Die Legenden von Midkemia 3 - Raymond Feist - E-Book

Die Legenden von Midkemia 3 E-Book

Raymond Feist

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Beschreibung

Früher war der Dieb Jimmy ein Niemand und lebte trotz seiner kriminellen Begabung im Elendsviertel der Stadt Krondor. Bis zu dem Tag, an dem er Prinz Arutha traf und ihm half, seine Prinzessin aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch Jimmy kann seinen ungewohnten Ruhm nicht genießen und macht Fehler – er muss aus Krondor flüchten um einer Strafe zu entgehen. Doch in der Provinz stößt er bald auf Gefahren, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können. Er sehnt sich bald in die vertraute Metropole zurück …

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Raymond Feist und Steve Stirling

Die Legenden von Midkemia 3

Der Dieb von Krondor

Roman

Aus dem Englischen

Das Buch

Früher war der Dieb Jimmy ein Niemand und lebte trotz seiner kriminellen Begabung im Elendsviertel der Stadt Krondor. Bis zu dem Tag, an dem er Prinz Arutha traf und ihm half, seine Prinzessin aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch Jimmy kann seinen ungewohnten Ruhm nicht genießen und macht Fehler – er muss aus Krondor flüchten um einer Strafe zu entgehen. Doch in der Provinz stößt er bald auf Gefahren, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können. Er sehnt sich bald in die vertraute Metropole zurück …

Der Autor

Früher war der Dieb Jimmy ein Niemand und lebte trotz seiner kriminellen Begabung im Elendsviertel der Stadt Krondor. Bis zu dem Tag, an dem er Prinz Arutha traf und ihm half, seine Prinzessin aus der Gefangenschaft zu befreien. Doch Jimmy kann seinen ungewohnten Ruhm nicht genießen und macht Fehler – er muss aus Krondor flüchten um einer Strafe zu entgehen. Doch in der Provinz stößt er bald auf Gefahren, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können. Er sehnt sich bald in die vertraute Metropole zurück …

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Jimmy the Hand. Legends of the Riftwar (vol 3)« bei Voyager/HarperCollins Publishers, London.

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe Juni 2016 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München Deutsche Erstveröffentlichung © 2004 bei Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2003 by Raymond Elias Feist Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft

Für meine Leser:

Ohne Ihre Begeisterung müsste ich vom Autohandel leben. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen.

Raymond E. Feist

Für Jan … und für Ray, Will und Joel:

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightWidmung1 - Flucht2 - Durchgreifen 3 - Nachspiel 4 - Pläne 5 - Rettung 6 - Reise 7 - Tragödie 8 - Familie 9 - Begegnung 10 - Der Baron 11 - Entdeckung 12 - Flucht 13 - Verstecken 14 - Entführung 15 - Entdeckung 16 - Entwicklungen 17 - Plan 18 - Magie Epilog - Krondor Nachwort Danksagungen

1

Flucht

Männer kämpften fluchend miteinander.

Jimmy die Hand glitt wie ein Aal zwischen den Männern auf dem dunklen Kai hindurch. Stahl glitzerte im Licht von Fackeln und Laternen und schimmerte in rötlichen Bögen, als Reiter die geschickt ausweichenden Spötter angriffen, die sich gewaltig anstrengten, ihre Gegner von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Sie brauchten nur noch Sekunden, damit Prinz Arutha und Prinzessin Anita fliehen konnten, und der Kampf hatte die wilde Gewalttätigkeit der Verzweiflung angenommen. Zorn- und Schmerzensschreie gellten durch die Nacht, begleitet von dem eisernen Hämmern beschlagener Hufe, die Funken aufblitzen ließen, wenn sie aufs Pflaster krachten, und dem Klirren von Stahl auf Stahl.

Gauner und Schläger von der Straße kämpften gegen ausgebildete Soldaten, aber die Pferde der Soldaten rutschten auf den glatten Planken und Steinen des Hafenviertels aus, und das flackernde Licht war sogar noch trügerischer als der Boden. Messer wurden nach oben gestoßen und Pferde scheuten, wenn Hände bestiefelte Füße packten und die Bewaffneten von Bas-Tyra aus dem Sattel zerrten. Der Eisen- und Salzgeruch von Blut setzte sich sogar gegen den Müllgestank des Hafens durch, und ein Pferd wieherte jämmerlich, als es mit durchschnittenen Sehnen zusammenbrach. Das Bein des Reiters hatte sich im Steigbügel verfangen und wurde unter dem Tier eingeklemmt, und der Mann schrie ebenfalls, während das Pferd um sich trat und dann plötzlich still wurde, als zerlumpte Gestalten sich um es drängten.

Jimmy wich einem zuschlagenden Schwert aus, entging geschickt den wirbelnden Hufen eines Streitrosses, das versuchte, besseren Halt zu finden, brachte einen Soldaten zum Stolpern, der vom Pferd gestiegen war und gegen drei Spötter kämpfte, und eilte dann leichtfüßig den Kai entlang.

Am Ende des Kais warf er sich auf die rauen Planken und spähte zu dem Ruderboot, das gerade abgelegt hatte. »Lebt wohl!«, rief er Prinzessin Anita zu.

Sie wandte sich seiner Stimme zu; ihr hübsches Gesicht war im Vormorgenlicht kaum mehr als ein heller Fleck. Aber er wusste, dass ihre meergrünen Augen groß vor Erstaunen sein würden.

Ich bin froh, dass ich mich verabschieden konnte, dachte er, und ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Das war eine gewisse Gefahr für Leib und Leben wert.

Er grinste ihr zu, aber es war ein nervöses Grinsen; der Kampf mit Jocko Radburns Männern war noch heftiger geworden, und sein Rücken war im Augenblick ungeschützt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Spötter davonmachten; Kämpfe, bei denen man endlos standhielt, waren nicht ihr Stil.

Eine andere, größere Gestalt erhob sich im Ruderboot. »Hier«, rief Prinz Arutha. »Benutz das, um gesund zu bleiben!«

Ein Rapier in einer Scheide flog auf Jimmy zu. Er riss es an sich und rollte herum, gerade noch rechtzeitig, um einem Tritt von einem von Radburns Schergen auszuweichen. Jimmy rollte sich weiter, und der Mann verfolgte ihn und riss den Fuß in dem schweren Stiefel abermals hoch, um ihn zu zerquetschen wie ein Insekt. Jimmy ließ das Rapier los, griff nach oben, packte Zehen und Ferse mit gekreuzten Händen und drehte ruckartig, was den Schurken brüllen und sich mitdrehen ließ, damit sein Fuß nicht gebrochen wurde. Er geriet aus dem Gleichgewicht, und ein Tritt Jimmys, der mit boshafter Präzision ins Ziel ging, ließ den Mann schreiend ins Wasser fallen. Seine Rüstung zog ihn unter Wasser, noch bevor die Echos seines Schreis verklungen waren.

»Zeit zu verschwinden!«, keuchte Jimmy.

Er kam auf die Beine, riss das Rapier aus der Scheide und sah sich nach einem würdigen Opfer um – am besten einem, das eine Fluchtroute blockierte. Hinter sich konnte er das rhythmische Klatschen der Ruder hören, das einen seltsamen Gegensatz zum Chaos des Kampfes bildete, das ihn umgab. Lebt wohl, dachte er wehmütig. Und dann, als ein Haufen Tuchballen in Flammen aufging: Ups!

Auf den Schiffen rings um sie her flackerten Laternen auf, und die Wachen aus den Lagerhäusern kamen angerannt. Von überall her riefen Männer: »Was ist los?« Und: »Wer da?« Und immer lauter wurde der Schrei: »Feuer! Feuer!«

Ein Mann im Schwarzgold von Bas-Tyra entriss einer der Wachen eine Laterne und marschierte zum Ende des Kais, und nun wusste Jimmy, wen er angreifen musste. Der Soldat grinste, als er den abgerissenen Jungen vor sich stehen sah.

»Hast du mir eine neue Waffe gebracht?«, fragte er. »Sieht ziemlich gut aus. Zu gut für Abschaum, der sich noch nicht mal zu rasieren braucht. Danke.«

Er führte einen Rückhandschlag gegen Jimmy, eine träge Bewegung mit mehr Kraft als Stil. Zweifellos hatte er sich vorgestellt, dem jungen Dieb das Rapier leicht entreißen und ihn dann mit dem Schwert in Stücke schneiden zu können.

Die gut gearbeitete Klinge erwachte in Jimmys Hand zum Leben; sie war schwer, aber vollendet im Gleichgewicht, und beweglich wie eine zustoßende Schlange. Sie zuckte beinahe von selbst nach oben und wehrte den ungeschickten Schlag des Soldaten mit einem lang gezogenen Srinnng von Metall auf Metall ab. Der Soldat grunzte verblüfft, als der Schwung seines eigenen Schlags ihn herumwirbelte; dann schrie er vor Schmerz auf, als Jimmy zur Seite tänzelte und zustach.

Es war eher Glück als Geschicklichkeit, dass der scharfe Stahl den Mann am Handgelenk erwischte, durch das Leder seines Handschuhs drang und einen flachen Schnitt in der Haut darunter verursachte. Mit einem Keuchen schüttelte der Mann das Gelenk, trat einen Schritt zurück, und selbst im Dunkeln war seine ungläubige Miene gut zu erkennen.

Jimmy lachte erfreut und überrascht. Offenbar konnten nicht alle so gut mit einer Waffe umgehen wie Arutha. Die Stunden, in denen er mit dem Prinzen geübt hatte, während sie darauf warteten, dass Trevor Hulls Schmuggler ein Schiff fanden, auf dem Arutha und dieser alte Pirat Amos Trask fliehen konnten, hatten sich bezahlt gemacht. Jimmy hatte das Gefühl, als bewege sich der Soldat nur halb so schnell wie der Prinz. Er lachte erneut.

Dieses Lachen trieb den Soldaten zum Handeln, und er schlug wieder und wieder mit aller Kraft nach dem jungen Dieb.

Wie ein Bauer beim Dreschen, dachte Jimmy. Er hatte wenig Erfahrung mit ländlichen Angelegenheiten, verachtete Landeier aber zutiefst.

Die Schläge waren kraftvoll und wurden schnell geführt, aber jeder war eine Kopie des vorherigen. Instinkt ließ Jimmy das Rapier heben, und die Schläge glitten an der Stahlklinge und dem kunstvollen Handschutz ab. Der junge Dieb musste sein rechtes Handgelenk mehr als einmal mit der linken Hand stützen, denn sonst hätte die schiere Wucht ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Aber er wusste, er würde jeden Augenblick Gelegenheit erhalten, nach links auszuweichen, und dann würde er fest zustechen und den Soldaten am Bauch erwischen.

Arutha hatte immer geraten, sich die Zeit zu nehmen, einen Gegner einzuschätzen. Einen Augenblick später stieß Jimmy mit dem Rücken gegen einen Ballen; als er sich umblickte, bemerkte er, dass er in einer kurzen Sackgasse mit aufgestapelter Fracht in der Falle saß. Der Mann vor ihm grinste und ließ das Schwert vorzucken. »Du sitzt in der Falle, wie es sich für eine kleine Ratte aus der Kloake gehört.«

Der Mann hob sein Schwert, und Jimmy bereitete sich darauf vor, seinen Angriff auszuführen, überzeugt, im nächsten Moment mit dem Soldaten fertig zu sein. Dann stolperten plötzlich zwei kämpfende Männer vorbei. Jeder hatte das Gelenk der Messerhand des anderen gepackt, und sie drehten sich stampfend und fluchend im Kreis wie bei einem schnellen, tödlichen Bauerntanz. Sie stolperten gegen den Soldaten aus Bas-Tyra, und dieser taumelte mit einem überraschten Aufschrei vorwärts. Jimmy zögerte nicht. Er verspürte ein gewisses Bedauern, dass er den kunstvollen Stoß, den er geplant hatte, nicht ausführen konnte, aber er durfte sich eine so gute Gelegenheit nicht entgehen lassen. Also stach er zu und spürte, wie die Nadelspitze des Rapiers durch Muskeln drang und an Knochen entlangknirschte, und wie dieses seltsame Gefühl durch den Stahl und den Griff hindurchfloss und in seinen Schultern und der Lendengegend ein Kribbeln verursachte.

Der Mann ließ seine Laterne mit einem Schrei fallen, der zu einem lauten Fluch wurde, als das Glas zerbrach. Das verspritzte Öl ging sofort in Flammen auf und trieb den verwundeten Soldaten zurück. Er ließ die Waffe fallen und fing hektisch an, Flammen auf seiner Kleidung auszuschlagen, während Jimmy wie ein Affe über die Ballen kletterte.

»Ratten sollte man eben lieber nicht in die Enge treiben!«, rief er über die Schulter, bevor er an der Rückseite des Ballenstapels herunterkletterte und weiterrannte.

Er hörte, wie jemand das Signal zum Rückzug pfiff, und sah die Spötter in Gassen und Seitenstraßen verschwinden wie Nebelschwaden vor dem Wind. Jimmy beeilte sich, das Gleiche zu tun, aber bevor er sich in eine Gasse duckte, drehte er sich noch einmal rum und blickte auf die Bucht hinaus. Trevor Hull und seine Schmuggler sprangen ins Wasser; einige schwammen unter die Docks, während andere sich auf Ruderboote zubewegten, die bereits warteten. Hinter ihnen sah Jimmy den Umriss der Seetaube, die auf die durchbrochene Blockadelinie zufuhr. Die Segel flatterten und reflektierten das Licht wie Geisterwolken im Dunkeln; er hob den Arm und winkte. Er wusste, dass es sinnlos war, denn man hatte die Prinzessin sicher sofort unter Deck gebracht. Aber er hatte sich dieses Winken ebenso wenig verkneifen können wie zuvor die Abschiedsworte.

Der junge Dieb drehte sich um und rannte die Gasse entlang, so leichtfüßig wie eine Katze und sich beinahe ebenso deutlich seiner Umgebung bewusst. Er war vielleicht kein großer Schwertkämpfer – noch nicht –, aber durch die dunklen Gassen von Krondor zu fliehen, war eine Fähigkeit, die er schon lange vor dem reifen Alter von dreizehn gemeistert hatte.

Als er durch die Seitenstraßen der Stadt eilte, musste er wieder an die letzten paar Wochen denken, in denen er so viel Zeit mit der Prinzessin und dem Prinzen verbracht hatte. Prinzessin Anita war so, wie Mädchen sein sollten, aber nach Jimmys Erfahrung niemals wirklich waren. Für einen Jungen, der unter Huren, Schankmädchen und Taschendieben aufgewachsen war, stellte sie … etwas vollkommen Seltenes dar, etwas Zartes, Reines – eine Frau, wie sie sonst nur in den Geschichten von Spielleuten vorkamen. In ihrer Nähe wollte er stets besser sein, als er war.

Dann ist es gut, dass sie weg ist, dachte er. Ein Junge in seiner Position konnte sich solch noble Gedanken nicht leisten.

Außerdem, dachte er mit einem schiefen Grinsen, würde sie eines Tages Prinz Arutha heiraten – obwohl der das noch nicht wusste. Also stand es Jimmy nicht zu, diese Gefühle für sie zu hegen. Nicht, dass so etwas ihn je abgehalten hätte.

Ich nehme an, wenn sie schon heiraten muss – und Prinzessinnen müssen das wohl –, ist er der Beste, den ich ihr wünschen kann.

Jimmy mochte Arutha, aber es war noch mehr als das. Er achtete ihn und … ja, er vertraute ihm. Der Prinz hatte ihm deutlich gemacht, wieso Menschen einem Anführer folgen, wieso sie auf sein Wort hin in einen Krieg ziehen – etwas, was Jimmy sich nie hatte vorstellen können. Jimmy hatte eigentlich nur Erfahrung mit Männern, die durch Angst herrschten oder weil sie denen, die ihnen folgten, einen Vorteil bieten konnten. Auf den Aufrechten Mann, für den Jimmy arbeitete, traf beides zu.

Er fuhr mit der Hand über die Scheide von Aruthas Rapier, das jetzt ihm gehörte, und lächelte. Dann wurde er plötzlich ernst. Diese Menschen zu treffen, hatte etwas Besonderes in sein Leben gebracht, und nun war es vorüber. Aber wie viele Menschen im Königreich kamen Prinzen und Prinzessinnen schon so nahe? Und wie viele von denen waren Diebe?

Jimmy grinste. Er hatte sich, was den Kontakt mit dem Hochadel anging, gut geschlagen: zweihundert Goldstücke, ein schönes Rapier einschließlich Unterricht in der Benutzung der Waffe und ein Mädchen, von dem er träumen konnte. Er vermisste Prinzessin Anita jetzt vielleicht, aber zumindest hatte er sie kennen gelernt.

Mit munterem Schritt machte er sich auf nach Spötters Ruh, bereit für eine leichte Mahlzeit und einen langen Schlaf.

Ich sollte am besten schlafen, bis Radburn sich etwas abgekühlt hat, dachte er. Obwohl das vielleicht bedeutete, dass er bis ins hohe Alter schlafen musste.

Jimmy näherte sich der großen Halle, die als Spötters Ruh bekannt war und sich tief in der Kanalisation befand. Für einen braven Bürger der Oberstadt hätte es hier recht finster ausgesehen; ständig tröpfelte Wasser, und hier und da glitzerte Salpeter auf uraltem Stein. Aber ein solcher Mann hätte hier auch kaum mehr bemerkt als eine weitere Kreuzung von Tunneln in den Kloaken der Stadt, ein wenig größer als die meisten, aber ansonsten uninteressant. Für den Durchschnittsbürger aus der Oberstadt wären die Augen, die Jimmy beobachteten, als er sich dem Eingang näherte, unsichtbar gewesen, ebenso wie die Dolche in kundigen Händen, bis zu diesem letzten fatalen Augenblick, wenn sie zugestoßen hätten, damit das Geheimnis von Spötters Ruh gewahrt blieb.

Für Jimmy hingegen war das hier sein Heim, eine sichere Zuflucht, ein Ort, an dem er sich ausruhen konnte. Er drückte auf einen Stein, und nach einem lauten Klicken zeigte sich eine kleine Öffnung, als eine Tür aufschwang, die aus Segeltuch und Holz bestand, aber so bemalt war, dass sie wie Stein aussah. Jimmy war noch klein genug, um gebückt hineingehen zu können, und er durchquerte schnell den kurzen Gang zu dem verborgenen Keller. Ein Schläger stand am Ende des Gangs Wache und nickte, als Jimmy näher kam. Dem jungen Dieb blieb auf diese Weise eine tödliche Begrüßung erspart. Jeder unbekannte Kopf, der aus diesem Gang gestreckt wurde, hatte etwa eine Sekunde, um die Parole »Heute Abend wird bei Mutter gefeiert« auszusprechen und damit zu verhindern, dass sein Hirn über den Steinboden verteilt wurde.

Der riesige Raum hinter der Öffnung bestand aus drei miteinander verbundenen Kellern, von denen aus Treppen hinauf zu den drei zugehörigen Gebäuden führten, die alle dem Aufrechten Mann gehörten: Ein Hurenhaus, ein Gasthaus und ein Kramladen boten eine Unzahl von Fluchtwegen, und Jimmy konnte sie alle mit verbundenen Augen finden, ebenso wie jeder andere Spötter. Das Licht hier war Tag und Nacht trübe, so dass sich die Augen eines Spötters, der schnell in die Kanalisation floh, nicht erst umgewöhnen mussten.

Jimmy grüßte ein paar Bettler und Straßenjungen, die wach waren; die meisten schliefen fest, denn es waren immer noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. An einem normalen Tag würden sie alle schon Minuten nach Sonnenaufgang wieder auf dem Marktplatz sein. Aber dieser Tag würde alles andere als normal werden. Nachdem der Prinz und die Prinzessin sicher entkommen waren, mussten die Spötter mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Im Lauf der Jahre waren sie mit den Wachtmeistern der Stadt und den Soldaten der königlichen Hausgarde ganz gut zurechtgekommen, aber die Geheimpolizei, die Guy du Bas-Tyra ins Leben gerufen hatte, seit er Vizekönig war, war eine andere Sache. Mehr als nur ein Spötter war zum Verräter geworden, und das hatte sich auf die allgemeine Stimmung ausgewirkt. Es herrschte zwar eine Atmosphäre stillen Triumphs, weil es ihnen gelungen war, Prinzessin Anita bei der Flucht zu helfen, aber Nutzen würden sie daraus erst später ziehen können. Jimmy wusste, dass der Aufrechte Mann in solchen Kategorien dachte. Eines Tages würde Prinzessin Anita nach Krondor zurückkehren – zumindest hoffte Jimmy das –, und alle, die auf ihrer Seite und der ihres Vaters Prinz Erland standen, waren dann dem Aufrechten Mann etwas schuldig, der selbstverständlich versuchen würde, diese Schulden in der nützlichsten Weise einzutreiben.

Aber das war selbst für den Aufrechten Mann Zukunftsmusik; und für die schlichten Einbrecher, Taschendiebe und Huren würde es an diesem Tag keine Belohnung geben. Stattdessen würde es oben in der Stadt von zornigen Spionen und Informanten nur so wimmeln, weil sie unbedingt wissen wollten, wer Jocko Radburn, den Chef der Geheimpolizei, so hinters Licht geführt hatte. Jimmy wusste, dass Radburn diese öffentliche Blamage nicht einfach auf sich sitzen lassen würde.

Die Flucht der Prinzessin war zunächst eine geheime Angelegenheit gewesen, und nur ein paar Spötter und einige von Trevor Hulls Schmugglern hatten gewusst, wer dort aus der Stadt geschafft werden sollte. Aber sobald der Kampf begonnen hatte, hatten viele Spötter das Gesicht der Prinzessin und ihr charakteristisches rotes Haar gesehen, und bei Sonnenaufgang würden die Gerüchte von ihrer Flucht die Runde auf den Märkten und in Gasthäusern und Läden machen.

Die meisten würden so tun, als wüssten sie nichts, aber alle würden den Grund für die folgenden Razzien von Bas-Tyras Soldaten und der Geheimpolizei kennen.

Jimmy ging zu dem Kasten bei den Waffenschränken und nahm einen Wetzstein, eine kleine Phiole mit Öl und ein paar Lappen heraus. Solche Gedanken bewirkten, dass ihm schwindlig wurde. Er war vielleicht nicht einmal vierzehn, vielleicht schon sechzehn Jahre alt – niemand wusste das genau –, und solche Ideen faszinierten ihn, aber er wusste auch, dass er sie nicht vollkommen verstand. Politik und Intrigen waren attraktiv, aber auf eine sehr seltsame Weise.

Er zog sich in eine abgelegene Ecke zurück, um sein Rapier zu säubern. Sein Rapier. Und es war sogar ein Geschenk! Davon hatte es in seinem Leben wenig gegeben, was die herrliche Waffe nur noch kostbarer machte. Der beste Handwerker würde ein halbes Jahr brauchen, um einen Gegenstand von solch tödlicher Schönheit herzustellen; das Rapier war ganz anders als die schwerfälligen Waffen der gewöhnlichen Soldaten – es unterschied sich von ihnen wie ein Streitross von einem Maultier.

Er zog die Klinge aus der Scheide und entdeckte verärgert, dass er sie blutig eingesteckt hatte. Angewidert verzog er den Mund. Nun, er hatte noch nie eine solche Waffe besessen; man konnte nicht erwarten, dass er sich sofort an jede Einzelheit erinnerte. Als er genauer hinschaute, erkannte er, dass die Scheide mit Bolzen aus Elfenbein und Messing zusammengehalten wurde und man sie zum Säubern auseinander nehmen konnte.

Jetzt freute er sich sogar noch mehr über das Geschenk, falls das überhaupt möglich war. Er war wirklich begeistert.

»Beute wie die da muss zum Verkauf abgegeben werden, damit wir teilen können«, sagte Lachjack. Er griff nach dem Rapier, und Jimmy entzog ihm die Waffe und sich selbst mit einer aalartigen Bewegung.

»Das ist keine Beute«, erwiderte er. »Es ist ein Geschenk. Von Prinz Arutha persönlich.«

»Oh, erhalten wir also dieser Tage Geschenke von Prinzen?« Man hatte Jack niemals auch nur lächeln sehen; es war Jimmy der ihm seinen Spitznamen verpasst hatte.

Aber wenn es darum geht, höhnisch die Miene zu verziehen, ist er besser als jeder andere, dachte Jimmy.

Der Aufseher griff abermals nach der Klinge, und abermals glitt der junge Dieb davon. Als Aufseher und damit Stellvertreter des Nachtmeisters verfügte Lachjack über große Autorität; in den meisten Fällen schlug sich der Nachtmeister auf seine Seite, wenn es zu einem Streit kam. Aber Jimmy wusste, dass er diesmal im Recht war, und war überzeugt, dass der Nachtmeister ihm zustimmen würde.

Also widersetzte er sich Jack. Mehrere Spötter hatten Jimmy vorhergesagt, dass Jack ihn eines Tages wegen des Spitznamens umbringen würde. Nun sah es beinahe so aus, als wollte Jack diese Prophezeiung wahr machen.

Jimmy war zwei Köpfe kleiner als der Aufseher. Er war ein zierlicher Junge und verfügte über eine Schnelligkeit, mit der nur wenige Spötter mithalten konnten und die noch keiner von ihnen übertroffen hatte. Sein eigener Spitzname war wohlverdient, denn kein Spötter war in der Lage, auf einem überfüllten Marktplatz eine Börse unauffälliger zu stehlen als er. Jimmy war ein hübscher Junge mit kurz geschnittenem, lockigem braunem Haar, und seine Schultern versprachen, einmal breit zu werden. Sein Lächeln war ansteckend, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, aber jetzt stand eine Spur von Drohung in seinen Augen, als er die Hand an den Rapiergriff legte, bereit, die Auseinandersetzung mit Jack notfalls auch gewaltsam zu führen. So jung er sein mochte, er hatte in seinem Leben schon mehr Gefahr und Tod gesehen als die meisten Männer, die doppelt so alt waren wie er. Leise sagte er: »Es gehört mir, Jack.«

»Stimmt. Hab’s gesehen«, sagte Berserker Blake mit einer Stimme, als hätte ein Fels angefangen zu sprechen. Danach schwieg der riesige Schläger wieder und ging weiter auf seinem Weg in einen abgelegenen Teil der Halle, als hätte er nie ein Wort gesagt.

Lachjack warf dem Rücken das Schlägers einen unsicheren Blick zu. Sie nannten Blake nicht umsonst Berserker; er war so unberechenbar wie ein wildes Tier und neigte zu schrecklichen Wutanfällen. Falls Jack beschloss, Jimmys Recht auf das Rapier weiterhin in Frage zu stellen, nachdem der Schläger sich für ihn eingesetzt hatte, war es gut möglich, dass sich der Aufseher bald in einer Welt des Schmerzes wiederfinden würde, Stellvertreter des Nachtmeisters hin oder her. Jack bedachte Jimmy abermals mit einem höhnischen Blick. »Dann behalte das Ding, aber es wird weggeschlossen.« Er wies mit dem Kopf auf die Waffenschränke.

»Sobald es sauber ist«, stimmte Jimmy zu. Das erlaubten die Regeln, wie sie beide wussten.

Der Aufseher drehte sich um und stolzierte davon. Jimmy wandte sich Blake zu, der jetzt allein an einem Tisch saß, einen Bierkrug in der großen Pranke, und ins Leere starrte. Der junge Dieb machte sich nicht die Mühe, zu ihm zu gehen und sich zu bedanken – so etwas machte man nicht bei Blake –, aber er nahm sich vor, nicht zu vergessen, dass er dem Mann einen Gefallen schuldete, was ohnehin ehrenhafter und nützlicher war als irgendwelche Dankesworte.

»Das ist aber hübsch!«

Jimmy blickte auf und lächelte Heißfinger-Flora an, die ihren Namen dafür erhalten hatte, dass sie früher Pasteten gestohlen hatte, die ihre Besitzer fälschlicherweise für zu heiß zum Anfassen hielten. Leider hatte diese Unempfindlichkeit Flora trotz Jimmys bester Bemühungen zu einer miserablen Taschendiebin gemacht. Aber sie war sechzehn und hübsch anzusehen und hatte sich inzwischen einem anderen Erwerbszweig zugewandt.

Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um seinen Hals, schob die Beine auf seinen Schoß und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Hallo, Jimmy«, schnurrte sie, klimperte mit den Wimpern und rieb mit ihrer kleinen Hand seine Brust.

Er lachte. »Als ob ich dort etwas Wertvolles aufbewahren würde!«

Flora schmollte, dann lächelte sie wieder. Sie zog ihre Beine von seinem Schoß und zeigte auf das Rapier. »Was hast du denn damit vor?«

Jimmy wischte die Waffe mit dem Öltuch ab und hielt sie hoch, damit die Klinge im Fackellicht glitzerte. »Ich werde es behalten«, sagte er entschlossen.

Sie sah ihn neugierig an und blickte sich dann in der großen Halle um. »Es hat da draußen einen ziemlichen Kampf gegeben«, sagte sie. »Und es gibt schon erste Gerüchte, dass die Prinzessin und ein paar andere Adlige nach Westen geflohen sind.« Sie verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Radburn und seine Mistkerle werden durchdrehen, wenn das stimmt. Wenn der Herzog zurückkommt …« Sie beendete den Satz nicht, aber ihre Miene zeigte, dass sie sich schon darauf freute, dass der Herzog den Chef seiner Geheimpolizei bestrafen würde. »Es wird ruhig auf dem Markt sein, wenn so viele Spötter zu Hause bleiben und ihre Wunden lecken.« Flora warf Jimmy einen verruchten Blick zu. »Hast du irgendwelche Wunden, die geleckt werden müssen, mein Schatz?«

Er lachte und versetzte ihr einen freundlichen Schubs. Tatsächlich empfand er ein leichtes Kribbeln, wie häufig bei diesen Schäkereien, und Schäkereien mit Flora endeten oft im Bett. Flora war nicht Jimmys Erste gewesen, aber beinahe. Er hatte sein ganzes Leben unter Huren verbracht – seine Mutter war eine gewesen –, aber Flora hatte einen besseren Hintergrund als die meisten; ihr Vater war Bäcker gewesen, und so war sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr als anständiges Mädchen aufgewachsen. Sie konnte wenn nötig wie eine Dame sprechen, was ihr manchmal zu besserer Kundschaft verhalf. Und mit ihren großen, ausdrucksvollen blauen Augen und dem hellbraunen lockigen Haar war sie hübscher als die meisten. Sie hatte ein zartes Kinn und eine niedliche Stupsnase, und ihr Lächeln war reizend. Es war eine Schande, dass sie mit den Fingern so ungeschickt war, hatte Jimmy schon mehr als einmal gedacht; sie war nicht dazu gemacht, ihren Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen.

Flora hatte gesagt, dass sie sich bei ihm sicher fühlte, und er nahm vollkommen realistisch an, dass dies vor allem der Fall war, weil sie beinahe einen Fuß größer war als er. Was ihn selbst anging, nun, er mochte Flora, und er genoss die Zeit, die sie zusammen verbrachten. Er lächelte über ihren eindeutigen Annäherungsversuch und rutschte ein wenig näher. Aber dann riss sie erschrocken die Augen auf und hob die Hand an den Mund. »Oh«, sagte sie, »ich hab ganz vergessen, dass ich in einer Stunde jemanden treffen muss.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber bis dahin gehöre ich ganz dir.«

Jimmy dachte darüber nach; erst würden sie einen Platz finden müssen, wo sie ungestört waren, und bei der wenigen Zeit bedeutete das einen unbequemen und übel riechenden Platz, und Flora würde bald wieder gehen müssen, um ihre Verabredung einzuhalten. Also blieb ihnen erheblich weniger als eine Stunde, vielleicht nur ein paar Minuten. Dennoch, es wäre nicht das erste Mal, dass er sich mit einem der Mädchen für ein paar ausgelassene Minuten in eine dunkle Ecke davongestohlen hatte, während andere in der Nähe schliefen. Er war an einem Ort aufgewachsen, wo Paare ihr Vergnügen fanden, wann und wo sie konnten – aber obwohl er Flora wirklich gern hatte, verspürte er an diesem Morgen irgendwie nicht die übliche Erregung, sondern nur ein leichtes Kribbeln. Er war wirklich müde. Außerdem entfernte sich die Prinzessin jeden Augenblick weiter, und das machte ihn traurig. Plötzlich waren ein paar Minuten in Floras Armen das Letzte, was er wollte. Es gefiel ihm nicht, so traurig zu sein …

Nicht, dass ich sicher wüsste, wie ich mich fühle. Es wäre ungerecht gewesen, diese seltsame Stimmung an seiner Freundin auszulassen. »Ich habe im Augenblick leider auch keine Zeit«, sagte er mit einem Grinsen und setzte die Scheide wieder zusammen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas sagen würde.« Aber nun, da er es getan hatte, kam er sich regelrecht edel vor.

Flora kicherte. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Es wird noch andere Gelegenheiten geben.«

Er zog sie mit einem Arm an sich und küsste sie auf die Wange. »O Flora, meine Blüte, du bist zu gut für mich! Außerdem würde ich dich wahrscheinlich enttäuschen. Im Augenblick habe ich nur noch die Kraft, mir einen Schlafplatz zu suchen. Ich habe das Gefühl, als wäre ich seit meiner Geburt ununterbrochen unterwegs gewesen.«

»Du warst vielleicht unterwegs, aber ich hab dich schon lange nicht mehr gesehen. Wo warst du?«

»Ich habe mich auch gefragt, wo du steckst.« Jimmy fiel das Lügen leicht. »Ich dachte, du würdest jetzt vielleicht in einem Freudenhaus arbeiten.«

Da er Floras Einladung ohnehin nicht annehmen würde, wäre es auch kein Verlust, wenn sie im Zorn davonginge.

»Nein«, erwiderte sie und wandte hochnäsig den Blick ab. »Ich komme sehr gut allein zurecht.«

Er sah sie an: Ja, ihr neues Kleid war hübsch, aber aus billigem Tuch, grob gewebt und auf eine Art gefärbt, die schon bald ausbleichen würde. Niemand hatte guten Alaun verschwendet, um die Farben zu fixieren. Sie trug zierliche Schühchen, und ein mit Pailletten besetztes Tuch schmückte ihr braunes Haar – mehr neue Sachen, als sie in ihrem ganzen Leben besessen hatte. Aber sie sah ebenfalls müde und nicht allzu sauber aus.

Der Lack würde schon in sechs Monaten ab sein, und in einem Jahr würde sie aussehen wie dreißig. Das Leben in den Freudenhäusern der Stadt war sicher kein Urlaub, aber erheblich besser, als auf der Straße zu arbeiten. Zumindest hatten die Mädchen dort eine gewisse Hoffnung auf eine Zukunft.

Jimmy konnte nicht vergessen, was seiner Mutter zugestoßen war. Ein Betrunkener hatte sie umgebracht, nur weil sie allein und niemand da gewesen war, um ihn aufzuhalten. Jimmy verstand besser als die meisten, dass Unabhängigkeit Frauen mitunter teuer zu stehen kam.

»Nein, tust du nicht«, sagte er leise. »Du setzt jedes Mal dein Leben aufs Spiel, wenn du mit jemandem gehst. Flora, wenn du das wirklich willst, bin ich der Letzte, der dich aufhalten würde, aber lass dir von einem Freund einen guten Rat geben. Du bist hübsch genug, dass jedes Haus in der Stadt dich aufnehmen würde, und die besseren Häuser kümmern sich um dich. Du kannst dich gut ausdrücken, beinahe wie eine Dame, und du könntest sogar im Weißen Flügel arbeiten.«

Flora schnaubte verächtlich, aber er hatte gesehen, dass sie zuhörte.

»Die Freudenhäuser beobachten die Kunden für dich, also wirst du nichts mit Betrunkenen oder mit Mistkerlen zu tun bekommen, die nicht bezahlen oder dich zum Spaß verprügeln. Viel besser als auf der Straße.« Er sah sie ernst an. »Noch besser wäre es selbstverständlich, etwas anderes zu tun.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Was zum Beispiel? Du weißt, dass ich eine lausige Diebin bin. Und als Bettlerin gehe ich wirklich nicht durch.«

Wieder schubste er sie und lächelte. »Komm schon, du bist ein kluges Mädchen. Ich kann dir ein paar gefälschte Zeugnisse verschaffen. Wie, glaubst du wohl, hat Carstens Schwester Arbeit im Palast bekommen?«

Flora schaute nachdenklich drein, dann warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Gefällt es ihr da?«

»Scheint so«, log Jimmy, denn er hatte keine Ahnung. »Und warum auch nicht? Sie hat ein warmes eigenes Bett, das sie nur mit jemandem teilt, wenn sie das selbst will, bekommt jedes Jahr ein neues Kleid, erhält gutes Essen und wird außerdem bezahlt. Sicher, sie arbeitet schwer, und die Bezahlung ist nicht besonders gut, aber alles in allem glaubt sie, dass es eine gute Idee war.«

Es lag ihm auf der Zunge, ihr zu sagen: Und sie hat geholfen, Prinzessin Anita zu retten, aber er riss sich zusammen. Das Nächste wäre dann unweigerlich: Und ich ebenfalls, und er wollte nicht, dass das die Runde machte. Aus ganz persönlichen Gründen auf Jocko Radburns Liste zu stehen, war wirklich das Letzte, was er jetzt brauchte.

Flora wollte gerade etwas sagen, als Lachjack auf eine Bank und von dort auf einen Tisch stieg.

»Hört alle zu!«, rief er laut. Als die Menge still geworden war und alle sich ihm zugewandt hatten, fuhr der Aufseher fort. »Ich habe für euch eine Botschaft vom Aufrechten Mann persönlich! Alle Spötter sollen sich in den nächsten Tagen versteckt halten.« Er hob die Hand, um die Leute zum Schweigen zu veranlassen, denn diese Ankündigung hatte einen Sturm von. Protesten heraufbeschworen. »Das heißt, ihr lasst euch nicht von den Wachen sehen und bleibt entweder hier oder auf einer anderen Platte. Vor allem ihr Bettler und jüngeren Diebe. Radburn scheint es besonders auf euch abgesehen zu haben. Ihr werdet nicht arbeiten.« Er sah sich aufmerksam im Raum um. »Nicht ohne ausdrücklichen Befehl des Tag- oder Nachtmeisters. Wir lassen später etwas zu essen herbringen, damit ihr nicht verhungert, bis Gras über diese Geschichte gewachsen ist. Wenn ihr noch Fragen habt« – wieder blickte er sich aufmerksam um – »behaltet sie für euch.« Dann stieg er vom Tisch, und ein Chor von Spekulationen erhob sich.

»Was ist mit den Huren?«, fragte Flora stirnrunzelnd.

»Um Banaths willen, Flora«, rief Jimmy den Gott der Diebe an, »ein sicherer Schlafplatz und Essen umsonst! Endlich bekommen wir mal was für all diese Anteile, die wir gezahlt haben. Warum arbeiten, wenn wir hier faul rumhängen können wie –« Er hatte »Adlige« sagen wollen, aber dann veränderte er es zu: »Bas-Tyras Schergen. Außerdem erhältst du dadurch ein wenig Gelegenheit, in Ruhe über deine Zukunft nachzudenken.«

Sie nickte mit einem schüchternen Lächeln, erfreut über Jimmys Fürsorglichkeit. »Oh, was …«

Der Aufseher war erneut auf den Tisch gestiegen und verkündete nun barsch: »Wenn ihr eine andere Schlafstelle habt, verschwindet jetzt. Alle, die keine haben, bleiben hier.« Er stieg wieder hinunter, und diesmal verließ er die Halle.

»Also gut«, sagte Jimmy und stand auf. »Ich geh ins Bett.«

Er warf einen Blick auf das Rapier in seiner Hand und beschloss, es tatsächlich im Waffenschrank zu lassen. Wenn ein Junge seines Alters und seiner Stellung am helllichten Tag eine erstklassige Waffe trug, würde das nur unwillkommene Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Der Kaufpreis eines solchen Rapiers lag bei zehn Jahresgehältern für einen Schneider oder Töpfer, von einem einfachen Arbeiter oder Straßenkind gar nicht zu reden. Er konnte der Wache wohl kaum erzählen, das Rapier sei nicht gestohlen, sondern ein Geschenk eines Prinzen, der die Stadt besucht hatte …

»Was ist mit dir, Heißfinger?«, fragte er. »Brauchst du eine Eskorte?«

»Also wirklich!«, sagte sie lachend. »Eine Eskorte!« Sie versetzte ihm einen Klaps aufs Hinterteil. »Nein, ich bleibe hier und genieße die Großzügigkeit des Aufrechten Mannes.«

Jimmy sah sich nervös um; das war eine recht dreiste Bemerkung gewesen, aber zum Glück hatte es niemand gehört.

»Dann gute Nacht«, sagte er und hob die Hand mit dem Rapier zum Gruß.

Flora kicherte bei diesem Anblick. »Eskorte«, hörte er sie murmeln, als er davonging.

2

Durchgreifen

Jimmy sah sich vorsichtig um. Trotz der frühen Stunde füllten sich die Straßen rasch. Die Straßenkehrer mit ihren Besen und Schippen waren gerade auf dem Heimweg; einen Augenblick lang dachte Jimmy darüber nach, dass die Krone für solche Arbeit zahlen sollte. Eine kleine Steuer für jeden Geschäftsinhaber, und die Straßen wären alle sauber und ordentlich, nicht nur die besseren Boulevards in den Vierteln der wohlhabenden Kaufleute, für deren Säuberung die Anwohner aus eigener Tasche zahlten. Wenn ich Herzog von Krondor wäre, dachte er, dann würde ich es so machen.

Auf die Straßenkehrer folgten rasch Köche und ihre Helfer, die mit frischem Gemüse, Obst und Geflügel von den Bauernmärkten zurückkehrten. Metzgerlehrlinge eilten mit Rindervierteln oder Schweinehälften vorbei. Jene Ladeninhaber, die nicht direkt über ihren Geschäften wohnten, machten sich auf, um die Läden aufzuschließen; andere waren auf der Suche nach einem Bissen zum Frühstück.

Holzrauch kringelte sich aus Schornsteinen, und Jimmy konnte Haferbrei und manchmal auch Fisch oder Würstchen riechen – Gerüche, die zu dem Gestank uralten Kohls hinzukamen, der stets über den ärmeren Vierteln der Stadt hing. Holzschuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, bloße Füße klatschten auf den Boden, Hufe hämmerten.

Das Schwarz und Gold von Bas-Tyra war an diesem Morgen nicht so oft zu sehen wie in der letzten Zeit, und Jimmy musste bei dem Gedanken grinsen, dass sie sich wohl immer noch um ihre blauen Flecken kümmerten. Aber die wenigen städtischen Wachtmeister schienen nervös, als stünde Ärger bevor und als wüssten sie nicht, auf welcher Seite sie stehen sollten. Er kam an einem Tor vorbei, wo vier Soldaten, die noch den Waffenrock des Prinzen trugen, sich zusammendrängten und mit gesenkten Köpfen miteinander sprachen, statt zu beobachten, wer das Tor passierte. Irgendetwas lag in der Luft, und jeder sprach darüber. Jimmy wusste, dass alle, mit denen sie es am Vorabend im Hafen zu tun gehabt hatten, entweder reguläre Soldaten aus Bas-Tyra oder Geheimpolizisten gewesen waren.

Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, zu der behelfsmäßigen Kaserne zu gehen, in der Bas-Tyras Leute untergebracht waren, und sich den Schaden anzuschauen, aber diese Idee gab er in einer seltenen Anwandlung von Vernunft schnell wieder auf. Wenn man bedachte, wie empfindlich die Gardisten gerade heute sein würden, würden ein paar arme Jungs sicher einige Tage im Stadtkerker landen. Nur, dass es in seinem Fall länger als ein paar Tage dauern und schmerzlicher ausfallen würde.

Plötzlich tauchte ein Feldwebel der Garde aus Bas-Tyra auf, und die vier Männer des Prinzen nahmen Habachtstellung an und begaben sich auf ihre Posten zu beiden Seiten des Tors. Jimmy beobachtete das alles aus dem Schutz eines tiefen Hauseingangs gegenüber dem Tor. Der Feldwebel war in finsterer Stimmung, und nachdem er wieder verschwunden war, starrten die vier Soldaten jedem Passanten forschend ins Gesicht, weil sie offensichtlich nach jemandem suchten. Gerade, als Jimmy sich davonschleichen wollte, sah er, dass sie einen abgerissenen Burschen aufhielten und begannen, ihm Fragen zu stellen. Jimmy kannte den Mann: Er war kein echter Spötter, sondern einer der Armen, die sich hin und wieder am Rande von Spötterkreisen bewegten. Er war ein Arbeiter namens Wilkins, und Jimmy hatte zweimal im letzten Jahr gesehen, wie er geholfen hatte, Schmuggelladungen für Trevor Hull zu entladen. Ein Soldat packte ihn grob und brachte ihn weg.

Jimmy sank in den Eingang zurück. Wenn sie sogar Leute wie Wilkins verhafteten, würden sie ihn zweifellos schnappen, sobald er sich sehen ließ. Andererseits, wenn er tatsächlich in den Kerker gebracht wurde, könnte er vielleicht etwas für Prinzessin Anitas Vater tun. Wenn ich Prinz Erland retten könnte, würde Anita mir das nie vergessen.

Und es könnte profitabel sein. Er hatte zweihundert Goldstücke erhalten, weil er Prinz Arutha geholfen hatte, und dafür hatte er ihn nur in Sicherheit bringen müssen. Wie viel mehr könnte er verdienen, wenn er sich wirklich anstrengte?

Der junge Dieb starrte einen Augenblick ins Leere, und seine Finger bewegten sich wie von selbst und nahmen ein Brötchen vom Tablett einer Straßenhändlerin, als diese näher zu dem Hauseingang kam, um einem Pferdewagen auszuweichen. Seine Hand bewegte sich in einem schnellen, aber nicht zu eiligen Bogen und steckte das Gebäck unter seine Jacke, bevor er sich wieder zurückzog. Die kräftige Frau ging weiter, nicht ahnend, dass sie bestohlen worden war, und pries weiter ihre Waren an. Jimmy biss in das warme Brötchen, dachte über seine Möglichkeiten nach und genoss den Geschmack nach Zimt und Honig.

Er würde mit Spöttern sprechen müssen, die im Kerker gewesen waren – also mit den Bettlern. Diebe kamen nie lebendig aus dem Kerker, und die Schläger, die man vielleicht gehen ließ, wenn man sie für unschuldige Betrunkene hielt, die die Beherrschung verloren hatten, wollte er lieber meiden. Besonders, wenn er etwas plante, was der Aufrechte Mann vielleicht nicht billigen würde.

Er würde es eindeutig nicht billigen, musste Jimmy sich eingestehen. Er würde einen solchen Plan zweifellos mit … oh … kaltem Zorn, denke ich, ablehnen.

Lachjacks Befehl, im Versteck zu bleiben und nichts zu unternehmen, ging ihm noch einmal durch den Kopf, aber er wischte ihn beiseite. Mit Vorsicht erreichte man nie etwas, zumindest nicht nach seiner Erfahrung, und für seine ungefähr dreizehn Jahre verfügte er über eine Menge davon.

Er gähnte so heftig, dass sein Kiefergelenk knackte, also beschloss er, eine Runde zu schlafen, bevor er weitere Pläne schmiedete. Er wartete, bis die drei verbliebenen Wachen abgelenkt waren, dann huschte er aus dem Schatten des Eingangs und eilte zu einem seiner Plätze, einem, für den er tatsächlich bezahlte. Es war nicht mehr als ein Kämmerchen mit einem winzigen Fenster, das gerade genug Platz für einen Strohsack, einen klapprigen Tisch und einen billigen Kerzenständer bot. Das alte Ehepaar, dem das Haus gehörte, hielt Jimmy für den Lehrling eines Karawanenmeisters, was seine häufigen und manchmal längeren Abwesenheiten erklärte. Sie verlangten bloß ein paar Silberstücke im Monat und stiegen nur selten zu seinem winzigen Zimmer hinauf, was ihm sowohl Sicherheit als auch Abgeschiedenheit bot. Dennoch hatte er lediglich ein paar Kleidungsstücke dort gelassen. Oben unter dem Dachboden gab es ein paar gute Verstecke, aber er hatte noch keins davon benutzt. Nun, mit all dem Gold, das schwer gegen seine Hüfte schlug, beschloss Jimmy, eins davon auszuprobieren. Er hatte längere Zeit darüber nachgedacht, welcher Platz dafür am besten geeignet war, und war zu dem Schluss gekommen, dass im Augenblick Armut seine beste Tarnung wäre; keiner seiner Diebeskollegen würden in einer solchen Bruchbude Gold vermuten.

Er weckte mit seinem Klopfen den alten Mann und wurde mit missbilligendem Grunzen begrüßt – seit sie vor Jahren ihr Geschäft verkauft hatten, schliefen die alten Leute lange, häufig bis sieben oder acht, und es ärgerte sie, Jimmy schon im Morgengrauen hereinlassen zu müssen. Der alte Mann schloss die Tür hinter dem Jungen, kehrte in sein Zimmer zurück und ließ Jimmy allein in dem dunklen, staubigen Flur. Jimmy setzte dazu an, die Treppe hinaufzusteigen, und bemerkte, dass es unangenehmer roch als bei seinem letzten Besuch. Und das hier war seine einzige zumindest halb achtbare Unterkunft! Wenn sie noch mehr herunterkam, würde er umziehen müssen.

»Was für eine Idee«, murmelte er müde. »Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch respektabel.«

Baron Jose del Garza, in Abwesenheit des Herzogs amtierender Gouverneur von Krondor und nun kurzfristig auch Chef der Geheimpolizei des Herzogs von Bas-Tyra, saß hinter dem Schreibtisch des Kommandanten der Palastwache und starrte wütend das schmale Fenster in der Wand gegenüber an. Im Zimmer roch es nach Tinte, muffigem Pergament, billigem Wein, Talgkerzen und altem Schweiß.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er lieber überall sonst im Königreich gewesen als in Krondor. Er hätte viel lieber an der Seite des Herzogs von Bas-Tyra im südlichen Grenzland gegen Kesh gekämpft, statt sich mit den Dingen abgeben zu müssen, die heute vor ihm lagen.

Del Garza war kein besonders ehrgeiziger Mann. Er diente dem Herzog, und es war Herzog Guys Wunsch gewesen, dass er die Stadt in seiner Abwesenheit verwaltete, dafür sorgte, dass Rechnungen bezahlt, Steuern eingetrieben und Verbrechen bestraft wurden, während der Prinz sich in seinen Gemächern aufhielt. Man hätte auch behaupten können, dass der Prinz sich unter Arrest befand, aber vor seinen Gemächern standen keine Wachen; Erlands schlechte Gesundheit würde ohnehin verhindern, dass er die Stadt verließ. Außerdem gehorchte er seinem Neffen, dem König. Als Guy mit einem Schreiben des Königs erschienen war, das ihn zum Vizekönig erklärte, war Prinz Erland ohne Widerspruch zurückgetreten.

Nun verfluchte del Garza den Tag, an dem er Rodez verlassen hatte, um in den Dienst des Herzogs zu treten. Herzog Guy war ein harter, aber gerechter Mann. Seit er nach Krondor gekommen war, war del Garza jedoch gezwungen gewesen, sich mit Jocko Radburn abzugeben. Dieser mörderische Verrückte hatte das Gesicht eines schlichten Bauern, aber das Herz eines tollwütigen Wolfs. Und seine Unfähigkeit, selbst ein sechzehnjähriges Mädchen hinter Schloss und Riegel zu halten, drohte nun, del Garzas Leben vollends auf den Kopf zu stellen.

Radburn hatte del Garza den Befehl über die Geheimpolizei übertragen, die Greif, eines der Schiffe des Herzogs, beschlagnahmt und sich eine Stunde, nachdem das Mädchen und ihre Begleiter aus der Stadt geflohen waren, zur Verfolgung aufgemacht. Nun fiel es del Garza zu, das Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen und, was wichtiger war, dafür zu sorgen, dass man ihm nicht die Schuld gab, falls Radburn die Prinzessin nicht zurückbringen konnte.

Es klopfte, und er antwortete: »Herein!«

Ein Soldat öffnete die Tür. »Er kommt, Sir.«

Del Garza nickte und versuchte ruhig zu bleiben, als die Tür sich wieder schloss. Er hatte dieses Büro für ein ganz bestimmtes Gespräch beschlagnahmt, und danach würde er mit seinen Untergebenen reden. Aber zuerst würde er mit dem Kapitän der Paragon sprechen, eines Blockadeschiffs, das heute früh ausgerechnet in einem kritischen Augenblick seine Position verlassen hatte.

Er vernahm von draußen eine Männerstimme, die eindeutig im Zorn erhoben wurde. Antworten waren nicht zu hören, aber es war klar, dass der erzürnte Mann näher kam. Dann klopfte es an der eisenbeschlagenen Holztür, und del Garza dachte einen Augenblick nach. Nach dem Klopfen war es einen Moment still gewesen, aber schon bald erklang die verärgert protestierende Stimme erneut.

»Herein«, sagte der amtierende Gouverneur leise.

Die Tür wurde sofort aufgerissen, und del Garza begegnete dem Blick seines Untergebenen, als dieser das Büro betrat. Er sah in den Augen des Mannes sowohl Heiterkeit als auch Zorn und ein erhebliches Maß an Verachtung. Einen Augenblick lang fragte sich der Baron, ob dieser kaum verhüllte Widerwille mit ihm zu tun hatte, aber schließlich blickte der Geheimpolizist zur Seite, und del Garza erkannte, dass seine Geringschätzung dem Mann galt, der ihm auf dem Fuß folgte.

Del Garzas Polizist war groß und kräftig, aber er wurde nun beiseite geschoben von einem sehr großen, sehr eingebildeten Mann mit der salzfleckigen Kleidung eines Kapitäns zur See.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Kapitän barsch. »Ich muss gegen eine solche Behandlung protestieren. Ich bin ein Mann von Adel, und man hat mich gegen meinen Willen hierher geschafft. Ich erhielt eine Botschaft, die mich zu einer Besprechung mit dem amtierenden Gouverneur rief, aber sobald wir den Kai erreichten, hat dieser« – er warf dem Mann, den er beiseite geschoben hatte, einen höhnischen Blick zu – »dieser Brigant behauptet, ich stünde unter Arrest, und mir das Schwert abgenommen. Mein Schwert, Sir! Was für eine Ausrede kann es dafür geben?« Er hielt inne und starrte den Mann hinter dem Schreibtisch an. »Und wer, wenn ich fragen darf, seid Ihr?«

Del Garza sah ihn an, während die beiden Soldaten hinter dem Kapitän stehen blieben. Kapitän Alan Leighton war tatsächlich von Adel, der dritte Sohn eines sehr niederen Adligen, dessen Familie bereit gewesen war zu zahlen, damit er das Heim seiner hehren Ahnen verließ; mit anderen Worten, Leighton war noch unnützer als ein Hafenarbeiter oder Tagelöhner. Und er wäre von solchen Tätigkeiten innerhalb einer Woche wegen Unfähigkeit entlassen worden. Sein Kapitänspatent war ebenso wie sein Schiff gekauft und nicht verdient, während bessere Männer warten mussten. Der Baron kannte Leute wie ihn und verabscheute sie. Der Kapitän war gerade noch wichtig genug, um lästig werden zu können, und nicht wichtig genug, um von wirklichem Wert zu sein.

»Ich bin der Gouverneur«, sagte er, seine Stimme so flach und kalt wie eine Fensterscheibe im Winter.

Der Kapitän verlagerte das Gewicht und blickte ihn unsicher an. Del Garza sah eher durchschnittlich aus; er hatte ein Frettchengesicht, und seine Kleidung war schlicht geschnitten, wenn auch aus gutem Stoff.

»Tatsächlich?«, fragte der Kapitän zweifelnd.

»Tatsächlich«, bestätigte del Garza leise. »Setzt Euch, Kapitän Leighton.« Er nickte zu dem Hocker hin, der vor dem Schreibtisch stand.

Der Kapitän schaute erst den Hocker und dann den amtierenden Gouverneur ungläubig an. »Darauf?«, schnaubte er. »Das Ding wird zusammenklappen.« Leighton wandte sich einem der Soldaten zu. »Du da, bring mir einen anständigen Stuhl.«

Del Garza beugte sich vor. »Setzt Euch«, sagte er. »Oder meine Leute werden nachhelfen.«

Die beiden Wachen kamen einen Schritt auf den aufgeblasenen Seemann zu, bereit, die Hände auszustrecken und ihn auf den Hocker zu drücken. Zum ersten Mal sah Leighton ihnen tatsächlich ins Gesicht; dann blinzelte er, setzte sich vorsichtig und schaute von einem Mann zum anderen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. Er bemühte sich weiterhin, selbstsicher zu klingen, aber es lag ein leichtes Beben in seiner Stimme.

Zur Antwort rieb del Garza über die Stoppeln an seinem Kinn und betrachtete ihn, wie ein müder Mann eine umhersummende Fliege betrachten würde. Alles, was ihn verärgert hatte, seit er nach Krondor gekommen war, fiel ihm wieder ein und schien sich nun in der Person dieses jämmerlichen Ersatzes für einen Kapitän zu verkörpern. Del Garza beschloss, dass Leighton für alles zahlen würde. »Könnt Ihr das nicht erraten?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne. »Wollt Ihr es nicht einmal versuchen?«

Leighton starrte ihn an wie eine Maus die Schlange. »Nein«, sagte er schließlich. Er lehnte sich zurück, dann fiel ihm im letzten Augenblick ein, dass er auf einem Hocker saß, und verzog das Gesicht. Er beugte sich wieder vor und ging zum Angriff über. »Soll das hier ein Witz sein? Wenn ja, dann ist es ein geschmackloser Witz, und ich kann Euch versichern, dass ich mich bei Eurem Vorgesetzten beschweren werde.«

»Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«, fragte del Garza. »Lächle ich etwa? Lache ich, oder lacht einer meiner Männer? Kommt Euch das hier vor wie eine Atmosphäre der Heiterkeit und Kameradschaft?«

Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf der breiten Stirn des Kapitäns, und sein Blick zuckte unruhig nach allen Seiten. »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eher nicht.« Er richtete sich auf. »Aber ich weiß immer noch nicht, wieso ich hier bin.«

»Man hat Euch wegen Verrats verhaftet.«

Leighton sprang auf und ignorierte die Wachen, die noch einen Schritt näher kamen. »Wie könnt Ihr es wagen? Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?«

»Ihr seid die widerwärtige Kröte, die sich hat bestechen lassen, die Blockade zu brechen«, sagte del Garza. »In Kriegszeiten ist so etwas Verrat.«

»Das habe ich nicht getan!«, rief der Kapitän.

Der Baron lächelte. »Wisst Ihr, wie viele Idioten schon versucht haben, die Agenten des Herzogs anzulügen?«, fragte er. Er machte eine lässige Geste zu den beiden großen, kräftigen Soldaten. »Für gewöhnlich ist das Nächste, was sie sagen, etwas in der Richtung von: ›Hört auf! Um der Götter willen, bitte hört auf!‹«

»Ich gebe zu, dass mein Schiff aus der Position getrieben ist«, erklärte Leighton aufgebracht. »Solche Dinge geschehen hin und wieder. Dahinter stand keine Absicht. Ein Ankerbolzen ist durchgerostet, und die Flut hat uns ein Stück weggetragen. Es war einfach Pech, dass es zu diesem Zeitpunkt geschehen ist. Als ich den Lärm gehört habe, bin ich sofort aufgestanden, an Deck gegangen und habe die Situation berichtigt. Schlimmstenfalls könnte man so etwas als Vernachlässigung der Pflicht betrachten, obwohl selbst das mir unter den gegebenen Umständen übertrieben erscheint.«

Del Garza zog die Brauen hoch und lehnte sich auf dem Stuhl des Kommandanten zurück, die Hände vor dem mageren Bauch gefaltet. »Tatsächlich?«, sagte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Leighton, und ein Hauch seiner vorherigen Hochnäsigkeit schlich sich wieder in seinen Tonfall. »Ich sagte Euch doch schon, so etwas kann passieren. Es war nicht mein Fehler, mein guter Mann. Niemand hätte vorhersagen können, dass ein Schiff gerade in diesem Augenblick …«

»Wir wissen, dass der Aufrechte Mann Euch bestochen hat.« Der amtierende Gouverneur wartete auf die Explosion, aber es kam keine; der Kapitän starrte ihn einfach nur an und öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch am Haken. Er war also nicht nur schuldig, sondern hatte auch kein Rückgrat. »Was war der Grund? Das Gold? Oder fehlgeleitete Loyalität gegenüber Prinz Erlands Familie?«

»Wir kennen sie schon lange …«, begann Leighton.

Del Garza schnitt ihm das Wort ab. »Ihr könnt es auch gleich zugeben. Wir haben Beweise.«

Der Kapitän schüttelte schweigend den Kopf.

»O doch, die haben wir«, sagte del Garza. »Wir haben unsere eigenen Quellen bei den Spöttern.«.

Sie hatten natürlich beides nicht – weder Beweise noch Quellen. Aber es war inzwischen offensichtlich, dass die Spötter ein Interesse daran gehabt hatten, Prinzessin Anita zu befreien. Es waren eindeutig Spötter, gegen die die Geheimpolizisten und Gardisten heute früh gekämpft hatten. Außerdem sagte sein Instinkt del Garza, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass ein Schiff »zufällig« genau im richtigen Augenblick seine Position verließ.

Die Lüge fiel ihm jedoch leicht, denn wenn er tatsächlich für Anitas Flucht zur Verantwortung gezogen würde – und das war sehr wahrscheinlich –, dann würden sich andere noch vor ihm verantworten müssen, und schmerzhafter als er.

ENDE DER LESEPROBE