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Ein Land ohne Herrscher. Eine Krone ohne König. Nur das Banner – ein Greif auf goldenem Grund – und eine Prophezeiung, sind alles was von Lytar, der einstigen Hauptstadt des alten Reiches und seiner großen magischen Macht übrig geblieben ist, bevor es dem Erdboden gleichgemacht wurde. Nur wenige überlebten und ihre Nachkommen glaubten sich im Laufe der Zeit von der Welt vergessen. Jahrhunderte später werden sie jedoch von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt und ihr Dorf brutal überfallen: Eine fremde Macht ist auf der Suche nach dem magischen Artefakt des alten Reiches, das den Legenden nach, für dessen eigene Zerstörung verantwortlich war und über unsagbare Macht verfügen soll. Die Krone von Lytar. Auf Geheiß des Ältestenrates ziehen die Freunde Tarlon und Garret, die Halbelfin Elyra und Zwerg Argor nach Lytar, um die Krone zu suchen. Doch was sie entdecken, verändert alles ... Die ersten beiden Bände waren vormals unter dem Pseudonym Carl A. DeWitt erschienen. Nun liegt endlich die komplette Serie mit dem exklusiven neuen Abschlussband für alle Richard-Schwartz-Fans vor.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
»Es ist lange her, Exzellenz, aber wenn Ihr es wünscht, kann ich Euch die Geschichte der Krone erzählen.«
Lamar di Aggio, Gesandter des Reiches und Mitglied des Ordens von Seral, seufzte leise. Natürlich war er nicht den langen Weg geritten, um nun wieder umzukehren. Der alte Mann hatte sicherlich gehört, wie er nach jemandem gefragt hatte, der die alten Geschichten und Legenden kannte. Und wie er, Lamar, den Fehler begangen hatte, zu erwähnen, dass er extra deswegen hierher gereist war.
»Ich wünsche es. Was meint Ihr, weshalb ich Euch fragte? Es wird Euer Schaden nicht sein.«
»Es ist eine lange Geschichte, mein Herr, und ich habe eine trockene Kehle, aber wenn Ihr vielleicht …«
Lamar sagte nichts, er gab nur dem Wirt ein Zeichen. Dieser eilte eifrig heran und schenkte ihnen beiden Wein ein. Während Lamar nur nippte, nahm der alte Mann einen tiefen Schluck aus seinem Becher und wischte sich den Mund mit einem nicht allzu sauberen Hemdsärmel ab, um dann zufrieden zu nicken.
»Guter Wein.«
Damit hatte er, zu Lamars eigener Überraschung, recht. Der Wein war wirklich gut. Nur war er nicht hier, um sich über Wein zu unterhalten.
»Erzählt mir von der Krone von Lytar, alter Mann. Ihr habt Euren Wein, also …«
»Gemach, es ist eine lange Geschichte und der Abend ist noch jung. Jedenfalls seid Ihr zum Richtigen gekommen, ich bin der Einzige, der Euch diese Geschichte erzählen kann, na, jedenfalls der Einzige, der noch lebt … hier, meine ich.« Er nahm einen weiteren tiefen Schluck.
»Nun, es fing alles hier an. Hier, damit meine ich, an dem Brunnen draußen auf dem Marktplatz. Habt Ihr ihn gesehen?«
»Er ist ja wohl kaum zu übersehen! Wofür braucht ein Kaff wie dieses einen solch großen Brunnen?«
»Hehe … wenn ich Euch das sagen würde, würde ich ein Geheimnis verraten, und das wollen wir doch nicht, oder?«
Lamar seufzte erneut. Laut. Tief und vernehmlich. »Euer Brunnen interessiert mich nicht. Alter Mann …«
»Gemach, gemach, wir sind doch schon mitten in der Geschichte.« Der alte Mann leerte seinen Becher mit einem Zug und hielt ihn hoch. Der Wirt warf Lamar einen fragenden Blick zu und dieser nickte ergeben. So wie er den alten Mann einschätzte, erschien es Lamar günstiger, ihm den Gefallen zu tun. Abgesehen davon, kostete der Wein nur ein paar Kupfer.
Als der Wirt kam, um dem alten Mann den Becher aufzufüllen, griff sich dieser einfach die Flasche und schenkte sich selbst ein, um dann die Flasche griffbereit auf dem Tisch stehen zu lassen, die Hände schützend um sie gelegt, als der Wirt nach ihr greifen wollte.
»Es ist eine lange Geschichte«, wiederholte er.
Lamar winkte ab und der Wirt verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung.
»Dann wäre es wohl angebracht, sie anzufangen«, gab Lamar zurück. Er klang, selbst für seine eigenen Ohren, etwas irritiert.
»Ich war gerade dabei … Ihr seid ungeduldig, mein Herr.«
Lamar sah ihn nur an.
»Es fing wirklich alles hier an. Dort an dem Brunnen, als Holgar, der Schmied, aus seiner Schmiede heraustrat. Das war zehn Tage vor dem Mittsommernachtsfest im Jahre der Herrin2781.«
»Was soll das sein? Eine Jahreszahl?«
»Das ist die Art, wie wir hier die Jahre zählen, Herr«, antwortete der alte Mann mit einem Lächeln.
»In Ordnung.« Lamar holte tief Luft. »Und was für ein Jahr haben wir jetzt?«
»Warum? Es ist natürlich das Jahr der Herrin2867.« Eine buschige Augenbraue hob sich fragend. »Ich dachte, die Zeit wäre überall gleich?«
»Ja. Richtig.« Lamar zwang sich zur Ruhe. »Erzählt einfach weiter.«
»Seht Ihr, damals erlaubte man den Händlern nur zum Sommerfest ins Tal zu kommen, und dann auch nur für vier Tage. Holgar hatte, da er der Schmied war, die Aufgabe, sich um unsere Pferde zu kümmern. Sie lebten frei, in den oberen Tälern, nahe der Eisenberge, aber schon vor langer Zeit beschlossen die Ältesten, dass man den Pferden ab und zu neues Blut zuführen sollte. Also besorgte sich Holgar im Jahr zuvor einen Zuchthengst von einem der Händler. Dies war eine Ausnahme, üblicherweise wurden die Pferde von uns gekauft, aber dieses Pferd war dem Händler zu wertvoll und er wollte sich nicht von ihm trennen. So kam man überein, dass der Hengst ein Jahr hierbleiben würde, für eine fürstliche Summe Goldes, wie ich anmerken darf, und der Händler ihn dann bei seinem nächsten Besuch wieder mitnehmen würde. Da nun das Sommerfest vor der Türe stand, begab sich Holgar in die oberen Täler, um das Pferd zu holen. Soweit seid Ihr mitgekommen?«
»Alter Mann, ich bin nicht schwer von Begriff. Und Ihr strapaziert meine Nerven mit Eurem Geschwätz. Kommt endlich zur Geschichte!«
»Herr, Ihr zahlt meine Zunge mit Wein, was wollt Ihr da erwarten?«
»Keine Frechheiten.« Lamar nahm nun selbst einen Schluck Wein, schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. »Fahrt einfach in Eurer Geschichte fort.«
»Es ist der Wein, der meine Zunge fliegen lässt, manchmal in die falsche Richtung, aber habt Geduld mit mir, Herr, und trinkt etwas von dem Wein, er ist wirklich gut! Wirt, noch eine Flasche!«
Der Wirt eilte herbei und stellte die Flasche vor Lamar auf den Tisch und der alte Mann zog sie zu sich hinüber, stellte sie neben die andere. Lamar sah sich schon genötigt, deutlich zu werden, aber bevor er etwas sagen konnte, sprach der alte Mann bereits weiter.
»Gut, um zur Geschichte zurückzukommen, wie Ihr Euch sicherlich schon gedacht habt, Holgar suchte den Hengst vergebens. Da dies die Zeit vor dem Fest war und es nur noch ein paar Tage waren, bis die Händler kommen würden, hatte Holgar keine Zeit, hinter einem blöden Gaul herzulaufen, egal wie kostbar das Tier sein mochte. Aber jemand musste das Tier suchen, da Holgar ein Versprechen gegeben hatte, und Holgar war ein Mann, der seine Versprechen hielt. Also ging er des Mittags hinüber zu dem Brunnen, wo sich die Kinder und Heranwachsenden unseres Dorfes aufhielten und das machten, was die Jungen so allgemein tun, sie spielten, schubsten sich oder diskutierten lautstark über ihre Probleme und die Ungerechtigkeit der Welt. Vier junge Menschen standen etwas abseits und unterhielten sich über irgendetwas, die Götter alleine wissen, über was, aber das ist jetzt auch nicht wichtig, oder?« Der alte Mann sah Lamar fragend an.
»Ich glaube nicht«, gab dieser zur Antwort und ertappte sich dabei, die Augen zu rollen.
»Gut. Wo war ich? Ach ja … richtig. Nun, da sie die Ältesten hier waren, entschied sich Holgar, zu ihnen zu gehen und sie zu fragen, ob sie bereit wären, das blöde Biest für ihn einzufangen und zurückzubringen.
Da war zum einen Garret, ein langer, schlaksiger Bursche mit blondem Haar, wachen, grau-blauen Augen, einem strahlendem Lächeln und dem Talent, seine Arbeit auf die angenehmste Art zu verrichten, wie es ihm nur möglich war. In seinem Fall bedeutete dies nur allzu oft, dass er fischen ging. Garret war der Sohn des Bogenmachers, und er konnte seine Pfeile überall schnitzen. Auch beim Fischen. Man sagt, dass er zu diesem Zeitpunkt schon recht gute Pfeile machte. Wenn er denn welche machte. Er ging, wie gesagt, lieber fischen. Vielleicht weil die Eltern Nachbarn waren, konnte man ihn und den Sohn unseres Radmachers, Ralik Hammerfaust, so gut wie immer zusammen antreffen. Da Ralik ein Zwerg war, ist es sicherlich keine große Überraschung, dass auch Argor ein Zwerg war.«
»Nein, nicht wirklich. Aber fahrt fort. Ich bin fasziniert«, fügte Lamar bissig hinzu.
»Nun, Argor war ein ruhiger Junge, immer bereit, anderen zu helfen, und er war bereits eine große Hilfe für seinen Vater. Er hatte zudem ein Talent für Steinarbeiten, und obwohl er auch gerne Gedichte las, sagte niemals jemand etwas darüber. Schließlich hatte er große Hände.«
»Was hat das damit zu tun?«, fragte Lamar und biss sich auf die Zunge. Er hatte das nicht fragen wollen!
»Nun, Argor war ein lieber Junge, und er regte sich selten auf. Aber wenn man ihn ärgerte, ihn beispielsweise wegen seiner Gedichte hänselte, dann fand man schnell heraus, dass sein Familienname so etwas wie eine Warnung darstellte. Nun, wie auch immer, mit dabei war Tarlon. Tarlons Familie hatte mit Holzproduktion zu tun.«
»Nette Bezeichnung für einen Holzfäller.«
»Wenn Ihr es sagt, mein Herr. Dieser einfache Holzfäller war verantwortlich für unser Holz. Für unsere Wälder. Alle hier im Tal. Er entschied, wo geschlagen wurde, wo gepflanzt wurde und welches Holz für was Verwendung fand. Tarlon selbst war groß für sein Alter, fast erwachsen, sogar größer noch als Thomas, der Lehrling des Schmieds, mit breiten Schultern, fast selbst so gewachsen wie die Bäume, die er so liebte. Er hatte eine sorgfältige Art, die Dinge anzugehen. Er war nicht immer schnell, unser Tarlon, aber wenn er etwas tat, war es meistens richtig. Ich erinnere mich, dass er rotes Haar hatte wie die Flamme eines Lagerfeuers. Aber man zog ihn deshalb nie auf. Bis auf Garret natürlich. Aber der Junge konnte auch rennen, meine Güte, konnte Garret flitzen … was keine schlechte Idee war, wenn man Tarlon wirklich ärgerte. Tarlon hatte einen kleinen Tick, er legte immer einen kleinen Stein dorthin, wo der Baum hinfallen sollte, den er fällen wollte. In all seinen Jahren fiel niemals ein Baum daneben.«
»Beeindruckend«, sagte Lamar mit einem ironischen Unterton und nahm einen weiteren Schluck Wein.
»In der Tat«, stimmte der alte Mann zu. »Dann war da noch Elyra. Sie war die Tochter, nein, Stieftochter unserer Heilerin, der Sera Tylane. So etwa neunzehn Jahre vor dem Tag, an dem unsere Geschichte anfängt, stolperte eine Gruppe Händler über eine ausgebrannte Karawane und hörte die Schreie eines Kleinkindes. Sie fanden es begraben unter dem Körper seiner toten Mutter, und da sie auf dem Weg hierher waren und wussten, dass wir Kinder mögen, nahmen sie es mit. Sera Tylane war nur zu glücklich, die Kleine aufzunehmen und für sie zu sorgen und liebte sie wie ihre eigene Tochter. Elyra war damals noch ein zierliches Nichts von einem Mädchen, ruhig, aber bestimmt, richtig süß mit dieser Stupsnase, ihrem langen, rotblonden Haar und ihren kleinen, spitzen Ohren. Sie hatte immer diesen ernsthaften Ausdruck im Gesicht, stellte Fragen über Fragen und saß stets irgendwo in der Sonne, wo sie entweder in einem alten staubigen Buch las oder sich mit den Vögeln, Hasen oder Schmetterlingen unterhielt. Abgesehen davon, konnte sie auch noch großartig mit ihrer Schleuder umgehen.«
»Sie war ein Elf?«
»Halbelf, aber niemand interessierte sich für das, was sie war. Sie war Elyra, eine von uns, und damit war alles in Ordnung.«
»Das waren also die vier jungen Menschen, die Holgar fragen wollte. Und Ihr, alter Mann, wo wart Ihr?«
»Irgendwo. Ich bin nicht wichtig.«
»Hhm.«
»Wie auch immer, Holgar fragte unsere Freunde, ob sie bereit wären, sich auf die Suche nach seinem Pferd zu begeben. Da dies die Tage vor dem Sommerfest waren und ihre Eltern mehr als genug für sie zu tun fanden, hielten sie es für eine gute Idee, Holgar diesen Gefallen zu tun. Und wie Garret sagte, irgendwo auf der Strecke gab es bestimmt die Möglichkeit zu fischen.«
»Das blöde Pferd ist in die Richtung von Alt Lytar abgehauen«, sagte der Schmied und runzelte mächtig die Stirn. »Fragt mich nicht, warum es das tat, aber es kann einfach nicht so blöde sein und noch weiter laufen. Selbst ein Pferd kann nicht so blöde sein.«
»Das bedeutet, dass wir uns in die Nähe der alten Stadt begeben müssen?«, fragte Tarlon in seiner sorgfältigen Art.
»Sieht so aus, nicht wahr?«, sagte Garret und grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich wollte schon immer wissen, wie gut man da jagen kann!«
»Niemand wird nahe der alten Stadt jagen«, sagte der Schmied bestimmt und sah Garret durchdringend an. »Irgendwie sind alle Tiere dort krank, und wenn man sie isst, wird man selbst krank und stirbt. Elendig. Keine Jagd dort. Schau mich an und hör mir diesmal zu, Garret, ich meine es ernst! Ihr dürft dort nicht jagen!«
Garret runzelte die Stirn, sagte aber nichts, als der Schmied ihn weiterhin ansah, nickte er schließlich doch.
»Nun, wenn der Gaul nach Alt Lytar abgehauen ist, ist das ein Marsch von fünf Tagen«, sagte Argor. »Ich geh wohl besser und pack ein paar Sachen zusammen.«
»Vielleicht finde ich ein paar Kräuter auf dem Weg«, sagte Elyra freudestrahlend. »Ich werde Mutter fragen, ob sie irgendwelche Kräuter braucht!«
»Wie Ihr sehen könnt, Herr, waren es nette junge Menschen.«
»Ja, alter Mann, die nettesten der Reiche. Ganz sicher. Erzählt einfach weiter.«
Elyra hatte befürchtet, dass sie sich während der Reise langweilen würde. Sie mochte die anderen und war auch gerne mit ihnen zusammen, aber sie hatten einfach nicht die gleichen Interessen. Außerdem war sie nicht immer in der Stimmung, sich zu unterhalten. Also begab sie sich zu dem kleinen Haus hinter dem Gasthof, wo wir schon immer die Bücher des Dorfes aufbewahrten, und suchte in den alten Texten, Büchern und Folianten, bis sie etwas Interessantes entdeckte. Die Buchstaben waren seltsam und sie verstand die Sprache nicht, aber es gab Bilder in dem Buch, die sie auf Anhieb faszinierten. Also entschloss sie sich, das Buch mitzunehmen. Eines der Bilder, das sie besonders interessierte, war von einem jungen Mann, der in der Luft über einem Brunnen schwebte und eine Krone hochhielt, während eine lächelnde Menschenmenge um ihn herum versammelt war.
Sie brauchten nicht lange, bis sie aufbrachen, alle vier waren es gewöhnt, durch das Tal zu wandern, also hatten sie mehr oder weniger alles griffbereit, was sie brauchten. Sie trugen ihre Rucksäcke und ihre Waffen. Garret trug seinen Bogen und zwei Köcher voller Pfeile, Tarlon ebenfalls einen Bogen und seine große, zweiblättrige Holzfälleraxt, auf die er so stolz war, und Argor trug seine Armbrust und seinen Hammer. Elyra hatte nur ihre Schleuder und einen Beutel mit glatten Steinen dabei, aber sie nahm auch ihre eigenen Kräuter und Salben mit.
»Vielleicht fällt einer von uns hin und verletzt sich«, sagte sie ernsthaft, als Garret zweifelnd ihren Rucksack ansah. Er schien ihm viel zu schwer für sie. »Ich habe einfach alles mitgenommen, was wir in einem solchen Fall brauchen könnten.«
»Dagegen kann man wenig einwenden«, meinte Tarlon bedächtig und nickte zustimmend. »Man kann ja nie wissen.«
Garret sah sich den Rucksack seines Freundes an, er war sicherlich so groß wie die der drei anderen zusammen, aber er verkniff sich zu fragen, was Tarlon wohl alles dabeihatte. Er wusste, was sein Freund antworten würde. »Dies und das.«
Von allen hatte Garret den leichtesten Rucksack. Etwas Brot und Käse, ein paar Angelschnüre. Mehr, dachte er, würde er nicht brauchen. Schließlich war er oft genug alleine im Tal unterwegs und wusste, wie man sich von den Gaben der Götter ernähren konnte. Außerdem gab es immer Hasen, die darauf bestanden, vor seine Pfeilspitzen zu laufen.
Es war ein warmer Sommertag mit blauem Himmel, kein Wölkchen war zu sehen und es ging ein leichter, angenehmer Wind. Man konnte sich kaum einen besseren Tag für eine solche Reise vorstellen. Aber es wurde bald klar, dass Elyra tatsächlich zu viel eingepackt hatte, wenigstens für ihre Größe. Tarlon bot an, etwas von ihrer Last zu übernehmen, widerwillig stimmte sie zu, und dann ging die Reise weiter.
An diesem ersten Tag geschah nicht viel. Die Freunde genossen den schönen Tag, diskutierten darüber, aus welchen Gründen Pferde so blöde sein konnten, und machten sich weiter keine Gedanken.
Kurz bevor die Sonne unterging, entschieden sie sich, einen Rastplatz zu suchen, und fanden bald auch einen angenehmen Ort für das Nachtlager. Sie zündeten ein Lagerfeuer an, Garret hatte ein paar frische Fische dabei, die sie sich über dem Feuer grillten, und so legten sie sich zufrieden und satt in ihre Decken und schliefen den Schlaf der Gerechten. Keiner von ihnen dachte auch nur ansatzweise daran, eine Wache aufzustellen.
»Das war dämlich!«
»Sie lernten es noch.«
Garret, der ein Talent für solche Dinge hatte, fand am nächsten Morgen ohne Schwierigkeiten die Spur des Pferdes. So wie es aussah, war es verletzt und hinkte, die Spur war leicht zu erkennen.
»Woher willst du wissen, dass es unser Pferd ist?«, fragte Elyra.
»Ich habe seine Spuren schon einmal gesehen. Letztes Jahr«, erklärte Garret. »Ich vergesse so etwas nicht.«
Für Garret war die Spur leicht zu verfolgen, und so taten sie genau das während der nächsten zwei Tage, ohne dass etwas geschah, das ihre besondere Aufmerksamkeit erregte. Schließlich erreichten sie den Waldrand der Wälder um das alte Lytar. Das Pferd war müde, erklärte ihnen Garret und sah auf die Spuren herunter, die nun frischer waren.
»Kein Wunder«, bemerkte Argor. »Dieses Herumgerenne hat mich ebenfalls müde gemacht.«
»Du hast kurze Beine«, erklärte Tarlon ihm freundlich. »Du musst rennen, ich gehe nur.«
»Danke«, sagte Argor und warf Tarlon einen undeutbaren Blick zu. »Das wäre mir sonst nie aufgefallen.«
Holgars Warnung war ihnen noch gut in Erinnerung, also näherten sie sich dem Wald vorsichtig. Es gab überall Wald um Lytara, ihr Heimatdorf. Jeder von ihnen kannte die Wälder, keinem von ihnen waren die Wälder ungewohnt, aber dieser Wald hier, der war seltsam.
»Dieser Wald macht mich nervös«, erklärte Garret, als sie tiefer hineindrangen. Die anderen nickten nur.
»Jetzt weiß ich wirklich, wie sehr ich Vögel liebe«, sagte Elyra leise. »Sie fehlen mir.«
»Ich weiß genau, was du meinst«, antwortete Tarlon und verschob unruhig das Gewicht seiner Axt auf seiner Schulter. Erst jetzt fiel den anderen auf, dass es hier keine Vögel gab, nicht mal aus der Ferne war ein Zwitschern zu hören.
Dennoch folgten die Freunde der Spur des Pferdes tiefer in den Wald, bis sie den Rand einer Lichtung erreichten.
Dort blieben sie wie gebannt stehen und starrten auf das, was sich ihren überraschten Blicken zeigte.
»Hhmpf. Sieht so aus, als hätten wir das Pferd gefunden«, stellte Argor schlussendlich fest.
»Sieht so aus«, stimmte Tarlon zu und nahm seine Axt fester in die Hand.
»Das wird Holgar gar nicht gefallen«, meinte Garret und nahm seinen Bogen von der Schulter, um einen Pfeil auf die Sehne zu legen.
»Das ist eklig«, brachte Elyra mit Überzeugung hervor.
Vorsichtig gingen sie näher. Es war gerade genug übrig von dem Pferd, um es noch als solches zu erkennen, aber das meiste von ihm war verschwunden, der größte Teil war sauber knapp hinter den Schulterblättern des Tiers abgetrennt.
»Ich frage mich, was hier wohl passiert ist«, sagte Tarlon langsam und sah sich sorgfältig um. Der Waldrand war ruhig, nichts regte sich. Es war ihm zu ruhig.
»Sieht aus, als ob jemand etwas von unserem Pferd abgebissen hat.« Garret musterte eine tiefe Furche im Boden.
»Hier ist noch eine.« Tarlon wies auf eine weitere, parallel verlaufende Furche hin. Beide Furchen liefen auf das Pferd zu und endeten kurz vor dem Kadaver. Im weiten Umkreis war das Gras mit Blut bespritzt, und das Pferd selbst lag in einer Pfütze aus seinem eigenen Blut. Das Blut wurde bereits schwarz, und Unmengen von Fliegen stoben auf, als Garret näher herantrat.
»Sieht wirklich wie abgebissen aus«, stellte Garret fest. »Aber was kann einem Pferd ein solches Stück abbeißen?«
»Ich glaube, es ist nicht mehr als zwei oder drei Stunden her.« Tarlon lehnte sich bedächtig auf den Stiel seiner Axt. »Und das bedeutet, dass das, was auch immer es ist, noch in der Nähe sein könnte.«
»Ich höre noch immer keine Vögel«, flüsterte Elyra. Sie hatte ihre Schleuder in der Hand und auch ihre Augen suchten nervös den Waldrand ab. »Ich will hier nicht bleiben.«
Sie sah, dass Argor an ihr vorbei mit starren Augen nach Westen sah. »Argor?«
»Ich glaube, ich sehe, was unser Pferd gefressen hat«, stieß dieser hervor, gerade als Elyra seinem Blick folgte. »RENNT!«
Die Dringlichkeit in der Stimme des Zwerges war deutlich genug. Ohne zu zögern, rannten sie einfach los, folgten dem Zwerg, der überraschend schnell sprinten konnte, und warfen sich mit ihm zusammen am Waldrand in den Schutz des dichten Unterholzes. Keine Sekunde zu früh. Auf Garrets fragenden Blick hin zeigte Argor nur mit dem Finger nach oben, dann ging ein Lufthauch durch die Bäume über ihnen … und sie sahen es.
»Göttin, steh uns bei!«, flüsterte Garret ehrfürchtig. Über ihnen kreiste das unheimlichste Tier, das sie jemals gesehen hatten. Es sah aus wie eine Echse, aber es hatte Flügel und war so groß wie ein Haus.
»Ich glaub das nicht.« Selbst Tarlon klang beeindruckt. »Es hat einen Reiter.« Die anderen sagten nichts mehr, sie starrten nur stumm nach oben, hinauf zu dem Schauspiel über ihnen. Das Biest war geschuppt und seine Schuppen waren rot, von dem hellen Rot einer offenen Flamme bis hin zu dem dunklen Glühen von Metall. Auf Nase und Stirn trug es Hörner, die länger waren als Tarlon. Hinter seinem Nacken war ein seltsamer Sattel angebracht und darauf saß ein Mann in einer schwarzen Plattenrüstung. Er sah auf dem Rücken des massiven Biests wie eine Spielzeugpuppe aus. Das Biest besaß vier mächtige Läufe mit riesigen Pranken, an denen Krallen ein- und ausfuhren wie bei einer Katze. Die mächtigen Flügel, die in weitem Umkreis das Laub aufwirbelten und die Bäume schwanken ließen, waren wie die einer Fledermaus und schienen im Licht der Sonne blutrot zu schimmern.
»Es ist wunderschön!«, hauchte Elyra.
»Verdammt, es hat uns gesehen!«, rief Argor. »Weg hier!«
Aber bevor sie irgendetwas tun konnten, zog das Biest majestätisch einen Kreis und schoss im Tiefflug über sie hinweg, die Wucht der mächtigen Flügelschläge fast stark genug, um die Freunde in den Boden zu drücken. Und über dem dumpfen Wooop-Wooop der Flügelschläge war, fern, aber klar, das Lachen des Reiters zu hören. Ein Schatten flog über sie … dann waren das Biest und sein Reiter über sie hinweg und das Geräusch der mächtigen Flügel verlor sich im Wald hinter ihnen.
»Ich dachte, das wäre es gewesen«, meinte Argor und kratzte sich am Hinterkopf. »Götter, ist das Vieh groß!«
»Psst!«, zischte Elyra. »Nicht, dass es uns hört.«
»Es ist weg«, erklärte Tarlon, aber dennoch verharrten sie eine Weile unter den Büschen. Doch Tarlon hatte recht, das Biest kam nicht wieder.
Tarlon erhob sich und klopfte seine Kleider ab. »Was, bei den sieben Höllen, war das?«, fragte er dann. So leise, dass es durchaus sein konnte, dass er lediglich zu sich selbst gesprochen hatte.
»Ich glaube, wir haben soeben unseren ersten Drachen gesehen«, antwortete Garret und stand ebenfalls auf. Er sah stirnrunzelnd zu dem leeren Himmel über ihnen hinauf.
Argor stand nun auch auf und hielt Elyra die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen, dann blickte er auf den Kriegshammer in seiner Hand und wieder hinauf in den Himmel. Argor sagte nichts, nur sein Blick war sehr, sehr nachdenklich.
»Drache?«, fragte Elyra ungläubig. Ihre Augen waren kugelrund und sie war kreidebleich. Damit war sie nicht alleine, keiner der Freunde konnte wohl in diesem Moment eine gesunde Gesichtsfarbe sein Eigen nennen.
»Erinnerst du dich an letzten Sommer? Die Sera Bardin erzählte uns eine Geschichte über solch ein Biest«, erklärte Garret. »Ich glaube wirklich, es war ein Drache.«
»Ich dachte immer, das wären einfach nur Geschichten.« Elyra sah sich um und fing dann an zu lächeln. Sie hielt eine Hand an ihren Mund und ein Vogelruf erschallte, aus einem Baum nicht weit von ihnen antwortete ein Spatz, er klang ganz aufgeregt. Elyras Lächeln wurde breiter und sie atmete erleichtert auf. »Die Vögel sind wieder da«, teilte sie den anderen erfreut mit. »Das Biest ist wahrhaftig weg!«
»Es ist spät geworden«, stellte Tarlon fest. Er sah missbilligend zu dem Pferdekadaver hinüber. »Das Pferd ist hinüber. Wir haben hier nichts mehr verloren und sollten zusehen, dass wir diesen Wald verlassen, bevor die Sonne untergeht. Ich traue diesem Wald nicht. Egal ob die Vögel wieder singen oder nicht, irgendetwas ist hier nicht in Ordnung. Ich will auf keinen Fall in diesem Wald übernachten.«
»Nun«, antwortete Garret, »wenn wir es eilig haben, ist die alte Handelsstraße wahrscheinlich die beste Wahl. Sie kann nicht weit entfernt sein.« Seitdem sie Kinder waren, hatte man sie immer davor gewarnt, in die Nähe der alten Stadt oder der Straße zu kommen. Aber Garret hatte recht. Die alte Handelsstraße führte zwar weiter durch den Wald, verlief danach aber über die alte Zollbrücke und verkürzte so ihren Rückweg erheblich.
»Auf der Straße können wir die Nacht durchmarschieren«, fügte er hinzu. Er klopfte seine Kleider ab und steckte seinen Pfeil wieder zurück in den Köcher.
»Glaubst du wirklich, dass du das Vieh damit hättest verletzen können?«, fragte Argor zweifelnd.
Garret sah zu ihm hinunter und grinste breit. »Ich hätte es versucht!«
»Na, das hätte ich gerne gesehen«, lachte Lamar. »Ein Junge und sein Spielzeugbogen gegen einen roten Drachen.«
Der alte Mann lächelte und zeigte überraschend weiße Zähne. »Er hätte Euch vielleicht überrascht, Eure Exzellenz.«
»Exzellenz? Warum auf einmal so höflich?«
»Die Flasche ist leer, Herr. Mein Vater sagte immer, dass man höflich sein soll, wenn man etwas von jemandem anderen haben will.«
»Ein höflicher Säufer … warum nicht?« Lamar war besserer Laune, und die Geschichte fing an, ihn zu interessieren. Er sah sich nach dem Wirt um, aber der war nirgendwo zu sehen, nur eine Schankmagd, die an einem der Nachbartische bediente.
»Mädchen, noch eine Flasche Wein für meinen Freund hier!«
Sie nickte mit einem Lächeln und ging davon. »Ich frag mich, wie sie im Bett ist«, sagte er nachdenklich, als er ihr hinterhersah.
»Das werdet Ihr nie herausfinden«, sagte der alte Mann mit harter Stimme. Lamar sah ihn überrascht an.
»Keines unserer Mädchen steht für die Betten von Reisenden zur Verfügung!«, erklärte der alte Mann und es lag Stahl in seiner Stimme. »Wenn Ihr ein Haus der Freuden sucht, so seid Ihr hier am falschen Ort.«
»Regt Euch nicht auf, alter Mann. Seht, hier kommt auch schon Euer Wein. Ich habe nicht die Angewohnheit, jemanden zu belästigen. Wenn sie das Gold oder die Gesellschaft nicht will, so ist das ihre Entscheidung.«
»So sollte es auch sein«, funkelte der alte Mann, aber dann entspannte er sich und nickte. Als das Mädchen zu ihnen an den Tisch kam, nickte er ihr lächelnd zu, und das Mädchen grinste ihn an, dann sahen sie beide zu, wie sich das Mädchen geschmeidig an den Tischen vorbeibewegte.
»Ihr habt aber recht, sie sieht gut aus. Genau wie ihre Großmutter damals.« Die Augen des alten Mannes sahen an Lamar vorbei in die Vergangenheit. »Götter, war das eine Frau …« Er schüttelte den Kopf, als ob er diese Gedanken abschütteln wollte, und sah wieder Lamar an.
»Nun, um auf die Geschichte zurückzukommen …«
Da sie nun nicht mehr gezwungen waren, den ziellosen Spuren eines lahmenden Pferdes zu folgen, erreichten sie die alte Handelsstraße in guter Zeit, dennoch war es schon knapp nach Sonnenuntergang, als sie die alten Steine erreichten. Die alte Straße war von den Handwerkern von Alt Lytar gebaut worden, und wie jeder wusste, bauten diese gerne für die Ewigkeit. Es waren große Platten aus hellem Stein, und sie waren mit der größten Präzision verlegt, noch heute konnte man kaum die Klinge eines Messers in die Spalte zwischen zwei der Platten einführen. Dennoch, nichts kann wirklich gegen die Zeit bestehen, und die Natur hatte die alte Handelsstraße unter Erde, Moos und Gras begraben. Aber das Straßenbett war erhöht und gerade, und nur Gras und niedrige Büsche wuchsen auf ihr.
Ohne Zweifel kam man hier schneller voran, als wenn man sich wieder quer durch das Land schlug.
Die Freunde hatten schon beschlossen, auch im Dunkeln weiterzugehen, bis sie den Wald endgültig hinter sich gelassen hatten, also waren sie zuerst erleichtert, als sie die Straße erreichten.
Aber so, wie es aussah, waren sie heute nicht die Ersten, die diesen Gedanken hatten. Obwohl es dunkel war, war es Tarlon, der die Spuren als Erster bemerkte.
»Hhm«, sagte er, als er die alte Straße erreichte. Er sah stirnrunzelnd auf etwas zu seinen Füßen herab. »Argor, siehst du dir das mal an?«
Der Zwerg kletterte geschickt auf das Straßenbett hinauf und sah sich ebenfalls das an, was Tarlons Aufmerksamkeit geweckt hatte. In dieser Nacht waren beide Monde nur schmale Sicheln und die hohen Bäume des dichten Waldes zu beiden Seiten der Straße schluckten fast jedes Licht. Doch der Zwerg konnte im Dunkeln sehen. Es wurde nicht darüber gesprochen, aber sowohl Garret als auch Tarlon waren etwas neidisch auf die Fähigkeit ihres Freundes. Elyra nicht, denn auch sie besaß dieses Talent, nur irgendwie war das noch niemandem aufgefallen.
»Wagenspuren«, stellte Argor schließlich fest. »Es müssen eine Menge Leute gewesen sein.« Das Erdreich und das Moos waren aufgerissen, sodass der helle Stein der Straße teilweise sichtbar war. Ein einzelner Mann oder ein Pferd hätte dies nicht bewirkt. Es mussten Dutzende, vielleicht sogar Hunderte sein. »Und neun Wagen«, erklärte der Zwerg. Sogar Garret, der immerhin der beste Spurenleser in der Gruppe war, vorausgesetzt, es war hell genug, damit er etwas sehen konnte, wusste nicht, woher Argor das wissen wollte, aber Argor war der Sohn des Radmachers und Wagenräder waren sein Geschäft. »Jeder eiserne Reifen hat seine Eigenarten«, erklärte der Zwerg, ohne dass jemand gefragt hatte.
»Wenn du es sagst«, antwortete Garret, wählte sorgfältig zwei Pfeile aus seinem Köcher aus und überprüfte die Sehne seines Bogens. Als er bemerkte, wie ihn die anderen ansahen, zuckte er die Schultern. »Ich mag es, vorbereitet zu sein.« Er sah stirnrunzelnd auf die Spuren hinunter.
»Wie viele sind es denn?«, fragte Elyra. Auch sie hatte ihre Schleuder griffbereit und ihre linke Hand spielte mit zwei glatten Flusskieseln. Garret kniete sich hin, legte sorgfältig Bogen und Pfeile zur Seite und tastete die Spuren ab.
»Soll ich Licht machen?«, fragte Tarlon, der seine Zunderbüchse bereits herausgekramt hatte, aber Garret schüttelte den Kopf. »Licht kann man nachts sehr weit sehen … besser nicht.« Er ließ sich Zeit, schnüffelte sogar an dem Pferdekot, woraufhin Elyra die Nase rümpfte. Aber wohlweislich sagte sie nichts.
Schließlich griff Garret wieder nach seiner Waffe und stand langsam auf. Er sah sehr nachdenklich aus, als er die Straße entlangblickte.
»Ich würde sagen, dass es etwa dreihundert zu Fuß sind. Dazu noch etwa hundert Reiter. Schwere Pferde. Und beschlagen.« Er runzelte die Stirn. »Es ist schon ein paar Tage her.«
Lytaras Pferde lebten in freier Wildbahn und waren nur selten beschlagen. Das bedeutete Fremde.
»Es können keine Händler sein. Wir haben niemals so viele«, bemerkte Elyra, die ebenfalls stirnrunzelnd die alte Straße vor ihnen musterte.
»Und wer auch immer diese Leute sind, sie kamen aus der Richtung der alten Stadt. Aus Alt Lytar«, fügte Tarlon nachdenklich hinzu. »Die Händler stoßen etwas weiter nördlich auf die Straße, wo sie einen weiten Bogen macht.«
»Das ist richtig«, stimmte ihm Argor zu. »Aber es sind wenigstens keine Geister der alten Stadt. Nicht auf Pferden, die mit kaltem Eisen beschlagen sind«, fügte er hinzu und der Gedanke schien ihn sichtlich aufzumuntern.
»Ich hab ein sehr schlechtes Gefühl bei der Sache«, sagte Elyra leise. Sie starrte immer noch die dunkle Straße entlang.
»Ich glaube, es gibt einen Grund dafür«, sagte Garret leise und streckte seine Hand aus. Die anderen folgten seinem Blick und dort, am Horizont, war nun ein leichtes rötliches Flackern zu sehen, das, noch während sie fassungslos versuchten zu verstehen, was sie dort sahen, stärker wurde, bis das orangerote Leuchten kaum mehr zu übersehen war.
Eine schwarze Rauchfahne, schwärzer als der Abendhimmel, stieg nun in den Himmel auf. Dies konnte nur eines bedeuten.
»Das muss Lytara sein! Lytara brennt!«, rief Elyra und rannte los.
Jeder Gedanke an Rast war nun vorbei. Die alte Handelsstraße war deutlich im Halbdunkel zu erkennen und sie beschlossen, den Rest der Nacht durchzulaufen. Das Dorf war zu weit weg, um es schnell zu erreichen, aber je früher sie da waren, umso besser, umso mehr konnten sie helfen. Argor murmelte etwas, aber als die anderen ihn fragend ansahen, schüttelte er nur den Kopf. Und rannte.
Sie rannten alle, aber nicht so schnell, wie sie es gerne getan hätten, denn obwohl Argor sich bis an seine Grenzen verausgabte, er konnte einfach nicht so schnell rennen wie die anderen. Dafür besaß er Ausdauer und selbst Garret, der allgemein der Flinkste der Freunde war, musste nach einer Weile zugeben, dass seine Seite ihn schmerzte.
Argor sagte nichts, sah nicht einmal von der Straße auf. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und rannte, doch sein Atem klang wie das Zischen eines kochenden Topfes. Doch er rannte. Und es sah nicht so aus, als ob er bald damit aufhören würde.
Sie rannten. Stundenlang, bis es bald Morgen werden würde.
»Stopp!«, rief Elyra leise. Die anderen hielten, außer Atem, froh, Luft holen zu können. »Was ist?«, fragte Tarlon keuchend. Er war vornübergebeugt, stützte beide Hände auf seinen Knien ab und versuchte, irgendwie Luft in die Lungen zu bekommen. Seinen Freunden ging es nicht anders, Garret hatte sich einfach fallen lassen und lag nun schwer atmend auf dem Rücken.
»Ich sehe Lichter. Fackeln. Auf der Straße vor uns«, antwortete Elyra, die bemerkenswerterweise kaum außer Atem schien.
»Lichter?«, fragte Garret und stand mühsam wieder auf.
»Lasst uns die Straße verlassen«, meinte Elyra und bewegte sich von der Straße hinunter, auf den Waldrand zu.
»Sie hat recht«, stimmte Tarlon ihr zu. »Wer auch immer da kommt, ich glaube nicht, dass wir ihnen offen entgegentreten sollten!«
Die Freunde folgten hastig und zum zweiten Mal an diesem Tag verkrochen sie sich im dichten Gebüsch des Waldrandes.
»Gerade rechtzeitig«, flüsterte Garret und versuchte, sein schweres Atmen zu unterdrücken.
»Hört nur …«
Sie hörten es. Es war wieder das gleiche Geräusch, dieser schwere Flügelschlag. Und vor ihren ungläubigen Blicken landete der Drache keine vierzig Meter von ihnen entfernt auf der Straße, die Schuppen des Biestes schienen in der Dunkelheit fast zu glühen. Ein seltsamer Laut ertönte von dem gewaltigen Biest, fast hörte es sich wie ein Wimmern an.
»Es ist verletzt«, sagte Elyra leise.
»Kann es uns sehen?«, frage Garret flüsternd.
»Vielleicht kann es uns riechen«, gab Elyra zur Antwort und pflückte ein paar Blätter von einem der Büsche, unter denen sie sich versteckt hatten. Sie zerdrückte sie in ihren Händen und schmierte sich die dickflüssige klare Flüssigkeit über ihre Ledersachen. Die anderen taten es ihr nach. Der Geruch war intensiv, aber nicht unangenehm. Es roch nach …
»Wald«, stellte Argor fest.
»Pass auf, dass es nicht in irgendwelche Kratzer kommt«, warnte Elyra.
»Warum?«, fragte Garret.
»Mutter sagt, dass diese Blätter einen schlimmen Ausschlag verursachen, wenn ihr Saft in Kratzer oder gar offene Wunden gerät. Es muss fürchterlich jucken.«
Das Flackern der Fackeln war nun näher gekommen. Es war Zeit vergangen und die Sicheln der Monde standen mittlerweile hoch am Himmel, auch war hier der Wald lichter. So konnten sie bald sehen, was ihnen da entgegenkam. Soldaten. Soldaten in Kettenhemden und alle mit dem gleichen Wappen auf ihren Waffenröcken.
Aber wenn es dieselben waren, deren Spuren sie verfolgt hatten, war ihnen etwas zugestoßen, denn es waren kaum noch mehr als vierzig Mann Infanterie und vielleicht noch drei Dutzend Berittene. Tarlon war fasziniert von den Reitern. Ihre Pferde waren die größten, die er jemals gesehen hatte, und sie trugen alle Plattenrüstungen.
»Ich frag mich, ob das Ritter sind«, flüsterte er.
»Das bezweifele ich. Sie sehen alle gleich aus und sie haben das gleiche Wappen auf ihren Schildern«, antwortete Elyra abwesend. Sie sah immer noch wie gebannt auf den Drachen.
»Und woher willst du das wissen?«, fragte Garret Elyra.
»Ich höre zu, wenn die Sera Bardin bei uns ist. Ich schau sie nicht mit verliebten Kuhaugen an und wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich.«
Garret zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen.
Die Männer waren noch zu weit entfernt, um zu verstehen, was gesagt wurde, aber die erhobenen Stimmen trugen bis zu den Freunden. Wer auch immer da etwas rief, er schien nicht gerade erfreut.
»Die meisten scheinen verwundet zu sein«, stellte Elyra fest. Die Gruppe der Marschierenden hielt in einem respektvollen Abstand vor dem Drachen an und der Reiter des Biestes stieg nun ab, suchte sich geschickt seinen Weg über einen Flügelansatz und einen erhobenen Vorderlauf des riesigen Biestes.
Eine hochgewachsene Gestalt in Plattenrüstung, vielleicht der Anführer der Fußsoldaten, löste sich von der Gruppe der Soldaten und kam dem Reiter entgegen, salutierte ihm. Dann gab er sein Signal und zwei Soldaten zerrten eine schlanke Gestalt vor den Drachenreiter.
»Mutter!«, rief Elyra entsetzt und Tarlon konnte sie gerade noch festhalten, als Elyra losrennen wollte. Es war Sera Tylane, die Heilerin des Dorfes, eine Frau, der jeder im Dorf mit dem größten Respekt begegnete. Wenn es jemanden gab, den fast jeder im Tal liebte, dann war es Sera Tylane.
Als sich vor ihren entsetzten Augen das Geschehen weiter entfaltete, konnte Tarlon nur noch denken, dass er froh war, daran gedacht zu haben, Elyra den Mund zuzuhalten. Elyra, so schlank und zierlich, wie sie war, entwickelte enorme Kraft, als sie versuchte, dem Griff ihres Freundes zu entkommen, aber es war ein ungleicher Kampf, nur ein Stier hatte mehr Kraft als Tarlon. Vielleicht auch nicht.
Der Drachenreiter stellte eine Frage und selbst über die Distanz konnten die Freunde das bittere Lachen der Sera Tylane hören. Und dann spuckte sie dem Reiter ins Gesicht. Woraufhin der Drachenreiter sein Schwert zog und die Sera Tylane mit einem mächtigen Streich enthauptete.
Unter Tarlon bäumte sich Elyra auf, ein gedämpfter Laut entwich ihr trotz allem, dann sackte sie unter ihm zusammen. Doch Garret erhob sich auf ein Knie und mit einer einzigen fließenden Bewegung zog er einen Pfeil aus dem Boden vor ihm, beschmierte ihn mit den Resten der Blätterflüssigkeit, legte ihn auf die Sehne und mit der mühelosen Eleganz von jemandem, der dies hundertmal am Tag tat, zog er den schweren Bogen aus und ließ den Raben fliegen.
Es war ein nahezu unmöglicher Schuss, in fast vollständiger Dunkelheit, zwischen Ästen und Gebüsch hindurch, an zwei Soldaten vorbei … selbst wenn er den Reiter treffen würde, war die Chance groß, dass der leichte Jagdpfeil einfach an der schweren Plattenrüstung abprallen würde.
Der Reiter schrie auf, als sich der Pfeil in seine Seite bohrte, genau in den Spalt zwischen seiner Front- und Rückenplatte, knapp unter seiner Achselhöhle.
»Treffer!«, rief Garret und sprang auf, stieß seine Hand auf und ab. Und legte den nächsten Pfeil auf.
»Guter Schuss«, sagte Tarlon abwesend und ließ Elyra los … jetzt hatte es wohl wenig Sinn, sie länger festzuhalten. Garrets Schuss hatte sie verraten und Tarlon war der festen Überzeugung, dass sie diesen Fehler nicht überleben würden … aber auf der anderen Seite konnte er Garret keinen Vorwurf machen, er selbst hätte vielleicht auch nicht anders gehandelt, hätte er nicht mit Elyra alle Hände voll zu tun gehabt.
Auch Elyra, mit steinernem Gesicht, hatte sich erhoben und ließ ihre Schleuder pfeifen, aber für die Schleuder war die Entfernung nun wirklich zu groß.
»O Scheiße!«, rief Argor, denn der Reiter, mit einer Hand den Pfeil in seiner Seite haltend, gab nun seinem Drachen ein Signal und der große Kopf schwenkte langsam in ihre Richtung, ein Auge schien geschlossen, aber alleine der Blick aus dem anderen Auge war so voller Bosheit und Hass, dass es Tarlon beinahe schlecht wurde. Das Biest richtete sich auf … dann breiteten sich die gewaltigen Flügel aus.
»O verdammt! Nichts wie weg hier!«, rief Garret, schoss seinen zweiten Pfeil ab, der harmlos an den Schuppen des Biestes abprallte … und dann rannten sie tiefer in den Wald, so schnell sie konnten. Argor stolperte einmal, wäre beinahe der Länge nach hingefallen, hätte ihn Tarlon nicht mit einer Hand am Kragen gegriffen und ihn wieder auf die Beine gezerrt, gar so, als ob der massive Zwerg kaum etwas wiegen würde. Hinter sich konnten sie den Flügelschlag des Biestes hören, dann einen mächtigen, schaurigen Schrei, der ihnen durch Mark und Bein fuhr und jedes Haar einzeln stehen ließ, dann ein Rauschen, als ob ein mächtiger Wind wehen würde … und hinter ihnen explodierten die Bäume in gewaltigem Feuer, dessen Hitze wie von einer Esse über sie hinwegfegte und um sie herum Gras und Laub entflammen ließ.
»Verdammt soll es sein, in die tiefsten Höllen! Drecksdrache!«, keuchte Garret, als er brennendes Laub von seinem Lederzeug abwischte und dann noch schneller rannte. Vielleicht waren sie zu schnell für das Biest oder der dichte Wald schützte sie vor seinem Blick oder aber sie hatten einfach nur Glück. Der Drache schoss seitlich an ihnen vorbei, ein Teil des Waldes dort barst in Flammen, aber sie entkamen, obwohl sie die Hitze der Flammen in ihren Nacken spürten. Doch sie entkamen, auch wenn der Wald hinter ihnen lichterloh brannte und mit ihnen entkamen andere Tiere, für einen Moment rannte ein riesiger Braunbär an ihrer Seite, dann verschwand auch er im dichten Wald.
Minuten später hörten sie wieder die Schwingen über sich, aber diesmal schien das Biest sie nicht zu jagen, sondern flog weiter, in Richtung der alten Stadt Lytar.
»Scheiße«, sagte einer von ihnen und niemandem fiel etwas ein, was man dazu noch hätte sagen sollen. Keuchend ließen sie sich zu Boden sinken oder lehnten sich an Baumstämme, in der Ferne wütete das Feuer, doch glücklicherweise kam der leichte Wind aus ihrem Rücken und trieb das Feuer in die andere Richtung. Elyra war still. Ihre Augen waren feucht, aber sie weinte nicht. Garret fand es erschreckend, wie hart und erwachsen sie auf einmal wirkte. Obwohl sie einige Jahre älter als er war, konnte man dies leicht vergessen, da sie noch immer wie ein junges Mädchen wirkte. Garret hatte schon immer gewusst, dass ein Teil von ihr unsterblich war, aber das war meistens leicht zu vergessen. Jetzt war es unmöglich, denn lange nachdem er, Garret, nicht mehr auf dieser Welt wandelte, würde sich Elyra noch an diese Nacht erinnern. Garret spürte Gänsehaut, als er verstand, was dies bedeutete … wenn man so lange lebte, musste man auch die schlechten Erinnerungen über die Jahre mit sich tragen.
Wortlos erhoben sich die Freunde wieder und rannten weiter.
Während sie rannten, wurden sie erwachsen.
»Gut gesagt, alter Mann«, sagte Lamar. »Ihr habt die Seele eines Poeten. Und den Durst eines Schmiedes. Fahrt fort. Ihr spinnt hier einen feineren Faden, als ich es für möglich hielt.« Lamar sah sich um. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatte sich der alte Gasthof gefüllt. Es war überraschend ruhig hier und die meisten der Gäste schienen der Geschichte des alten Mannes zu lauschen. Es waren eine Menge Kinder dabei, etwas, das Lamar nicht allzu häufig in den Gasthöfen sah, die er kannte. Alle sahen den alten Mann an, auch der Wirt wirkte nachdenklich.
»Kenne ich Euch, alter Mann?«, fragte der Wirt dann. Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf und lächelte. »Ich glaube nicht, guter Wirt.«
»Erzähl die Geschichte weiter, Großvater!«, rief ein Junge mit leuchtenden Augen. »Wie ging es weiter!?«
»Lasst mich erst einmal wieder zu Atem kommen«, lächelte der alte Mann und Lamar schnaubte.
»Sie sind gerannt. Ihr saßt hier nur herum und habt Wein getrunken.«
»Es ist die Erinnerung.«
Lamar sah ihn scharf an. »Ich dachte, Ihr wäret nicht dabei gewesen?«
»War ich auch nicht«, antwortete der alte Mann und nahm dankbar einen gefüllten Becher entgegen. Er trank. »Guter Wein«, sagte er mit einem Lächeln zu dem Wirt, der ihm den Becher unaufgefordert gereicht hatte.
»Ein guter Wein gegen eine gute Geschichte«, antwortete der Wirt. »Es ist mein bester Wein«, verkündete er stolz.
»Das passt«, gab der alte Mann mit einem breiten Grinsen zurück. »Es ist auch meine beste Geschichte.« Er sah von dem Wirt zu Lamar und den anderen, die ihn gespannt ansahen. »Ihr wollt mehr hören? Also gut … wo war ich? Ach ja. Ihr müsst verstehen, Herr, dass bis zu diesem Zeitpunkt Lytara vierhundert Jahre lang nur Frieden kannte.«
»Es gibt keinen verdammten Ort in den Reichen, an dem vierhundert Jahre lang Frieden herrschte!«, widersprach Lamar ungläubig.
»Nun, hier war es so. Wir lagen ja ein wenig abseits. Aber es endete alles an diesem Sommertag im Jahre der Sera2781. Das Dorf war mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt, Girlanden wurden entlang der Straßen aufgehängt, die Straßen selbst waren gefegt worden und die Fensterläden neu angemalt, überall gab es Blumen und die Frauen wuschen sorgfältig ihre besten Kleider, während die Herren ihre besten Hosen aus den Kisten suchten. Es war …«
»Ich kann es mir vorstellen«, unterbrach Lamar.
Der alte Mann verzog das Gesicht. »Wer erzählt hier die Geschichte, hm?«
»Ihr. Gut, erzählt weiter …«
»Vielleicht habt Ihr sie ja gesehen, als Ihr daran vorbeigeritten seid. Es hängt eine große Triangel an einem Haken neben dem Tor zur Schmiede. Sie wird angeschlagen, um den Alarm auszurufen, aber in all den Jahren, in denen sie dort hing, wurde sie sehr selten verwendet.«
Als Ralik die Triangel anschlug, war ein jeder überrascht, aber sie kamen alle so schnell wie möglich zum Marktplatz. Als sie ankamen, stand der Bürgermeister auf dem Brunnenrand und er machte eine sehr ernste Miene. Er wartete, bis die meisten versammelt waren, dann hob er eine Hand und die Leute wurden still.
»Wir haben soeben erfahren, dass die Horato-Farm überfallen und niedergebrannt wurde. Soviel wir wissen, gab es keine Überlebenden. Es ist eine Armee, sie kommt auf uns zu und ihre Absichten sind klar, sie greifen uns an.«
»Aber …?« Jedermann war geschockt. Das konnte einfach nicht stimmen.
»Warum sollte uns jemand angreifen?«, rief eine Frau ungläubig. »Wir tun doch niemandem etwas!«
Der Bürgermeister sah die Leute des Dorfes an. Sie waren inzwischen fast alle um den Brunnen versammelt und Lytara war klein genug, dass jeder jeden kannte. Es war wie in jedem Dorf, nicht jeder konnte jeden leiden, aber wir waren eine Gemeinschaft. Als der Bürgermeister von einem entsetztem Gesicht zum anderen sah, wusste er, dass er manche Gesichter soeben zum letzten Male sah. Dies schwang in seiner Stimme mit und allein dieser Tonfall machte allen klar, wie ernst die Lage war.
»Ich weiß es nicht, gute Frau, niemand weiß es. Aber es ist so, es kommt eine Armee auf uns zu. Wie wir an der Horato-Farm gesehen haben, kennt sie keine Gnade. Wir müssen kämpfen. Ich will, dass ihr euch in die Dachböden begebt, die Waffen heraussucht, das Stroh befeuchtet, die Fenster schließt und die Straßen räumt. Die Kinder müssen in die tiefen Keller gebracht werden, die Frauen sollen Leinen kochen und jeder, der einen Bogen besitzt, bezieht Verteidigungsposition. Sie müssen die Straße hinaufkommen, alle anderen Zugänge zum Dorf sind zu eng oder zu dicht bewaldet für einen Kavallerieangriff.«
»Kavallerie?«, fragte jemand.
Der Bürgermeister nickte. »Schwere Kavallerie. Etwa hundert. Dazu noch dreihundert Fußsoldaten.«
»Bei Mistral! Die Göttin steh uns bei, das ist wahrhaftig eine Armee!«, rief jemand entsetzt.
Der Bürgermeister nickte nur.
»Es würde nicht schaden, wenn wir heute um Mistrals Hilfe beten würden. Es sieht schlimm aus.«
»Nun, in der Vergangenheit haben wir sie nicht wirklich häufig um etwas gebeten«, sagte Pulver. Er stand wie üblich etwas abseits. Das lag nicht daran, dass man ihn nicht mochte. Es war nur so: Er war unser Alchemist und Glasbläser und einer von diesen Leuten, die nie etwas ernst nehmen konnten. Ein lustiger Geselle. Aber die meisten Leute mussten niesen, wenn sie ihm zu nahe kamen, oder ihnen tränten die Augen. »Vielleicht hört sie sogar zu«, fuhr er fort. »Nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hat, von uns wieder etwas zu hören!«
Trotz der ernsten Lage brachte er damit doch einige zum Schmunzeln.
»Schaden kann ein Gebet ja wohl nicht«, pflichtete der Bürgermeister ihm bei. »Aber man kann auch beten, während die Hände fleißig sind!« Er richtete sich auf. »Jeder weiß, was er zu tun hat. Also fangen wir an. Nur eines noch. Die Männer mit mehr als zwei Kindern … euer Platz ist nicht an der Front … wir müssen an später denken.«
»Gut!«, rief Pulver und klatschte erfreut in die Hände. »Das wird interessant! Hätte mich geärgert, hätte ich mir das alles von hinten ansehen müssen!« Alle sahen ihn seltsam an, doch sein Grinsen wurde nur breiter. »Ich hab da ein Pülverchen, was ich immer schon mal ausprobieren wollte!«
»O Götter«, murmelte Ralik. »Jetzt weiß ich nicht, wovor ich mehr Angst haben soll, vor seinem Pulver oder den Angreifern!« Denn Pulver war berüchtigt für seine alchemistischen Experimente.
Es dauerte länger, als wir dachten, bis sie kamen. Aber sie kamen. Wir hörten sie, bevor wir sie sahen, ein donnerndes Geräusch, das die Erde selbst zu erschüttern schien. Sie kamen mit der Abendsonne in ihrem Rücken, donnernde schwarze Schatten, grimmig schweigend bis auf einen gelegentlichen Ruf oder einen Befehl und das Rasseln ihrer schweren Rüstungen. Die Kavallerie kam die steile Straße hinaufgefegt wie eine Wand aus Fleisch und Stahl und nichts schien sie aufhalten zu können. Doch dann, plötzlich, war die Luft dicht mit schwarzen Pfeilen, Dutzenden, Hunderten, eine Wolke aus schwarzen Raben, die sich in die Luft erhoben und pfeifend in die Kavallerie einschlugen, Mann und Tier schrien, als sich die schweren Schäfte durch Metall und Leder in ihr Fleisch bohrten. Sie schrien und fielen, noch bevor der Angriff die Straße hinauf zum Dorf erreichte.
Kopfgroße Steine machten den Boden heikel für die Pferde, die steile Steigung und die Kurve nahmen ihnen den Schwung … und als die ersten Pferde fielen, kam der ganze Angriff zum Erliegen … und noch immer kamen Wolken der schwarzen Raben auf die Angreifer herabgeregnet, trafen Mensch und Tier. Nur knapp zwei Dutzend Reiter vermochten es, den Angriff bis ins Dorf zu treiben, ihre Schilder dick mit Pfeilen gespickt … und dann geschah das Unfassbare. Ein kleines Mädchen rannte über die Straße. Sera Tylane sah es und rannte los, sie wollte das Kind retten, aber es war zu spät. Die Reiter ergriffen die Sera Tylane und das Kind wurde mit einem Schwertstreich erschlagen. Da trat Vanessa, Tarlons Schwester, aus einem Hauseingang, ihr Gesicht versteinert, mit einem Bogen in der Hand, und der Mörder fiel, mit einem Pfeil in seinem Visier, noch bevor sein Opfer den Boden berührte. Ein Hagel aus Pfeilen ging hernieder auf die Reiter, doch man musste vorsichtig sein, um die Sera Tylane nicht zu treffen. Die Reiter warfen brennende Fackeln auf unsere Dächer und ritten mit Sera Tylane davon, doch die Hälfte von ihnen fiel aus den Sätteln, bevor sie in der Ferne entschwanden. Vielleicht der fünfte Teil der Kavallerie überlebte diesen ersten Angriff.
Doch dann kam der Angriff der Fußsoldaten. Nie zuvor hatte man so etwas hier gesehen, sie gingen voran, die Spieße hoch erhoben, im Gleichschritt mit dem Trommelwirbel und zum Klang von Trompeten und sie marschierten in den Regen aus schwarzen Pfeilen … es war, als ob eine Sense durch sie hindurchfuhr, doch sie marschierten weiter, im Takt der Trommeln, zu Dutzenden wurden sie niedergemäht, eine Welle von schwarzen Raben nach der anderen, bis die letzten brachen und flohen. Das Ganze konnte kaum mehr als fünf Minuten gedauert haben, dann standen wir da, sahen das Gemetzel, sahen das Schlachtfeld mit den Toten und Sterbenden, zu schockiert, um zu verstehen, was gerade geschehen war.
»Ihr wollt mir erzählen, dass die Leute des Dorfes fast eine ganze Armee von professionellen Soldaten vernichteten?« Lamar zog ungläubig eine Augenbraue hoch. Der alte Mann zuckte mit den Schultern.
»Nun, jeder von uns kann einen Langbogen verwenden. Es ist eine Art Tradition bei uns. Als die Armee ankam, standen ihnen300Langbogenschützen, entschuldigt, Seras, und natürlich auch -schützinnen entgegen. Im Nachhinein denke ich, dass die Angreifer nicht wussten, was ein guter Lytarer Langbogen zu leisten vermag. Zudem … Ihr habt gesehen, wie gewunden die Straße ist und dass das Dorf auf einem Plateau liegt. Unsere Vorfahren haben sich wohl etwas dabei gedacht.«
»Aber dennoch, eine Armee wie diese … so wie Ihr sie beschreibt, müssen es professionelle Soldaten gewesen sein …«
»Es geschah. Was soll ich sonst sagen? Aber es war noch nicht vorbei. Denn …«
… die Armee war nicht das eigentliche Problem. Bis dahin hatten wir ja relativ viel Glück gehabt. Nur neun Männer waren tot oder tödlich getroffen, vielleicht zwei Dutzend waren verletzt. Es war die Aufgabe des Radmachers, Ralik, das zu tun, was getan werden musste. Ralik Hammerfaust ging auf das Schlachtfeld hinaus, mit grimmigem Gesicht und seinem schärfsten Dolch, und sandte die Verletzten zu ihren Göttern. Ohne unsere Heilerin hatten wir keine andere Wahl, wir konnten sie nicht versorgen. Nachdem er diese grimmige Pflicht hinter sich gebracht hatte, trug Ralik drei Überlebende in seine Werkstatt. Wir hatten einige Fragen, auf die wir Antworten von diesen drei bekommen wollten. Niemand wollte darüber nachdenken, was nun in der Schmiede geschah, aber der Rat der Ältesten war sich einig darüber, dass es getan werden musste.
Doch dann kam erst der richtige Ärger. Es kam der Drache.
Es war ein großer Drache. Zuerst flog er hoch über uns hinweg und ließ Feuer auf unser Dorf regnen, entzündete das halbe Dorf. Doch dann kam er herunter und fegte wie ein Dämon der Hölle über unser schönes Dorf. Es brannte überall, die Flammen und der Rauch stiegen auf und dieses Wesen verbreitete mit jedem Flügelschlag Angst und Panik, eine Furcht so stark, dass sogar Ralik fast einen ganzen Schritt zurückwich. Aber genügend von uns bekämpften ihre Angst und richteten ihre schweren Bögen auf das Monster, Pfeil um Pfeil schoss hinauf, traf das Tier, aber die meisten Pfeile glitten harmlos von den Schuppen ab, nur die Flügel schienen verletzlich. Dies schien auch der Drache zu bemerken und flog nun so schnell, dass man kaum richtig zielen konnte. Immer wieder schoss das Feuer aus diesem furchterregenden Maul und setzte Häuser in Brand. Als schon alles verloren schien, trat Gernut, Garrets Großvater, auf die Straße. Er war einer der Ältesten der Stadt, ein alter Mann, der schon zu alt war, um viel mehr zu tun, als in seinem Schaukelstuhl zu sitzen und über seinen Enkel den Kopf zu schütteln … obwohl es heißt, dass Garret seine Liebe zum Fischen von ihm habe. Gernut konnte nur noch an Krücken gehen, aber an diesem Abend stand er da, einen Pfeil in der einen, seinen mächtigen Bogen, den seit zwanzig Jahren niemand mehr gespannt gesehen hatte, in der anderen Hand. Er stand da, ohne Krücken, mitten auf der Straße, und sah dem Biest gefasst entgegen, als dieses das einsame Opfer sah und sich auf Gernut stürzte. Und dann, als das Feuer schon in den Nüstern des Untiers leuchtete, spannte er seinen mächtigen Bogen, als wäre er noch ein junger Mann, und schoss seinen einzigen Pfeil … geradewegs ins Auge des Untiers, so tief, dass er bis zu den Federn darin verschwand. Eine Wolke von Feuer umhüllte Garrets Großvater, aber das Untier stieß einen gequälten Schrei aus, der voller Wut und Hass über das ganze Tal hallte und den wohl kaum jemand jemals wieder vergaß, und rammte in seiner Qual sogar den Dachstuhl eines Hauses … mit angehaltenem Atem sah ein jeder zu, wie das Vieh versuchte, sich zu fangen, ein jeder hoffte, es wäre tödlich verletzt, doch es gewann wieder an Höhe und flog davon … geschlagen, nicht von einer Armee, sondern von dem einzigen Pfeil eines alten Mannes, der schon alt erschien, als die Welt jung war.
Von Garrets Großvater jedoch blieb nach dem Drachenodem kaum mehr übrig als seine schweren Stiefel und sein Bogen, wie durch ein Wunder unverbrannt, aber nun schwarz wie die Nacht. Doch sein Opfer war nicht umsonst, der Drache war geflohen, zumindest im Moment.
Lytara war erschüttert und entsetzt. Doch die Häuser brannten, so taten wir, was getan werden musste. Die Armee hatte uns kaum geschadet, doch dieses Untier alleine hatte uns das Dorf verwüstet. Nur die Tatsache, dass viele unserer Dächer mit gutem Schiefer gedeckt waren, hatte uns gerettet. Trotzdem, der Preis war hoch. Wir bauen hier aus Stein, also hatten selbst die Häuser, deren Dächer brannten, nur das Dach verloren, dennoch, bis zum nächsten Morgen lagen vierzig Tote in einer Reihe auf dem Marktplatz und unzählige Freunde waren verletzt oder fürchterlich verbrannt. Wir verfluchten die Angreifer, die uns unsere Heilerin genommen hatten … oder beteten für Sera Tylane, denn jeder von uns wusste, dass wir sie nie wiedersehen würden.
Die Ältesten riefen uns am Brunnen zusammen und jeder, der gehen konnte, war dort, Pulver, zum ersten Mal seitdem man ihn kannte, ohne ein Lächeln auf seinem Gesicht, Garen, Gernuts Sohn und Garrets Vater, Ralik … all die anderen. Der Geruch von Rauch hing in der Luft und viele kümmerten sich um ihre Wunden, während sie darauf warteten, dass der Bürgermeister zu sprechen begann. Es war ein bedrückender Morgen, so viele Menschen standen um den Brunnen herum, dennoch war es still, keiner sprach, alle warteten, auf was, das wusste indessen niemand so recht.
Dann ging ein Raunen durch die Menge und Leute deuteten auf das Dach des Wirtshauses, dieses Hauses hier, dieses Dach, denn dort sah man etwas, das man seit Menschengedenken nicht mehr gesehen hatte. Auf dem Flaggenmast des alten Wirtshauses, des ältesten Gebäudes unseres Dorfs, stieg eine Flagge empor, trotzig und stolz entfaltete sich das alte Banner im leichten Wind, und es wehte über unserem Dorf eine Flagge, die kein Lebender je gesehen hatte. Das Banner von Lytar, ein Greif auf goldenem Grund, aufrecht stehend, eine Pranke ruhte auf dem Knauf eines Schwerts, die Klinge nach unten gerichtet, die andere erhob eine Sichel. Unter den hinteren Pranken lag eine besiegte Schlange.
Jedermann sah hinauf zu der Flagge und ein Raunen ging durch die Menge, denn ein jeder von uns wurde nun daran erinnert, dass Lytara immer noch ein Königreich war, auch wenn es keinen König mehr gab. Aber wie Pulver einmal erwähnte, nach all der Zeit war es denkbar, dass ein jeder von uns königliches Blut in seinen Adern hatte … und damit war es ziemlich egal. Wir waren alle Könige. Also konnten wir das getrost vergessen und uns auf unsere Arbeit besinnen. Das war typisch für Pulver. Es fiel einem mitunter nicht leicht, das zuzugeben, aber er hatte oft genug recht. Wenn man länger drüber nachdachte.
Aber dieses Banner erinnerte uns daran, dass wir einst ein mächtiges Reich gewesen waren und, wenn die Legenden wahr berichteten, wir uns von Machtgier, Neid und Krieg abgewendet hatten, das Schwert nach unten gekehrt, die Sichel erhoben als Zeichen für das friedliche Leben. Aber wir waren eine Nation, ein Reich und dieses Banner gab uns unseren Stolz zurück. Wir hatten uns vom Krieg abgewandt, der Macht entsagt, hatten das friedliche Leben gesucht.
Aber nun war der Krieg zu uns gekommen.
Es war an diesem Morgen, dem Morgen nach der Schlacht, als unsere Freunde wieder nach Hause kamen, müde und wund, denn sie waren die ganze Nacht gerannt und als sie sahen, was hier geschehen war, wurden ihre Mienen noch düsterer.
Garret bahnte sich einen Weg durch die Menge und sprang auf den Brunnenrand. Er half Elyra hoch … und sie erzählte uns mit tonloser Stimme, was mit Sera Tylane geschehen war. Das traf uns hart, denn die meisten von uns verehrten und liebten die Heilerin, denn sie hatte ihr ganzen Leben in den Dienst der Menschen hier im Tal gestellt.
Dann kam Ralik, der Radmacher, aus seiner Werkstatt und seine Gesellen schleiften die drei Gefangenen herbei. Auf dem Marktplatz war etwas errichtet worden, das man seit Jahrhunderten hier nicht mehr gesehen hatte, ein Galgen warf drohend seinen Schatten über den Platz und als die Gefangenen ihn sahen, wurden sie bleicher, als sie es schon waren. Ich glaube, dass nicht alle ihre Wunden von der Schlacht herrührten, aber niemand sagte etwas darüber.
Ralik stieg mühsam auf den Brunnenrand und eine Stille fiel über die Menschen. Es ist bei uns Tradition, dass, wenn man etwas zu sagen hat, man auf den Brunnenrand steigt. Ralik, obwohl er ein Ältester war, hatte dies niemals zuvor getan. Jeder wusste, warum dies so war, unser Brunnen ist groß und tief … und Ralik hatte, wie die meisten Zwerge, eine Abneigung gegen Wasser und Höhen, der Rand des Brunnens kombinierte beides … nur etwas Außergewöhnliches würde unseren Radmacher also jemals dazu bringen, auf den Rand zu klettern. Aber nun tat er es und wir alle sahen gespannt zu ihm hoch.
»Freunde«, erschallte seine Stimme über den Marktplatz. »Wir haben ein Problem.«