Die Kinder von Markeden - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Die Kinder von Markeden E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Marlene Pächter mit ihren Kindern Marienka, Andreas und Kathrin müssen in den letzten Kriegsmonaten 1945 vor den anrückenden Kanonen und Panzern fliehen. Sie wissen, dass sie ihr kleines Fischerdorf Markeden am Meer für immer verlassen müssen. Sie erreichen das ausgebombte Stuttgart und das Haus von Marlenes Bruder, Bruno Pächter, der mit seiner Familie in relativ guten Verhältnissen lebt. Aber Brunos Frau Britta macht ihnen das Leben schwer. Sie sieht ihre Verwandten als Eindringlinge, als Fremde an, die ihr etwas wegnehmen könnten. Nach demütigenden Erfahrungen zieht Marlene mit ihren Kindern zu einer blinden Frau auf den Grünberg. Hier haben sie es gut. Aber wie steht es mit Marlenes Mann? Die Ungewissheit lastet wie ein Schatten auf ihnen. Wird er je aus dem Krieg zurückkehren? Wenn es in der Nachkriegszeit nicht Menschen gegeben hätte, die den Fremden mit Verständnis und uneigennütziger Liebe begegnet wären, hätte diese Erzählung nicht geschrieben werden können. Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Die Kinder von Markeden

Band 31

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-152-7

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Vorwort

Die Kinder von Markeden

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Vorwort

Wer die Bücher von Elisabeth Dreisbach liest, spürt auf jeder Seite etwas von ihrer großen Liebe zu den Menschen. Sie geht aus von ihrer Liebe zu Gott. Vielleicht macht gerade dieser in der heutigen Literatur so selten anzutreffende Umstand den Reiz aus, ihre Erzählungen zu lesen, auf ihre kostbare Botschaft von der versöhnenden und zurechtbringenden Gnade Gottes zu hören. Dabei geht es manchmal recht derb zu. Die Gestalten von Elisabeth Dreisbach sind meist einfache Leute, die fest im Leben stehen und die nicht zimperlich mit anderen umgehen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ihre geschilderten Personen oft in Familien mit recht gewitzten Kindern zu finden sind. So gibt es immer wieder Anlass, außer den Tränen der Trauer über Schicksalsschläge und böses Treiben einzelner auch Lachtränen wegzuwischen. Die Autorin kann urkomische Situationen schildern; sie kann aber auch Nöte auf eine Art und Weise beschreiben, die betroffen macht und mitleiden lässt. So ist es bei ihren Erzählungen: Freud und Leid wechseln ab; sie durchdringen sich. Böses und Gutes kämpfen oftmals in einer ihrer Gestalten um die Oberhand. – Wie es im Leben ist!

Auch in der vorliegenden Erzählung erweist sich Elisabeth Dreisbach als Anwältin der Armen, der Habenichtse, der Heimatlosen und Flüchtlinge. Welch ein aktuelles Thema 1995, 50 Jahre nach Kriegsende, hinsichtlich der zu beklagenden Fremdenfeindlichkeit in unserem Land: Sie hat zu jeder Zeit ihr Gesicht gezeigt. Heute ist es derselbe Hass gegen Asylanten und überhaupt gegen Fremde, der damals – nach dem Zweiten Weltkrieg – Flüchtlinge, Vertriebene aus dem Osten traf. Sie wurden als Eindringlinge angefeindet. Ihnen wurde geradezu ihr Lebensrecht streitig gemacht – einzig aus der Tatsache, dass sie nicht unter ihnen geboren und aufgewachsen, also Fremde waren, die den Einheimischen vermeintlich etwas Wegnahmen, was ihnen nicht zustand. Wieviel Gehässigkeit begegnete den Armen, die nichts dafür konnten, dass sie ihre Heimat verloren hatten. Vielleicht sind es morgen die Christen, denen der »Makel des Fremden« anhaften wird?

Wenn es nicht auch in der Nachkriegszeit Menschen gegeben hätte, die den Fremden mit Verständnis und uneigennütziger Liebe begegnet wären, hätte diese Erzählung nicht geschrieben werden können. Solange es sie gibt, damals, heute und morgen, bleibt die Gewissheit, dass Gott Segensträger in dieser Welt hat.

Frühjahr 1995 Der Verlag

Die Kinder von Markeden

Marienka war wütend.

»Du musst doch einsehen, dass es der größte Blödsinn ist, dass wir hierher gekommen sind.« Die Vierzehnjährige blickte empört auf ihren um zwei Jahre älteren Bruder, der wie ein Erwachsener angestrengt überlegend mit seiner Mutter und den beiden Schwestern vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof stand.

»Wieso Blödsinn?« fragte Andreas. »Du kannst dir doch noch gar kein Urteil erlauben, nachdem wir soeben erst eingetroffen sind.«

Das Mädchen wies mit der Hand geringschätzig auf die Trümmer der eingestürzten Häuser in der Nähe des Bahnhofs.

»Na, sieht es hier etwa anders aus als bei uns zu Hause?«

»Hast du dir etwa eingebildet, dass du hier Zustände wie im Frieden antreffen würdest? Das sähe deinem kümmerlichen Gehirn natürlich ähnlich. Auf alle Fälle kannst du mich für die scheußlichen Verhältnisse nicht verantwortlich machen.«

Nun mischte sich Frau Pächter, die Mutter der Kinder, in das Gespräch ein. Sie hatte bisher schweigend bei ihnen gestanden und mit dem traurigen Blick, der ihr seit Monaten eigen war, das Bild der neuen Umgebung in sich aufgenommen.

»Ich finde es nicht schön«, sagte sie, »dass ihr euch schon wieder zankt. Ich meine, wir hätten jetzt anderes zu tun.«

Andreas griff nach ihrer Hand. »Verzeih, Mutter, ich wollte dir nicht wehtun. Aber Marienkas gedankenloses Gerede kann mich in wahre Wut versetzen. Sie weiß genau wie du, dass ich am allerliebsten mit euch zu Hause geblieben wäre. Dass wir hierher nach Stuttgart gefahren sind, war Vaters Wunsch. Aber du hast Recht, ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit ihr herumzustreiten. Da drüben steht ein Schutzmann, den will ich fragen, wie man zur Stitzenburgstraße kommt.«

Kathrin, das kleine fünfjährige Schwesterchen, hatte bis dahin auf einem Bündel Bettzeug gesessen und mit großen, staunenden Augen um sich geblickt. Trotz der Trümmer, die auch hier von dem Wüten des vergangenen Krieges sprachen, gab es für sie, das Landkind, so unendlich viel Neues zu sehen, dass sie aus dem Verwundern nicht herauskam.

»Seht nur die Menge Menschen!« rief sie. »Und lauter Autos! Und sind das dort drüben die elektrischen Bahnen? Und warum steht der Mann mit der blauen Uniform und den weißen Handschuhen mitten auf dem Platz? Macht der Turnübungen? Wem winkt er denn immer? Hat er keine Angst, dass er überfahren wird? Ich würde mich fürchten. Und schau nur, Marienka, da führt eine Treppe in die Erde hinein. Ist da unten ein Keller? – Und hört nur, Musik kommt aus dem Boden heraus. Was ist denn da los?« – Eine Frage löste die andere ab.

Es war aber auch zu interessant, all das Neue zu sehen. Kathrin schien sich nicht zu verwundern, dass die Mutter keine ihrer Fragen beantwortete. Es war in der letzten Zeit fast immer so gewesen. Sie wurde immer schweigsamer, und oft weinte sie. Wenn dann die Kleine ihre Ärmchen um den Hals der Mutter legte und sie fragte: »Warum bist du denn wieder so traurig, Muttchen?« dann konnte sie das Kind fest an sich drücken, und es klang wie ein Stöhnen, wenn sie antwortete: »O Kathrin, es wäre für uns alle besser gewesen, die Trümmer unseres Hauses hätten uns erschlagen.« Das fand die Kleine aber nun keineswegs. Mit großer Spannung sah sie den kommenden Dingen entgegen. Stuttgart war das Ziel ihrer langen Reise. Das wusste sie. Onkel und Tante, die hier wohnten, würden sich ganz gewiss sehr über ihr Kommen freuen. Andreas hatte ihr erzählt, dass dort auch ein kleines Mädchen sei. Mit dem würde sie gewiss fein spielen können. Wenn man nur erst da wäre! Es ging Kathrin genau wie den anderen. Man hatte so genug von der endlosen, langen Fahrt.

Die Kleine hielt auf ihrem Schoß mit beiden Händen ein rundes Henkelkörbchen fest. Von Zeit zu Zeit hob sie den Deckel ein wenig, beugte sich darüber und flüsterte zärtliche Worte in das Körbchen hinein.

»Nun dauert's nicht mehr lange«, sagte sie fest, »dann sind wir da und ihr dürft im Garten und auf der Wiese herumspringen und bekommt schönes Gras und ganz große Löwenzahnblätter. Jetzt müsst ihr bald nicht mehr eingesperrt sein, ihr Armen!« Über den Rand des Körbchens schob sich ein rosa Hasenmäulchen und schnupperte neugierig in die Luft. Es wurde von Kathrins Händchen liebevoll, aber doch energisch zurückgedrängt. »Muckel, sei nicht so vorwitzig. Hier kannst du nicht heraus. Hier ist nämlich Stuttgart. Das ist anders als bei uns zu Hause. Hier wirst du überfahren. Du glaubst ja nicht, wie viele Autos es gibt.«

In diesem Augenblick kehrte Andreas zurück, der beim Verkehrsschutzmann den Weg zur Stitzenburgstraße erfragt hatte. »Wir müssen mit der Straßenbahn fahren«, sagte er, »und dummerweise auch noch umsteigen. Das wird etwas geben mit unserem vielen Gepäck.« Jeder belud sich darauf mit dem, was ihm zugewiesen war. Allerdings konnte man es ganz gut tragen. Es war nicht viel, was sie hatten retten können, und doch war es ihnen so wertvoll, denn die paar Schachteln und Koffer und die zwei großen Bündel bargen all ihr Hab und Gut in sich.

Beim Einsteigen in die volle Straßenbahn hieß es zunächst noch verschiedene Schwierigkeiten zu überwinden. Erst wollte der Schaffner sie nicht mitnehmen.

»Wir sind doch kein Gepäckwagen«, fuhr er die Frau mit ihren Kindern an. »Ihr seht doch, dass der Wagen bereits überfüllt ist.« Auch einige Fahrgäste schimpften.

Schließlich legte ein alter Mann ein gutes Wort für sie ein. »Seht ihr nicht, dass die Frau sich kaum auf den Füßen halten kann? Die macht mit ihren Kindern bestimmt keine Vergnügungsreise. Oder haben wir hier in Stuttgart uns schon derartig an das Flüchtlingselend gewöhnt, dass wir es gar nicht mehr sehen? Auf – rückt zusammen! Mit ein wenig gutem Willen haben wir alle hier drinnen noch Platz mitsamt dem Gepäck. Ich meine, wir sollten in dieser trostlosen Zeit alle ein wenig mehr gegenseitige Rücksichtnahme lernen.«

Man murrte und maulte zwar noch ein wenig weiter, wenn auch nur halblaut, aber niemand wagte, sich dem alten Mann direkt zu widersetzen. Die Fahrgäste rückten zusammen und Pächters fanden mit ihrem Hab und Gut in der Straßenbahn Platz. Kathrinchen musste nun wieder mit ihren beiden Kaninchen flüstern. »Jetzt fahren wir mit der elektrischen Bahn, aber ihr braucht keine Angst zu haben.« Und dann gewann sie die Herzen der Leute gar schnell, als sie einer dicken Marktfrau, die behäbig auf ihrem Platz saß, das Körbchen ohne weiteres auf den Schoß setzte und mit ihrem herzigen Lächeln bat: »Du, Frau, halt' du jetzt ein Weilchen meine Häschen. Dann werden sie nicht so arg hin und her geschaukelt. Weißt du, wir sind nämlich noch nie elektrische Bahn gefahren.« Die Fahrgäste lächelten, während die dicke Frau den Wunsch des kleinen Mädchens erfüllte.

»Wo kommst du denn mit deinen Hasen her?« fragte sie wohlwollend. »Deiner Sprache nach bist du nicht von hier.« Kathrinchen war sofort bereit, Auskunft zu geben, obgleich Marienka ihr einen warnenden Blick zuwarf. Was ging es die Fremden an, woher sie kamen! – Aber die Kleine gab seelenruhig Antwort. »Wir kommen von weit, weit her. Von Markeden. Und wir sind schon viele Wochen unterwegs. Aber jetzt bleiben wir immer in Stuttgart bei Onkel Bruno und Tante Britta. Die haben ein schönes Haus und viele Zimmer und einen großen Garten und eine Schaukel und ein Auto, und ich darf mit Elvira spielen.« – Sie hätte gewiss noch mehr ausgeplaudert, wenn nicht Andreas seine Hand auf ihren kleinen Plaudermund gelegt hätte.

Er beugte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr zu: »Sei still, Kathrinchen! Kleine Kinder dürfen in der Straßenbahn nicht so viel sprechen. Sonst wirft der Schaffner sie hinaus.« Die Kleine verstummte erschrocken. – Aber doch war sie es gewesen, die mit ihrem harmlosen Plaudern eine Brücke zu den Fahrgästen geschlagen hatte. Ein Herr erhob sich und bot Frau Pächter seinen Sitzplatz an. Wie froh war sie. Länger hätte sie nicht stehen können. – Wenn nur ihre Kraft ausreichte, bis die Kinder an Ort und Stelle waren!

Inzwischen saßen Onkel Bruno und Tante Britta mit ihrem Töchterchen Elvira und deren Pflegerin in ihrem schön eingerichteten Esszimmer am Kaffeetisch. Julie, ihr Hausmädchen, hatte soeben aus der Küche auf einem Tablett Brot, Brötchen und selbsteingekochte Marmelade hineingetragen. »Milch haben wir auch heute Morgen leider nicht bekommen«, sagte sie. »Vielleicht gibt es am Nachmittag ein viertel Liter Magermilch.« Nachdem sie die Flamme unter der Teemaschine angezündet hatte, verließ sie das Zimmer und stand draußen im Vorraum noch eine Weile vor dem großen Spiegel, sich wohlgefällig von allen Seiten betrachtend. Sie zupfte sich ein paar Löckchen in die Stirn, band die Schleife an ihrer blütenweißen Schürze noch einmal frisch und fand, dass sie ein ansehnliches Persönchen sei.

Währenddessen strich Frau Britta ihrem Töchterchen ein Brötchen mit Kirschenmarmelade. »Ach Kind«, seufzte sie, »mir bricht fast das Herz, wenn ich daran denke, wie lange du nun schon auf die notwendigsten Nahrungsmittel verzichten musst. Wer hätte je gedacht, dass du einmal Brot ohne Butter essen und Kaffee ohne Milch trinken musst. Es ist kein Wunder, dass du immer schmächtiger wirst. Man könnte verzweifeln.«

»Aber Britta«, versuchte ihr Mann einzulenken. »Dein Klagen ist wirklich nicht angebracht. Erstens hat Elvira doch Krankenzulage, dann brachte uns ein Händler vom Lande erst gestern ein ganzes Pfund Butter. Außerdem konnte ich ein Dutzend Eier im Tausch für Elvira besorgen. Wir haben keinen Grund zu jammern. Geh' einmal hinunter in die Stadt und sieh dir dort die Elendsgestalten auf der Straße an. Da kannst du wirklich ausgehungerte Menschen sehen. Mir ist es bisher noch immer geglückt, für unser Kind nebenbei etwas zu ergattern. Dazu ist es uns im Vergleich mit tausenden anderen unerhört gut gegangen. Hätte es nicht sein können, dass auch unser Haus wie die meisten in unserer Nachbarschaft, sogar ganze Straßen unten in der Stadt, zerstört worden wäre?«

Elvira, das elfjährige Töchterchen, schmiegte sich an den Vater. »Du hast recht, Papa, es geht uns immer noch sehr gut.«

Frau Pächter legte die Hand an die Schläfe und schloss die Augen, als bereite ihr allein das Zuhören körperlichen Schmerz. Griesgrämig antwortete sie ihrem Mann: »Du hast mir dieses lächerliche Trostlied schon so oft vorgesungen, dass ich es schon auswendig kann. Wie kannst du sagen, es ginge uns gut, während wir doch

hier bei schwarzem Kaffee und trockenem Brot sitzen?«

»Nun hör' aber auf«, erwiderte Herr Pächter, jetzt auch verärgert. »Natürlich haben auch mir die Zeiten besser gefallen, da wir zum Frühstück gebackene Eier und Schinken essen konnten. Aber dein ewiges Jammern ändert doch nun einmal nichts an den schwierigen Verhältnissen. Ich bleibe dabei, dass unser Leben noch sehr erträglich ist und es uns weit besser geht als tausend anderen.« Schwester Elly, die Pflegerin Elviras, die mit am Kaffeetisch saß, nickte zustimmend mit dem Kopf. Sie wagte jedoch nicht, ihre Gedanken auszusprechen. Es war nicht ratsam, sich mit der reizbaren Frau Pächter anzulegen. In ihrem Innern empörte sie sich jedoch immer wieder über diese Unzufriedenheit. Weiß Gott, es ging ihnen noch recht gut!

In diesem Augenblick läutete die Hausglocke. Wenig später vernahm man erregtes Sprechen. Die Stimme des Hausmädchens drang bis ins Esszimmer hinauf.

»Das muss ein Irrtum sein – hier wohnen ihre Verwandten bestimmt nicht. – Erkundigen Sie sich noch einmal genau nach der Adresse. – Es gibt in Stuttgart verschiedene Familien mit dem Namen Pächter. – Nein – es ist ganz zwecklos, ich brauche meine Herrschaft erst gar nicht zu fragen – das sehe ich schon an Ihrer Aufmachung. – Die Verwandten von Herrn und Frau Pächter sehen anders aus.«

Herr Pächter schob seinen Stuhl energisch zurück. – »Was fällt denn dieser Julie ein? Ganz gleich, wer da gekommen ist, in diesem Ton hat sie mit niemand zu sprechen.« Gleich darauf stand er vor den Flüchtlingen, Frau Pächter mit Andreas, Marienka und Kathrinchen. Einen Augenblick stutzte er, dann schallte es durch das Haus: »Marlene – du? Und das sind gewiss deine Kinder! – Ihr Armen – wie seht ihr aus – und was mögt ihr durchgemacht haben. – Kommt nur gleich herauf. – Um Gottes willen, Marlene, du wirst ja totenbleich!« Er umfasste die Wankende. »Stütze dich auf mich – meinst du, wir schaffen es noch miteinander bis in den ersten Stock hinauf? – Julie – gaffen Sie nicht so herum! Fassen Sie doch zu – sehen Sie denn nicht, dass die Frau zusammenbricht? – Im Übrigen habe ich nachher noch ein Wörtchen unter vier Augen mit Ihnen zu sprechen.« – Aber nicht nur Frau Marlene Pächter war erbleicht, sondern auch ihre Schwägerin, Frau Britta, die noch immer im Frühstückszimmer am Kaffeetisch saß. Sie hatte die erregten Worte ihres Mannes wohl vernommen und ahnte, was ihr bevorstand. »Gerechter Himmel«, stöhnte sie. »Das hat uns gerade noch gefehlt. – Die werden sich doch nicht einbilden, hier bleiben zu können. – Marlene aus Markeden, diesem Dorf hinter dem Mond. – Wie lange habe ich sie nicht gesehen? – Es sind sechzehn, siebzehn Jahre her – und Kinder bringt sie auch mit? – Wahrhaftig, darauf habe ich gerade gewartet.«

»Sie sind doch zu tölpelhaft«, hörte sie ihren Mann soeben das Mädchen anfahren. »So nehmen Sie das Gepäck und tragen Sie es gleich in das oberste Stockwerk. Meine Schwägerin bleibt selbstverständlich mit den Kindern vorerst bei uns. – So, und jetzt hilfst du mir, Andreas, deine Mutter zu meiner Frau zu führen.«

Frau Britta glaubte in Ohnmacht fallen zu müssen. Was kam ihrem Mann in den Sinn, derartige Bestimmungen zu treffen, ohne vorher mit ihr Rücksprache genommen zu haben? Na, sie würde ihm ihre Meinung sagen, sobald sie mit ihm allein war! – Im Augenblick blieb ihr allerdings nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Seufzend erhob sie sich vom Kaffeetisch, um ihrer Schwägerin entgegenzugehen und sie zu begrüßen.

»Marlene – Du kommst zu uns? – Und das sind deine Kinder? – Ich hoffe, ihr habt euch die Schuhe gut abgeputzt. – So – vielleicht kommt ihr hier in das Nähstübchen. Im Frühstückszimmer haben wir gestern nämlich frisch eingewachst. – Du hörst doch, Bruno, was ich sage. – Ins Nähzimmer – nicht ins Frühstückszimmer.« Herr Pächter warf seiner Frau einen wütenden Blick zu, fügte sich dann aber ihrem Wunsche. Es war jetzt vor allem wichtig, dass sich die müde, schwache Frau erst einmal setzen konnte. – Sie sah aber auch zum Erbarmen aus, als sie sich in die Sofaecke sinken ließ. Die drei Kinder standen verlegen und von dem merkwürdigen Empfang peinlich berührt an den Wänden herum. Nein, so hatten sie sich das Kommen zu den Verwandten wahrlich nicht vorgestellt.

»Setzt euch doch«, sagte der Onkel. »Julie wird gleich ein Frühstück bereiten.« Er verließ das Zimmer, um dem Mädchen nähere Anweisungen zu geben. Diese Gelegenheit nahm seine Frau wahr, um den so unerwünscht hereingeschneiten Verwandten ihre Ansicht kundzutun.

»Wie nett von euch, dass ihr uns besuchen wollt«, sagte sie. »Allerdings hättet ihr eure Ankunft vorher anmelden sollen. Aber für eine Nacht können wir euch schon unterbringen. Es ist gut, dass ihr heute und nicht morgen kommt. Wir fahren nämlich morgen für längere Zeit nach Bayern in unser Sommerhaus.« In diesem Augenblick betrat Herr Pächter wieder das Zimmer und hörte somit die letzten Worte. Eine Sekunde sahen die Ehegatten sich stumm an. »Wehe, wenn du mir jetzt dazwischenredest und meinen Plan zunichtemachst«, schienen Frau Brittas Blicke zu sagen, und: »Pfui, wie niederträchtig du bist!« war in ihres Mannes Augen zu lesen. Dann aber sagte er: »Von einer Reise nach Bayern kann jetzt natürlich nicht die Rede sein. Unsere erste Pflicht ist es, Marlene und die Kinder richtig unterzubringen und zu versorgen.« Da warf seine Schwägerin ihm einen dankbaren Blick zu und fing an, bitterlich zu weinen. Es war einfach zu viel für sie. Jetzt, da sie am Ende ihrer langen Reise war, brach sie buchstäblich zusammen. Andreas stellte sich neben die Mutter und legte den Arm um ihre Schultern. »Weine doch nicht, Muttchen«, sagte er. »Wir sind ja nun angelangt, und alles wird sicher gut.« Er hob den Blick offen und frei zu seinem Onkel und fuhr fort: »Sie hat an allem zu schwer getragen. Es geht einfach über ihre Kraft. Vater ist vermisst oder in Gefangenschaft, vielleicht auch tot. Wir wissen schon seit drei Jahren nichts mehr von ihm. Als er das letzte Mal auf Urlaub kam, nahm er der Mutter das Versprechen ab, dass sie mit uns, falls wir den Krieg verlieren würden, zu euch nach Stuttgart flüchten sollte. Nun sind wir schon so lange unterwegs. Nur kurze Zeit, bevor unser Dorf in Feindeshand fiel, flüchteten wir. Es ist wie ein Wunder, dass es uns gelang. Mutter war auf dem Transport oft so elend, dass sie tageweise in Krankenhäusern untergebracht werden musste. Nun bin ich froh, dass wir es endlich geschafft haben. Länger hätte Muttchen bestimmt nicht unterwegs sein können. Und auch die beiden Mädchen konnten oft fast nicht mehr weiter. Marienka hatte manchmal geschwollene Füße.«

Herr Pächter beugte sich mit Tränen in den Augen, deren er sich auch vor seiner Frau nicht schämte, über seine Schwägerin. »Marlene, Rudolf hat recht gehabt, als er dich mit den Kindern zu mir verwies. Ihr sollt nicht umsonst an unsere Tür geklopft haben!«

Elvira lag auf dem Ruhebett in ihrem hübschen Zimmer, wo sie jeden Morgen von Schwester Elly massiert wurde. Das Kind war gelähmt. Eine schwere Krankheit, von der es in seinem vierten Jahr getroffen wurde, hatte die Lähmung beider Beine zur Folge. Die Eltern waren untröstlich. Die hervorragendsten Ärzte wurden zu Rate gezogen. In Bädern und Kurorten hatte man Heilung für das Kind gesucht, was Herrn Pächter ein Vermögen gekostet hatte. Aber Elvira konnte nicht auf ihren Füßen stehen. Glücklicherweise hatte sie keine Schmerzen auszuhalten. So war der Zustand wenigstens erträglich. Aber sie litt doch oft sehr darunter, nicht wie andere Kinder herumspringen zu können. Gar zu gerne wäre sie auch in die Schule gegangen wie die Buben und Mädchen in ihrer Nachbarschaft. Aber daran war natürlich nicht zu denken. So unterrichtete ein Hauslehrer Elvira täglich einige Stunden. – Das unverhoffte Eintreffen der ihr unbekannten Verwandten hatte das zarte Kind in große Erregung versetzt. Sie überschüttete ihre Pflegerin mit Fragen: »Schwester Elly, haben Sie die Leute gesehen? Sehen sie aus wie richtige Flüchtlinge? Wieviel Kinder sind es? Ist ein Mädchen in meinem Alter dabei? Wie lange werden sie wohl bei uns bleiben? Ich wollte, sie blieben immer hier. Dann hätte ich doch Spielkameraden. Aber der Mutti ist's nicht recht. Haben Sie das nicht auch gemerkt? Wann kommt denn endlich der Vati zu mir, damit ich ihn fragen und er mir erzählen kann?«

Sie wurde so aufgeregt, dass die Schwester sie zur Ruhe ermahnen musste.

»Elvira, steigere dich nicht so in diese Sache. Du weißt, es schadet dir jedes Mal. Siehst du, nun weinst du schon wieder. Du musst es wirklich lernen, dich zu beherrschen. Aber sieh, da kommt schon dein Vater.«

Herr Pächter betrat das Zimmer seiner Tochter.

»Elvira, sieh nur, wen ich dir hier bringe. Eine doppelte Überraschung wartet auf dich.« Er wandte sich an seine kleine Nichte, die er an der Hand führte, und sagte:

»Dies ist meine Tochter Elvira. Kathrinchen, ich hoffe, ihr beide werdet gute Spielkameraden werden.«

Elvira richtete sich halb auf. Ihre Tränen waren halb versiegt, und sie konnte es kaum erwarten, das nette kleine Mädchen, das da so plötzlich als ihre neue Verwandte hereingeschneit war, näher kennenzulernen.

Kathrin hatte indessen ihr Deckelkörbchen, das sie nicht aus den Händen gab, auf den Tisch gestellt. Geheimnisvoll flüsterte sie hinein. Dann wandte sie sich an Elvira.

»Du, Mädchen, komm du mal zuerst zu mir und guck, was ich hier in dem Körbchen habe. So was Niedliches hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gesehen.«

»Ich kann nicht zu dir kommen, Kathrin«, erwiderte Elvira. »Ich kann doch nicht gehen.«

»Nicht gehen? – Wieso nicht? Du hast doch Beine.«

Jetzt nahm Schwester Elly die Kleine liebevoll bei der Hand und führte sie zu Elvira. »Es stimmt schon, dass sie Beine hat, aber die sind gelähmt. Elvira kann nicht herumspringen wie du, sie kann nicht einmal auf ihren Füßen stehen, und darum ist sie so froh, dass du ihre kleine Spielkameradin sein willst.«

Voller Entsetzen hatte das Kind zugehört. Wie schrecklich war das! Füße haben und nicht stehen und nicht springen können! Immer, immer liegen müssen! Oh, oh, es war nicht auszudenken. Ehe jemand der Anwesenden es verhindern konnte, war Kathrin auf das Bett gesprungen, ungeachtet, dass sie mit ihren schmutzigen Schuhen die weiße Bettdecke beschmutzte. Stürmisch umarmte sie das gelähmte Mädchen. »Du Arme, wie tust du mir leid. Aber geht es wirklich nicht? Versuch's doch mal! Wenn du doch richtige Füße hast, muss es doch gehen. Probier's doch mal – halt dich an mir fest.« Am liebsten hätte Kathrin Elvira aus dem Bett gezogen.

In diesem Augenblick stieß Schwester Elly einen leichten Schrei aus. »Um alles in der Welt, was ist denn das?« Die beiden Kaninchen hatten den Deckel ihres Körbchens gehoben und sich selbständig gemacht. Flugs sprangen sie vom Tisch herunter und verschwanden blitzschnell unter dem Schrank.

»Muckelchen – Hoppel!« rief Kathrin erschrocken und war nun gleichfalls mit einem Satz aus dem Bett. »Onkel, schnell, hilf mir, dass ich sie wieder einfange! Hast du keinen Spazierstock oder einen Schirm? Man muss sie damit unter dem Schrank hervorholen.«

Und nun geschah es tatsächlich, dass der Lederfabrikant Bruno Pächter sich auf die Erde legte und mit seinen langen Armen versuchte, unter dem Schrank die beiden weißen Hasenkinder hervorzuangeln. Er gab sich redliche Mühe, zumal er sah, dass Elvira vor Erwartung ganz außer sich geriet.

»Ihren Schirm brauche ich, Schwester Elly«, rief er. »Schnell, bringen Sie ihn mir.« Gleich darauf kniete die Pflegerin neben dem Hausherrn auf dem Boden. Aber auch ihren vereinten Kräften gelang es nicht so schnell, die flinken, jetzt ganz verscheuchten Tierchen einzufangen. Husch, waren sie vom Schrank unters Bett gesprungen, von dort hinter Elviras Bücherkästchen, und weiter. Über Elviras Gesicht liefen Tränen, aber es waren Lachtränen. Sie saß zwischen ihren Kissen und krümmte sich vor Lachen. In ihrem ganzen Leben hatte sie einen solchen Spaß noch nicht erlebt. In großem Eifer bemühten sich Schwester Elly und ihr Vater, die niedlichen, kleinen Ausreißer einzufangen, angefeuert durch Kathrinchens Zurufe.

»Onkel – da – da! – Jetzt sind sie wieder unter dem Schrank – schnell, Onkel, schnell, fass sie doch!«

Und nun kam das Allerschönste. Die Tür öffnete sich, und Frau Britta Pächter, die gekommen war, um ihren Mann zu einer ernsten Unterredung unter vier Augen zu rufen, stand auf der Schwelle. Vor Staunen und Entsetzen blieb ihr das Wort im Halse stecken. Was war denn hier los? Ihr Mann kroch auf dem Boden umher und fuchtelte mit einem Schirm unter den Möbeln herum. Neben ihm kniete mit hochroten Backen Schwester Elly, und dieses verwilderte kleine Geschöpf, diese Kathrin, lag bäuchlings unter Elviras Bett und schlug einen befehlenden Ton an, der nach ihrer Meinung geradezu herausfordernd, ja unverschämt zu nennen war. Elvira aber schien begeistert zu sein. Ihre Stimme überschlug sich vor Erregung, als sie rief: »Mutti, Mutti, solch einen Spaß habe ich noch nie erlebt. Sieh nur den Vati – schade, dass wir jetzt keine Aufnahme machen können. Und guck nur, dort und dort, da sind diese süßen kleinen Häschen – Mutti, schnell, halt sie doch fest, da drüben sind sie doch ganz in deiner Nähe. – Schnell, Mutti, schnell!«

Aber Frau Pächter ging gar nicht auf diese Bitte ein. Sie, die ihre Tochter sonst maßlos verwöhnte, fuhr sie an: »Jetzt höre bloß mit deinen Albernheiten auf! Du benimmst dich ja geradezu lächerlich.«

Elvira verstummte erschrocken. Schwester Elly stand verlegen auf, nur Herr Pächter und die kleine Kathrin ließen sich in ihrer wichtigen Beschäftigung nicht stören. Und tatsächlich, nach einigen Augenblicken gelang es ihnen, der kleinen Ausreißer habhaft zu werden. Schweratmend stand Herr Pächter vor seiner Frau und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen. Dann blickte er sie gereizt an und fragte: »Und du wünschst?« Er sah, wie empört sie war und war nicht bereit, sich in irgendeiner Weise Vorschriften machen zu lassen. Übrigens würde er ihr schon klarmachen, wie hässlich er es fand, dass sie von einer Reise nach Bayern gesprochen

hatte, von der nie vorher die Rede gewesen war, nur weil sie die Verwandten unter keinen Umständen im Hause haben wollte. – Herr und Frau Pächter verschwanden in ihr Schlafzimmer; gleich darauf drang ein heftiger Wortwechsel durch die geschlossene Tür.

Es war am nächsten Tag. Frau Marlene Pächter war mit ihrer Tochter im Fremdenzimmer des Hauses untergebracht worden. Es war für ihre Begriffe sehr vornehm eingerichtet. – Andreas hatte man ein Bett in einer der bisher unbenutzten Bodenkammern aufgeschlagen. Frau Pächter hatte sich legen müssen. Es würde wohl eine Reihe von Tagen dauern, bis sie sich von den hinter ihr liegenden Strapazen einigermaßen erholt haben würde. Müde lag sie in den Kissen. Sie sah verzagt aus. Gewiss beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem, was ihre beiden ältesten Kinder soeben aussprachen.

»Dass sie uns nicht gerade mit großem Jubel aufnehmen würden, war zu erwarten«, sagte Andreas, »aber dass Tante Britta ihren Ärger so deutlich zeigte, das finde ich allerhand. Das hätte sie Muttchen nicht antun dürfen.« Der Junge stand am Fenster, trommelte erregt an die Scheiben und machte seinem Unmut Luft.

Die Mutter legte die Hand an die Schläfe. »Andreas, lass doch das Klopfen an die Scheiben bleiben. Mir ist, als müsse mein Kopf zerspringen.«

Der Junge gehorchte sofort. Besorgt trat er an das Bett der Mutter. »Soll ich dir einen kalten Umschlag machen?« Er füllte am Waschbecken eine Schüssel mit Wasser, tauchte fürsorglich ein Tuch hinein, wand es geschickt aus und legte es auf die Stirn der Mutter. »So, das wird dir gut tun.«

Frau Pächter warf ihm einen dankbaren Blick zu. Wahrhaftig, der Junge hatte ihr schon über manche

schwere Stunde hinweggeholfen. Marienka hing zwar nicht weniger an der Mutter, aber ihr Wesen war oberflächlicher als das des Bruders. Die Mutter wunderte sich oft, dass die schweren Kriegs- und Fluchterlebnisse keinen tiefen Eindruck auf das junge Mädchen gemacht hatten. Eigentlich war sie von Mal zu Mal unzufriedener geworden, während Andreas' Charakter sich in diesen Schwierigkeiten sichtlich festigte.

Jetzt stand Marienka vor dem Spiegel, um eine neue Frisur auszuprobieren. Sie wandte sich dem Bruder zu. »Und dieser albernen Person, der Julie, werde ich nie vergessen, wie sie sich uns gegenüber benommen hat, als wir gestern ankamen. So etwas von Einbildung ist mir wirklich noch nie begegnet. Aber lass nur, die werde ich es fühlen lassen.«

»Und doch bist du seit einer halben Stunde eifrig bemüht, dir dieselbe lächerliche Frisur hinzudrehen, wie dieses dumme Ding sie hat.«

»Das geht dich ja schließlich nichts an!« fuhr Marienka hoch.

»Sei doch nicht gleich so empfindlich«, begütigte Andreas, der vermeiden wollte, dass sich die Mutter wieder aufregte. »Jedenfalls siehst du viel besser aus mit deinen Hängezöpfen, und übrigens haben wir, wie du genau weißt, kein Geld für Dauerwellen und derartiges unnütze Zeug.« Er warf einen Blick auf die Mutter und fuhr, in der Meinung, dass sie am Einschlafen sei, leise fort, indem er zu seiner Schwester trat: »Wir werden überhaupt miteinander beraten müssen, was weiter geschehen soll, wenn die Tante uns nicht hier haben will, und sie macht ja keinen Hehl daraus, dass wir ihr unerwünscht gekommen sind.«