Die kleine Finca am Mittelmeer (Teil 3) - Andrea Micus - E-Book

Die kleine Finca am Mittelmeer (Teil 3) E-Book

Andrea Micus

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Beschreibung

Margarethes Vergangenheit kehrt zurück Margarethe hat sich ihr eigenes Paradies geschaffen: eine blühende Biofinca in den Bergen von Valencia. Fernab ihrer bayerischen Heimat ist sie umgeben von Freunden und fühlt sich frei. Doch dann erhält sie einen Brief, der alles verändert. Plötzlich ist die quälende Vergangenheit wieder lebendig. Eine Vergangenheit, vor der sich Margarethe nur mit dem Neustart in Spanien schützen konnte. Sie sucht Rat bei ihrer besten Freundin Ina und vertraut ihr ein Geheimnis an. Doch auch Inas Leben ist plötzlich alles andere als einfach. In diesem Durcheinander bekommt Margarethe unerwartet Besuch und es öffnet sich ein Kapitel, das sie für immer geschlossen glaubte und irritiert und überwältigt stellt sie fest, dass fünfzig das perfekte Alter ist, das Leben ganz neu zu spüren.

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Seitenzahl: 277

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Liebe Antje, Sabine, Iris, Bettina, Katrin oder Petra,

ihr alle, und viele andere mehr, habt mir geschrieben

(und sogar angerufen), weil euch Inas Reise ans Mittelmeer so gut gefallen hat. Ich danke euch von Herzen dafür! Ihr habt mir auch geschrieben, dass ihr Ina treu bleiben und ihren Neustart im sonnigen Spanien weiterhin begleiten möchtet. Deshalb habt ihr auch Veras Abenteuerlust verfolgt und seid jetzt wieder gespannt, wie es weitergeht. Ina geht es übrigens gut, na ja, einige Turbulenzen hat sie gerade auch erlebt. Aber das ist nicht vergleichbar mit dem, was Margarethe alles durchmachen muss. Doch sie hat zum Glück Ina an der Seite. Und Helga, tja, die mischt auch wieder kräftig mit.

Ihr seid neugierig, was auf der Finca am Mittelmeer alles passiert ist? Dann will ich euch nicht länger aufhalten.

Los geht’s. Und es wird spannend – versprochen!

Eure Andrea

Kapitel 1

Früher war alles so schön,

oder etwa doch nicht?

Bleibt es bei heute Abend?“, tickerte Margarethe mit ihrem Zeigefinger auf der Handytastatur und schob schnell noch ein „bei mir ist heute die Hölle los“ hinterher. Sie hatte gerade Orangenkisten in den Lieferwagen gewuchtet und lehnte jetzt an der Ladefläche, um mit ihrer Freundin die heutige Verabredung abzuklären. Doch noch bevor die Antwort eintrudeln konnte, klingelte es bereits. „Gut, dass du anrufst“, meinte Margarethe. „Sprechen geht schneller als die viele Tipperei.“ Sie klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und versuchte, die letzte Kiste zurechtzurücken, als die prompt umfiel und die Früchte durch den Wagen kullerten. „Puh, Mensch Ina, warum gewöhne ich mir nicht endlich mal ab, alles gleichzeitig zu machen“, stöhnte sie und zuppelte mit der Hand, in der sie das Handy hielt, den Riemen ihrer Umhängetasche zurück auf die Schulter.

„Willkommen im Club“, feixte Ina. „Wenn du sehen könntest, wie ich hier gerade zwischen Küche und PC hantiere, Kundengespräche führe und gleichzeitig den Hund füttere, dann würdest du mich für deine Schwester halten. Ach so, und meine Paderborner Freundin Sybille kommt auch angeflogen und ich muss noch das Gästezimmer für sie herrichten. Aber ich beende das verrückte Durcheinander gleich und treffe mich mit Ingo in der Bar. Er will mir dringend etwas erzählen. Und du? Was hast du heute vor?“

„Ich fahre auf den Markt, habe jedoch vorher noch eine Verabredung mit ein paar Freunden zum Almuerzo, und so ein spätes Frühstück kann ich jetzt wirklich gebrauchen. Geht heute Abend mit uns alles klar? Ich bin dann bei dir.“

„Das ist großartig. Ich freue mich auf dich. Genieß den Start in den Tag mit deinen Freunden und mach gute Geschäfte“, hörte Margarethe Ina flöten, bevor sie auf den Aus-Knopf drückte.

Margarethe schloss die Augen und atmete genüsslich die um diese Zeit noch frische Winterluft ein. Sie spürte, wie gut ihr jeder Atemzug tat. Sie sah auf die sattgrünen Orangenbäume, die sich bis zum Horizont vor ihr ausbreiteten. Die orangefarbenen Früchte leuchteten in der Morgensonne und dazwischen blitzten immer wieder weiße Blüten, die einen besonders aromatischen Duft verströmten. Meine Güte, sie war ein Glückskind, weil sie auf diesem wunderschönen Fleckchen Erde wohnen durfte.

Seit mehr als fünfzehn Jahren lebte sie hier im Hinterland des Mittelmeerstädtchens Gandia, eine gute Autostunde von der Touristenmetropole Valencia entfernt und hatte sich in der hügeligen Landschaft ein gutgehendes Unternehmen aufgebaut, die Finca Biologica, ehemals Finca Organica. Bei ihr wuchsen neben Orangen und weiterem Obst auch Gemüsesorten, für die sie ständig Lob bekam. Besonders gefragt waren die brokkoliähnlichen Bimis, eine spanische Spezialität, und ihre geschmacklich hervorragenden Zucchini. Aber eigentlich baute sie alles an, was gesund war und schmeckte. Sie belieferte Restaurants und kleinere Geschäfte in der Region und verkaufte täglich an einem Marktstand im wenige Kilometer entfernten Simat de la Valldigna ihre Waren. Der Stand war an manchen Tagen regelrecht belagert, so sehr freuten sich die Kunden aus der Region auf ihre Erzeugnisse. Margarethe tat aber auch viel dafür. Sie hatte nach ihrem Umzug aus Deutschland, oder besser, nach ihrer Flucht nach Spanien, viel Zeit, Geld und vor allem Herzblut in den Aufbau ihrer ersten eigenen Existenz gesteckt. Ein bisschen Gespür für das Thema hatte sie zum Glück bereits mitgebracht. Ihre Eltern waren überzeugte Landwirte gewesen und sie war mit ihrem Bruder Georg auf einem Bauernhof in der Nähe von Bamberg aufgewachsen. Doch während Georg den elterlichen Hof übernommen hatte, hatte Margarethe einen kaufmännischen Beruf erlernen wollen. Aber ihr Leben war danach alles andere als in ruhigen Bahnen verlaufen. Denn nach einer unglücklichen Liebe hatte sie nur noch ganz weit weggewollt, und als sie in dieser Zeit in der Zeitschrift eines landwirtschaftlichen Verlags das Angebot zur Übernahme einer Bio-Finca gelesen hatte, hatte sie schnell zugegriffen und war glücklich, die Expertise ihres Bruders zu haben. Denn Georg hatte von Anfang an mitgemacht, seine freie Zeit in den Aufbau der Finca investiert und sie auch immer aus der Ferne unterstützt.

Heute konnte sie stolz auf das Erreichte sein. Ihr leuchtend weißes Wohnhaus stand auf einem großzügigen Grundstück, umgeben von Orangen- und Olivenbäumen und weitflächigen Gemüsefeldern. Ein grünes Paradies, das für Margarethe zu einer liebgewonnenen Heimat geworden war.

Wie war das mit dem Frühstück? Schon der Gedanke daran löste gerade bei ihr ein mächtiges Hungergefühl aus. Sie war heute früh um fünf mit einer Tasse Kaffee an die Arbeit gegangen und jetzt drückte ihr Magen so sehr, dass sie in ihrer Fantasie eine leckere Tortilla bereits riechen konnte. Sie beugte sich nach vorn, sammelte die Früchte weiter ein und schob die Kisten auf der Ladefläche zurecht. Rasch tippte sie noch ein „bis heute Abend“ in ihr Handy. Smiley dazu und weg damit. Nachdem sie auf Senden gedrückt hatte, sah sie als Nächstes auf die abgespeicherte Liste und prüfte, ob sie alle Obst- und Gemüsekisten bereits verladen hatte.

Sie hatte noch etwas Luft, ging zurück ins Haus und machte sich „markstandschick“, wie sie immer gern über sich selbst alberte. Sie steckte sich das lange dunkelbraune Haar locker hoch und zog mit einem Kajal die Augenlider dezent nach. Wimperntusche und etwas Highlighter, das war’s. Margarethe prüfte sich kurz vor dem Flurspiegel und beschloss, dass sie mit sich zufrieden sein konnte. Seitdem sie das Haar nicht mehr blond, sondern dunkler trug, fand sie sich viel jugendlicher. Sie war nie gertenschlank gewesen, hatte aber, wie ihre Freundin Ina immer sagte, die Pfunde an der richtigen Stelle. „Sportlich-weiblich“ hatte sie ihr Äußeres einmal beschrieben und Margarethe hatte das als treffend empfunden. Denn Ina kannte sich aus. Sie war erst seit knapp einem Jahr in Spanien. Davor hatte sie als Modejournalistin und Ressortleiterin einer Tageszeitung gearbeitet und einen Modekanal für Frauen Ü50 aufgebaut, den sie mittlerweile auch sehr erfolgreich von Spanien aus führte. Ina hatte Stil, konnte bestens beraten und Margarethe vertraute ihr bei allen Styling-Tipps. Aber die brauchte sie nur für besondere Anlässe und die Sonntage. Während der Woche gab es für Margarethe kein Styling. Im Job trug sie immer Jeans, Shirt und eine Sweatjacke. Die Arbeit im Grünen ließ nichts anderes zu und am Marktstand brauchte sie ebenfalls nur praktisch-schlichte Kleidung. Aber sie mochte sich auch in einer ganz anderen Aufmachung, nämlich der weiblichen, in farbenfrohen dekolletierten Kleidern oder Hosenanzügen. Um diese Seite zu zeigen, machte sie sich sonntags gern schick und flanierte über die eleganten Straßen von Valencia oder durch die bei Touristen so beliebten Orte Dénia oder Alicante.

Aber heute ging es nicht an einen Jachthafen oder einen berühmten Platz, sondern in ein Bergstädtchen auf einen Markt. Dafür fand sie sich genau richtig.

Margarethe sah auf ihr Handy. Ein paar ruhige Minuten auf ihrer Bank vor dem Haus wären jetzt noch drin, dachte sie, schob das Telefon in die Tasche und trat nach draußen an die Luft. Ach herrje, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte ganz vergessen, den Briefkasten zu leeren. Sie ging zur Einfahrt, an der an einem großen Pfosten der Briefkasten angebracht war, öffnete die Klappe und nahm einige der üblichen Schreiben vom Stromversorger beziehungsweise der Bank heraus, aber auch einen weißen Umschlag, der mit einer deutschen Briefmarke frankiert war. Arglos suchte sie nach dem Absender und erschrak zutiefst. Ihre Hand begann so zu zittern, dass ihr das Kuvert aus den Fingern glitt und auf den Boden fiel. Sie musste sich am Pfosten abstützen, weil ihr vor Anspannung schwindelig wurde.

Nach einer kurzen Verschnaufpause beugte sie sich nach unten und nahm mit spitzen Fingern den Umschlag hoch. Sie wusste nicht, was sie jetzt mit dem Brief machen sollte. Wegwerfen und so tun, als hätte es ihn nicht gegeben? Oder ihn öffnen, den Inhalt lesen und sich mit einer sehr schmerzhaften Zeit in ihrer Vergangenheit auseinandersetzen?

Eine Sekunde lang zögerte sie. Dann war sie entschlossen. Sie musste wissen, was los war, und riss spontan den Brief auf. Sofort erkannte sie die Handschrift, sie setzte sich auf einen Holzstamm in der Nähe und begann, mit klopfendem Herzen zu lesen.

Es war ein langer Brief, der vier Seiten umfasste, und mit jedem Satz erhöhte sich ihr Puls. Aber es passierte noch mehr mit ihr. Eine längst vergangen geglaubte Wehmut breitete sich wie ein Feuer in ihr aus und Margarethe spürte, dass ihr warme Tränen über die Wangen liefen und ihr den Blick auf weitere Zeilen verwischten. Nur mit Mühe konnte sie die letzten Wörter noch entziffern, dann sanken ihre Hände in den Schoß und Margarethe schluchzte ihre Gefühle laut hinaus. Sie war innerlich so sehr berührt, dass ihr ganzer Körper bebte. Um irgendwie Ruhe zu finden, lehnte sie den Kopf nach hinten, atmete tief durch und schloss die Augen. Sie hoffte, so langsam wieder zur Besinnung zu kommen. Heute hatte sie einen langen Markttag vor sich und musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie wollte und konnte sich nicht ihr gerade so schönes Leben wieder durcheinanderbringen oder gar zerstören lassen. Was zählte, war das Hier und Jetzt, und das waren ihr Geschäft, ihre Kunden, ihre Umsätze und heute Abend ein Essen mit ihrer Freundin Ina.

Margarethe seufzte. Gut, für den Kaffee blieb nun keine Zeit mehr. Sie musste los. María, ihre Mitarbeiterin, würde bereits am Stand auf sie warten, die Kunden später auch auf die Ware. Außerdem wollte sie nach dem Abladen ihre Frühstücksverabredung nicht warten lassen. Sie stand auf und schüttelte sich kurz zurecht. Dann faltete sie die Briefbögen, steckte sie zurück in den Umschlag und verstaute ihn in der Umhängetasche. „Weg damit“, zischte sie und fühlte sich einen Moment lang so, als wäre das Thema damit aus der Welt. Sie zog den Autoschlüssel aus der Tasche, setzte sich in den kleinen Lieferwagen und düste los. Bis nach Simat brauchte sie nur ein paar Minuten und es tat ihr gut, sich auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. Sie konnte immer schon gut verdrängen und jetzt war der richtige Zeitpunkt dafür. Obwohl? Ihr Herz stolperte und sie fühlte sich schummerig. Sie spürte, dass sie viel zu aufgewühlt war, um sicher weiterfahren zu können, und steuerte spontan die nächste Parkmöglichkeit an. Sie brauchte ein paar Minuten für wenige tiefe, kontrollierte Atemzüge, um die Zeilen, die sie gerade gelesen hatte, zu verstehen und wenigstens heute irgendwie damit umgehen zu können. Schwungvoll bog sie nach rechts auf einen kleinen Waldweg ab.

Rumms! Margarethe erschrak von einem lauten Poltergeräusch, riss irritiert die Tür auf und sah auf dem Weg einen Mann liegen, dessen Augen sie erschrocken anblickten. Sein Fahrrad lag ein wenig abseits und er bemühte sich gerade, wieder aufzustehen, verzog aber sein Gesicht, weil ihn offensichtlich etwas schmerzte. „Um Himmels willen“, rief Margarethe besorgt und sprang aus dem Wagen, um dem Mann zu helfen. Der saß jetzt auf dem Boden und strich sich über die ausgestreckten Beine. „Haben Sie sich verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Alles gut, das wird schon wieder.“

Und während Margarethe erneut fragte, ob sie nicht doch einen Arzt rufen sollte, stand er auf, hob sein auffallend knallrot lackiertes Rad hoch und kontrollierte, ob auf den ersten Blick alles daran in Ordnung war. Dann lehnte er es an einen Baum, fuhr sich mit beiden Händen über die Knie, schüttelte die Beine aus und strich sich über die Ellbogen.

„Alles noch dran, Glück gehabt!“, sagte er leise und sah Margarethe trotz allem noch freundlich an. „Warum hatten Sie es eigentlich so eilig? Sind Sie auf der Flucht?“

Margarethe schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich? Nein!“, stammelte sie. „Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte. Bitte, bitte verzeihen Sie mir. Ich wollte das doch alles nicht.“

Der Mann blieb am Baum stehen und öffnete seinen Rucksack. Ohne auf Margarethes Entschuldigungsschwall einzugehen, nahm er eine Kaugummipackung aus der Seitentasche und streckte Margarethe einen Streifen entgegen.

„Nehmen Sie, das beruhigt“, meinte er freundlich und als Margarethe ablehnte, wickelte er das Kaugummi aus und steckte es sich in den Mund. „Kauen beruhigt und ich habe mich gerade schon ordentlich erschreckt. Sie kamen ja wie der Blitz von der Straße über den Fahrradweg geschossen.“

Er knüllte das Papier zusammen und schob es in die Jackentasche. „Ganz ehrlich, das hätte auch böse ausgehen können. Ich meine für mich. Ich hatte gerade wackelige Knie.“

„Oh mein Gott, ich fahre einen Menschen um. Wie schrecklich“, grämte sich Margarethe und fixierte unruhig ihr Opfer, in der Angst, doch noch eine Verletzung zu entdecken. Der Mann war in ihrem Alter, sehr schlank und groß. Zwischenzeitlich hatte er den Helm abgesetzt. Sie sah graumeliertes Haar, passend zu dem etwas verwegen wirkenden Dreitagebart. Was ihr aber sofort aufgefallen war, waren neben der durchtrainierten, muskulösen Figur die dunkelbraunen, warm blickenden Augen. Keine Frage, der Mann, der ihr hier gegenüberstand, war nicht nur attraktiv, sondern auch sympathisch. Sie war erfreut und beeindruckt zugleich, weil er sie nicht mit Vorwürfen überschüttete, sondern vielmehr besonders zugewandt und aufmerksam mit ihr umging.

„Ich glaube, Sie haben mich einfach nicht gesehen“, versuchte er sogar, sie zu beruhigen. „Mir geht es ja offenbar gut und da auch mein Fahrrad in Ordnung ist, nehmen wir es hier doch als schöne Begegnung.“

Margarethe nickte erleichtert. „Aber ihr Kopf?“, fragte sie.

„Was ist mit meinem Kopf? Gefällt er Ihnen nicht?“, scherzte er.

„Nein, nein, das meine ich nicht, ich denke, vielleicht haben Sie eine Kopfverletzung“, bekräftigte Margarethe und merkte, dass er sie völlig durcheinanderbrachte. „Ich sage das nur, weil Sie möglicherweise eine Gehirnerschütterung haben und sich hinlegen müssten.“

Er schien Margarethes Nervosität zu genießen. „Hinlegen? Hier? Auf den Boden?“ Er schüttelte den Kopf. „Nee, das passt nicht zur Jahreszeit. Keine Sorge, denn ich bin nicht auf den Kopf gefallen, zumindest heute nicht.“

Er lächelte fast schon schelmisch. „Es ist alles okay, glauben Sie mir.“

Während er sprach, nahm er das leichte Rennrad vom Baum, stellte es vor sich. Er untersuchte es jetzt genauer, unternahm einige Tests, drehte an beiden Rädern und Pedalen. „Perfekt, auch hier ist alles wie immer. Ich heiße übrigens Finn und komme aus Frankfurt. Und Sie?“

„Ich heiße Margarethe, lebe ganz in der Nähe und ich möchte mich wirklich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe Sie einfach nicht gesehen. Aber Sie sollten sich schonen.“

„Haben Sie noch mehr gute Ideen für meine Genesung?“, meinte er und seine Stimme klang ein bisschen spöttisch.

Margarethe wollte darauf nicht eingehen. Ihr stand der Sinn nicht nach Humor. Das war hier eine bitterernste Angelegenheit. Sie war viel zu schnell und ohne zu blinken auf den Waldweg gerauscht. Es hätte alles schlimm enden können. Dessen war sie sich bewusst, deshalb stand sie auch schwer atmend da und war immer noch geschockt.

„Ich bin wirklich erleichtert, dass Sie unverletzt geblieben sind.“ Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Nicht auszudenken, wenn Ihnen etwas passiert wäre.“ Sie hob eine Jacke auf, die ihm beim Sturz offenbar vom Rad gefallen war, und hielt sie ihm hin. „Darf ich Sie auf den Schreck hin zu etwas einladen? Die Straße führt nach Simat und dort gibt es einige hübsche Bars.“

„Da hat aber jemand ein schlechtes Gewissen.“ Finn sah sie verschmitzt an. „Doch eine gute Idee, denn ich hatte sowieso Lust auf eine kleine Pause. Wann und wo genau nehmen wir denn den Drink?“

Margarethe gefiel es, dass Finn weiterhin so entspannt reagierte, und langsam kam sie wieder zur Ruhe. Der Brief, der Unfall. Das war eindeutig zu viel für sie gewesen, aber ihr Herz pumperte nicht mehr aufgeregt, sondern schlug mittlerweile ganz gleichmäßig, und sie nahm jetzt bewusst die geplanten tiefen Atemzüge, um wieder Normalität zu spüren.

„Soll ich Sie mitnehmen?“, wollte sie danach wissen. „Oder trauen Sie sich zu, mit dem Rad zu fahren.“

Finn blickte zu dem Fahrrad. „Wir sind unzertrennlich und kommen zusammen, immer.“

Sie nickte und musste kurz umplanen. Zuerst würde sie María die Ware bringen, ihren Freunden die Frühstücksverabredung absagen und sich dann mit Finn treffen können. Ja, so sollte es gehen. „Um zehn Uhr in der Bar Del Sol? Die finden Sie leicht, sie ist direkt gegenüber vom Kloster, ist alles prima ausgeschildert.“

„Ich dachte übrigens, in Spanien duzt man sich“, meinte ihr längst schon wieder lachendes Unfallopfer und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich hätte dich gern auf eine andere Art kennengelernt, aber so geht es ja auch.“

„Ja klar, das wäre besser gewesen“, sagte sie ebenfalls lachend und schlug erleichtert ein. Sie fühlte sich wieder gut und konnte ähnlich entspannt wie Finn mit der Situation umgehen. „Jetzt freuen wir uns einfach, weil alles so glimpflich ausgegangen ist, und ich bin froh, dass du meine Entschuldigung angenommen hast. Komm, lass uns fahren. Ich brauche dringend einen Kaffee.“ Während sie zum Auto ging, zeigte sie auf das Rad. „Das ist aber ein tolles Gefährt. Ich bin Laie, doch ich glaube, dafür bekommt man auch einen Kleinwagen. Allein die rote Lackierung macht es zu einer Art Juwel.“

Finn schmunzelte. „Du bist zwar Laie, hast aber ein sehr gutes Auge. Wer einmal in diesem Sattel saß, versteht, dass sich jeder Euro lohnt.“

„Fährst du so gern?“

Er lächelte. „Das wahre Leben beginnt mit dem ersten Tritt ins Pedal.“

Margarethe war von der Antwort nur kurz überrascht. „Ich denke, das erklärt alles. Vielleicht sollte ich es auch mal versuchen.“

Pling. Ihr WhatsApp meldete sich „Wo bleibst du?!“, hatte ihr María geschrieben. Und ja, sie musste sich jetzt um den Job kümmern. Für heute hatte sie genug von Dramen. Sie brauchte einen freien Kopf. Denn wohin es führte, wenn sie den nicht hatte, hatte sie gerade erlebt.

„Bin in zehn Minuten da“, tippte sie ins Handy, verabschiedete sich freundlich von Finn und machte sich auf den Weg.

Als sie eine halbe Stunde später mit ihm im Sonnenlicht vor der kleinen Bar saß und an einem Café con leche nippte, war die Vergangenheit zum Glück weit weg. Sie hatte zwei Stück Tortilla bestellt, Oliven und einen Salat, sah jetzt auf die imposante Kulisse des Klosters und gab Finn einen Kurzabriss der wechselhaften Geschichte des Gemäuers. Sie erzählte auch von sich und ihrer Biofinca und Finn berichtete von seinem Job als Elektroingenieur und seiner Leidenschaft für den Radsport. Margarethe erfuhr, dass er seit einer Woche in der Region urlaubte, und das sah für ihn so aus, dass er täglich per Bike die herrliche Mittelmeerlandschaft durchkreuzte und die Abende in einem schicken Hotel am Strand von Gandia verbrachte. Er war seit Kurzem geschieden und Neu-Single, hatte keine Kinder und konnte sich jenseits der Arbeit alle Freiheiten erlauben, was er laut eigener Aussage auch genoss.

Margarethe mochte Finn. Er war höflich, klug und hatte eine charmante Art, die sogar etwas in ihr zum Kribbeln brachte. Ein Gefühl, das sie lange nicht mehr gehabt hatte. Woran das wohl lag? Vielleicht war es nur eine Art Selbstschutz, um sich nicht weiter mit dem Inhalt des Briefes beschäftigen zu müssen. Margarethe ging so viel durch den Kopf, dass sie sich kaum auf das Gespräch mit Finn konzentrieren konnte, sich jedoch Mühe gab, damit er das nicht bemerkte.

Einmal schüttelte sie sogar den Kopf, so als wollte sie die unliebsamen Gedanken loswerden, was aber keinen Erfolg brachte.

„Danke für das leckere Frühstück“, meinte Finn schließlich. „Ich denke, du wirst an deinem Stand schon sehnsüchtig erwartet.“

Margarethe nickte. „Das stimmt, ich muss auch wirklich los.“

„Ich lasse dich ziehen, aber ich würde dich gern einmal zu einem Essen einladen, am Abend, wenn ich von meiner Tour zurück bin. Was meinst du?“

Margarethe nickte sofort. „Einverstanden. Heute bin ich bei einer lieben Freundin, morgen passt es leider nicht, aber übermorgen ist gut. Ich kenne in Gandia am Hafen eine schöne Bar. Wenn du magst?“

„Gern!“

Sie tauschten noch ihre Handynummern aus, bevor sie sich schon ganz vertraut mit einem Küsschen rechts und links auf die Wangen verabschiedeten. Als Margarethe die wenigen Meter zum Markt ging, sah sie, dass María zwar fleißig die Kunden bediente, aber auch gut Unterstützung gebrauchen konnte. Margarethe band sich die Schürze um und nahm sich fest vor, sich heute nur noch auf das Geschäft zu konzentrieren. Die Einnahmen waren rückläufig. Die Inflation setzte auch den Spaniern zu. Sie kauften viel zurückhaltender ein. Möglicherweise müsste Margarethe die Firma durch zunehmend schwere Zeiten steuern. Das erforderte ihre ganze Energie. Vielleicht hatte sie noch Reserven für einen Mann wie diesen Finn, aber sicher nicht für längst Abgeschlossenes aus der Vergangenheit.

***

„Oh, du hast die gebratenen Auberginen, die ich so liebe“, freute sich Margarethe und fischte sich mit zwei Fingern eine Scheibe vom Teller. Ina hatte eine bunt gemischte Tapas-Platte angerichtet, dazu etwas Brot, Oliven und einen guten Wein auf den Tisch gestellt. Sie bereitete in der Küche noch ein Gemüsegericht vor und hatte Margarethe gebeten, sich schon mal zu setzen, während sie eine Karaffe mit Wasser brachte.

„Du siehst wieder richtig klasse aus“, betonte Margarethe. „Ich mag deinen Stil so gern.“

Ina hatte ihren dunkelblonden Bob perfekt in Form geföhnt und war in dezenten Beigetönen geschminkt, abgestimmt auf ihre Kleidung: einer cremefarbenen Hose im lässigen Jogging-Stil und einem weit ausgeschnittenen Pulli in derselben Farbe. Margarethe mochte Inas edle Art, sich zu kleiden, und überschüttete sie dafür gern mit ernst gemeinten Komplimenten. Häufig fragte sie nach der Marke ihrer Kleidung, um sich das entsprechende Teil zu bestellen.

„Und kochen kannst du auch perfekt“, lobte sie die Freundin weiter und goss Wasser aus der Karaffe in die Gläser. Sie liebte diese Abende bei Ina. Seitdem ihre Freundin bei ihren Eltern auf der Finca lebte, war Margarethe dort noch häufiger zu Gast als früher. Sie kannte Helga und Bernd schon viele Jahre. Die beiden führten eine gut gehende Ferienhausvermietung. Bernd war als ehemaliger Anwalt ein Ass in der Verwaltung, hatte aber nach einer Erkrankung etwas kürzertreten und Helga den Vortritt lassen müssen. Margarethe kannte auch die ganze Vorgeschichte der beiden. Helga hatte mit ihrem ersten Mann, Inas Vater, in Paderborn ein Möbelgeschäft geführt. Nachdem sie ihren Mann mit seiner Mitarbeiterin überrascht und die Ehe beendet hatte, kam sie kurz darauf mit Bernd, einem guten Freund der Familie zusammen. Doch der anschließende Rosenkrieg der Eheleute hatte dazu geführt, dass sie sich aus Deutschland verabschiedet und einen Neustart in Spanien versucht hatten. Mit Erfolg. Sie lebten auf einer zauberhaften Finca in den Bergen von Gandia, die jetzt auch Inas Zuhause war. Margarethe sah auf die Terrasse und genoss den Blick in den bunt angelegten Garten, in dem leuchtende Bougainvilleen wuchsen, kombiniert mit Pflanzen wie Lorbeer und üppigen Gräsern, und über um diese Zeit in milchiges Licht getauchte Felder, Wiesen und Hügel. Heute toppte diese Traumkulisse ein malerischer Sonnenuntergang. Besser hätte sie es nicht treffen können, zumal sie den Tag bislang als besonders quälend empfunden hatte. Der Brief, der Unfall und dann noch recht bescheidene Geschäfte. Die Kunden waren nur am Anfang in großer Zahl und später nur noch schleppend erschienen. Die Folge der Kaufzurückhaltung waren einige nicht verkaufte Obst- und Gemüsekisten, die Margarethe im Kühlhaus hatte einlagern müssen. Sie sah es als schlechtes Zeichen und fürchtete sich vor der Buchhaltungsarbeit am Wochenende. Hoffentlich bekäme sie dann nicht den ganz großen Schock. Dass das aktuelle Jahr ein wirtschaftlich schwieriges werden würde, hatte sie akzeptiert. Die Frage war nur noch, wie hoch der Umsatzrückgang ausfallen würde.

Die Einladung bei Ina war das nötige Highlight. Sie wollte sich ablenken, typische Frauenthemen bequatschen und auf andere Gedanken kommen. Inas Eltern waren mit Freunden in Dénia zum Essen. Inas Freund Vicente, ein in Gandia beliebter spanischer Hausarzt, hatte Notdienst und war in seiner Praxis, und Ina hatte den Mädelsabend wie immer sehr appetitlich ausgerichtet. Es gab sogar eines von Margarethes Lieblingsgerichten: Gemüse in Tempurateig. Von den Auberginen hatte sie bereits genascht und Ina tischte weitere Köstlichkeiten auf wie eine Spinattortilla, mit Öl angemachte Avocados und kross getoastetes Weißbrot. Genug zum Schlemmen!

„Das machst du besser als die meisten Spanierinnen“, meinte Margarethe. „Nach nur einem knappen Jahr, das du hier lebst, ist das bombastisch.“

Ina lachte. „Das letzte Jahr war so spannend, dass ich immer denke, ich wäre schon zehn Jahre da. Vermutlich wirkt sich meine Fantasie auf meine Kochkünste aus.“

„Gut, dass du überhaupt hier bist, und Schuld daran hat Helga.“

„Allerdings, ich werde ihr auch immer dankbar sein, denn ohne sie wäre ich garantiert in Paderborn geblieben.“

Margarethe kannte Inas Geschichte. Sie war schon längere Zeit geschieden und hatte eine erwachsene Tochter aus der Ehe. Vor einem Jahr hatte sich Helga, Inas Mutter, Hilfe suchend an sie gewandt, als ihr zweiter Ehemann Bernd nach einer Erkrankung in der Reha war und sie sich zu allem Unglück noch das Bein gebrochen hatte. So lädiert wäre die Weiterführung der erfolgreichen Ferienimmobilien-Vermittlung gescheitert. Ina hatte der Mutter die Hilfe nicht abschlagen wollen und war losgeflogen. Aus der geplanten Woche war jetzt schon ein Jahr geworden und es sah alles so aus, als würde Ina auch dauerhaft bleiben. Sie lebte zwar auf der Finca ihrer Eltern, doch Vicente drängte sehr auf einen Umzug zu ihm. Es war laut Inas Freundinnen nur eine Frage der Zeit, bis sie bei so einem Traummann schwach werden würde. Immerhin war sogar schon Leonie, ihre Tochter, eine gelernte Tischlerin, von Deutschland nach Spanien gezogen und hatte prompt eine der begehrten Arbeitsstellen als Restauratorin in Valencia bekommen.

Margarethe nahm einen Schluck von dem gerade eingeschenkten Rotwein und genoss erneut durch die Fensterfront hindurch den Blick in die herrliche spanische Bergwelt, in der jetzt in der zunehmenden Dämmerung auch einige Lichter der umliegenden Fincas leuchteten. Jedes Mal, wenn Margarethe diesen Ausblick sah, war sie völlig ergriffen von der Schönheit der Landschaft.

Rrrrr, rrrrr …, das laute Schnarchen von Carlos schreckte Margarethe kurz auf. Der kleine Hund lag die ganze Zeit zu ihren Füßen und schlummerte friedlich. Sie sah ihn lächelnd an und blieb bewusst ruhig, um ihn nicht aufzuwecken. Aber Carlos reckte und streckte sich genüsslich, schob sein Köpfchen auf ihre Füße und schien nun der Unterhaltung folgen zu wollen. Margarethe liebte den niedlichen Mischling, den Ina in Gandia Playa aus einem verwilderten Grundstück in Strandnähe gerettet hatte. Er war kniehoch, hatte sandfarbenes struppiges Fell und braune Kulleraugen, mit denen er je nach Laune alle bezirzen konnte. Man hatte den niedlichen Kerl dort an einem Baum angebunden, wo ihn ein qualvoller Tod erwartete. Ina hatte ihn entdeckt und seitdem waren sie und der kleine Hund unzertrennlich, er begleitete sie nahezu auf allen Wegen. Bei ihren Touren als Wanderführerin, wenn sie privat unterwegs war und natürlich auch zu den Modeaufnahmen. Und weil er einige Male durchs Bild gelaufen war und so gut ankam, hatte Ina noch weitere Pläne mit ihm. Carlos sollte zum Superstar werden und war bereits auf einem guten Weg. Denn Ina hatte in den letzten Videos ihren kleinen Hund immer intensiver eingebunden und ihre Followerinnen reagierten zunehmend begeisterter auf das putzige Tierchen. Seit Kurzem hatte Ina Carlos auch eine Stimme gegeben, mit der er jetzt Inas Mode mit witzigen Bemerkungen kommentierte. „Super lustig“ und „Endlich ein Vierbeiner mit Geschmack“ hatten seine Fans geschrieben und Ina war so überzeugt von ihm als Quotenhit, dass es seitdem feste Drehzeiten mit Carlos gab.

„Hast du eigentlich weiter gute Zuwachszahlen?“, wollte Margarethe wissen.

„Und ob“, frohlockte Ina und hielt Margarethe ihren Bildschirm hin. „Hier schau mal, mein kleiner Streuner ist der eigentliche Star.“ Sie ging zur Anrichte und holte eine Kaustange, die sie Carlos als Leckerli hinlegte und die er, obwohl noch etwas schlaftrunken, auch sofort aufknabberte.

„Ich bin gespannt, wie lange dein Superstar sich mit so billigen Snacks abspeisen lässt“, ulkte Margarethe. „Bei dem Erfolg solltest du das Honorar bald kräftig erhöhen, sonst wechselt er zur Konkurrenz.“

Ina lachte und setzte sich wieder an den Tisch. „Zum Glück ist er treu. Und ich bin wirklich happy, denn natürlich habe ich immer Druck, hier meinen Lebensunterhalt zu sichern, und bin auf ständig gute Ideen angewiesen.“

„Aber insgesamt ist dein Start in der neuen Heimat doch wirklich gut gelaufen. Jetzt hast du drei Standbeine mit deinem Online-Job für die Redaktion in Paderborn. Zum Glück kannst du dort weiterarbeiten. Deinen Kanal, der seit Carlos’ Mitwirkung durch die Decke geht, und deine Wandertouren, mit denen du Ansässige und Urlauber gleichermaßen begeisterst.“

Ina beugte sich nach vorn und strich Margarethe über den Arm. „So, wie du es sagst, hört es sich nach einem Superunternehmen an, doch – ganz ehrlich – es läuft gut, aber kämpfen muss ich weiterhin.“

„Ja, das ist leider normal“, pflichtete ihr Margarethe bei. „Ausruhen darf man sich nie auf seinen Erfolgen. Ich war eigentlich in letzter Zeit sehr zufrieden, doch plötzlich habe ich Umsatzeinbußen und muss hellwach sein.“

„Umsatzrückgänge machen mich sofort nervös. Da kann ich deine Anspannung gut verstehen“, pflichtete ihr Ina bei. „Aber du bist nicht bedrückt, weil du weniger Ware verkaufst, sehe ich das richtig? Ich finde, du solltest mir schnellstens sagen, was eigentlich los ist? Der Moment ist gut. Wir sind allein, haben Ruhe, ein Glas Wein. Also, schieß los.“

„Ich starte erst einmal mit einer wirklich unglaublichen Geschichte. Ich fahre jemanden fast über den Haufen und derjenige lädt mich dann noch für übermorgen zum Essen ein. Verrückte Welt!“

„Oh, ist denn nichts passiert?“

Margarethe schüttelte den Kopf und erzählte die ganze Geschichte.

„Oje, da hast du allerdings wirklich Glück gehabt. Das hätte schlimm ausgehen können“, entgegnete Ina. „Schummle mich nicht an. Dein Opfer lädt dich nur zum Essen ein, weil ihr euch gut gefallt, richtig?“ Sie goss sich etwas Wein nach. „Ich habe deinen Blick gesehen, als du von ihm erzählt hast. Du hattest Funkelaugen.“

„Funkelaugen, was ist das denn?“

„Na ja, so funkelnde. Ein untrügliches Zeichen, dass man verliebt ist.“

Verliebt? Was redete Ina da? Sie kannte Finn doch kaum und außerdem war sie kein Teenager mehr, der sich in Sekunden unsterblich verlieben konnte. Margarethe drehte mit dem Zeigefinger an einer ihrer Haarsträhnen. „Weißt du, ich habe ja schon vor einiger Zeit davon erzählt, dass ich mir langsam vorstellen könnte, unter die Haube zu kommen. Erinnerst du dich?“

„Oh ja, sehr gut sogar. Wir waren hier bei meinen Eltern und haben uns über das Happy End von Vera und Georg gefreut, stimmt’s?“

Margarethe nickte. „Genau, kurz darauf ist ja mein Bruder abgerauscht und ein paar Wochen später ist ihm Vera hinterhergeflogen.“

Ina gab Carlos ein weiteres Leckerli. „Wie geht es den beiden denn? Vera, die eigentlich die Welt erobern wollte, ist jetzt auf einem fränkischen Bauernhof gelandet. Irre Geschichte. Und? Ist sie glücklich?“

„Oh ja, und wie, aber du kannst sie das bald fragen. Die beiden kommen Ostern.“

„Wirklich? Das freut mich riesig. Dann können wir Vera ja richtig ausfragen nach dem neuen Leben zwischen Landwirtschaft und Weißbier.“

„Du kannst dich auf zwei Glückstrunkene einstellen. Die haben für nichts mehr Augen als für einander“, meinte Margarethe und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Wasserglas.

Das Wetter war für die Jahreszeit ungeheuer mild. Das Thermometer zeigte noch am Abend sechzehn Grad. Ina hatte zwei Flügeltüren zur Terrasse geöffnet und beide genossen die würzige frische Luft.

Ina sah jetzt Margarethe ernst an. „Nun mal heraus damit. Etwas stimmt nicht. Du wirkst so unruhig. Das kann nicht allein an diesem Radfahrer-Finn liegen.“

Margarethe schob mit der Gabel ein Bröckchen auf dem Teller hin und her, bevor sie allen Mut zusammennahm. „Du hast recht! Es ist was passiert, das wirklich nichts mit diesem Finn zu tun hat. Aber ich muss weit ausholen, denn du weißt nicht alles. Was mich gerade bewegt, hat seinen Ursprung vor vielen Jahren.“

Ina legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Ich habe alle Zeit der Welt für dich, Margarethe.“ Sie tätschelte ihr die Wange. „Pass mal auf, ich schenke uns Wein nach, hole noch frisches Wasser und du erzählst mir alles. Anschließend legst du dich bei uns ins Bett und fährst morgen zeitig los.“

„Du hast Angst, dass ich wieder jemanden umfahre, oder?“

„Ja, mit einem Glas Wein intus wäre das dann wirklich schlimm. Doch jetzt denken wir nicht daran, sondern nur an das, was auf deiner Seele lastet, okay?“

Margarethe nickte. „Ich erzähle dir gern alles“, versicherte sie. „Aber bitte keinen Alkohol mehr. Ich brauche heute mein Bett.“

„Alles klar, dann machen wir es anders“, sagte Ina, schloss die Türen zur Terrasse und verschwand kurz in der Küche. Wenig später kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Karaffe Orangensaft und eine Schale Nüsse standen.

Sie goss Margarethe ein, dann sich selbst und setzte sich wieder.

„So, meine Liebe, jetzt bin ich ganz für dich da.“

Margarethe nahm einen Schluck von dem Saft, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und atmete einige Male bewusst ein und aus. „Du weißt du, dass ich früher Nonne war?“

Ina nickte stumm.