Die kleine Finca am Mittelmeer - Andrea Micus - E-Book
NEUHEIT

Die kleine Finca am Mittelmeer E-Book

Andrea Micus

0,0

Beschreibung

Manchmal ist alles ganz anders als man denkt Ina arbeitet seit Jahren auf Hochtouren. Sie hat einen verantwortungsvollen Job und einen überraschend gut laufenden Modekanal auf Instagram. In dem Dauerstress bittet ihre Mutter aus dem fernen Valencia sie um Hilfe. Kurzentschlossen steigt Ina ins Flugzeug. Eigentlich hat sie überhaupt keine Zeit für einen Ausflug in den Süden, aber dann kommt sie unerwartet zur Ruhe und genießt die Sonne, den Strand und das Leben rund um die idyllische Finca. Sie nähert sich ihrer Mutter wieder an und als Ina den Abenteurer Aaron trifft, spürt sie die Liebe plötzlich ganz neu. Aber dann überstürzen sich die Ereignisse und Ina trifft eine Entscheidung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellt …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 282

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Liebe Leserin,

sehnen Sie sich nach Palmen, goldgelben Endlosstränden und einem kuschelig warmen Mittelmeerwind? Dann gönnen Sie sich jetzt eine Auszeit im wunderschönen spanischen Valencia. Ich nehme Sie mit auf Inas unerwartete Reise in den Süden, die so ganz anders endet als geplant. Aber wer kennt das nicht …

Lassen Sie sich verzaubern, aber auch anregen und, wer weiß, vielleicht sehen wir uns bald dort.

Ich freue mich jedenfalls auf Sie – Ihre Andrea

Kapitel 1 „Nicht jammern, aufstehen und weitermachen, irgendwie“

Wir kommen ja heute richtig gut voran, Melanie!“, jubelte Ina und verschwand schnell hinter dem edlen Spiegel-Paravent, um sich im Blitztempo ihren cremefarbenen Wollblazer, den Rolli und die Jeans auszuziehen. „Wie fandst du denn die Statement-Kette dazu? Kommt die auf den Videos gut rüber?“ Ina faltete sorgfältig die ausgezogene Kleidung und legte sie in einen Karton, bevor sie aus einem anderen ein grünes Stretchkleid zog. Sie huschte schnell vor den Paravent und hielt das Kleid mit beiden Händen hoch. „Hier, sieh mal, das nehmen wir als Nächstes. Was meinst du? Die Farbe ist spitze, ein richtiger Hingucker, da muss dein Fotografinnenherz doch Freudensprünge machen.“ Sie trug nur ihre schicke petrolfarbene Unterwäsche und machte mit dem vorgehaltenen Kleid die typischen Laufstegbewegungen. „Das sieht bestimmt sexy aus, findest du nicht?“

Melanie hatte noch keinen Satz dazu gesagt, als sich Ina schon mit erhobenen Armen in das schlauchartige Kleid schlängelte, beziehungsweise es versuchte. „Puuh, ist das eng“, stöhnte sie genervt. „Hoffentlich habe ich die richtige Größe bestellt.“

„Passt schon“, meinte Melanie und nickte. Aber dann schloss sie die Augen und ließ sich auf das großzügige Ecksofa plumpsen. „Hey Süße, schalt erst mal einen Gang zurück. Du bist ja komplett aufgedreht!“ Sie legte ihre Kamera auf den Couchtisch, zurrte sich das Gummiband vom Handgelenk und bändigte damit schnell ihr schulterlanges, feuerrotes Haar. „Mir ist total warm. Die Beleuchtungsanlage bringt mich heute noch um. Ich brauche erst einmal einen Kaffee.“ Sie sah auf ihre Smartwatch und seufzte. „Meine Liebe, wir sind mittlerweile schon fünf Stunden beim Shooten. Langsam habe ich genug.“

„Ich auch“, murmelte Ina kaum hörbar und bemühte sich immer noch, in das grüne Stretchkleid zu kommen. „Wenn ich bloß endlich in diesem verdammten Ding stecken würde. Warum ist das Biest nur so eng? Und wo sind die passenden Pumps dazu?“

„Die sind doch letzte Woche geliefert worden, glaube ich.“ Melanie stand auf und ging zur Küche. „Willst du auch einen Kaffee?“

„Später, ich hatte heute schon drei und ich soll mich ja beruhigen.“ Ina zwinkerte kess und warf ihrer Fotografin eine Kusshand hinüber. „Komm, mein Super-Auge, stärke dich und dann geht’s weiter. Wir packen das.“

Fünf Stunden Video-Shooting in ihrer Wohnung hatten auch sie ganz schön aus der Puste gebracht. Das Wohnzimmer stand voll mit aufgerissenen Kartons, aus denen alle möglichen Kleidungsstücke quollen, dazwischen lagen Accessoires wie Schals und Schmuck, und garniert war das Ganze mit einer professionell aufgebauten Beleuchtungsanlage, die ein gekonntes Studioflair schuf.

„Du, ich weiß nicht mehr, wo ich die Kiste hingestellt habe“, nahm Ina das Pumps-Thema wieder auf. „Hatte ich die Schuhschachtel eigentlich schon gestern mit hochgebracht? Oder ist sie noch im Keller bei den anderen Sachen? Weißt du das?“ Sie lehnte jetzt am Türrahmen und sah fragend zu Melanie hinüber, weil sie keine Antwort bekommen hatte. „Melanie? Träumerle! Hast du sie gesehen?“

Melanie schob sich mit dem Kaffeebecher in der einen Hand und einem großen Snackteller in der anderen an Ina vorbei aus der Küche, stellte den Teller auf dem Wohnzimmertisch ab, zuckte mit den Schultern und schüttelte müde den Kopf. „Keine Ahnung. Es ist ja deine Wohnung und die Kiste wäre dir bestimmt aufgefallen. Ich tippe also auf Keller.“ Sie trank einen kräftigen Schluck aus dem Kaffeebecher und nahm ein Brotstück vom Teller, appetitlich belegt mit Avocado, Tomate und hauchdünnen Käsescheiben. „Mmh, die sind köstlich. Toll, dass du uns die kleine Nobel-Snack-Platte besorgt hast. Glaube mir, ich hätte sonst längst eine so heftige Hungerattacke bekommen, dass ich nichts mehr gesehen hätte.“

Melanie setzte sich wieder auf das Sofa und verdrehte genießerisch die Augen, während sie kaute. „Mal etwas anderes“, murmelte sie. „Ich frage mich, wie lange du das hier noch aushalten willst.“ Sie blickte erst auf die Uhr und dann auf den vor ihr ausgebreiteten Terminkalender. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die zahlreichen Einträge. „Allein in dieser Woche hatten wir bereits vier Drehtermine für deinen Instagram-Kanal und fünf weitere Outdoor-Termine sind noch offen und hier, zwei davon sind mit ‚eilig‘ versehen.“ Sie blickte Ina mit großen Augen an. „Wie sollen wir das alles bloß schaffen?“

„Ich frage nicht ‚wie‘, sondern ich mache einfach“, flötete Ina betont lässig und hatte es endlich geschafft, sich ins Kleid zu zwängen und sogar den Reißverschluss zuzuziehen. „Sieh mal, das Teil sitzt perfekt.“ Sie musterte sich in dem großen Spiegel und drehte sich zufrieden hin- und her. „Tolles Kleid, dafür bekommen wir jede Menge Klicks und garantiert auch neue Follower.“

Melanie sah Ina bewundernd an. „Wow, das sieht aber echt klasse aus. Ich glaube, wenn du damit online gehst, ist das Kleid in einer halben Stunde beim Lieferanten ausverkauft.“ Sie nippte erneut am Kaffee. „Weißt du eigentlich, wie stolz du auf dich sein kannst? Du machst das richtig gut. Als du vor zwei Jahren mit deiner Idee kamst, einen Kanal „Happy 50“ zu starten, um Mode für die Frauen dieser Altersgruppe vorzustellen, war ich schon ein bisschen skeptisch. Ich hätte nie gedacht, dass das Projekt so erfolgreich werden würde.“

„Ganz ehrlich, ich auch nicht“, sagte Ina. „Aber wir beide haben das bis jetzt gut gemacht. Täglich kommen neue Abonnentinnen dazu. Offenbar zeigen wir Mode, die gefällt.“

„Nicht wir, du. Ich fotografiere nur, aber du bringst Stil und Pep in den Kanal.“

Das Lob freute Ina und sie wusste, dass es ihrer Zeit bei einem Hamburger Frauenmagazin im Moderessort zu verdanken war, dass sie Farben neu kombinierte, figürliche Schwachpunkte wegmogelte, einfach eine Frau schön aussehen lassen konnte.

Melanie warf Ina einen anerkennenden Blick zu. „Außerdem hast du ja auch direkte Vorbilder gehabt und kennst sie alle: Armani, Westwood, Lagerfeld, die ganzen Stars. Kürzlich hat mir eine Kollegin erzählt, dass du sogar mit Naomi Campbell zu tun hattest. Stimmt das?“

„Zu tun haben? Nun ja, ich habe sie gesehen.“ Ina stakste jetzt im übertriebenen Modellgang durch die Wohnung, warf gespielt wild ihr dunkelblondes Haar und blickte selbstbewusst in die imaginäre Zuschauerriege. „Das war Naomi. Und was sie kann, kann ich auch“, alberte sie ausgelassen.

„Es stimmt also? Du hast so wenig aus der Zeit erzählt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man es als Paderbornerin schafft, Naomi Campbell zu treffen. War das in Paris?“

„Nein, in New York. Ich habe sie auf der Fashion Week gesehen.“

Melanie grinste. „Wow, die Fashion Week mit Naomi in New York, klar, davon kann unsereins hier in der Provinz nur träumen. Wie hast du das eigentlich hinbekommen?“

„Ich wusste eben schon immer, was ich wollte“, meinte Ina lachend, während sie in den zahllosen Kartons weiter nach den Schuhen suchte. „Nach dem Abi habe ich in der Lokalredaktion unserer Paderborner Tageszeitung meine Ausbildung gemacht, das Volontariat aber von Anfang an nur als Sprungbrett in die große weite Welt gesehen. Mein Ziel war eine schicke Moderedaktion.“

„Und dann?“ Melanie nahm einen Snack und biss lächelnd hinein.

„Ich hatte einfach nur Glück, dass ich zur rechten Zeit am rechten Platz war und die Chefredakteurin mich bei meinem Vorstellungsgespräch offensichtlich mochte und mir die Arbeit zutraute.“

Mit der Serviette wischte Melanie einen Krümel von ihrer Lippe. „Chapeau! Und dann kamst du direkt als Modejournalistin in die Hansemetropole?“

Ina saß jetzt auf dem Boden und hob triumphierend die Pumps in die Höhe, nach denen sie so lange gesucht hatte, hielt aber weiter am Thema fest. „Tja, das war schon spannend und ein kleines bisschen habe ich mich damals auch selbst zwischen den Top-Designern und Modells wie ein Star gefühlt und mich in eine Zukunft als die deutsche Vogue-Chefin hineingeträumt.“ Sie räusperte sich. „Okay, vielleicht mit einem anderen Führungsstil, aber ähnlich erfolgreich.“

„Das kann ja noch kommen“, sagte Melanie lächelnd. „Die rasant zunehmende Zahl deiner Abonnentinnen, die dein Know-how mit einem Like belohnen, machen dich bestimmt bald zum Instagram-Star. Du hast eben nicht nur das nötige Know-how, sondern zeigst auch eine sympathische Performance. Du hast die richtige Lässigkeit und natürlich die Traumfigur für Mode. Beneidenswert! Du kannst anziehen, was du magst. Es sieht alles super aus.“

„Charmeurin, das kneift und spannt aber schon an der einen oder anderen Stelle“, warf Ina ein und strich sich provozierend über den Bauch, der sich wie eine kleine Kugel unter dem grünen Kleid wölbte. „Sieh mal, gertenschlank ist das nicht mehr.“

„Süße, du bist über fünfzig, da darf man auch ein Pölsterchen haben. Ich bin zehn Jahre jünger und nicht so gut in Form. Dann sage ich es anders. Du weißt genau, wo du etwas an den richtigen Stellen kaschieren musst. Ich gehe jedes Mal mit einem tollen Tipp nach Hause, wenn ich mit dir gearbeitet habe. Aber schade, dass du nicht Modemagazinchefin geworden bist. Dann hätte ich noch lieber diese Shootings für dich gemacht.“ Melanie hatte die Beine angezogen, saß jetzt im Schneidersitz auf dem Sofa und fischte genüsslich mit zwei Fingern den Käse vom Schnittchen, um sich die Scheibe auf der Zunge zergehen zu lassen. „Wirklich köstlich“, schwärmte sie mit geschlossenen Augen. „Ich bin hungrig und könnte heute ein Kind aus der Wiege essen.“

„Tja, diese Traumkarriere habe ich verpasst.“ Lachend lief Ina in die Küche, um sich jetzt doch einen Kaffee zu holen. „Auf dem Weg zum Modeolymp war mir ja etwas Entscheidendes dazwischen gekommen.“ Vom Türrahmen aus zwinkerte sie Melanie zu. „Und das konnte in dem Alter nichts anderes sein als die Liebe. Du erinnerst dich an Christopher? Ich hatte dir doch schon von ihm erzählt. Er war derjenige, der damals alles durcheinandergebracht hatte. Christopher war Gastronom gewesen und hatte in Paderborn ein Ausflugslokal geführt. Nach ein paar Nächten in seinen Armen waren Hamburg und die Glitzerwelt weit weg und statt hinauf in den Modehimmel ging es für mich zurück in die vertraute westfälische Heimat.“

„Nee, ausgerechnet wieder hierher? Was hast du dir damals eigentlich dabei gedacht?“, wollte Melanie wissen. „Nichts!“ Ina stellte den Kaffeebecher auf den Tisch und setzte sich zu Melanie auf das Sofa. „Ich habe nichts gedacht, sondern nur gefühlt, und meine Gebärmutter hatte auch eine riesengroße Stimme. Jedenfalls bin ich als stellvertretende Lokalchefin in die Redaktion zurückgekehrt.“

„Und den Rest kann ich mir vorstellen: Kinder, Küche, Vorortglück.“

Ina nickte. „Genau, ich bin damals mit Christopher in ein Häuschen am Stadtrand gezogen und exakt neun Monate später kam unsere Leonie auf die Welt.“

„Da du heute allein lebst, kann ich mir die Fortsetzung fast denken.“

Ina lächelte. „Genau, wir erfüllten auch da das Klischee. Ich lebte für Kind und Redaktionskarriere und Christopher für seine Tripadvisor-Bewertungen. Die wenig familienfreundlichen Arbeitszeiten, mit denen wir jonglieren mussten, sorgten unweigerlich dafür, dass wir uns wirklich die berühmte Klinke in die Hand gaben. Die ersten Jahre steckten wir beide das mit unseren großen Gefühlen noch weg, aber dann kühlte die Beziehung stetig ab und wir hatten uns immer weniger zu sagen.“

„Es ist wie so oft beim Vorstadtglück. Die Ehe trudelte ins Aus!“ Melanie knabberte jetzt an den Pistazien, die Ina mit ihrem Kaffee aus der Küche geholt hatte. „Magst du auch?“, fragte sie und hielt ihr die Schale hin.

Ina schüttelte den Kopf. „Nein danke, aber mit dem Trudeln ins Ehe-Aus hast du recht, und zwar trudelten wir so lautlos, dass wir beide es gar nicht mitbekamen. Irgendwann fuhr Christopher nach dem letzten servierten Salat nachts nicht mehr zu mir, sondern zu einer seiner natürlich wesentlich jüngeren Service-Mitarbeiterinnen, und als ich dahinterkam, tat es nicht einmal sonderlich weh.“

„Seid ihr in Frieden auseinandergegangen?“, fragte Melanie und griff unentwegt in die Pistazienschale.

„Ja klar, doch es ist kein wirkliches Auseinandergehen gewesen. Ich glaube, wir konnten uns irgendwann nicht mehr aneinander erinnern. Klingt flapsig, aber es war so.“

„Wie lange ist das jetzt her?“

Ina sah nachdenklich in die Luft. „Sechs, nein, sieben Jahre schon. Wir beide kannten uns damals noch nicht. Hast du Christopher eigentlich mal gesehen?“ Sie blickte fragend Melanie an, die aber sofort kopfschüttelnd verneinte. „Hätte sein können, denn ab und zu kommt er vorbei, meistens, wenn es etwas wegen Leonie zu besprechen gibt. Die erste Zeit nach der Trennung habe ich mich um die Redaktion und Leonie gekümmert, und als sie langsam flügge war, eben um den Kanal.“

„Und die Redaktion meine Liebe, vergiss das nicht“, betonte Melanie. „Und genau das ist das Problem, die Zweigleisigkeit. Es war damals zu viel und ist es heute auch. Irgendwann wird sie dir zum Verhängnis. Unser Programm ist schon belastend und du stemmst dazu noch die Redaktionsarbeit. Okay, du kannst einiges im Homeoffice machen, aber egal, das ist definitiv zu viel. Ich denke wirklich, du solltest dich langsam entscheiden.“

„Ja, Melanie, du hast recht, ich bin fast ständig im Stress und weiß eigentlich morgens nie, wie ich mein Tagesprogramm schaffen soll.“ Sie seufzte. „Aber die Termine knubbeln sich ja nicht immer so wie im Moment. Das entspannt sich bald alles wieder.“

Ina stand auf und schlüpfte in die atemberaubend hohen Pumps, die sie wie eine kostbare Trophäe vom Boden genommen hatte, und übte ein paar Schritte, um halbwegs standfest vor der Kamera zu sein.

„Entspannen? Davon redest du seit Wochen, aber das Gegenteil ist der Fall. Es wird immer stressiger.“ Melanie sah Ina ernst an. „Du darfst den Stress nicht verdrängen. Irgendwann reagiert dein Körper und dann entscheidet jemand anderes für dich. Aber jetzt komm, lass uns wenigstens für ein paar Minuten den Kaffee genießen“, bat Melanie und zog Ina am Kleiderärmel zurück zu sich auf das Sofa. „Hier, nimm einen Snack!“ Sie hielt ihr den Teller hin und griff auch selbst erneut zu.

„Was steht denn diese Woche weiter an“, dachte Ina laut nach, sah dabei auf den Terminkalender in ihrem Handy, während sie ein Häppchen aß.

Auch das noch, durchzuckte es sie. Sie hatte heute einen Außentermin für die Redaktion, eine langweilige Ratssitzung, bei der sie aber unbedingt dabei sein musste.

„Verdammt, das sieht nach Chaos aus“, murmelte sie und verdrehte die Augen. Das würde mal wieder wenig Schlaf geben, dachte sie und ihre einzige Auszeit, die wöchentliche Wander-Tour mit ihren Freundinnen, konnte sie dieses Mal getrost vergessen. Während die anderen Mädels am Samstag schnellen Schrittes den Teutoburger Wald erobern würden, präsentierte sie mit Melanie in irgendeinem Park die Farbe Gelb für die kommende Sommerkollektion. Na bravo, dachte Ina und machte, was sie immer in diesen Stresssituationen machte: Sie appellierte an sich, durchzuhalten. „Aufgeben gibt’s nicht“, zischte sie. „Auf, wir shooten jetzt das grüne Outfit und machen dann Schluss, okay? Anschließend komme ich noch recht bequem in die Redaktion. Ich bin für die Spätschicht eingetragen und danach habe ich im Rathaus die Sitzung und hoffentlich ein Interview mit dem Bürgermeister.“ Bevor sie aufstand, drückte sie Melanie einen Kuss auf die Wange. „Mach dir keine Sorgen, Sweety, ich packe das schon.“ Und lächelnd meinte sie. „Ich habe das doch immer geschafft.“ Sie biss noch einmal in ein Avocadobrot und stolzierte dann im besten Laufsteg-Rhythmus zur vorbereiteten Location. „Kann losgehen, vorausgesetzt ich fliege auf den Dingern nicht quer durch die Wohnung.“

„Gib mir noch ein paar Minuten fürs Licht“, bat Melanie und Ina warf einen kontrollierenden Blick in den Spiegel. Der schulterlange Bob stand ihr ausgezeichnet und seitdem sie das Haar in sanften Wellen trug, war sie rundum begeistert von der Frisur. Ihre seegrünen Augen hatte sie perfekt betont und der pastellfarbene Lippenstift rundete das Gesamtbild ab. Sie konnte sich zeigen und setzte ihr professionelles Lächeln auf. Klar war sie auch erschöpft, aber es brachte jetzt nichts, mit Melanie mitzujammern. Doch wie sehr sie unter Druck stand, erkannte sie daran, dass sie sich aus lauter Frust ziemlich haltlos einen crunchigen Nuss-Müsli-Riegel in den Mund schob und hektisch die Süßigkeit kaute. Eigentlich aß sie keinen Zucker, aber wenn die Termine so geballt kamen wie jetzt, waren alle guten Vorsätze dahin. Versonnen sah sie in ihren kleinen Garten. Das sanfte Sonnenlicht spiegelte sich auf dem Steinpflaster des Weges und an den Bäumen leuchtete das erste zarte Blattgrün. Ina öffnete die Terrassentür und lehnte sich in den Rahmen. Sie saugte tief die frische Luft ein und hoffte, dass ihr der Sauerstoff den dringend nötigen Energieschub geben würde. Sie liebte es, draußen zu sein, und noch mehr, dabei zu wandern, obwohl sie das nach Meinung ihrer Freundinnen so nicht länger sagen durfte. Es hieß jetzt ‚Hiking‘, was sich zwar modernder anhörte, aber an der Tätigkeit nichts änderte. Sie genoss es immer, unter freiem Himmel zu sein, das Rascheln von Blättern und Geäst unter ihren Füßen zu hören und den Wind im Gesicht zu spüren. Sie merkte jedes Mal von Schritt zu Schritt, dass sich in der Natur ihre Batterien aufluden und sie innerlich ruhiger, zuversichtlicher und lebensfroher wurde. Verdammt, dachte sie, warum nahm ihr das ständig zunehmende Arbeitspensum jetzt auch noch ihre größte Freude. Sie hatte genug, zumindest für den Moment.

„Ich bin so weit“, tönte Melanie. „Kommst du, und stell dich bitte, wie abgesprochen, vor den beigefarbenen Hintergrund. Das ist dann ein sehr harmonisches Farbspiel.“ Sie sah durch das Objektiv und dirigierte Ina dabei mit der rechten Hand an den passenden Platz. „Und einmal leicht nach links. Halt, ja so, nein, noch zehn Zentimeter. Perfekt. Jetzt stimmt das Licht. Wir können loslegen.“

Ina versuchte, ruhig durchzuatmen, blickte jedoch nervös zur Uhr. Viel Zeit blieb nicht mehr.

„Gib mir noch eine Minute, bitte.“ Ina griff nach ihrem Handy und schrieb der Redaktionssekretärin eine WhatsApp-Nachricht: „Ich muss noch die Sitzung vorbereiten und komme etwas später.“Klar war das gemogelt, aber egal. Klitzekleine Notlügen mussten manchmal sein. Sie gab Melanie das Startzeichen, setzte ihr bestes Lächeln auf und sah professionell entspannt in die Kamera.

„Jetzt bist du gut, richtig gut, weiter so“, brachte Melanie sie in Bestform.

Aber als danach alles im Kasten war und sie endlich loskam, konnte sie sich kaum vorstellen, das vor ihr liegende Programm durchzuhalten, so müde und ausgebrannt fühlte sie sich. Doch in der Redaktion lief alles wie am Schnürchen und sie schaffte es anschließend auch, das Interview so routiniert zu führen, dass weder der Bürgermeister noch sonst jemand ihre Erschöpfung bemerkt hatte. Als sie kurz vor Mitternacht zurück nach Hause kam, erschrak sie beim Anblick der unaufgeräumten Wohnung, bahnte sich lediglich einen Weg durch das Chaos von Kartons und Modeständer zum Schlafzimmer, plumpste müde ins Bett und fiel innerhalb von Sekunden in einen tiefen Schlaf.

***

Am nächsten Morgen klingelte Punkt sieben der Wecker und Ina brauchte ein paar Minuten, um wach zu werden. Kaum die Augen offen, setzte sie das Arbeitspensum des vor ihr liegenden Tages erneut unter Druck. Würde sie alle Termine gut koordinieren können? Hatte sie eine Prioritätenliste? Was wäre, wenn etwas nicht klappte? Alle möglichen Szenarien drehten sich in ihrem Kopf. Sie schnappte nach Luft und musste sich beruhigen, herunterdrehen, sofort. Zum Glück hatte sie sich eine SOS-Methode für solche Situationen antrainiert. Sie legte sich auf den Rücken, zog die Beine an und atmete langsam durch die Nase, zählte dabei bis vier, hielt den Atem an, zählte bis sieben. Anschließend stieß sie die Luft kräftig durch den Mund aus, zählte bis acht und wiederholte die Übung mehrere Male, bis sie sich allmählich entspannte. Danach ging sie bewusst langsam in die Küche, drückte den Knopf des Wasserkochers und sah gelassen zu, wie die duftenden Kräuter in der Teekanne tanzten, als sie das heiße Wasser sprudelnd hineingoss. Zum Glück musste sie heute nicht ganz so früh in die Redaktion und konnte den Tag ruhiger angehen. Sie setzte sich in ihr kleines Paradies, einen wunderschönen Wintergarten, in dem rund ums Jahr die schönsten Blumen blühten. Besonders liebte sie den immer üppig wachsenden Jasminstrauch, der einen herrlich aromatischen Duft verströmte. Sie schnupperte wohlig, bevor sie es sich in einem der Korbsessel gemütlich machte, am Tee nippte und aus dem Fenster in den frühlingshaften Garten sah. Eine Amsel hüpfte fröhlich durch die Kirschlorbeerhecke und zwei Spatzen pickten munter in dem großen Topf mit Körnern, den Ina immer üppig gefüllt hielt.

„Dein Garten ist ja wie eine Voliere“, hatte kürzlich jemand zu ihr gesagt und sie fand, dass es stimmte. Aber ihre gefiederten Freunde waren nicht zufällig da, sondern gekauft mit der zwar teuersten, jedoch offenbar auch besonders wohlschmeckenden Saatmischung, die in der Tierhandlung zu bekommen war. Freiwillig kam ja bald keiner mehr zu ihr, wenn sie ständig so im Dauerlauf war, dachte sie missmutig, beschloss aber im selben Moment, die Vögelchen aus der Misere herauszuhalten. Sie prüfte nachdenklich mit dem Finger, ob ihre wunderbar roséfarben blühende Orchidee ausreichend Wasser hatte. Warum kam ihr im Moment bloß alles so festgefahren vor? Ihr Leben rauschte in Bildern an ihr vorbei, doch im Grunde ging es ihr gut, war ihr immer gut gegangen. Trotz der privaten Niederlage, als die sie ihre Scheidung verstand. Sie dachte an das gestrige Gespräch mit Melanie. Seit sieben Jahren war sie jetzt schon Single. Anfangs auch ein freiwilliger. Sie hatte sich prüfen wollen, erleben, wie sie sich allein fühlte, aber dann hatte sie gespürt, dass sich alles in ihr nach einem neuen Partner gesehnt hatte, zumal die Zeit gedrängt hatte. Den Spruch, mit fünfzig sei es wahrscheinlicher, von einem Bus überfahren zu werden, als einen Mann zu finden, hatte sie immer für zutreffend gehalten und sich deshalb ziemlich eilig auf die Partnersuche begeben. Ein paar Mal war sie auch ein bisschen verliebt gewesen, aber die anfänglichen Gefühle hatten sich immer schnell im Alltagseinerlei verloren. Die Männer, die ihr bislang gefallen hatten, hatten keine Lust gehabt, ihre unregelmäßigen Arbeitszeiten mitzutragen, mit einem halbwüchsigen Kind zu leben oder ihre Freude am Wandern beziehungsweise Hiken zu teilen. Irgendetwas hatte immer nicht gepasst und so hatte Ina schließlich aufgegeben: Partnerbörsen, Facebook, Twitter, Instagram, in puncto Partnersuche stand alles auf Off.

„Jetzt ist Schluss! Das Thema Männersuche ist für mich erledigt“, hatte sie damals ihren Freundinnen anvertraut und sich fest vorgenommen, nicht mehr angespannt nach rechts und links zu sehen, sondern sich ‚finden‘ zu lassen. Das hatte so herrlich gleichgültig geklungen und Ina hatte sich in der Rolle der richtig coolen, von Männern unabhängigen Frau gefallen. Während sich in ihren Augen nach wie vor alle ihre Freundinnen auf irgendwelchen Dating-Apps ‚zum Affen‘ gemacht hatten, hatte sie nur noch freundlich in die Welt gelächelt und war sich sicher gewesen, dass irgendwann der richtige Mann zurücklächeln würde. Sie brauchte nichts weiter als ein wenig Geduld. Und um sich die Zeit bis zum Liebes-Happy End zu vertreiben, hatte sie sich entschlossen, ihren Instagram-Kanal zu gründen. Seitdem kam sie mit dem fehlenden Partner besser zurecht und steckte die Kränkungen der mittlerweile viel jüngeren, dafür aber auch viel gehässigeren Kolleginnen lockerer weg.

Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie in den Augen der ‚jungen Hühner‘, wie sie die Mädels bei Dritten immer nannte, längst viel zu alt für den Job war, weil man ja in ihrem Alter sowieso nichts mehr kapierte. Ina hörte Begriffe wie „gruftig“ und „gestrig“ und bekam durchaus mit, dass man sie bei Walter, dem Chefredakteur, anschwärzte und immer dreister an ihrem Sessel sägte. Zwar unternahm Walter nichts gegen sie, aber auch nichts für sie. Das wiederum führte dazu, dass sich Ina von ihm mächtig im Stich gelassen fühlte. Doch den Job hinwerfen und nur auf die Instagram-Karte setzen, das traute sie sich eben auch nicht. Also musste sie – egal wie – durchhalten, und mal ging es ganz gut und mal eben weniger. Selbst im größten Stress war ihre Devise: Nicht jammern, aufstehen und weitermachen, irgendwie.

Ina stand aus dem Korbsessel auf, streckte die Arme nach oben und ging schnell so im Kreis herum. Kürzlich hatte sie gelesen, dass der Körper in dieser Haltung Glückshormone ausschüttete, und wollte es jetzt einmal ausprobieren. Glückshormone, sie wusste gar nicht mehr, was das war. Wann hatten die denn das letzte Mal ihren Körper durchströmt? Lag das ein Jahr oder schon zwei Jahre zurück? Und wenn es passiert war, musste es beim Wandern gewesen sein, zumindest auf keinen Fall in den Armen eines Mannes, wobei ihr das im Moment ganz besonders verlockend erschien. Sie schloss die Augen und in Gedanken passierte genau das, was sie sich schon so lange verwehrte: Leidenschaft. Sie sah muskulöse Männerarme, die voller Begierde nach ihr griffen, spürte heiße Lippen, die sich nach ihr verzehrten.

„Stopp! Kamera aus!“, sagte sie laut zu sich selbst, unterbrach damit ihre ausufernde Fantasie und setzte sich wieder in den Sessel.

Nach einem weiteren Schluck Tee beschloss Ina, noch ein bisschen die Tierchen im Garten zu beobachten, die in immer größerer Anzahl an der lukullischen Futterkollektion pickten. „Schön, dass ich so zielgenau euren Geschmack treffe“, sagte sie leise und freute sich über den wohltuenden Anblick der lebhaften Vogelschar. Sie würde das schon alles schaffen, irgendwie.

Ihr Handy surrte und sie öffnete die Nachricht.

„Kannst du mich anrufen bitte. Es ist dringend. Ich brauche hier deine Hilfe. Bernd musste ins Krankenhaus. Bitte melde dich! Helga“

Alle Gedanken an ihr bevorstehendes Programm an diesem Tag lösten sich für den Moment in Nichts auf. Ina war so baff, dass sie den Blick vom Display nahm und sich atemlos im Sessel zurücklehnte. „Mama!“, wiederholte sie leise und umklammerte dabei mit beiden Händen die Lehne. Ihre Mutter wollte sie sprechen. Wie lange hatten sie nichts mehr voneinander gehört? Ina ging im Kopf die letzten Monate durch. Zwei? Nein! Ganze drei Monate herrschte bestimmt schon Funkstille. Ihr Herz raste und Ina strich sich zur Beruhigung mit beiden Mittelfingern entspannt über die Schläfen. Den Tipp hatte ihr eine Kollegin gegeben, die sich mit Akupunktur auskannte. Aber zumindest im Moment half es nicht. Es hüpften mal wieder zu viele Bilder in ihrem Kopf herum, die sie schlecht unter Kontrolle bekam und für die sie jetzt auch überhaupt keine Zeit hatte. Sie schüttelte sich, so als ob sie alle quälenden Gedanken loswerden wollte. Fast wie von einem unsichtbaren Band gezogen tapste sie auf Strümpfen zum Schrank, holte eine goldfarbene Schachtel heraus, öffnete den Deckel und sah die vielen Familienfotos, die unsortiert darin lagen. Nachdenklich nahm sie ein Foto in die Hand, auf dem sie mit ihrer Mutter ausgelassen in die Kamera blickte. Aufgenommen war es in einem der zahlreichen Urlaube in den bayerischen Alpen, bei denen immer die gesamte Familie dabei gewesen war. Drei Generationen, die miteinander wanderten, lachten, das Zusammensein genossen, einfach Spaß hatten. Aber dieses Foto war etwas Besonderes, denn es war die letzte Reise ‚vor dem Knall‘, wie Ina immer den Tag des Auseinanderbrechens der Ehe ihrer Eltern und damit der Familie nannte.

Rasch legte Ina das Foto zurück in die Schachtel und stülpte den Deckel fast schon ungeduldig wieder darauf. Sie wollte sich nicht mehr mit den schwierigen Zeiten von früher belasten. Sie brauchte ihre Kraft für die Zukunft und den Rückruf.

Kapitel 2 „Wo geht’s denn hier ins Abenteuer?“

Ina sah auf die Uhr. Noch blieb Zeit für ein Frühstück und die innere Vorbereitung auf das Telefonat. Sie ging in die Küche, füllte Müsli in eine Schüssel, gab etwas Joghurt dazu und setzte sich damit erneut in den Wintergarten. Während sie die knackigen Flocken knabberte, dachte sie daran, dass sie damals einfach Bernd, dem heutigen Ehemann ihrer Mutter, die Schuld an allem gegeben hatte. In ihren Augen hatte er Helga den Kopf verdreht und dafür gesorgt, dass sie zu ihm zog und die Familie komplett zerstörte. Bernd! Ausgerechnet der beste Freund ihres Vaters und zudem noch der Jurist der Familie. Natürlich war die Affäre damals Stadtgespräch gewesen und zu allem Unheil war es kurze Zeit später zu ‚Komplikationen‘ in Bernds Kanzlei gekommen, wie hinter vorgehaltener Hand getuschelt worden war. Genaues hatte niemand gewusst, doch die Tuscheleien hatten ins Grenzenlose geführt. Mal war es um Geldwäsche gegangen, mal um Korruption. Keiner hatte dem seriösen Anwalt das wirklich zugetraut, aber alle hatten darüber gesprochen. Jedenfalls hatte Bernd ziemlich überstürzt seine Existenz abgewickelt und war nach Spanien ausgewandert, und weil Helga ihn dabei begleitet hatte, war das wie ein Tsunami gewesen, der nichts weiter hinterlassen hatte als Verwüstung. Ina hatte ihren Vater Klaus noch nie so verletzt und niedergeschlagen gesehen.

Damals, mitten in der Krise, hatte Ina nur den Plan gehabt, nach vorn zu sehen, und die Alltagsturbulenzen hatten rasch die Trauer überlagert. Der Spagat zwischen Job und Familie hatte ihr alles abverlangt. Christopher hatte seine Kraft im Restaurant gebraucht und Leonie war in der Schule gefordert gewesen. Klaus hatte sich um sein Unternehmen gekümmert, ein Möbelhaus, das er bis dahin mit Helga geleitet hatte, und recht bald auch um eine neue Frau, Petra. „Das ist nichts Ernstes“, hatte Ina gern beiläufig gesagt, wenn sie mit Vertrauten zusammen gewesen und auf die neue Partnerin ihres Vaters angesprochen worden war. Das hatte allerdings nichts damit zu tun gehabt, dass sie Petra nicht gemocht hatte, sondern eher damit, dass sie keine andere Frau als ihre Mutter an der Seite ihres Vaters hatte sehen wollen.

Gedankenverloren rührte Ina in ihrer Müslischüssel und erinnerte sich daran, wie sauer sie damals gewesen war und mit ihrer Mutter nichts mehr hatte zu tun haben wollen. Aber das hatte Helga ignoriert und immer wieder gegen die Funkstille und frostige Eiszeit angekämpft. Sie hatte regelmäßig angerufen und später, nach ihrem Umzug nach Spanien, zusätzlich noch jede Menge Fotos aus ihrer neuen Heimat geschickt.

Bernd und Helga hatten sich in der Nähe der Mittelmeerstadt Valencia eine hübsche Finca mit Meerblick gekauft und dort, umgeben von üppig wachsenden Obst- und Olivenplantagen, eine Ferienhausvermietung gegründet. Finanziell kamen sie damit offenbar gut zurecht, denn ihr Haus war optisch ein einziger Finca-Traum. Helga hatte Ina unzählige Male eingeladen, aber sie hatte das immer kategorisch abgelehnt. Allerdings hatte sie ihre Mutter immer bei ihren Deutschlandbesuchen gesehen. Sie hatten dann den Unfrieden zumindest äußerlich ruhen lassen, sich zum Essen getroffen oder für einen gemeinsamen Spaziergang. Auch wenn sie sich dabei häufig angeschwiegen hatten, waren sie sich trotzdem jedes Mal wieder ein bisschen nähergekommen und hatten zumindest die wichtigsten Infos ausgetauscht, sodass sie grob auf dem Laufenden geblieben waren. Als Inas Ehe dann ebenfalls in die Brüche gegangen war, war Helga für sie weit, weit weg gewesen, und einen ehrlichen, vertrauten Austausch, wie ihn Helga immer gesucht hatte, hatte Ina nie wieder zugelassen.

Sie schaffte es nicht, ihre schlimmen Erinnerungen anders einzuordnen, als sich abzugrenzen und Helga abzulehnen, obwohl ihr ihre Blockade-Haltung längst selbst übertrieben vorkam.

Sie drehte den Löffel in ihren Händen und dachte an ihre Tochter, die die Situation von allen Beteiligten am besten gemeistert hatte. Leonie hatte sich von Anfang an konsequent aus allem herausgehalten und einfach weiterhin einen innigen Kontakt sowohl mit ihrer Oma Helga als auch ihrem Opa Klaus gepflegt, und da alle sich bemüht hatten, das Mädchen nicht in die Querelen hineinzuziehen, hatte das gut funktioniert. Bis heute düste sie jedes Jahr mehrmals zu ihrer Oma Helli und dem vertrauten Stiefopa Bernd nach Spanien und schien dabei noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben, denn sie erzählte so selbstverständlich davon, dass sich Ina jedes Mal ganz unwohl in ihrer Haut fühlte. Ina selbst wäre ein Besuch bei den beiden immer wie ein Verrat an ihrem Vater Klaus vorgekommen. Ina konnte und wollte ihn nicht verletzen, indem sie sich mit Bernd an den Strand legte oder auf seiner Terrasse faulenzte.

Erneut las sie Helgas Nachricht und sah dann nachdenklich einer quirligen Meise zu, die gerade besonders raffiniert den Zugang zu den Leckerbissen gegen eine Taube verteidigte.

Ina knibbelte an ihren Fingernägeln. Mit einem Ruck stand sie auf und brachte die immer noch halb gefüllte Müslischale in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser ein und ging ins Wohnzimmer.

Sie könnte ihrer Mutter doch nicht die kalte Schulter zeigen, wenn sie sie brauchte. Mit schweißnassen Fingern griff sie zum Handy und hatte Sorge, vor lauter Nervosität nicht richtig sprechen zu können.

„Du, Liebling“, hörte sie die vertraute Stimme ihrer Mutter. „Ich bin so froh, dass du dich meldest. Bei mir bricht hier gerade alles zusammen.“

Ina zog das Sofakissen zu sich heran und knetete unruhig den Stoff. Sie bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. „Was kann ich denn für dich tun?“, fragte sie, während sich ihr Herzschlag beschleunigte.

„Du musst mir helfen. Bernd hat eine schwere Gallenerkrankung hinter sich und ist jetzt zur Kur in Deutschland“, sprudelte es aus Helga heraus. „Ich hätte das Geschäft natürlich problemlos weitermachen können, aber wie immer kommt ein Schicksal selten allein, jedenfalls bin ich vorgestern im Garten unglücklich gestürzt und habe mir den Mittelfuß gebrochen. Ich trage eine Orthese und kann mithilfe einer Krücke zwar vorsichtig auftreten, darf aber nicht Autofahren. So kann ich meine Kunden nicht betreuen. Ausgerechnet jetzt. Ich brauche Hilfe, die Frühlingssaison ist besonders lukrativ!“

Frühlingssaison? Glaubte ihre Mutter, Ina könnte einfach aus ihrem Leben zwischen Redaktion und Modekanal verschwinden und eine Zeit lang Interims-Ferienhausvermieterin werden? Was dachte Helga nur? Obwohl Ina sich überrumpelt fühlte, musste sie irgendetwas tun. In ihrem Kopf ratterte es. Zehn Tage könnte sie sich irgendwie freischaufeln und das müsste reichen, die drängendsten Probleme zu lösen.

„Was soll ich denn genau machen?“, wollte Ina wissen und es fiel ihr selbst auf, dass ihre Stimme ungewöhnlich zugewandt klang.

„Es gibt eine Menge Arbeit“, schoss es aus Helga heraus. „Gut, die Buchungen kann ich weiter vom PC aus organisieren, aber die ankommenden Gäste müssen begrüßt und eingewiesen werden, und bei der Abreise ist es wichtig, die Häuser und Wohnungen zu kontrollieren und abzunehmen.“ Sie holte kurz Luft, bevor sie weiter ins Detail ging. „Dabei geht es um die Reinigung, die absolut perfekt sein muss. Es darf kein Schnipselchen herumliegen. Ich habe gutes Personal, aber Kontrolle brauchen sie alle.“

„Oh, das klingt ja nach einem Fulltime-Job“, seufzte Ina. „Nicht ganz, aber schon zeitraubend“, bestätigte Helga. „Wir haben in den zehn Jahren, seitdem wir hier leben, nicht auf der faulen Haut gelegen, das kannst du mir glauben.“