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Das mächtige magische Artefakt »Träne der Götter« erlaubt es den Priestern der Ishapianischen Kirche Verbindung zu den Göttern aufzunehmen. Der intrigante Magier Sidi hat dem Piraten Bär übermenschliche Kräfte verliehen, um durch ihn an dieses unschätzbar wertvolle Juwel zu gelangen. Doch der Raub misslingt und die Träne sinkt auf den Grund des Meeres hinab. Es gibt nur einen Mann, der das Artefakt zurückholen kann: Junker James, einst der geschickteste Gauner im ganzen Land. Zusammen mit seinen Freunden rüstet er sich für die Aufgabe. Doch Bär und Sidi haben Kräfte heraufbeschworen, gegen die alle Bemühungen der Gefährten zu versagen drohen …
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Seitenzahl: 595
Raymond Feist
Die Krondor-Saga 3
Die Tränen der Götter
Roman
Aus dem Englischen von Tim Straetmann
Das Buch
Das mächtige magische Artefakt »Träne der Götter« erlaubt es den Priestern der Ishapianischen Kirche Verbindung zu den Göttern aufzunehmen. Der intrigante Magier Sidi hat dem Piraten Bär übermenschliche Kräfte verliehen, um durch ihn an dieses unschätzbar wertvolle Juwel zu gelangen. Doch der Raub misslingt und die Träne sinkt auf den Grund des Meeres hinab. Es gibt nur einen Mann, der das Artefakt zurückholen kann: Junker James, einst der geschickteste Gauner im ganzen Land. Zusammen mit seinen Freunden rüstet er sich für die Aufgabe. Doch Bär und Sidi haben Kräfte heraufbeschworen, gegen die alle Bemühungen der Gefährten zu versagen drohen …
Der Autor
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego im Süden Kaliforniens. Viele Jahre lang hat er Rollenspiele und Computerspiele entwickelt. Aus dieser Tätigkeit entstand auch die fantastische Welt Midkemia seiner Romane. Die in den 80er Jahren begonnene Saga ist bereits ein Klassiker des Fantasy-Genres, und Feist gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Fantasy in der Tradition Tolkiens.
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Krondor. Tear of the Gods. Book Three of the Riftwar Legacy« bei EOS/Harper Collins, New York.
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1. Auflage Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Juni 2016 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München Deutsche Erstveröffentlichung © 2002 bei Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2000 by Raymond Elias Feist
Das Wetter wurde schlechter.
Am Himmel ballten sich dunkle Wolken zusammen, aus denen immer wieder bösartige Blitze zuckten, die die finstere Nacht in alle Richtungen durchlöcherten. Der Ausguck auf dem höchsten Mast der Morgenröte Ishaps kniff die Augen zusammen; er dachte, er hätte in einiger Entfernung eine Bewegung gesehen, und versuchte jetzt trotz der Dunkelheit etwas zu erkennen, wobei er mit der Hand die Augen vor der salzigen Gischt und dem beißenden, eisigen Wind zu schützen versuchte, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er blinzelte die Tränen weg, und dann war die Bewegung – was für eine es auch immer gewesen sein mochte – fort.
Die Dunkelheit und die Bedrohung durch den Sturm hatten dafür gesorgt, dass der Ausguck hier oben eine elende Nacht verbracht hatte, und das nur, weil die unwahrscheinliche Möglichkeit bestand, dass der Kapitän vom Kurs abgekommen war. Dabei konnte sich der Ausguck so etwas kaum vorstellen, denn der Kapitän war ein erfahrener Seemann, der nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeiten, Gefahren aus dem Weg zu gehen, ausgewählt worden war. Und er wusste so gut wie jeder andere Mann, wie gefährlich diese Überfahrt war. Für den Tempel besaß ihre Fracht einen einzigartigen, unermesslichen Wert, und Gerüchte über Piraten, die sich entlang der queganischen Küste herumtreiben sollten, hatten einen gewagten Kurs in die Nähe der Witwenspitze notwendig gemacht – ein Gebiet voller Felsen und Riffe, das man, wenn möglich, am besten meiden sollte. Doch die Morgenröte Ishaps war mit erfahrenen Seeleuten bemannt, die auf jeden Befehl des Kapitäns achteten und ihn unverzüglich befolgten, denn jeder von ihnen wusste, dass ein Schiff, das erst einmal in die Felsen bei der Witwenspitze geraten war, keine Überlebenschance mehr besaß. Die Männer fürchteten um ihr Leben – das war nur natürlich –, aber sie waren nicht nur deswegen ausgewählt worden, weil sie erfahrene Seeleute waren, sondern auch wegen ihrer Treue zum Tempel. Und sie wussten alle, wie teuer ihre Fracht dem Tempel war.
Unten im Frachtraum umringten acht Mönche des Ishap-Tempels von Krondor ein überaus heiliges Objekt – die Träne der Götter. Dabei handelte es sich um ein Juwel von erstaunlicher Größe – so lang wie der Arm eines großen Mannes und zweimal so dick –, das von innen heraus in einem mystischen Licht leuchtete. Alle zehn Jahre wurde in einem Kloster, das verborgen in einem kleinen versteckten Tal in den Grauen Türmen lag, eine neue Träne geformt. Wenn der größte Teil der heiligen Riten vollzogen worden und die Träne bereit war, transportierte eine schwer bewaffnete Karawane sie zum nächsten Hafen in den Freien Städten von Natal. Dort wurde sie auf ein Schiff verladen und nach Krondor gebracht. Von dort aus würde die Träne mit einer Eskorte aus Kriegsmönchen, Priestern und Bediensteten nach kurzer Zeit Salador erreichen, dort an Bord eines weiteren Schiffes verladen und schließlich zum Muttertempel in Rillanon gebracht werden, wo sie die vorhergehende Träne ersetzen würde, deren Macht geschwunden war.
Die wahre Natur und der wirkliche Zweck des heiligen Edelsteins waren nur den obersten Rängen derer bekannt, die dem Tempel dienten, und der Seemann hoch oben auf dem Hauptmast stellte keine Fragen. Er vertraute auf die Macht der Götter und wusste, dass er einem größeren Wohl diente. Und er wurde gut dafür bezahlt, dass er auf Wache aufmerksam war – und nicht dafür, dass er Fragen stellte.
Aber nach zwei Wochen, in denen sie sich mit widrigen Winden und schwerer See herumgeschlagen hatten, begann auch der frömmste Mann das blauweiße Licht, das jeden Abend aus dem Laderaum heraufschimmerte, und den immer währenden Gesang der Mönche nervenaufreibend zu finden. Die andauernden, für diese Jahreszeit untypischen Winde und unerwarteten Stürme hatten einige Mannschaftsmitglieder von Zauberei und dunkler Magie reden lassen. Der Ausguck schickte ein stummes Gebet an Killian, die Göttin der Natur und der Seeleute (und fügte dann noch ein kurzes an Eortis hinzu, von dem man sagte, er wäre der wahre Gott des Meeres), dass sie in der Morgendämmerung endlich ihren Bestimmungsort erreichen würden: Krondor. Die Träne und ihre Eskorte würden die Stadt schnell wieder in Richtung Osten verlassen, doch der Seemann würde in Krondor bei seiner Familie bleiben. Die Heuer, die ihm diese Reise eingebracht hatte, würde es ihm ermöglichen, längere Zeit zu Hause zu bleiben.
Der Seemann im Mastkorb dachte an seine Frau und seine beiden Kinder, und ein leichtes Lächeln huschte über seine Züge. Seine Tochter war jetzt alt genug, um ihrer Mutter in der Küche zu helfen und sich um den kleinen Bruder zu kümmern, und schon bald würde das dritte Kind zur Welt kommen. Wie schon hunderte Male zuvor schwor sich der Seemann, dass er sich eine andere Arbeit suchen würde – eine, die näher an seinem Heim war, sodass er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen konnte.
Eine Bewegung in Richtung der Küste riss ihn aus seinen Träumereien. Das Licht der Schiffslaternen flackerte über sturmzerzauste Sturzwellen, und er konnte den Rhythmus der See spüren. Irgendetwas hatte gerade diesen Rhythmus unterbrochen. Er spähte durch das Zwielicht, versuchte, mit reiner Willenskraft die Düsternis zu durchdringen, zu sehen, ob sie zu nah auf die Felsen zutrieben.
»Dieses blaue Licht, das von dem Schiff kommt, verschafft mir ein schlechtes Gefühl, Kapitän«, sagte Knute.
Der Mann, den Knute angesprochen hatte, schaute auf ihn herunter. Mit einer Größe von sechs Fuß und acht Zoll überragte er alle um ihn herum und ließ sie klein erscheinen. Seine überaus kräftigen Schultern und Arme wurden nicht von dem schwarzen Lederharnisch bedeckt, den er bevorzugte, obwohl er ein paar mit stählernen Dornen besetzte Schulterstücke hinzugefügt hatte – eine Trophäe, die er der Leiche eines ziemlich bekannten Gladiators aus Queg abgenommen hatte. Die Haut, die zu sehen war, wies Dutzende von kreuz und quer verlaufenden Narben auf, Erinnerungen an frühere Kämpfe. Eine dieser Narben zeichnete sein Gesicht; sie verlief von der Stirn bis zum Kieferknochen, mitten durch das rechte Auge, das milchig weiß war. Doch das linke Auge schien in einem bösen inneren roten Licht zu glühen, und Knut wusste, dass diesem Auge so gut wie nichts entging.
Von den Dornen auf den Schulterstücken abgesehen, war die Rüstung glatt und zweckmäßig, gut eingefettet und generell in einem guten Zustand, auch wenn sie an einigen Stellen geflickt und ausgebessert worden war. Um den Hals des Mannes hing ein Amulett; es war aus Bronze, und dass es so dunkel war, lag nicht nur an seinem Alter und einer gewissen Nachlässigkeit – es war von alten schwarzen Künsten befleckt. Der rote Edelstein in seiner Mitte pulsierte schwach, wie um die Worte seines Trägers zu unterstreichen, als Bär sagte: »Kümmere dich lieber darum, uns auf Abstand zu den Felsen zu halten, Lotse. Das ist der einzige Grund, warum du noch am Leben bist.« Er drehte sich nach achtern. »Jetzt!« Seine Stimme klang leise, trug aber dennoch bis zum Heck des Schiffes.
Einer der Seeleute am Heck wandte sich an die Männer im Frachtraum unter ihm. »Vorwärts!« Der Hortator hob eine Hand und ließ sie dann mit der Kante auf die Trommel zwischen seinen Knien fallen.
Beim ersten Trommelschlag hoben die Sklaven, die an ihre Bänke gekettet waren, die Ruder, und beim zweiten senkten sie sie und zogen wie ein Mann. Sie wussten Bescheid, doch der Sklavenmeister, der zwischen den Ruderbänken auf und ab schritt, wiederholte noch einmal eindringlich seine Worte. »Leise, meine Lieblinge! Ich werde jeden von euch töten, der ein Geräusch von sich gibt, das lauter ist als ein Flüstern.«
Das Schiff, eine queganische Patrouillen-Galeere, die bei einem Überfall vor einem Jahr erbeutet worden war, schob sich vorwärts, wurde schneller. Knute kauerte am Bug und beobachtete eifrig die Wasseroberfläche. Er hatte das Schiff in eine Position gebracht, von der aus es direkt auf das Ziel zukommen würde, doch sie mussten immer noch eine Wende nach backbord durchführen – das war nicht schwierig, wenn man den rechten Zeitpunkt wählte, aber nichtsdestotrotz gefährlich. Plötzlich drehte Knute sich um und sagte: »Jetzt – hart backbord!«
Bär drehte sich um und gab den Befehl weiter, und der Steuermann setzte ihn in die Tat um. Einen Augenblick später befahl Knute: »Ruder mittschiffs«, und die Galeere begann, die Wogen zu durchschneiden.
Knutes Blick huschte kurz zu Bär hinüber, dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu dem Schiff zurück, das sie überfallen wollten. Knute hatte noch nie zuvor in seinem Leben so viel Angst gehabt. Er war ein geborener Pirat, eine Hafenratte aus Natal, die sich vom einfachen Seemann zu einem der besten Lotsen des Bitteren Meeres hochgearbeitet hatte. Er kannte jeden Felsen, jede Untiefe und jedes Riff zwischen Ylith und Krondor und westwärts bis zur Straße der Finsternis und entlang der Küste der Freien Städte. Dieses Wissen hatte dafür gesorgt, dass er mehr als vierzig Jahre lang am Leben geblieben war, während andere Männer gestorben waren – Männer, die weitaus tapferer, stärker und intelligenter als er gewesen waren.
Knute spürte, dass Bär hinter ihm stand. Er hatte schon früher für den riesigen Piraten gearbeitet, hatte einst mit ihm queganische Schiffe überfallen, wenn sie von ihren Raubzügen entlang der Küste von Kesh zurückgekehrt waren. Ein anderes Mal hatte er zusammen mit Bär als Freibeuter gearbeitet, mit einem Kaperbrief des Gouverneurs von Durbin, und hatte Schiffe des Königreichs geplündert.
Die vergangenen vier Jahre hatte Knute seine eigene Bande gehabt, Strandräuber, die die Wracks der Schiffe geplündert hatten, die mit falschen Lichtzeichen auf die Riffe hier bei der Witwenspitze gelockt worden waren. Sein Wissen um diese Felsen und wie man sie überwinden konnte, hatte ihn wieder in Bärs Dienste zurückgebracht. Der merkwürdige Händler namens Sidi, der ungefähr einmal im Jahr in das Gebiet bei der Witwenspitze kam, hatte ihm aufgetragen, einen skrupellosen Mann zu finden, der sich nicht vor einer gefährlichen Mission drückte und auch keine Abneigung gegen das Töten hatte. Knute hatte ein Jahr damit zugebracht, Bär ausfindig zu machen, und hatte ihm dann eine Nachricht geschickt, dass es da einen sehr gefährlichen Auftrag mit einer sehr guten Bezahlung gäbe. Bär hatte geantwortet und war gekommen, um sich mit Sidi zu treffen. Knute hatte erwartet, dass er entweder eine Prämie bekommen würde, weil er den Kontakt zwischen den beiden Männern hergestellt hatte, oder dass er sich die Bezahlung mit Bär teilen würde – im Austausch dafür, dass der seine – Knutes – Männer und sein Schiff benutzte. Doch von dem Augenblick an, da Knute Bär zu dem Treffen mit Sidi mitgebracht hatte, hatte sich alles geändert. Statt auf eigene Rechnung zu arbeiten, arbeitete er nun wieder als Lotse und Erster Offizier von Bärs Galeere. Knutes eigenes Schiff, ein flinkes kleines Küstenschiff, war versenkt worden, um ihnen Bärs Bedingungen vor Augen zu führen: Reichtümer für Knute und seine Männer, wenn sie sich ihm anschlossen. Falls sie sich weigerten, lautete die Alternative schlicht Tod.
Knute schaute zu dem merkwürdigen blauen Licht hinüber, das auf dem Wasser tanzte, während sie sich dem Schiff der Ishapianer näherten. Das Herz des kleinen Mannes schlug so heftig, dass er befürchtete, es würde ihm gleich aus der Brust springen. Er packte die hölzerne Reling fester, während er eine bedeutungslose Kurskorrektur durchgab. Sein Wunsch zu schreien, ließ die Anweisung wie einen scharfen Befehl klingen.
Knute wusste, dass er in dieser Nacht wahrscheinlich sterben würde. Seit Bär ihm seine Mannschaft weggenommen hatte, war das nur noch eine Frage der Zeit gewesen. Der Mann, den Knute damals an der Küste von Kesh gekannt hatte, war schon schlimm genug gewesen, aber irgendetwas hatte Bär verändert, hatte ihn zu einer weit schwärzeren Seele als zuvor gemacht. Er war schon immer ein Mann gewesen, der wenig Skrupel gehabt hatte, aber er hatte sein Geschäft mit einem gewissen Sinn für Wirtschaftlichkeit betrieben, mit einer Abneigung dagegen, Zeit mit sinnlosem Morden und Zerstören zu verschwenden, auch wenn es ihn andererseits kalt ließ. Jetzt schien Bär genau das zu genießen. Zwei Männer aus Knutes Mannschaft waren aufgrund kleiner Verfehlungen einen langsamen, qualvollen Tod gestorben. Bär hatte zugesehen, bis sie endlich gestorben waren. Der Edelstein in seinem Amulett hatte dabei hell geleuchtet, und es hatte so ausgesehen, als hätte in Bärs gutem Auge das gleiche Feuer gebrannt.
Bär hatte eine Sache ganz eindeutig klargestellt: Das Ziel dieser Mission war es, den Ishapianern eine heilige Reliquie abzunehmen, und jeder, der dieser Mission in die Quere kommen würde, würde sterben. Aber er hatte auch versprochen, dass die Mannschaft den ganzen restlichen Schatz der Ishapianer für sich behalten dürfte.
Als er das gehört hatte, hatte Knute damit angefangen, einen Plan auszuhecken.
Er hatte darauf bestanden, mehrere Übungsangriffe durchzuspielen, wobei er darauf hingewiesen hatte, dass die Gezeiten und die Felsen an dieser Stelle schon bei Tageslicht gefährlich genug waren – bei Nacht konnten tausend Katastrophen über die Unvorbereiteten hereinbrechen. Bär hatte schließlich widerwillig zugestimmt. Und es war genau das geschehen, was Knute sich erhofft hatte: Die Mannschaft hatte sich daran gewöhnt, von ihm Befehle entgegenzunehmen. Bärs Mannschaft bestand aus Halsabschneidern, Schlägern und Mördern sowie einem Kannibalen, aber die Männer waren nicht gerade besonders intelligent.
Knutes Plan war kühn, und er war gefährlich; zum Gelingen brauchte er mehr als nur ein bisschen Glück. Er schaute sich um und sah, dass Bärs Auge unverwandt auf das blaue Licht an Bord des ishapianischen Schiffs gerichtet war, auf das sie zuschossen. Dann konnte er nur noch einen schnellen Blick auf die Gesichter seiner sechs Männer werfen, bevor er sich wieder dem ishapianischen Schiff zuwandte.
Er schätzte die Entfernung und Geschwindigkeit des Schiffes, drehte sich um und rief an Bär vorbei: »Ein Strich backbord! Auf Rammgeschwindigkeit gehen!«
Bär wiederholte den Befehl. »Auf Rammgeschwindigkeit gehen!« Dann brüllte er: »Katapulte! Fertig machen!«
Flammen züngelten auf, als Fackeln entzündet wurden, und dann wurden diese Fackeln an große Bündel mit Häuten voller queganischem Feueröl gehalten. Sie brannten im Handumdrehen lichterloh, und der Katapult-Offizier brüllte: »Fertig, Kapitän!«
Bärs tiefe Stimme grollte, als er seinen Befehl gab: »Feuer!«
Der Ausguck blinzelte in die heranwehende salzige Gischt. Er war sich sicher, dass er in Richtung der Küste etwas gesehen hatte. Plötzlich flackerte eine Flamme auf. Dann eine zweite. Im ersten Augenblick war es schwierig, die Größe und die Entfernung einzuschätzen, doch dann erkannte der Seemann voller Entsetzen, dass zwei große Feuerbälle auf das Schiff zugeflogen kamen.
Orangerote Flammen zischten und knisterten, als das erste Geschoss über ihn hinwegflog und den Mastkorb dabei nur um wenige Zoll verfehlte. Der Ausguck konnte die sengende Hitze spüren, als der Feuerball über ihn hinwegschoss.
»Ein Angriff!«, brüllte er, so laut er konnte. Er wusste natürlich, dass alle Männer der Nachtwache das brennende Geschoss gesehen hatten; nichtsdestotrotz war es seine Aufgabe, die Mannschaft zu alarmieren.
Der zweite Feuerball traf das mittlere Deck; die Treppe, die von unten zum Vorderdeck hochführte, und ein unglücklicher Ishap-Priester wurden von den tobenden Flammen verschlungen. Er schrie vor Schmerzen und Verwirrung, als er starb.
Der Ausguck wusste, dass es keine gute Idee war, hier oben zu bleiben, sollten sie geentert werden. Er schwang sich aus dem Krähennest und rutschte an einem Stütztau zum Deck unter ihm hinunter, als ein weiterer Feuerball am Himmel erschien und sich auf das Vorderdeck herabsenkte.
Als seine bloßen Füße die Decksplanken berührten, brüllte ihm ein anderer Seemann »Queganische Piraten!« zu und gab ihm ein Schwert und einen Schild.
Das Dröhnen der Trommel eines Hortators hallte über die Wellen heran. Plötzlich war die Nacht von Lärm und Geschrei erfüllt.
Aus dem Zwielicht tauchte ein Schiff auf, weit in die Höhe gehoben von der gewaltigen Dünung, und die beiden Seeleute konnten den kräftigen, gezackten eisernen Rammsporn sehen, der aus dem Bug der Galeere ragte. Wenn er sich erst einmal in den Rumpf seines Opfers gebohrt hatte, würden seine Zähne das gerammte Schiff festhalten, bis die Galeerensklaven das Signal erhalten würden zurückzupullen. Und wenn die Galeere sich zurückzog, würde der Rammsporn ein gewaltiges Loch in die Seite der Morgenröte Ishaps reißen, das sie schnell auf den Meeresgrund sinken lassen würde.
Für einen kurzen Augenblick stieg in dem Ausguck die Furcht auf, seine Frau und seine Kinder niemals wieder zu sehen, und er stieß ein hastiges Gebet aus; es war an jeden Gott gerichtet, der gerade zuhörte, und enthielt die Bitte, dass er sich um seine Familie kümmern möge. Dann entschloss er sich zu kämpfen, denn wenn er und seine Kameraden die Piraten am Dollbord aufhalten konnten, bis die Priester aus dem Laderaum an Deck gestiegen waren, würde deren Magie die Angreifer vielleicht vertreiben.
Das Deck hob und senkte sich, und das Geräusch von zerberstendem Holz und schreienden Männern erfüllte die Nacht, als sich das Piratenschiff in das Schiff der Ishap-Priester bohrte. Der Ausguck und seine Kameraden wurden von der Erschütterung auf die Decksplanken geschleudert.
Als der Ausguck sich von dem sich ausbreitenden Feuer wegrollte, sah er zwei Hände, die sich an die Reling des Schiffes klammerten. Und als er schließlich wieder auf die Beine kam, sprang bereits ein dunkelhäutiger Pirat mit einem gewaltigen Satz an Deck. Andere folgten ihm.
Der erste Pirat trug ein großes gekrümmtes Schwert, und er grinste wie ein Besessener. Der Ausguck rannte auf ihn zu, Schwert und Schild bereit. Der Pirat hatte lange, ölige Locken, die im Licht der Flammen glänzten. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich der orangefarbene Feuerschein, was ihm etwas Dämonisches verlieh. Dann lächelte er, und der Ausguck wurde langsamer – die spitz zugefeilten Zähne zeigten, dass der Mann ein Kannibale von den Shaskahan-Inseln war.
Die Augen des Ausgucks weiteten sich, als er eine weitere Gestalt hinter der Ersten aufragen sah.
Es war das Letzte, was er in seinem Leben sehen sollte, denn der vorderste Pirat schwang sein Schwert und durchbohrte den Unglücklichen, der angesichts dessen, was er sah, erstarrte. Mit einem letzten, keuchenden Atemzug brachte er ein einziges Wort über die Lippen: »Bär.«
Bär schaute über das Deck. Kräftige Hände öffneten und schlossen sich voller Vorfreude, während er sprach. Seine Stimme schien von ganz weit innen zu kommen. »Ihr wisst, wonach ich suche; alles andere könnt ihr euch nehmen!«
Knute kam mit einem Satz vom Piratenschiff herübergesprungen und stellte sich an Bärs Seite. »Wir haben sie schwer getroffen, ihr habt also nicht viel Zeit!«, schrie er den Piraten zu. Wie Knute gehofft hatte, beeilten sich die Piraten, die ishapianischen Seeleute zu töten, während er der Hand voll Männer aus seiner alten Mannschaft, die sich auf die Luken und die Frachtnetze zubewegten, Zeichen gab.
Ein Ishap-Mönch, der als Reaktion auf den Alarm die achterne Kajütentreppe hocheilte, sah, wie sich die Piraten in einem Halbkreis um ihn herum verteilten. Seine Brüder folgten ihm. Für einen Augenblick standen beide Parteien reglos da, schätzten einander ab.
Bär trat vor. Seine Stimme klang, als würde er Steine zermalmen, als er zu dem ersten Mönch sagte: »He, du da! Wenn du mir die Träne bringst, werde ich dich schnell töten.«
Der Mönch hob die Hände und bewegte sie schnell; sie formten ein mystisches Muster, während er ein Gebet intonierte, um Magie herbeizubeschwören. Die anderen Mönche hinter ihm gingen in Kampfstellung.
Ein Blitz aus weißer Energie zuckte auf Bär zu, verschwand jedoch, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten, eine knappe Handbreit vor ihm. Im gleichen Augenblick legte das Schiff sich auf die Seite und begann, am Bug abzusacken. »Eure Magie kann mir nichts anhaben!«, sagte Bär mit einem verächtlichen Lachen.
Mit einer für einen Mann seiner Größe überraschenden Geschwindigkeit ließ Bär sein Schwert vorschnellen. Der Mönch, der sich noch immer von dem Schock erholen musste, dass seine Magie keinerlei Macht hatte, blieb hilflos stehen, während Bär ihn durchbohrte, als würde er eine Melone mit einem Küchenmesser zerschneiden. Die Piraten stießen ein Triumphgeheul aus und fielen über die anderen Mönche her.
Die Mönche waren unbewaffnet und in der Unterzahl, doch sie waren alle in der Kunst des waffenlosen Kampfes ausgebildet. Am Ende konnten sie sich zwar nicht gegen Lanzen, Äxte und Schwerter, Messer und Armbrüste behaupten, aber sie hatten die Piraten so lange aufgehalten, dass das Vorderdeck bereits unter Wasser stand, bevor Bär die Treppe erreichen konnte, die ins Unterdeck führte.
Knute huschte an Bär vorbei und die Treppe hinunter wie eine Ratte, die sich durch ein Abflussgitter bewegt. Bär folgte ihm dichtauf; dahinter kamen die anderen.
»Wir haben nicht viel Zeit!«, brüllte Knute und schaute sich in den achtern gelegenen Mannschaftsquartieren um. Aus den reichlich vorhandenen religiösen Gegenständen schloss er, dass dieser Bereich den Mönchen überlassen worden war. Knute konnte hören, wie das Wasser durch das Leck unter dem Vorderkastell in den Schiffsrumpf strömte. Knute kannte sich mit Schiffen aus; irgendwann würde ein zwischen dem Vorderschiff und dem Hauptfrachtraum gelegenes Schott nachgeben, und dann würde das Schiff wie ein Stein sinken.
Sein Blick fiel auf eine kleine hölzerne Kiste, die in einer Ecke stand, und er marschierte darauf zu, während Bär sich auf die große Tür zubewegte, die nach achtern zur Kajüte des Kapitäns führte. Es wurde immer schwieriger, sich zu bewegen, weil das Deck sich mehr und mehr zur Seite neigte und man auf der glitschigen Oberfläche kaum noch das Gleichgewicht halten konnte. Mehrere Piraten rutschten aus und fielen hin, schlugen hart auf den hölzernen Planken auf.
Knute öffnete die kleine Kiste; sie enthielt genügend Juwelen, dass er den Rest seines Lebens im Luxus verbringen konnte. Wie Motten, die vom Licht angezogen werden, schwärmten einige Piraten auf die Beute zu. Knute gab zwei anderen Piraten, die ganz in seiner Nähe waren, ein Zeichen. »Wenn euch das ganze Gemetzel auch nur ein Kupferstück einbringen soll, dann macht, dass ihr an Deck kommt, helft, die Luke aufzumachen, und lasst das Frachtnetz herunter!«
Die beiden Männer zögerten, warfen einen Blick auf Bär, der sich noch immer mit der Tür abmühte. Dann schauten sie sich kurz an und taten, was Knute ihnen befohlen hatte. Knute wusste, dass sie an der Luke bereits zwei seiner Männer vorfinden würden und dass sie ihnen helfen würden. Sein Plan konnte nur Erfolg haben, wenn jeder seinen Teil dazu beitrug, ohne zu bemerken, dass sich die Dinge an Bord geändert hatten.
Knute entriegelte eine Falltür in der Mitte des Decks und ließ sie aufschwingen. Darunter lag die Treppe, die hinab in den Frachtraum führte. Als er durch die Öffnung dem Schatz entgegentrat, begann das Schiff, Wasser zu fassen; Knute wusste, dass es vom Schicksal dazu verdammt war, jetzt schnell mit dem Bug voran zu sinken. Er und seine Männer würden schnell sein müssen.
Schräg über ihm warf sich Bär gegen eine Tür, die ganz offensichtlich mit einer Art magischem Schloss geschützt war, denn sie gab trotz seines gewaltigen Gewichts kaum nach. Knute warf einen kurzen Blick nach hinten und sah, dass das Holz um die Angeln herum abzusplittern begann. Während er in den Frachtraum hinunterstieg, schaute er nach unten. Er wusste, dass sich da unten genügend Schätze befanden, um jeden Einzelnen an Bord zum König zu machen, denn der merkwürdige Mann namens Sidi, der Bär von diesem Schiff erzählt hatte, hatte auch gesagt, dass unermesslicher Reichtum das magische Objekt begleiten würde, das er ihm bringen sollte – jener Reichtum, den der Tempel binnen zehn Jahren an der Fernen Küste und in den Freien Städten angehäuft hatte.
Knute bedauerte, dass er Sidi überhaupt jemals begegnet war; als er ihn das erste Mal getroffen hatte, hatte er keine Ahnung gehabt, dass der so genannte Händler in Sachen magischer Künste reiste. Als er schließlich die Wahrheit erkannt hatte, war es bereits zu spät gewesen. Und Knute war sich sicher, dass Sidi noch weit mehr war als das, was mittlerweile offensichtlich war. Sidi hatte Bär ein magisches Amulett gegeben – das, das der Pirat nun Tag und Nacht trug und niemals ablegte. Knute hatte sich immer von Magie, von Tempeln, Magiern und Hexen fern gehalten. Er hatte ein Gespür dafür, und es jagte ihm Angst ein, und er hatte noch nie einen Menschen kennen gelernt, der so danach gestunken hatte wie Sidi. Und dieser Gestank hatte ganz und gar nichts Angenehmes.
Die Frachtluke über ihm bewegte sich, und eine Stimme rief von oben: »Knute!«
»Lasst es runter!«, befahl der kleine Dieb.
Das Frachtnetz senkte sich herab, und Knute machte es schnell los. »Macht, dass ihr runterkommt!«, brüllte er, während er das große Netz mitten auf dem Deck ausbreitete. »Das Wasser steigt immer schneller!«
Vier Seeleute rutschten an Tauen herunter und begannen sofort, die schweren Frachtkisten in die Mitte des Netzes zu tragen. »Holt zuerst die kleinen!«, wies Knute sie an. »In denen sind Edelsteine, und davon ist jedes Pfund mehr wert als Gold.«
Die Seeleute hatten zwei Antriebskräfte: Gier und ihre Angst vor Bär. Der gewaltige Kapitän hämmerte über ihnen mit unmenschlicher Kraft auf die Tür ein, und jedes einzelne Mitglied der Mannschaft wusste genau wie Knute, dass Bär von Tag zu Tag gewalttätiger wurde. Selbst die Männer seiner eigenen Mannschaft fürchteten sich mittlerweile davor, dass ihr Kapitän aus irgendeinem Grund auf sie aufmerksam wurde.
Einer der Männer verharrte, als er den unmenschlichen Schrei hörte, mit dem Bär schließlich durch die Tür brach. Ein halbes Dutzend Piraten, die inzwischen die gesamte Mannschaft des Schiffes getötet hatten, rutschte an den Seilen vom Deck über ihnen herunter und schaute den Lotsen fragend an. »Der Kapitän hat gesagt, dass er nur den verdammten Stein will, den die Priester bewacht haben«, sagte Knute. »Alles andere können wir uns nehmen. Wollt ihr das hier alles versinken lassen?«
Sie schüttelten die Köpfe und machten sich ebenfalls an die Arbeit, zumeist paarweise, um die größeren Kisten und Säcke auf das Netz zu packen. Knute konnte ihnen jedoch ansehen, dass sie so ihre Zweifel hatten. Aber sie beeilten sich und schafften es, den größten Teil der Beute in das Netz zu packen.
»Und jetzt – zieht!«, brüllte Knute den Männern oben auf Deck zu.
Piraten griffen sich kleine Kisten und Säcke und versuchten, zur vorderen Leiter zu gelangen. Das Schiff senkte sich jetzt mit dem Bug voran immer mehr, wobei es schneller wurde und leicht von einer Seite zur anderen schwankte. »Sagt ihnen, sie sollen zurücksetzen!«, brüllte Knute, während er die Leiter zum Oberdeck hochstieg; dabei hielt er die kleine hölzerne Kiste umklammert wie eine Mutter ihr Kind. Durch die Tür zur Kapitänskajüte fiel ein blendend helles Licht, und Knutes Augen weiteten sich. Bär hob sich deutlich gegen den hellen Lichtschein ab; ganz offensichtlich kämpfte er sich durch das Wasser, als würde er mit irgendeinem Gegner ringen. »Mach, dass du rauskommst!«, brüllte Knute. »Sonst wirst du mit in die Tiefe gerissen!« Nicht, dass Knute in einem solchen Fall auch nur eine Träne vergossen hätte; allerdings wollte er – falls Bär doch wieder zu Verstand kam und ihm die Flucht gelang – in seiner Rolle als loyaler, besorgter Lotse überzeugend erscheinen.
Knute hastete zum Dollbord und sprang leichtfüßig hinauf. Er warf einen Blick auf die Piraten, die hinter ihm über das Deck rutschten und versuchten, zu ihrem Boot zu gelangen, und rief noch einmal: »Beeilt euch!« Die Galeere schob sich rückwärts, und jetzt strömte noch mehr Wasser in den Rumpf des ishapianischen Schiffs. Knute wusste, dass durch das Gewicht des untergehenden Schiffes auch der Bug der Galeere unter Wasser gezogen worden wäre, hätte er nicht den Befehl gegeben zurückzusetzen.
Ein paar Armlängen unter ihm tanzte ein Langboot auf den Wogen. »Bei den Göttern, ich sollte mich aus diesem Geschäft zurückziehen«, murmelte Knute.
Er warf einen Blick nach oben und sah, wie sich der Frachtbaum mit dem Netz voller Schätze langsam auf das Deck der Galeere absenkte. Mit einem schnellen Gebet an jeden Gott, an den er sich erinnern konnte, sprang Knute von dem sinkenden Schiff. Er schlug auf der Meeresoberfläche auf, wobei er die kleine Kiste mit aller Kraft umklammerte. Das Gewicht drohte ihn nach unten zu ziehen, und er strampelte wild mit den Beinen. Schließlich brach sein Kopf durch die Wasseroberfläche, während Stimmen über das Meer schallten. Mit dem freien Arm schwamm er auf das Langboot zu, das er schnell erreichte. Starke Hände packten zu und zogen ihn an Bord.
»Das Schiff sinkt!«, schrien die Männer, als sie vom Deck in die gischtende See sprangen.
»Lasst den Rest liegen!«, rief ein Mann, der etwas hielt, das wie ein großer Sack voller Gold aussah. Er sprang ins Wasser, und nach einer Minute tauchte sein Kopf wieder über der Wasseroberfläche auf. Unter großen Anstrengungen gelang es ihm, den Sack an Bord von Knutes Boot zu hieven.
»Nein! Neeiiin!«, erklangen Bärs wütende Schreie aus den Eingeweiden des sinkenden Schiffs, während Knute dem Piraten half, ins Boot zu klettern.
»Hört sich ganz so an, als ob der Kapitän ein Problem hätte«, sagte der durchnässte Pirat.
»Rudere!«, wies Knute ihn an. Der Seemann tat, wie ihm geheißen, und Knute blickte sich über die Schulter um. »Welche Probleme der Kapitän auch immer hat – es sind nicht mehr unsere.«
»Du verlässt ihn?«, fragte einer von Knutes Männern.
»Mal sehen, ob ihn das verdammte Amulett auch auf dem Meeresgrund am Leben erhält.«
Einer der Piraten grinste. Wie der Rest seiner Kumpane hatte er Bär mindestens ebenso sehr aus Furcht wie aus Loyalität gehorcht. »Wenn er es schafft, wird er dich umbringen, Knute.«
»Dazu muss er mich erst einmal finden«, sagte der gerissene Lotse. »Ich bin dreimal mit diesem mörderischen Verrückten gesegelt, und das ist zweimal zu viel. Ihr seid lange genug seine Sklaven gewesen. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir endlich ein gutes Leben führen.«
Die Piraten ruderten. Einer aus Bärs Mannschaft meldete sich zu Wort. »Wenn er lebendig davonkommt, wird er andere finden, die ihm folgen, das ist dir doch klar, oder? Also sag mir einen Grund, warum ich dir nicht gleich die Kehle durchschneiden und mich so seiner Gunst versichern sollte?«
»Weil du genauso gierig bist wie ich. Wenn du mir die Kehle durchschneidest, werdet ihr die Galeere niemals heil aus den Felsenriffen herausbekommen. Und außerdem, selbst wenn Bär überleben sollte, ist es bereits zu spät«, sagte Knute. »Wir werden alle schon verschwunden und in Sicherheit sein.«
Sie erreichten die Galeere und kletterten schnell an Bord; ein paar andere Langboote und einige Schwimmer waren gleichzeitig mit ihnen angekommen. Das Schiff knirschte, als die Langboote an Bord gehievt wurden. Einige Männer rafften Taue zusammen, während andere Netze hinunterließen, um die Reichtümer aus dem ishapianischen Schiff zu bergen. Die Mannschaft bewegte sich so tüchtig und aufmerksam wie selten zuvor, was zu gleichen Teilen auf Habsucht und der Angst, Bär könnte plötzlich auftauchen, beruhte. Schließlich zurrten sie die Fracht auf dem mittleren Deck fest, und Knute sagte: »Nehmt Fahrt auf!«
»Und wohin fahren wir?«, fragte einer der Piraten, die Knute zur Galeere zurückgerudert hatten.
»Zu einem Treffpunkt an der Küste. Ich habe dafür gesorgt, dass dort ein paar Männer warten, die diese Fracht löschen; anschließend werden wir die Galeere aufs Meer hinausrudern und versenken.«
»Warum?«, fragte ein anderer Mann. Die Mannschaft hatte sich jetzt um Knute herum versammelt.
»Warum?«, wiederholte Knute. »Ich werde dir sagen, warum, du Narr. Das Schiff, das wir gerade geentert haben, war Eigentum des Ishap-Tempels. Schon in wenigen Tagen wird die ganze Welt nach den Männern suchen, die es versenkt haben. Bär hat dieses Amulett, das ihn vor den Priestern schützt, aber wir haben so etwas nicht. Wir werden die Beute teilen und noch heute Nacht getrennte Wege gehen.«
»Klingt gut«, sagte einer der Seeleute.
»Dann macht, dass ihr an die Ruder kommt! Die Sklaven sind halb tot, und ich will, dass wir uns noch vor Sonnenuntergang trennen!«, schrie Knute.
Genau in diesem Augenblick war durch den Sturm Bärs Stimme zu hören. »Es gehört mir! Ich hatte es schon in den Händen!«
Alle Augen richteten sich auf das sinkende Schiff, und im zuckenden Licht eines Blitzes konnten sie Bär erkennen. Er stand an der Reling, kletterte langsam hinauf und schüttelte die Faust hinter der sich entfernenden Galeere her. Dann sprang er ins Wasser.
Der Anblick von Bär, wie er ins Wasser sprang, als ob er hinter ihnen herschwimmen wollte, brachte die Seeleute dazu, sich zu beeilen – wie Pferde, denen man die Sporen gibt. Unter ihnen begann die Trommel des Hortators zu dröhnen, während die Sklaven von den Ketten losgemacht und von übereifrigen Piraten beiseite gestoßen wurden. Knute verharrte einen Moment, um noch einmal dorthin zu blicken, wo Bär gestanden hatte, wo seine Silhouette sich vor dem Hintergrund des zuckenden Blitzes deutlich abgezeichnet hatte. Einen Augenblick lang hätte Knute schwören können, dass Bärs Auge rot geglüht hatte.
Knute erschauderte und riss seine Gedanken von Bär los. Der Mann war schrecklich, wenn er wütend war, und er besaß übermenschliche Kräfte, doch selbst Bär würde nicht in der Lage sein, einfach so in die Stadt des Prinzen zu stürmen und nach Knute zu suchen.
Knute lächelte. Die Männer, die auf ihn warteten, rechneten mit einem Schiff voller Reichtümer und einer toten Mannschaft. Unter Deck standen vergifteter Wein und vergiftetes Bier bereit; Knute würde es wenige Minuten, bevor sie den Treffpunkt erreichten, verteilen. Zu dem Zeitpunkt, da die Fracht gelöscht und auf Wagen verstaut sein würde, würden alle Piraten und Sklaven nur noch Leichen sein. Auch seine eigenen Leute würden dran glauben müssen; das war ein unglücklicher Umstand, der sich leider nicht vermeiden ließ. Außerdem bedeutete es, dass mehr für ihn und die Männer mit den Wagen übrig blieb.
Sein ganzes Leben lang hatte er auf eine solche Gelegenheit gewartet, und er würde mit aller Skrupellosigkeit vorgehen, um für sich das Beste herauszuholen. Keiner dieser Männer würde auch nur einen Finger rühren, um ihm zu helfen, wenn sein Leben in Gefahr wäre, das wusste Knute – was schuldete er ihnen dann also?
So etwas wie Ehre unter Dieben mochte es bei den Spöttern geben, wo die Schläger des Aufrechten für ein ehrenvolles Verhalten sorgten, doch auf einem Schiff wie dem von Bär galt die schlichte Regel, dass nur die Stärksten – oder die Klügsten – überlebten.
Knute rief seine Befehle, und das Schiff neigte sich zur Seite, als es den Bug gegen die Wellen richtete und auf einen sicheren Kurs in größerer Entfernung von den Riffen der Witwenspitze ging. Kurz darauf hatte das Schiff die letzten unter der Wasseroberfläche gelegenen Felsen hinter sich gelassen, und die Ruderer ließen es mit gleichmäßiger Geschwindigkeit dahingleiten. Der kleine Lotse begab sich nach achtern und schaute über das sich wie ein Fächer verbreiternde Heck der Galeere. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, etwas im Wasser zu sehen – einen Schwimmer, der dem Schiff mit gewaltigen Schwimmzügen folgte.
Knute strengte seine Augen an und spähte durch die Dunkelheit, aber er konnte nichts mehr von dem Schwimmer erkennen. Er rieb sich die Augen. Es musste die Aufregung sein, dachte er, die Chance, endlich reich zu sein und nicht mehr unter der Fuchtel von Männern wie Bär zu stehen.
Als er seine Gedanken auf die Zukunft richtete, grinste er erneut. Er hatte einige Abmachungen getroffen. Er würde die Fuhrleute bezahlen, sie töten lassen, falls es notwendig werden würde, und zu dem Zeitpunkt, da er Krondor erreichte, würden all die silbernen Münzen, goldenen Ketten und funkelnden Edelsteine nur noch ihm allein gehören.
»Wohin fahren wir?«, fragte einer der Piraten.
»Kapitän«, sagte Knute.
»Was?«
»Wohin fahren wir, Kapitän«, wiederholte Knute kalt.
Der Pirat zuckte die Schultern, als ob das keine Rolle spielen würde. »Wohin fahren wir, Kapitän? Wie weit die Küste runter sind deine Männer?«
Knute grinste. Er wusste, dass dieser Mann – wie auch alle anderen in der Mannschaft – ihn fröhlich den Kapitän spielen lassen würde – bis zu dem Augenblick, da sie ihm die Kehle durchschneiden würden, weil sie glaubten, es würde sie reich machen. Er spielte das Spiel mit. »Wir werden uns am Strand nördlich von Fischstadt – ein Stück außerhalb von Krondor – mit einer Bande treffen.«
»In Fischstadt also«, sagte der Mann und fügte dann schnell hinzu: »Kapitän.«
Die Mannschaft ruderte die ganze Nacht. Als es nicht einmal mehr zwei Stunden bis zur Dämmerung waren, rief Knute einen der Seeleute zu sich, denen er am meisten vertraute. »Wie sieht’s aus?«
»Bärs Männer sind nervös, aber sie sind nicht klug genug, um irgendwas zu planen, solange sie Angst haben, dass ihnen dann die Beute durch die Lappen geht. Sie sind jedoch fürchterlich nervös. Man kann eben nicht jemanden wie Bär aufs Kreuz legen und danach ruhig schlafen.«
Knute nickte. »Wenn also alles in Ordnung ist – unten sind ein bisschen Wein und Bier. Nehmt euch was davon«, sagte er.
»Geht klar, Kapitän«, sagte der Mann, und sein Grinsen wurde breiter. »Eine Feier, was? Das wird der Sache die Krone aufsetzen.«
Knute erwiderte das Grinsen, sagte jedoch nichts.
Schon wenige Minuten später drang der Lärm der Feiernden vom Unterdeck herauf. Stundenlang hatte Knute nichts anderes gehört als eine unheilvolle Stille, nur von den Geräuschen rhythmischen Ruderns, dem Quietschen der Ruder in ihren Dollen, dem Knirschen und Ächzen des Rumpfs und dem Rasseln von Flaschenzügen in der Takelage unterbrochen. Jetzt erklang Stimmengemurmel; einige Männer machten Witze, andere wirkten überrascht, als ein paar ihrer Kameraden mit Fässern und Bechern die Runde entlang der Ruderbänke machten.
Einer der Piraten warf Knute quer über das Deck einen Blick zu, was der zum Anlass nahm, dem Mann zuzurufen: »Sag den Männern oben in der Takelage, dass sie kurz runtergehen und was trinken sollen! Ich werde das Ruder übernehmen!«
Der Pirat nickte und rief nach oben, während Knute zum Heck ging. »Geh und hol dir was zu trinken. Ich werde unsere Hübsche an Land steuern«, sagte er zu dem Steuermann.
»Wirst du sie auf den Strand setzen, Kapitän?«
Knute nickte. »Wir kommen kurz nach der Ebbe an. Mit all der Beute liegt sie so schwer im Wasser wie eine trächtige Sau. Wenn wir die Ladung gelöscht haben und die Flut kommt, wird sie leicht wieder freikommen, und wir können sie zurück aufs offene Meer steuern.«
Der Mann nickte. Er kannte die Gegend um Fischstadt. Die Strände waren sanft, und Knutes Plan erschien ihm überaus sinnvoll.
Knute hatte sich für ein langsam wirkendes Gift entschieden. Als er das Ruder übernahm, schätzte er, dass die ersten Männer umkippen würden, wenn sie den Strand erreichten. Mit ein bisschen Glück würden die Männer, die noch am Leben sein würden, glauben, dass ihre Kumpane vom Trinken bewusstlos geworden waren. Mit noch ein bisschen mehr Glück würden die Männer mit den Wagen, die er in Krondor angeheuert hatte, keine Kehlen durchschneiden müssen. Es waren Fuhrleute, die gegen ein festes Entgelt arbeiteten, und keine Schläger.
Knute hatte eine Lüge auf die andere gesetzt. Die Fuhrleute glaubten, dass er für den Aufrechten arbeitete, den Anführer der Diebesgilde von Krondor. Knute wusste, dass es ihm ohne diese Lüge nicht möglich sein würde, sie zu kontrollieren, wenn sie erst einmal die Reichtümer sehen würden, die er in die Stadt bringen wollte. Wenn die Fuhrleute nicht glaubten, dass eine umbarmherzige Macht hinter Knute stand, würde er am nächsten Morgen so tot sein wie der Rest seiner Mannschaft.
Das Geräusch der Wellen veränderte sich. Knute konnte hören, wie in einiger Entfernung Brecher an den Strand rollten. Er brauchte sich noch nicht einmal genauer umzuschauen, um zu wissen, wo er sich befand.
Einer der Piraten kam die Treppe heraufgestolpert und sprach ihn an. Seine Stimme klang undeutlich. »Kapitän, was ist in dem Bier? Die Jungs kippen um wie …« Knute lächelte den Seemann an, einen jungen Schläger von vielleicht achtzehn Jahren. Der Bursche stürzte vornüber auf die Planken. Von unten riefen ein paar Stimmen herauf, doch sie klangen gedämpft und erstarben schon bald danach.
Die Rudergeräusche waren verstummt. Jetzt kam der gefährlichste Teil von Knutes Plan. Er ließ die Ruderpinne los, sprang zu den Webeleinen und kletterte nach oben. Allein ließ er ein kleines Segel herunter und zurrte es fest. Dieses kleine Segel war alles, was er hatte, um zu verhindern, dass das Schiff sich quer zu den Wogen stellte und am Strand zerschellte.
Als er wieder an der Ruderpinne stand, legte sich eine Hand auf seine Schulter und wirbelte ihn herum. Er sah sich einem gehässigen Grinsen spitz zugefeilter Zähne gegenüber, und dunkle Augen musterten ihn. »Shaskahan trinken kein Bier, kleiner Mann.«
Knute erstarrte. Er schob verstohlen eine Hand an den Gürtel, in dem ein Dolch versteckt war, wartete jedoch erst mal ab, was der Kannibale als Nächstes tun würde. Der Mann stand völlig reglos da. »Trinken kein Bier«, wiederholte er.
»Ich gebe dir die Hälfte von dem Gold«, flüsterte Knute.
»Ich werde mir alles nehmen«, sagte der Kannibale, während er sein großes Gürtelmesser zog. »Und dann werde ich dich essen.«
Knute sprang zurück und zog sein eigenes Messer. Er wusste, dass er gegen den erfahrenen Kämpfer keine Chance hatte, aber er kämpfte um sein Leben und den größten Schatz, den er jemals gesehen hatte. Er wartete, betete darum, ein paar Augenblicke mehr Zeit zu bekommen.
»Shaskahan trinken kein Bier«, sagte der Kannibale noch einmal. Knute sah, dass die Beine des Mannes zu zittern begannen, als er einen Schritt nach vorn machte. Plötzlich sank er auf die Knie, seine Augen wurden leer. Dann fiel er vornüber aufs Gesicht.
Knute kniete sich vorsichtig neben dem Mann hin und untersuchte ihn. Nachdem er sich zum Gesicht des Kannibalen hinuntergebeugt und einmal geschnüffelt hatte, stand er wieder auf und steckte sein Messer zurück in die Scheide.
»Du trinkst zwar kein Bier, du mordender Sohn einer elenden Hure, aber dafür trinkst du Brandy.«
Mit einem Lachen ließ Knute die Ruderpinne los, als das Schiff vorwärts in die Brecher glitt. Er richtete es wie einen Pfeil auf eine lange, flache Stelle des Strandes, und als sich das Schiff mit dem Bug voran in den Sand bohrte, sah er die drei großen Wagen, die oben auf den Klippen standen. Sechs Männer, die am Ufer gesessen hatten, sprangen auf, als das Schiff im Sand zum Stillstand kam. Knute hatte angeordnet, dass die Wagen nicht herunter in die Bucht kommen sollten, denn wenn sie erst einmal beladen wären, würden ihre Räder bis zu den Naben im Sand versinken. Die Fuhrleute würden das ganze Gold die kleine Klippe hinauf zu den Wagen schaffen müssen. Das würde harte, schweißtreibende Arbeit werden.
Kaum war das Schiff richtig zum Stillstand gekommen, rief Knute den Männer bereits seine Anweisungen zu. Die sechs Fuhrleute eilten herbei, während Knute sein Messer zog. Zunächst würde er sich darum kümmern, dass niemand sich von einer zu kleinen Dosis Gift erholen konnte, dann wollte er dafür sorgen, dass der Schatz nach Krondor kam.
Es gab einen einzigen Mann auf der ganzen Welt, von dem er wusste, dass er ihm trauen konnte, und dieser Mann würde ihm helfen, die Reichtümer zu verstecken. Dann würde Knute feiern, sich betrinken, eine Schlägerei anzetteln und ins Gefängnis geworfen werden.
Sollte Bär doch versuchen, ihn zu erwischen, dachte Knute, falls er durch irgendein Wunder tatsächlich überlebt hatte. Sollte dieses verrückte Vieh von einem Piraten doch versuchen, ihn in den Eingeweiden des stärksten Gefängnisses der Stadt zu erwischen, umgeben von der Stadtwache. Das war völlig unmöglich. Die Stadtwachen würden Bär gefangen nehmen, das war das Mindeste; viel wahrscheinlicher war, dass sie ihn töten würden. Wenn Knute erst einmal genau über Bärs Schicksal Bescheid wusste, konnte er um sein eigenes Leben handeln. Denn er war der einzige Mensch, der wusste, wo das ishapianische Schiff gesunken war. Er könnte die Männer des Prinzen und einen Repräsentanten der Wrackberger-Gilde an den Ort führen, und der Magier der Wrackberger-Gilde würde das Schiff heben, und sie würden sich das Schmuckstück holen können, hinter dem Bär hergewesen war. Und dann würde er ein freier Mann sein, während Bär in den Verliesen des Prinzen verrotten, am Galgen hängen oder für immer auf dem Grund des Meeres ruhen würde. Und jeder würde denken, der Rest des Schatzes wäre mit dem Piratenschiff gesunken und in den tiefen Meeresgraben eine Meile vor der Küste abgerutscht.
Knute gratulierte sich zu diesem meisterhaften Plan und machte sich an seine grässliche Arbeit, während die Fuhrleute aus Krondor an Bord kletterten, um »den Schatz des Aufrechten« auf ihre Wagen umzuladen.
Viele Meilen entfernt tauchte bei Anbruch der Dämmerung eine Gestalt aus den auf den Strand rollenden Brechern auf. Die Kleider hingen ihr von den vielen Stunden im Meer durchnässt und zerrissen um den mächtigen Körper. Der Mann hatte sich seiner Waffen entledigt, um besser schwimmen zu können. Ein gesundes Auge spähte über die Felsen, als der Mann festzustellen versuchte, wo er ans Ufer gelangt war. Als er trockenen Sand unter seinen jetzt nackten Füßen spürte, stieß der Pirat einen Schrei voller tierischer Wut aus.
»Knute!«, brüllte er den Himmel an. »Beim dunklen Gott, ich werde dich zur Strecke bringen und deine Leber auf einem Stock aufspießen. Aber zuerst wirst du mir sagen, wo sich die Träne der Götter befindet!«
Bär wusste, dass er sich zunächst Waffen und ein neues Paar Stiefel besorgen musste. Er drehte sich um und blickte nach Norden; in dieser Richtung lagen der geheime Tempel bei der Witwenspitze und das Dorf Haldenkopf. Dort würde er Männer finden, die sich ihm anschließen würden, und mit ihrer Hilfe würde er Knute und die anderen finden. Jedes Mitglied seiner Mannschaft, das ihn betrogen hatte, würde einen langsamen, qualvollen Tod sterben. Noch einmal stieß Bär einen Wutschrei aus. Als die Echos von den windumtosten Felsen erstarben, reckte er die Schultern und marschierte los.
James eilte durch die Nacht.
Während er zielstrebig den Hof im Palast des Prinzen in Krondor überquerte, spürte er immer noch ein gelegentliches Stechen und Zwicken – eine bleibende Erinnerung an die Prügel, die er bezogen hatte, als er Gefangener der Nachtgreifer gewesen war. Doch im Großen und Ganzen fühlte er sich fast wieder so gut wie sonst. Trotzdem hatte er immer noch ein größeres Schlafbedürfnis als früher – und natürlich hatte er gerade fest geschlafen, als ein Page an seine Tür geklopft und ihn darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass die längst überfällige Karawane aus Kesh gesichtet worden war und sich der Stadt näherte. James war aufgestanden und hatte sich angezogen, obwohl jede Faser seines Körpers ihn aufgefordert hatte, sich in seinem warmen Bett wieder auf die Seite zu rollen und weiterzuschlafen.
Er verfluchte im Stillen noch immer die Notwendigkeit, die ankommende Magierin zu empfangen, als er das äußere Tor erreichte, wo zwei Wachen ihren Dienst versahen.
»Guten Abend, Männer. Alles in Ordnung?«
Der ältere der beiden Wächter, ein Veteran namens Crewson, salutierte. »Es ist totenstill, Junker. Wohin seid Ihr denn um diese Zeit noch unterwegs?« Er gab dem anderen Wächter ein Zeichen, das Tor zu öffnen, damit James den Palast verlassen konnte.
James unterdrückte ein Gähnen. »Die neue Magierin des Prinzen trifft gerade aus Stardock ein, und ich habe die zweifelhafte Ehre, sie am Nordtor empfangen zu dürfen«, sagte er.
Der jüngere Wachposten lächelte voller spöttischer Sympathie. »Was habt Ihr nur immer für ein Glück, Junker.« Er stieß das Tor weit auf, damit James hindurchgehen konnte.
Mit einem schiefen Lächeln schritt James durch die Öffnung. »Ich würde lieber in meinem Bett liegen und schlafen, aber die Pflicht ruft. Also macht’s gut, Männer.«
James beschleunigte seine Schritte, denn er wusste, dass die Karawane sich kurz nach ihrer Ankunft auflösen würde. Er machte sich keine Sorgen um die Sicherheit der Magierin, denn die Stadtwache würde von Karawanenwächtern verstärkt werden, die ihren Dienst beendet hatten; was ihn viel mehr beunruhigte, war der mögliche Verstoß gegen das Protokoll, sollte er nicht rechtzeitig dort sein, um sie zu begrüßen. Auch wenn sie nur eine entfernte Verwandte des Gesandten von Groß-Kesh war, so war sie doch eine Adlige von entsprechender Stellung, und die Beziehungen zwischen dem Königreich der Inseln und Groß-Kesh hatten sich eigentlich noch nie mit dem Begriff ruhig und friedlich beschreiben lassen. Ein gutes Jahr war eines, in dem es nicht mehr als zwei oder drei Grenz-Scharmützel gegeben hatte.
James entschloss sich, für den Weg vom Palastviertel zum Nordtor eine Abkürzung zu nehmen, die durch ein Gebiet voller Lagerhäuser hinter dem Kaufmannsviertel führte. Er kannte die Stadt so gut wie seine Westentasche und musste nicht befürchten, sich womöglich zu verirren, doch als er um eine Ecke bog und sich zwei Gestalten aus den Schatten lösten, schalt er sich wegen seiner Dummheit. Die abseits der belebten Straßen gelegene Route wurde um diese nächtliche Zeit sicher nicht von vielen gesetzestreuen Bürgern benutzt. Diese beiden Männer sahen zumindest ganz und gar nicht wie gesetzestreue Bürger aus.
Der eine hatte einen großen Knüppel in der Hand, und in seinem Gürtel steckte ein langes Messer, während der andere die Hand leicht auf den Schwertgriff gelegt hatte. Der Erste trug ein rotes Lederwams, während sein Kumpan mit einer einfachen Tunika und einer Hose bekleidet war. Beide hatten robuste Schuhe an, und so erkannte James sofort, dass es sich bei den Männern um gemeine Straßenschläger handelte. Mit ziemlicher Sicherheit gehörten sie nicht zu den Spöttern, der Diebesgilde von Krondor, sondern arbeiteten auf eigene Rechnung.
James schob die Vorwürfe beiseite, die er sich im Stillen dafür machte, diese Abkürzung genommen zu haben; das war jetzt ohnehin nicht mehr zu ändern.
»Ach, was ist nur aus dieser Stadt geworden«, seufzte der erste Mann.
Der Zweite nickte und bewegte sich ein Stück nach vorn, um sich neben James zu schieben – für den Fall, dass der auf die Idee käme davonzurennen. »Ja, sie ist wirklich in einem traurigen Zustand. Da gibt es doch tatsächlich wohlhabende Herren, die noch nach Mitternacht durch die Straßen wandern. Was denken die sich bloß dabei?«
Rotwams deutete mit seinem Knüppel auf James und sagte: »Er glaubt vermutlich, dass seine Börse zu schwer für ihn ist, und hofft, hilfreiche Männer wie uns zu finden, die ihn von seiner Bürde befreien.«
James stieß langsam den Atem aus. Er versuchte, ruhig zu bleiben. »Um ehrlich zu sein, ich habe gerade über die Dummheit von Männern nachgedacht, die nicht in der Lage sind zu erkennen, wann ihnen Gefahr droht.« Er zog langsam sein Rapier und bewegte die Spitze auf einen Punkt zwischen den beiden Männern zu, sodass er einen Angriff – von wem auch immer – parieren konnte.
»Der Einzige, dem hier Gefahr droht, bist du, und zwar dann, wenn du vorhast, uns aufs Kreuz zu legen«, sagte der zweite Schläger. Er zog sein Schwert und schlug damit nach James.
»Ich habe für so was wirklich keine Zeit«, sagte James. Er parierte den Hieb ohne Mühe und setzte zu einer Riposte an. Der Schwertkämpfer schaffte es gerade noch, rechtzeitig zurückzuweichen; beinahe wäre er wie ein Festtagsbraten aufgespießt worden.
Rotwams zog sein Gürtelmesser und schwang seinen Knüppel, doch James duckte sich seitlich weg und trat mit dem rechten Bein zu, stieß den Mann gegen seinen Kumpan. »Noch habt ihr die Möglichkeit wegzulaufen, Freunde.«
Rotwams grunzte. Er hatte das Gleichgewicht wiedergewonnen und stürmte auf James zu, wobei er drohend den Knüppel schwang. Doch die eigentliche Gefahr ging von dem Messer in seiner anderen Hand aus. James erkannte, wie wütend der Mann war – jetzt war es kein einfacher Raubüberfall mehr, jetzt wollten diese Männer ihn töten. Er achtete nicht weiter auf den Knüppel, bewegte sich sogar bewusst in geduckter Haltung darauf zu und ritzte dem Mann das linke Handgelenk auf. Das Messer fiel klappernd zu Boden.
Während Rotwams vor Schmerz aufheulte und zurückwich, stürmte sein Kumpan heran, das Schwert schräg über der Schulter erhoben. James tänzelte zwei Schritte zurück, und als der Mann sein Schwert in einem weiten Bogen schwang – ein Hieb, der den Junker enthaupten sollte –, beugte James sich vor. Es war eine Bewegung, die er von Prinz Arutha gelernt hatte: Mit der linken Hand berührte er die Pflastersteine, um das Gleichgewicht zu halten, während er den rechten Arm gerade ausstreckte. Das Schwert des Angreifers zischte über James’ Kopf hinweg, und er selbst rannte in die Spitze von James’ Rapier. Die Augen des Mannes weiteten sich vor Entsetzen, und er kam abrupt zum Stillstand, schaute ungläubig an sich herunter und sank dann auf die Knie. James zog die Klinge zurück, und der Mann fiel vornüber.
Der andere Straßenräuber hätte James beinahe überrascht, denn er griff über die Schulter seines zusammenbrechenden Freundes hinweg an, und James schaffte es gerade noch, sich unter einem Hieb wegzuducken, der ihm glatt den Kopf zerschmettert hätte. Ein zweiter Hieb streifte seine linke Schulter, die immer noch von den Schlägen der Nachtgreifer schmerzte, und er keuchte angesichts des unerwarteten Schmerzes auf. Er war vom Knauf des Messers getroffen worden, daher war auch kein Blut zu sehen – noch nicht einmal seine Tunika war zerfetzt –, aber es tut verflucht weh!, dachte er.
ENDE DER LESEPROBE