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Kurz vor Weihnachten, Ende der achtziger Jahre in Irland. Gewalt, religiöser Terror, Anfeindungen und Ausgrenzungen bestimmen den Alltag in einem Stadtteil in der Nähe von Belfast. "Sandy ist das, was mich am Leben hält", sagt Laurina eines Tages zu ihrer Mutter. Es ist der Tag, an dem das elfjährige Mädchen beginnt zu kämpfen, gegen ein unvorstellbar tristes Leben. An der neuen Schule sind alle gegen Laurina und ihre Schwester Sandy, weil sie keine ehrlichen Katholiken sind, wie die anderen Kinder sagen. Während die Mutter versucht, jeden Tag mit irgendwelchen Jobs zu überstehen, um ihre Kinder zu ernähren, werden sie für ihre offensichtliche Armut auch noch verachtet. Als sie dann noch von ihrer Mutter getrennt werden, bricht für sie eine Welt zusammen. Einzig ein Mitschüler bringt Laurina das Vertrauen und die Hoffnung nach und nach zurück - aber ausgerechnet dieser Junge birgt ein großes, schwerwiegendes Geheimnis... Ein Sozialdrama, das im Irland der späten achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, und das die Geschichte eines Mädchens erzählt, welches für seine kleine Schwester durch die Hölle gehen würde.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Widmung
KAPITEL 1 - IST SO KALT DER WINTER
KAPITEL 2 - NEUE SCHULE
KAPITEL 3 - DURCH DIE NACHT
KAPITEL 4 - ANFEINDUNGEN
KAPITEL 5 - ANGELINA
KAPITEL 6 - FINSTERE NACHT
KAPITEL 7 - ZURÜCK IM GHETTO
KAPITEL 8 - DER ANSCHLAG
KAPITEL 9 - WEGRENNEN
KAPITEL 10 - DAS GEFÄNGNIS
KAPITEL 11 - MARKTPLATZ
KAPITEL 12 - DIE MAUERN VON FALL CREEK
KAPITEL 13 - SUCHE IN BELFAST
KAPITEL 14 - SANDY IST WIEDER DA
KAPITEL 15 - ZURÜCK BEI ANGELINA
KAPITEL 16 - WIEDER WEGRENNEN
KAPITEL 17 - JOHN, WER BIST DU?
KAPITEL 18 - VERGIB MIR
KAPITEL 19 - DER WEG NACH HAMSDALE
KAPITEL 20 - SAINT CEDRIC
KAPITEL 21 - LAURINAS GEBET
KAPITEL 22 - LIEBER WEIHNACHTSMANN
NACHWORT DES AUTORS
Impressum
Für Nadja.
Ich bin unglaublich stolz auf dich, denn das, was du kannst, kann keiner sonst, den ich kenne.
Du gehst durch dein Leben mit einem solchen Mut, mit einer solchen Freude, wie verfahren auch die eine oder andere Situation sein mag.
Du vertraust in dich selbst.
Und das ist eine Gabe, für die es sich lohnt, dich zu kennen.
Für Jana.
Deine Welt ist eine ganz besondere Welt.
Ich bin glücklich, ein Teil von ihr zu sein.
In ihre dicke Decke war sie schon seit Stunden eingehüllt und saß noch immer auf ihrem kleinen Bett. Sie blickte aus dem Fenster und sah die Schneeflocken im Licht der gegenüber liegenden Laterne matt schimmern. An ihrem Fenster bildeten sich Eisblumen, die sie früher immer so liebte.
Früher.
Sie presste die Bettdecke fest an sich und winkelte ihre Knie an.
Bis Weihnachten waren es nur noch knapp zwei Wochen. Laurina hatte sich so sehr darauf gefreut. Ihr Vater und ihre Mutter wollten ihr ein ganz großartiges Geschenk machen, nämlich eine Reise nach Disneyland in Kalifornien. Sie wollten alle zusammen wegfahren – Laurina, ihre kleine Schwester Sandy und ihre Eltern. Schon als Laurina elf wurde, sprachen sie davon, nach Amerika zu fahren. Und das ist erst drei Monate her.
Plötzlich gab es einen Knall.
Laurina zuckte zusammen und presste sich noch tiefer in die Bettdecke rein. Vorsichtig lugte sie aus dem Fenster und sah, dass in das Nachbarhaus wohl ein Brandsatz hinein geflogen sein musste. Ein Fenster ging dabei zu Bruch, und kurz darauf hörte sie die Feuerwehrsirenen.
Laurina stand auf und ging zu dem anderen Bett in ihrem kleinen Zimmer. Sie beobachtete Sandy und streichelte dann über ihren Kopf, während das kleine, etwa siebenjährige Mädchen ihre Augen vorsichtig öffnete.
„Was war das?“, wollte Sandy wissen.
„Es ist nichts“, sagte Laurina tröstend. „Alles ist gut. Schlaf weiter.“
„Mir ist kalt“, flüsterte Sandy.
Laurina hüllte Sandy fest in ihre Decke ein, dann nahm sie ihre Decke und legte sie noch oben drauf.
Schließlich holte Laurina sich einen zweiten Pullover aus dem kleinen Schrank und zog sich ihre dicke Jacke an. Sie zitterte vor Kälte, aber vielleicht wäre Sandy erfroren, wenn sie ihr nicht ihre Bettdecke gegeben hätte, jetzt wo es draußen Minus 10 Grad waren und heute Morgen die Heizung abgestellt worden war.
Laurina setzte sich wieder auf ihr karges Bett und sah in die Nacht hinaus. Die Eisblumen am Fenster verschwanden, und neue bildeten sich. Früher hatte sie das so gerne gesehen, wenn sie in ihrem warmen Raum saß und in der Vorweihnachtszeit nach draußen schaute. Früher, als Daddy noch da war, da mochte sie die Eisblumen sehr.
Früher.
Laurina dachte nach, ohne dabei die Augen von ihrer kleinen Schwester abzuwenden, die seelenruhig schlief. Laurina dachte an die Kommunion vor eineinhalb Jahren. Es war eine riesengroße Feier. Ihr Vater hatte sich dafür mächtig ins Zeug gelegt, das konnte er sich leisten als Juniorchef einer Werbeagentur. Laurina feierte ihre Kommunion in einer großen Kirche, und anschließend gab es in einem teuren Hotel ein Bankett, bei dem Laurina der Star gewesen war. In ihrem weißen Kleid sah sie damals aus wie ein Engel.
Sandy hatte ihre Kommunion noch vor sich. So sehr hätte sich Laurina gewünscht, dass Sandy auch in einem so tollen Kleid auf einem Bankett der Star wäre.
Aber sie wusste jetzt nicht einmal, ob Sandy überhaupt eine Kommunion haben könnte, jetzt wo alles anders war.
Laurina stapfte leise ins nebenan liegende Wohnzimmer, das zweite Zimmer dieser kleinen Wohnung in der achten Etage eines Hochhauses. Ihre Mutter war noch immer nicht zurück. Eigentlich sollte sie längst wieder zurück sein. Wahrscheinlich aber hatte sie noch etwas gefunden, wo sie sich noch ein paar Pfund verdienen konnte. Vielleicht hatte sie noch einen spontanen Putzjob gefunden, oder wenn sie Glück hatte, einen spontanen Job in einem Pub, dort würde es sogar zehn Pfund die Stunde geben. Das wäre sehr viel Geld.
Sie spürte, dass ihr Magen knurrte. Laurina dachte kurz nach. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Vor einem Tag? Vor zwei?
Mom versprach, dass sie heute Abend etwas zu essen mitbringen würde.
Laurina kramte in einem der Schränke der kleinen Kochnische, wo ein alter Zweiplattenkocher auf einem unprofessionell angebrachten Sideboard stand. Sie fand eine angebrochene Packung Nudeln, eine Ketchup-Flasche und ein Glas Gurken.
Vorsichtig öffnete Laurina das Gurkenglas und holte sich eine Gurke raus, die sie dann aß.
Dann stellte sie das Glas zurück. Wer weiß, wann sie wieder was kriegen würden, und Sandy hätte bestimmt Hunger, wenn sie nachher aufwachte.
Laurina sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war drei Uhr nachts, als sich dann auf einmal die Eingangstüre der Wohnung öffnete.
„Kind“, sagte eine etwa 40-jährige Frau, als sie zur Türe herein kam. „Warum bist du wach?“
„Sie haben die Heizung abgestellt, Mom“, maulte Laurina.
„Was?“, stöhnte die Mutter. „Ich habe gestern das Geld überwiesen.“
„Und jetzt?“ Laurina lief eine kleine Träne über die Wange. „Sandy friert. Ich friere.“ Sie sah ihre Mutter an. „Wir haben nichts mehr zu essen da.“
Laurinas Mutter stellte eine Tüte auf dem Esstisch ab, der gleichzeitig der einzige Tisch im Wohnzimmer war. „Ich hab was mitgebracht“, sagte sie. „Ich habe in der Eckkneipe ausgeholfen und dreißig Pfund bekommen.“
Laurina schnaufte aus, während ihre Mutter die Konserven im Schrank verstaute, das Brot in den Brotkasten legte und eine neue Packung Nudeln auf das Sideboard stellte.
„Mom“, sagte sie schließlich. „Hast du uns in der Schule für das Mittagessen angemeldet, Sandy und mich?“
„Sieh mal“, sagte Laurinas Mutter, als sie eine kleine Tafel Schokolade Laurina in die Hand drückte. „Sie hat nur 60 Cent gekostet, und ich habe sie extra für dich und Sandy geholt.“
„Mom“, schimpfte Laurina. „Heute war der letzte Tag. Wenn du uns nicht angemeldet hast, kriegen Sandy und ich morgen in der Schule nichts zu essen.“
„Es tut mir leid, Schatz“, sagte die Mutter. „Ich hatte so viel um die Ohren.“
„Aber Mom“, sagte Laurina. „Wir werden den ganzen Monat nichts kriegen, wenn du uns nicht angemeldet hast. Was sollen Sandy und ich denn jetzt essen?“
„Ich werde abends für euch kochen“, sagte Laurinas Mutter.
„Du hast nichts, was du uns kochen könntest.“ Laurina weinte.
Ihre Mutter setzte sich zu ihr an den Tisch und streichelte über ihren Kopf.
„Ich werde Jobs finden“, sagte sie. „Ich jobbe jeden Tag woanders. Ich werde jeden Tag arbeiten gehen.“
Laurina weinte stärker.
„Ich hätte Daddy gerne auch noch hier“, sagte die Mutter. „Ich weiß, du vermisst ihn. Ich vermisse ihn auch.“
„Warum musste er sterben?“, weinte Laurina.
So traurig und so schlimm, dass sie ihren Daddy verlor. Denjenigen, der sich immer um die Familie kümmerte. Dem sie vertrauen konnten, dass er machte, dass es ihnen gut ging. Nichts ist geblieben. Sein Vermögen war ihnen vom Gericht nicht zugesprochen worden, weil sie Katholiken waren und ihr Daddy ein Protestant. Laurina hat das bis jetzt nicht richtig verstanden, aber sie wäre auch gerne ein armes Kind gewesen, hätte sie dafür nur ihren Daddy behalten können. Aber er starb bei einem mysteriösen Autounfall, kurz nachdem heraus kam, dass er nicht katholisch, sondern evangelisch war. Kurz nachdem heraus kam, dass die Ehe zwischen ihm und ihrer Mutter eigentlich gar nicht geduldet war und auf einer Lüge basierte, die die Familie bei Laurinas Geburt machen musste, weil sie ihr sonst Laurina weggenommen hätten.
Das ist zwei Monate her, und seit dem leben Laurina, Sandy und ihre Mutter ohne jedes Hab und Gut hier in dem Ghetto, das auch stadtweit als Ghetto Blackwood bekannt ist, und wo die Ärmsten der Armen wohnen.
„Versuche noch ein paar Stunden zu schlafen“, forderte die Mutter Laurina auf. „So lange wir noch Strom haben, musst du dir keine Sorgen machen. Ich wecke dich dann um sieben Uhr für die Schule.“
Laurina nickte zaghaft, dann trottete sie in ihr Zimmer zurück. Sie krabbelte unter die Bettdecken bei Sandy und kuschelte sich eng an ihre Schwester, während sie beide Decken über sich zog.
Dann schaute sie sich noch eine Weile die Eisblumen an und schloss ein paar Minuten darauf ihre Augen.
Der Schneematsch knirschte unter den Füßen der beiden Mädchen, als sie über die Straße liefen.
„Ist es noch weit?“, wollte Sandy wissen, während sie die Hände auf ihrer Jacke rieb.
„Nein“, beruhigte Laurina sie. „Nur noch ein paar Meter.“ Sie hielt ihre Schwester am Ärmel fest und sah sie scharf an. „Denke dran, sage niemandem, wo wir wohnen.“
„Warum nicht?“, quengelte Sandy.
Laurina schüttelte den Kopf. „Es soll keiner denken, dass wir so arm sind, dass wir nicht mal was zu essen haben.“
„Hat Mom uns fürs Essen eigentlich angemeldet?“, wollte Sandy wissen.
Laurina schnaufte aus und schüttelte den Kopf.
„Und wenn ich Hunger habe?“, schluchzte Sandy leise.
„Ich werde sehen, dass wir trotzdem etwas kriegen“, versprach Laurina ihr.
Der Schulhof war groß. Eigentlich fast zu groß für die einzige öffentliche Schule von Hamsdale, einem Vorort von Belfast. Hamsdale war nicht unbedingt ein schlechter Ort – hier lebte der breite Mittelstand, und von den Unruhen in Belfast bekam man hier nicht viel mit.
Außer in einer Gegend, die am Stadtrand lag – dem so genannten Ghetto. In der Blackwood Road war eine Plattenbausiedlung, in der die Ärmsten der Armen wohnten. Diejenigen, die nirgendwo anders etwas zum Wohnen bekamen, und diejenigen, die absolut nichts hatten, wohnten hier. Und wer hier wohnte, war im ganzen Ort Hamsdale verrufen. Demjenigen gab man keine Chancen – sei es im Job, im öffentlichen Leben oder in der Schule. Menschen aus dem Ghetto Blackwood durften nirgends einkaufen, weil man direkt vermutete, dass sie nicht bezahlen könnten. Menschen aus dem Ghetto Blackwood hatten bei keiner Bank die Möglichkeit, ein Konto zu eröffnen, und die Menschen von dort wurden ausgegrenzt. Und nirgendwo war die Kriminalitätsrate höher in der Stadt als in der Blackwood Road.
Seit etwa zwei Monaten wohnten Laurina und Sandy mit ihrer sehr oft verzweifelten Mutter Josephine ebenfalls im Ghetto Blackwood. Und erst jetzt hat es Josephine irgendwie geschafft, die beiden Mädchen an der öffentlichen Schule anzumelden. Kurz vor Weihnachten im Jahr 1987, dem Jahr, in dem sich für Laurina und Sandy alles veränderte und das Schicksal härter zuschlug als man es je hätte ertragen können.
Laurina nahm Sandy an die Hand, als sie in ihren zerlumpten Klamotten in der Kälte den Schulhof betraten. Das Gebäude war groß und hatte drei Stockwerke und ein Flachdach. Zur Eingangstüre führten einige Stufen, die Laurina und Sandy dann hinauf gingen.
Während sie die Türe öffneten, nachdem sie durch das Getümmel von anderen Kindern scheinbar unbeachtet hindurch gingen, rempelte plötzlich ein Junge von etwa 12 Jahren Laurina an.
Als er die beiden Mädchen sah, blieb er stehen und musterte sie eine Weile. Dann ging er weiter.
„Ich bringe dich in deine Klasse“, sagte Laurina zu Sandy.
„Holst du mich in der großen Pause ab? Ich will hier nicht alleine rum stehen“, meinte Sandy schließlich.
„Klar“, sagte Laurina.
Als sie Sandy ihren Klassenraum zeigte, ging Laurina zu ihrem eigenen Raum, wo einige Kinder schon saßen und warteten, dass der Lehrer käme und die Türe aufschloss.
„He“, hörte Laurina einen Jungen zu einem anderen flüstern. „Guck dir die mal an.“
„Ist wohl neu“, meinte der andere Junge.
Dann kam der Junge auf Laurina zu.
„Wieso haben wir eine neue Schülerin in der Mitte des Schuljahres?“, wollte der Junge von Laurina wissen.
Laurina sah verschüchtert zu Boden.
„Bist du neu hergezogen?“, fragte der Junge.
Laurina nickte zaghaft.
Der Junge flüsterte dem anderen Jungen dass etwas ins Ohr. Laurina sollte es nicht hören, aber sie verstand, was er sagte. „Sie stinkt“, hatte der Junge gesagt.
Als der Lehrer kam, lief Laurina als Letzte in die Klasse hinein und setzte sich in die letzte Reihe, wo ein einziger Platz neben einem blonden, etwa 12-jährigen Jungen frei war.
Laurina erkannte ihn wider. Es war der Junge, der sie vorhin angerempelt hatte.
„So, Schülerinnen und Schüler“, begann der Lehrer, um die Tumulte in der Klasse zu schlichten. „Wie ihr seht, haben wir eine neue Schülerin. Laurina Dillen, möchtest du dich kurz vorstellen?“
Laurina zuckte zusammen.
„Sag uns doch, wo du jetzt wohnst, und welche Hobbies du hast“, forderte sie der Lehrer auf.
„Ich…“, stammelte Laurina.
Was sollte sie jetzt nur sagen?
„Ich wohne in der Park Street“, log Laurina dann. „Ich spiele gerne Badminton und fahre gerne Rollschuh.“
„Oh, Rollschuh“, lästerte ein Junge fast zeitgleich.
„Ruhe jetzt“, mahnte der Lehrer. „Ich möchte, dass ihr nett zu Laurina seid.“
Dann begann der Unterricht.
Vorsichtig stupste der Junge, der neben ihr saß, Laurina an.
„Laurina“, flüsterte er. „Du wohnst aber noch nicht lange in der Park Street, oder?“
Laurina schüttelte den Kopf.
„Warum seid ihr hergezogen? Wo hast du früher gewohnt?“
„In Belfast“, sagte Laurina.
„Mitten in der Stadt? Cool“, meinte der Junge. „Ich heiße John. John Malfinger. Meine Eltern lassen mich nicht nach Belfast. Zu viele Unruhen, sagen sie immer. Ist so ein komisches Kirchending oder Religionsding. Bist du katholisch?“
Laurina nickte.
„War ja klar“, meinte er. „Protestantenkinder haben es hier echt schwer.“
Laurina sah den Jungen an. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Du“, meinte John dann. „Du siehst nicht unbedingt aus, als dass du in der Park Street wohnst. Da wohnen doch eher Familien, die…“ Er unterbrach sich selbst.
„Was?“, hauchte Laurina.
„Ich meine… wegen deinen Klamotten…“
Laurina schaute an sich herunter. Sie trug wirklich sehr ausgetragene, fast schon zerlumpte Klamotten. Die Hose hatte einige Löcher, der Pulli war verwaschen und hatte Flecken, und ihre Jacke war mit mehreren Nähten an einigen Stellen geflickt.
„Unsere Waschmaschine ist kaputt“, sagte sie leise.
„Ah, so“, machte John. „Du, heute gibt es Schweinebraten. Total lecker, ich freu mich schon.“
„Weißt du, wo ich hingehen muss, um mich nachträglich für den Lunch anzumelden?“, wollte Laurina dann schüchtern wissen.
„Wie, du bist nicht angemeldet?“, fragte der Junge.
„Mom hatte so viel um die Ohren“, sagte Laurina traurig.
„Ich glaube, dann wirst du Pech haben“, antwortete John. „Die Frist lief gestern ab für diesen Monat. Du stehst dann wohl nicht auf der Liste.“
„Ich…“, stammelte sie. „Macht nichts. Ich hab ein Pausenbrot dabei“, warf sie lügend nach.
In der großen Pause holte Laurina Sandy wie verabredet vor ihrer Klasse ab. Dann liefen sie beide zum Sekretariat, und vorsichtig klopfte Laurina an die Türe. Der Lehrer, der Laurina heute Morgen unterrichtete, öffnete die Türe.
„Laurina“, sagte er. „Gut, dass du kommst. Und du hast deine Schwester mitgebracht. Ich hätte sowieso gerne mal mit euch gesprochen. Kommt rein.“
Laurina und Sandy setzten sich auf zwei Stühle, die vor einem Schreibtisch standen, hinter dem sich der Lehrer platzierte.
„Wie gefällt euch beiden die neue Schule?“, fragte er.
Laurina sah ihn fragend an.
Der Lehrer holte einen Ordner heraus und öffnete ihn.
„Laurina, aus meinen Unterlagen geht hervor, dass du nicht in der Park Street wohnst, sondern in der Blackwood Road“, erläuterte er. „Hat sich eure Adresse geändert?“
Laurina schüttelte den Kopf.
„Dann wohnt ihr in der Blackwood Road?“
Laurina nickte.
„Ich kann verstehen, dass du nicht vor den anderen Kindern sagen wolltest, wo du wohnst“, meinte der Lehrer dann. „Mir ist aber auch aufgefallen, dass ihr sehr – ich sage mal – etwas verwahrloste Kleidung tragt. Bitte sage deiner Mutter, dass sie euch für morgen frische Kleidung heraus sucht, okay?“
Laurina nickte.
Wie sollte das gehen? Eine Waschmaschine hatten sie nicht mehr, und möglicherweise würde heute auch noch der Strom abgestellt werden. Die Sachen mussten von Hand gewaschen werden, aber nicht mal Geld für Waschmittel war im Haus.
„Was ist mit eurem Vater?“, fragte der Lehrer schließlich.
„Er… er starb vor zwei Monaten“, flüsterte Laurina traurig. „Deshalb sind wir auch hergezogen.“
„Verstehe“, antwortete der Mann. Er sah die Unterlagen weiter durch und blätterte auf die vorletzte Seite. „Das tut mir sehr leid“, warf er dann nach.
„Ich… ich habe eine Frage“, sagte Laurina dann leise. „Meine Mutter hat es versäumt, uns für den Lunch anzumelden. Ich… ich wollte fragen, ob wir dennoch diesen Monat mitessen können…“
„Nun“, sagte der Mann, als er den Ordner schloss. „Das ist schwierig, da das Essen genau abgezählt ist.“ Er dachte eine Weile nach. „Aber aus der achten Klasse haben sich zwei Kinder heute krank gemeldet, für die das Essen schon mitgeliefert wurde. Also, ich denke, heute könnt ihr essen.“
Laurina fiel so ein Stein vom Herzen, dass man ihn hätte laut fallen hören können.
„Vielen Dank“, sagte sie erleichtert.
Dann nahm sie Sandy an die Hand und wollte aufstehen und rausgehen. Aber der Lehrer hielt sie am Ärmel fest.
„Laurina, wenn du und deine Schwester in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, dann sagt es mir bitte“, warf er nach. „Ich werde versuchen, euch zu helfen.“
„Danke“, wiederholte Laurina
Dann gingen sie und ihre Schwester aus dem Sekretariat hinaus und liefen zurück zum Schulhof.
Draußen warteten bereits ein paar Kinder aus Laurinas Klasse auf die beiden Mädchen.
„Seht mal“, meinte ein Junge dann. „Da ist sie.“
„Bah“, machte ein anderer Junge. „Ihre kleine Schwester sieht ja noch schlimmer aus. Schaut euch die Klamotten an. Total zerfetzt.“
„Ih!“, rief ein dritter Junge aus. Dann ging er auf Laurina los und stieß sie nach hinten, so dass sie umfiel.
„Fass sie doch nicht an“, meinte der erste Junge wieder. „Du bekommst die Krätze.“
Laurina legte ihre Arme schützend um ihre kleine Schwester, nachdem sie wieder aufgestanden war, und die Kinder gingen dann angewidert weg.
Sandy lief eine Träne die Wange hinunter.
„Ist schon gut, Sandy“, flüsterte Laurina. „So lange ich bei dir bin, werden sie dir nichts tun.“
„Laurina, warum sind die so gemein?“, sagte Sandy leise.
Laurina streichelte mit ihrer Hand über Sandy Kopf.
„Wir brauchen frische Sachen zum Anziehen“, heulte Sandy. „Aber Mom kann uns nichts kaufen…“ Sie weinte stärker. „Sie kann nicht mal unsere Sachen waschen…“
„Ich weiß“, entgegnete Laurina tröstend. „Ich rede mit ihr, wenn sie heute Abend kommt.“
Laurina wusste sich selbst keinen Rat. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden verschwunden, und am Liebsten hätte sie Sandy dorthin mitgenommen. Dass in zwei Wochen Weihnachten sein würde, daran dachte Laurina nicht. Die meisten Kinder freuten sich auf ihre Geschenke. Laurina waren Geschenke egal, jetzt wo es so war wie es war. Sie wollte nur nicht, dass Sandy traurig ist. Sie konnte ihre kleine Schwester nicht weinen sehen, denn das brach ihr das Herz.
In den weiteren Pausen versteckten sich Laurina und Sandy in einer Ecke des Schulhofs, und in der Mittagspause nahmen sie ihren Teller und setzten sich an einen Tisch, an dem niemand Anderes saß. Stumm aßen sie.
Nach der Schule stapften die Mädchen durch den Schnee zurück zu ihrer Wohnsiedlung, dem verrufenen Ghetto Blackwood.
Sie bemerkten nicht, dass John ihnen heimlich mit seinem Fahrrad gefolgt ist.
Gerade, als sie zur Eingangstüre hinein wollten, zeigte sich John und fing sie ab.
„Ich dachte mir, dass ihr von hier seid“, sagte er ruhig.
Laurina sah ihm in die Augen, und Tränen füllten ihre Augen mit Wasser.
Und Sandy vergrub vor Scham ihren Kopf in Laurinas Schulter.
Laurina zitterte. Nicht nur wegen der Kälte, sondern auch weil sie Angst hatte.
„John… ich…“, flüsterte sie, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
John sah sie erschrocken an.
„Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“, wisperte er ihr zu. Dann setzte er sich auf sein Fahrrad und fuhr davon.
„Oh, nein“, wisperte Laurina leise zu sich selbst. „Bitte nicht…“
Laurina und Sandy saßen dick eingepackt in der kalten Küche, als Josephine nach Hause kam. Die letzten Sonnenstrahlen schimmerten im winterlichen Abendrot. In der Küche war es halbdunkel.
„Kinder“, sagte die Mutter. „Ich habe Ravioli gekauft. Habe heute 5 Pfund verdient.“
„Wir haben in der Schule gegessen“, erklärte Laurina. „Zwei Kinder haben gefehlt, und wir haben das Essen von denen bekommen.“
„Das ist schön“, sagte Josephine. „Dann heben wir die Ravioli für Morgen auf.“
„Aber du hast doch noch nichts gegessen“, dachte Laurina nach, während Sandy ihren Kopf auf den Tisch stützte.
„Ich hatte ein Brötchen beim Putzen bekommen“, erzählte Josephine. „Aber sagt mal, wie war es in der Schule?“
Laurina druckste herum.
„Mom“, sagte sie. „Wir haben die letzten Klamotten an, total verwaschen und verwahrlost.“
„Schatz, ich kann mir kein Waschpulver leisten“, sagte Josephine leise. „Wasch bitte die Sachen von dir und deiner Schwester in der Spüle.“
„Und womit?“, beschwerte sich Laurina. „Mit dem Bisschen Duschgel, was wir noch haben?“
„Ich kann es doch nicht ändern“, jammerte die Mutter.
„Die Sachen fallen auseinander, wenn wir sie noch mal waschen“, dachte Laurina nach. „Wir müssen irgendetwas zum Anziehen haben. Und wenn es nur etwas Gebrauchtes ist.“
Josephine setzte sich resigniert auf die Couch, die in der Ecke stand.
„Mom, der Lehrer hat heute mit uns gesprochen“, erzählte Laurina dann. „Ihm ist aufgefallen, dass wir verbrauchte Klamotten anhaben, und dass wir riechen. Und dass du dich nicht um das Essen in der Schule gekümmert hast, hat er auch bemerkt. Es wäre gut, wenn du mal zu ihm gehst. Er hat gesagt, wenn wir Hilfe brauchen, sollen wir ihn fragen. Vielleicht kann er uns Klamotten besorgen.“
„Ich habe keine Zeit, zu ihn zu gehen“, sagte die Mutter leicht aggressiv und resigniert. „Ich muss Jobs machen, um uns über Wasser zu halten.“
„Mom“, meinte Laurina.
Dann stand sie auf und wollte das Licht anknipsen… aber als sie den Schalter drehte, passierte nichts.
Laurina ging zu dem Lichtschalter in ihrem Zimmer und versuchte es dort… aber es tat sich nichts.
„Mom“, weinte sie leise. „Sie haben den Strom abgestellt.“
Josephine setzte sich an den Küchentisch und zitterte.