich noch nicht einmal überlegt, was sie zum Abendessen machen wollte.

2

Die Frauen saßen um den runden Kiefernholztisch, der einen großen Teil von Chris’ kleiner Küche einnahm. Auf dem Tisch standen zwei offene Weinflaschen, eine mit rotem, eine mit weißem Wein, und mindestens ein halbes Dutzend unterschiedlich volle Gläser. Während sie den neuesten Klatsch austauschten und zwischendurch an ihrem Chardonnay nippten, schälte Chris abwesend einen Bund großer Möhren, Vicki zupfte an den Spitzen einer neuen, eher misslungenen Dauerwelle herum, während Susan und Barbara sich über die neueste Ausgabe von Cosmopolitan amüsierten. Bis auf Barbara, die einen knöchellangen, blauen Samtrock trug, hatten alle warme, bequeme Pullover und Jeans an, wobei Vickis aus Leder waren.

»Das ist eine Super-Bowl-Party«, spottete Vicki bei ihrem Anblick, »keine Hochzeit.«

»Ich weiß«, gab Barbara, untermalt von einer graziösen Bewegung ihrer flatternden Finger, leichthin zurück. »Ich weiß. Ich weiß.«

»Sie kann eben nicht anders«, meinte Susan.

In dem Raum direkt unter ihnen saßen ihre Männer, tranken Bier und brüllten abwechselnd anfeuernd oder verärgert auf einen gleichgültigen Fernsehschirm ein. Im Wohnzimmer waren ihre Kinder versammelt – insgesamt fünf Mädchen und zwei Jungen –, die kichernd Popcorn futterten und sich unter den wachsamen, wenngleich müden Blicken von Vickis Kindermädchen zum zigsten Mal Elliot, das Schmunzelmonster ansahen.

»Und was glaubst du, was ihr Geheimnis ist?«, fragte Susan plötzlich.

Chris’ Hand mit dem Schälmesser erstarrte mitten in der Bewegung, ihr war, als ob aller Augen auf sie gerichtet waren. Woher wissen sie es, fragte sie sich und spürte, wie ihre Wangen so orange anliefen wie die Möhre in ihrer Hand. Sie hatte nichts gesagt, sich keiner von ihnen anvertraut. Waren sie so fein auf die Nöte und Bedürfnisse der anderen eingestimmt? War ihr schützender Radar nach nur vier Jahren Freundschaft so stark? Konnte sie nichts vor ihnen verbergen, egal, wie persönlich oder beschämend es war?

Chris hatte sich ihre Lügen bereits zurechtgelegt und auf der Zungenspitze, als sie den Kopf hob. Geheimnis? Was für ein Geheimnis? Nein, natürlich ist alles in Ordnung. Und wenn sie weiter in sie drangen, sich weigerten, ihre aufrichtigen Beteuerungen zu glauben, und ihre Lüge als das abtaten, was sie offensichtlich war. Was dann? Konnte sie ihnen wirklich die Wahrheit sagen?

Doch als Chris aufblickte, sah sie, dass niemand sie mit besorgten, fragenden Blicken betrachtete. Susan und Barbara waren vielmehr weiterhin in ihre Illustrierte vertieft. Und auch Vicki hatte aufgehört, an ihrer widerspenstigen Dauerwelle herumzuzupfen, und musterte zusammen mit den beiden anderen ein Foto von Raquel Welch, die, aus ihrem winzigen weißen Bikini quellend, am sonnigen Strand von Malibu Yoga-Übungen machte.

»Ihr Geheimnis?«, wiederholte Barbara. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Sag mir nicht, es ist plastische Chirurgie«, sagte Susan.

»Natürlich ist es plastische Chirurgie«, verkündete Barbara.

»Das sagst du über jede.«

»Weil es stimmt. Nun kommt schon, Mädels. Sie ist über vierzig.«

»Ich habe gehört, sie hätte sich ein paar Rippen entfernen lassen«, wusste Vicki zu berichten.

»Das glaube ich sofort«, sagte Barbara.

»Meinst du, sie hat sich auch den Busen machen lassen?«

»Nein.«

»Doch.«

»Wenn, will ich die Adresse von ihrem Arzt«, sagte Barbara. »Dann hat er großartige Arbeit geleistet.«

»Ja«, stimmte Vicki ihr zu. »Wenn sich eine Frau den Busen machen lässt, hat sie hinterher meistens zwei große dicke Ballons, die irgendwo aus dem Nichts ragen, mit Brustwarzen, die ungefähr zehn Zentimeter höher liegen, als sie sollten. Es sieht absolut lächerlich aus. Jeder merkt sofort, dass sie nicht echt sind.«

»Das ist Männern egal«, sagte Barbara, und im selben Augenblick ertönte unten lauter Jubel. »Sie mögen sie, egal, wie unecht sie aussehen.«

»Würdest du dich einer Schönheitsoperation unterziehen?«, fragte Chris und atmete die Luft aus, die sie die ganze Zeit ängstlich angehalten hatte.

»Nie im Leben«, sagte Susan und klappte entschlossen die Zeitschrift zu.

»Man soll nie nie sagen«, erklärte Vicki ihr und goss sich ein weiteres Glas Rotwein ein.

»Ich werde meine Fassade auf jeden Fall renovieren lassen.« Barbara klopfte sich auf ihre vollen Brüste unter ihrer hellblauen Seidenbluse. »Sobald die Babys schlaff werden, besorge ich mir ein Paar neue. Beim ersten Anzeichen einer Falte liege ich auf dem OP-Tisch. Und von diesem Blödsinn von wegen ›Ich möchte bloß ausgeruht und entspannt aussehen‹ will ich auch nichts hören. Ich will aussehen, als käme ich direkt aus dem Windkanal.«

Die Frauen lachten. »Du bist verrückt«, erklärte Chris ihr. »Warum willst du an diesem wunderschönen Gesicht rumpfuschen?«

»Was ist nur aus dem Konzept von ›in Würde altern‹ geworden?«, fragte Susan.

»Ich bitte dich«, sagte Barbara. »Was ist denn so würdig am Altern?«

»Deswegen hättet ihr eben ältere Männer heiraten sollen«, erklärte Vicki ihnen. »Dann seid ihr immer die Junge.«

»Aber ist das nicht ein schlechter Tausch?«, fragte Barbara und zog eine ihrer sorgfältig gezupften Brauen hoch.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, mag sein, dass du jung bleibst« – Barbara zwinkerte – »aber bleiben sie auch hart?«

Ein lautes Quieken drang aus Chris’ Kehle, während ihr Gesicht endgültig dunkelrot anlief. Sie sprang vom Tisch auf, kippte eilig die Möhrenreste in den Abfall unter dem Waschbecken und gab die Möhren in die große hölzerne Salatschüssel, die auf der weiß gekachelten Anrichte stand.

»Chris, beweg deinen Arsch wieder hierher«, befahl Vicki. »Wir diskutieren hier über sehr wichtige Dinge.«

»Ich finde, wir sollten über so was nicht reden«, sagte Chris und versuchte, nicht Tonys erigierten Penis vor ihrem Gesicht zu sehen und zu spüren, wie er gegen ihren Gaumen stieß.

»Wir reden immer über so was«, entgegnete Vicki.

»Ich weiß, aber…« Chris warf einen Blick in Richtung Wohnzimmer. »Ihr wisst doch, dass die kleinsten Zwerge angeblich die längsten Ohren haben.«

»Genau davon reden wir«, sagte Vicki lachend. »Von großen Zwergen. Man hat mich herausgefordert. Du weißt doch, dass ich das nicht auf sich beruhen lassen kann.«

»In der Abteilung gibt’s also keine Probleme?«, fragte Barbara, Vicki absichtlich weiter provozierend. »Ich meine, Jeremy ist jetzt wie alt? Sechzig?«

»Er ist siebenundfünfzig«, korrigierte Vicki sie.

»Und?«

»Und in der Abteilung funktioniert alles bestens, vielen Dank.« Vicki trank einen Schluck aus ihrem Glas. »Außerdem ist Jeremys Zwerg schließlich nicht der Einzige im Garten.«

»Was!«, riefen die anderen Frauen unisono.

»O mein Gott!«, sagte Barbara. »Was genau willst du damit sagen?«

»Hey, könnt ihr ein bisschen leiser sein?«, rief Tony von unten.

»Braucht ihr da oben irgendwelche Hilfe?«, ließ sich Jeremy vernehmen.

»Wir kommen ganz prima zurecht, Liebling«, rief Vicki zurück.

»Was genau meinst du damit?«, fragte Susan.

Vicki lächelte. »Nun, wir wissen doch alle, dass Abwechslung das Leben würzt.«

Chris kehrte eilig auf ihren Stuhl an dem Küchentisch zurück. »Du hast eine Affäre?«

»Nun guck doch nicht so schockiert. Es hat nichts zu bedeuten.«

»Wie kann es nichts bedeuten?«, fragte Susan.

»Es ist reiner Sex«, erklärte Vicki den anderen Frauen, als ob damit alles klar wäre. »Wollt ihr etwa sagen, dass ihr noch nie eine Affäre gehabt habt?«

»Genau das will ich ganz entschieden sagen«, erwiderte Susan.

»Man soll nie nie sagen«, warnte Vicki sie erneut.

»Was, wenn Jeremy es erfährt?«

»Das wird er schon nicht.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil er es bis jetzt auch nie herausgefunden hat.«

»O mein Gott!«

»Das glaube ich nicht!«

»Was ist denn da oben los?«, rief Tony.

»Das hast du uns bisher vorenthalten«, sagte Barbara und sah Vicki strafend an.

»Alles eine Frage des Timings«, erklärte Vicki ihr.

»Mami!«, rief eins der Kinder aus dem Wohnzimmer.

»Ja«, antworteten die vier Frauen im Chor.

»Whitneys Kopf ist so groß. Er ist mir im Weg.«

Susan seufzte. »Der Kopf ihrer Schwester ist zu groß«, verkündete sie der verständnisvoll nickenden Runde. »Du musst ihn küssen«, rief sie zurück. »Dann schrumpft er.«

»Apropos Oralsex …«, sagte Vicki.

»Du bist wirklich unmöglich«, sagte Barbara lachend, während Chris den Blick senkte. »Guck mal, du machst unsere Gastgeberin ganz verlegen.«

»Wirklich? Das tue ich besonders gern. Mache ich dich verlegen, Chris?«

»Vielleicht sollten wir von was anderem reden«, schlug Chris erneut vor.

»Was denn zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht. Über Politik oder Literatur. Hat irgendwer von euch in letzter Zeit ein gutes Buch gelesen?« Chris sah Susan an. Susan las immer irgendwas.

»Ich habe in den Weihnachtsferien den neuen John Irving gelesen.«

»Und, ist er gut?«

»Mir hat er gefallen.«

»Langweilig!«, erklärte Vicki mit einem übertriebenen Gähnen. »Nun kommt schon, Mädels. Das ist nicht der Zeitpunkt für intellektuelle Debatten. Reden wir von den feinen Sachen.« Sie wies auf die Cosmopolitan. »Multiplizieren Sie Ihren Orgasmus«, kreischte es geradezu von der Titelseite. »Und wer hat hier, außer mir natürlich, noch multiple Orgasmen?«

»Ich kann es nicht glauben«, sagte Barbara. »Du lässt wirklich nicht locker.«

»Hast du multiple Orgasmen?«, hörte Chris sich fragen.

»Manchmal«, antwortete Vicki achselzuckend. »Du nicht?«

Chris führte das Weinglas zum Mund und trank einen großen Schluck. Sei’s drum, dachte sie. Sie bewahrte schon genug Geheimnisse. »Ich hatte noch nie einen Orgasmus.«

»Du meinst, du hattest noch nie einen multiplen Orgasmus«, verbesserte Vicki sie.

»Ich meine, ich hatte überhaupt noch nie einen Orgasmus.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Ich auch nicht«, gab Barbara nach einer kurzen Pause zu.

»Hört mir doch auf«, sagte Vicki. »Ich dachte, Ron wäre angeblich so gut im Bett.«

»Ist er auch«, verteidigte Barbara ihren Mann. »Es ist nicht seine Schuld, dass ich keine Orgasmen habe.«

»Wessen Schuld ist es denn?«, fragte Vicki schlicht, bevor sie ihren durchdringenden Blick auf Susan richtete. »Was ist mit dir?«

»Ich glaube, ich sollte besser mal nach den Kindern sehen«, sagte Susan rasch, stand eilig auf und verschwand im Wohnzimmer. »Wie geht es euch allen?«, hörte Chris sie die versammelte Kinderschar fragen.

»Whitneys Kopf ist immer noch zu groß«, beschwerte Ariel sich laut.

»Womit wir wieder bei Oralsex wären«, sagte Vicki und wandte sich wieder Barbara und Chris zu.

»Was? Wie sind wir denn darauf zurückgekommen?«

»Es ist die sicherste Methode, einen Orgasmus zu bekommen. Eine geduldige Zunge ist allemal besser als ein steifer Schwanz, das könnt ihr mir glauben. Eure Männer machen es doch gerne, oder nicht?«

Chris und Barbara tauschten verstohlene Blicke. »Was das angeht, übernimmt Ron lieber den passiven Teil«, gab Barbara zu, während Chris auf den Boden starrte. Die Wahrheit war, dass Tony sich komplett weigerte, sie mit dem Mund zu verwöhnen.

»Wer hat noch gesagt, dass Geben seliger ist denn Nehmen?«, fragte Vicki.

»Ron jedenfalls nicht«, bemerkte Barbara.

»Ich glaube, das war Jesus«, sagte Chris.

»Redet ihr immer noch über Sex?«, fragte Susan, als sie zurück in die Küche kam.

»Offenbar hat sogar Jesus darüber geredet«, erwiderte Vicki.

»Dafür wirst du in der Hölle schmoren, das weißt du doch, oder?«, meinte Barbara lachend.

»Wir werden alle in der Hölle schmoren«, pflichtete Chris ihr bei und dachte, dass das wahrscheinlich wirklich stimmte.

»Ist irgendwas verschmort?«, fragte Tony, als er in die Küche kam und Chris auf die Stirn küsste, bevor er zum Kühlschrank strebte.

»Ist das Spiel schon vorbei?« Chris beobachtete, wie ihr Mann eine Hand voll eiskalter Biere aus dem Gefrierfach nahm.

»Machst du Witze? Unser Kampf hat gerade erst angefangen.«

»Wer gewinnt denn?«

Tony zwinkerte. »Die guten Typen.«

»Ist das nicht ein Oxymoron?«, fragte Vicki.

»Pass auf, wen du einen Ochsen nennst«, warnte Tony sie scherzhaft. »Worüber redet ihr Mädels eigentlich?«

»Über Politik«, antwortete Barbara todernst.

»Und Literatur«, fügte Susan hinzu.

»Nun, das erklärt natürlich das Gekreische und Gejohle«, sagte Tony auf dem Weg aus der Küchentür.

Die Frauen lachten und sahen ihm nach.

»Willst du mir erzählen, dass dieser sexy Mann dich nicht gern leckt?«, fragte Vicki. »Ich finde, das ist ein Scheidungsgrund. Apropos, ich kenne einen neuen Witz«, fuhr sie fast im selben Atemzug fort. »Warum ist eine Scheidung so teuer?«

»Warum?«, fragten die Frauen gespannt.

»Weil sie es wert ist.«

 

Chris hatte das Lachen der Frauen noch im Ohr, als längst alle gegangen waren.

»Chris?«, rief Tony von oben. »Kommst du nicht ins Bett?«

»Ich räum eben noch die Spülmaschine aus«, rief Chris zurück und stellte die letzten Biergläser ins Regal.

Sie bewegte sich langsam und genoss das Gefühl der warmen Gläser auf ihrer Haut, fasziniert von der sanften Rundung der hohen, schlanken Gefäße. Es war eine gute Party gewesen, dachte sie. Alle haben etwas zum Abendessen beigetragen – Barbara einen raffinierten Auberginen-Dip, Susan ihre berühmten doppelt gebackenen Kartoffeln, Vicki ein spektakuläres Mousse au chocolate, das, wie sie gestanden hatte, von ihrer Haushälterin zubereitet worden war. Und alle hatten von Chris’ neuem Bratenrezept geschwärmt. Genau die richtige Menge Knoblauch, und das Fleisch noch zartrosa. Keine Scheibe war übrig geblieben, wohingegen noch genug Salat da war, um damit bis ins nächste Frühjahr zu kommen.

Auch wenn Cincinnati letztlich mit 21:26 gegen San Francisco verloren hatte, war Tony glücklich, denn er hatte perverserweise auf die Forty-Niners gewettet und von seinen Trinkkumpanen sechzig Dollar kassiert. Und zwischen Tony und ihr hatte es nur ein paar Spannungen gegeben. »Worüber habt ihr wirklich geredet?«, wollte er im Laufe des Abends mehrmals wissen. »Ich habe gemerkt, wie Vicki mich irgendwie komisch angeguckt hat«, meinte er irgendwann. »Hast du ihr irgendwas gesagt?« »Natürlich nicht«, hatte Chris ihm versichert. »Mach dir keine Sorgen, Tony. Es ist alles in Ordnung.«

War es das wirklich?

Chris schloss die Schranktür und ging durch das dunkle Wohnzimmer. Der Duft von Popcorn hing noch in Sofa und Stühlen und folgte ihr in den Hausflur. Sie rüttelte an der Haustür, um sich zu vergewissern, dass sie sicher verschlossen war, doch dann öffnete sie sie noch einmal und trat in die kalte Luft hinaus. Es war eine klare Nacht. Ein Dreiviertelmond leuchtete an einem dunkelblauen Himmel voller Sterne. Schnee bedeckte die Vorgärten der altmodischen Einfamilienhäuser. Chris blickte die ruhige Straße hinauf und hinunter. Vier Häuser weiter ließen die Albrights ihr Dach mit Zedernholzziegeln decken und den bröckelnden gemauerten Schornstein durch einen Kamin aus glänzendem, neuem Kupfer ersetzen. Tony meinte, sie wären verrückt, das Kupfer würde sich im Laufe der Zeit mit Grünspan überziehen und hässlich werden. Chris war anderer Meinung. Sie glaubte, dass es nett aussehen würde.

Auch andere Veränderungen kündigten sich an. Die O’Connors, die einen halben Block weiter auf der anderen Straßenseite wohnten, sprachen davon, ihr rotes Backsteinhaus im Frühling um ein Zimmer zu erweitern, was vernehmliches Gemurmel unter diversen Nachbarn ausgelöst hatte, die um den Charakter des Viertels fürchteten. »Es gibt einfach Menschen, denen jede Veränderung unangenehm ist«, hatte Susan heute Nachmittag gesagt und hinzugefügt, dass sie und Owen mit der Idee liebäugelten, ihre Küche um einen Meter in den Garten zu erweitern. Chris hatte einen verglasten Wintergarten vorgeschlagen, weil sie selbst schon immer davon geträumt hatte.

»Chris?«, rief Tony im Haus.

Sie wandte sich um und dachte, dass sie wahrscheinlich wieder hineingehen sollte. Es war spät, die meisten Häuser waren schon dunkel, ihre Bewohner hatten sich schlafen gelegt. Oder beobachtete sie hinter der ordentlichen Reihe von Sprossenfenstern irgendjemand?

Was, wenn sie jetzt einfach weglaufen würde? Einfach die Tür hinter sich zuziehen und die Straßen hinuntergehen würde? Würde irgendwer sie sehen? Wie weit würde sie ohne Mantel und Winterschuhe, ohne Geld und Ausweis kommen? Wie lange würde es dauern, bis Tony ihre Abwesenheit bemerken und nach ihr suchen würde? Wie viele Meilen konnte sie zwischen sich und ihre Kinder bringen, bevor sie umkehren musste? Wie konnte sie sie überhaupt verlassen? Und wohin in Gottes Namen sollte sie gehen?

»Chris?«, rief Tony erneut.

Sie hörte ihn im Haus herumlaufen, spürte seine Schritte auf dem Holzboden im Hausflur. Ihr Körper neigte sich zur Straße, als würde sie auf der Kante eines hohen Gebäudes stehen, einen Fuß in die Luft gestreckt, bereit zur endgültigen Flucht. Los, drängte eine innere Stimme sie. Schau nicht zurück.

Hinter ihr ging die Tür auf.

»Chris?«, fragte Tony. »Was machst du denn hier draußen?«

Wortlos ließ sich Chris wieder ins Haus ziehen.

»Draußen ist es eiskalt, Herrgott noch mal.« Erst als Tony begann, ihre Arme abzureiben, spürte sie die Kälte. »Was hast du gemacht?«

»Nichts. Nur geguckt. Es ist so ein schöner Abend.«

»Geht es dir gut?«

Chris nickte.

»Bist du sicher? Du warst in den letzten Tagen irgendwie seltsam.«

»Mir geht es gut.« Chris entdeckte die Sorge in seinen Augen und strich mit der Hand über seine Wange. »Mit den Kindern alles in Ordnung?«

»Die schlafen. Wie die Babys.« Er lächelte und schlang seine Arme um ihre Hüften. »Apropos …« Er senkte den Kopf und zog eine Augenbraue hoch.

3

»Verzeihung, sind Sie Barbara Azinger?«

Barbara blickte von der Speisekarte auf, die sie seit einer halben Stunde studierte – mittlerweile müsste sie das Angebot auswendig kennen –, und nickte. »Das bin ich«, antwortete sie mit sanfter, ruhiger Stimme und blickte unter mascaraschweren Wimpern zu dem Kellner auf. Fand der junge Mann sie zumindest ein bisschen attraktiv?, fragte sie sich und wandte den Kopf ein wenig nach links, um ihm einen Blick auf ihre Schokoladenseite zu gewähren. Ahnte er überhaupt, dass sie einst die Krone der Miss Cincinnati getragen und den dritten Platz bei der Wahl zur Miss Ohio belegt hatte? Ihr Blick verdüsterte sich, als ihr klar wurde, dass es durchaus möglich war, dass der junge Mann noch gar nicht geboren war, als sie ihren überdimensionierten Rosenstrauß stolz über den Laufsteg getragen hatte.