Die Lastenträger - Günter Wallraff - E-Book

Die Lastenträger E-Book

Günter Wallraff

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Beschreibung

Jetzt kommt das Team Wallraff – denn Ausbeutung verschwindet nicht, ändert nur ihr Gesicht Werkvertrag, Zeitarbeit, Tagelöhner, Franchising, Sub-Sub-Unternehmer, Honorarkraft oder Handschlagvertrag – nicht nur am Rande der Arbeitsgesellschaft bleibt arm und ungesichert, wer in die neuen Arbeitsrahmen eingespannt wird.Das geht in die Mitte hinein, bei Mercedes oder als IT-Experte auf dem freien Markt. Arbeit im freien Fall. Als wären die Erfolge von 150 Jahren Kampf für Menschenwürde in der Arbeitswelt wieder ausgelöscht. Als hätte die "Dritte Welt" in diesem Sektor der Metropolen schon Einzug gehalten.Arbeit auf Abruf, ohne Halt und Perspektive – das haben die Logistikbranche und der Internethandel nicht erfunden. Aber sie effektivieren dieses System täglich und stündlich. Deshalb bilden Fälle aus diesem Sektor einen Schwerpunkt. Es kommen Geschichten von Altenpflege auf Konzession, Lebensmittelverkauf im Franchisesystem oder Scheinselbständigkeit in Weltkonzernen hinzu. Und es werden Fragen an Politik und Rechtssystem in diesem Land gestellt, die diese massenhaften Rechtsbrüche zulassen oder sogar vorantreiben und dem schleichenden Aushöhlen von Würde und Respekt im Arbeitsleben keine Schranken setzen. Widerstand gegen die moderne Feudalherrschaft in der Arbeitswelt scheint eher von unten zu kommen. Auch davon berichtet dieses Buch, das von Günter Wallraff herausgegeben wird und im Projekt work-watch.de entstanden ist, einer Einrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, den neuen Arbeitsrealitäten ins Auge zu sehen – jenseits des schönen Scheins – und von Fall zu Fall intervenieren.

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Seitenzahl: 394

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Die Lastenträger

Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung Von Günter WallraffEinleitungTeil 1 Die Kosten von König Kunde: Internethandel völlig losgelöstAlleinherrscher Amazon: »Work hard. Have fun. Make history«Wie im Arbeitslager: »Sklavando« is watching youTeil 2 Werkverträge, Franchising und Subs: die Betrogenen der (De-)RegulierungDer Pflege-McDonald’s: Franchisegeschäfte mit der AltenpflegeIm Stern der Weltfirma: als Hungerlöhner bei MercedesSelbstschlachten und Ausbeinen: Herrscher übers Schweineland»If I had a hammer«: soloselbstständige Handwerker im InternetFrei sein, high sein: Crowdsourcing in der IT-BrancheBrotlose Kunst: arm trotz Arbeit und AusbildungTeil 3 Die Ausgelieferten: Alltag aus Schweiß und TränenPost-Niveau: die gelbe Aufholjagd beim DumpingSieben Monate bei GLS: von einem, der auszog, das Fürchten zu verlernenStaatlich geprüft: scheinselbstständig in AbsurdistanFahren Sie Ihren Arzt oder Apotheker: rasend in die ArmutTeil 4 Es geht auch anders: Widerstand ist machbarStatt einzel(n) handel(n): Überlebensmittel bei EdekaZurück zur Mutter: insourcen bei trans-o-flexWerkverträge entschärft: die Meyer-Werft-StoryIm Dornröschenschlaf: Staatsanwälte und GerichteWas möglich wäre, wenn man wollte: Eine Kontrollbehörde greift durchStreiken, klagen, siegen: Subs gegen KonzerneResümee: Denn sie wissen, was sie tunPostscriptum Von Günter WallraffUnternehmerprotest bei DPDPotemkinsche Zertifizierungen bei HermesFahrerausbeutung bei GLSEs muss gehandelt werdenWas ist work-watch?Biografische Notizen zu den AutorInnen
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Einleitung Von Günter Wallraff

In diesem Buch wird von Menschen in Arbeit berichtet. Genauer gesagt: von Menschen in unterbezahlter, miserabel bezahlter, ausbeuterisch bezahlter Arbeit und von Arbeitsbedingungen, die genauso empörend sind. Es geht um Menschen, die zu Opfern einer gewaltigen Umverteilung von arm zu reich werden. Einer gewollten Umverteilung zudem. Jedem vierten Beschäftigten in Deutschland wird heute durch Unterbezahlung genommen, was andere aufhäufen, die nicht mehr wissen, wohin mit ihren Millionen und Milliarden.

Seit Jahren steigt stetig und anscheinend unumkehrbar die Zahl der Erwerbstätigen, die von dem, was sie am Ende ihres Arbeitstages, ihrer Arbeitswoche oder ihres Arbeitsmonats nach Hause bringen, nicht menschenwürdig leben können und deshalb von der Wissenschaft als »arm« bezeichnet werden. Arm ist demnach jemand, der weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verdient.

Die Hartz-»Reformen« von 2003 bis 2005 haben diesen Prozess als Teil eines gewaltigen Polit-Tornados auf einzigartige Weise beschleunigt. Einzigartig sowohl in der deutschen als auch in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Deutschland weist in Europa den größten Niedriglohnsektor auf, jeder vierte Arbeitnehmer verdient so wenig Geld mit seiner Tätigkeit, dass er unter die amtliche Armutsschwelle rutscht. Manche der Betroffenen betteln beim »Jobcenter« um »Aufstockung«. Noch mehr vermeiden diesen demütigenden Gang.

Gleichzeitig war die Vermögensverteilung in Deutschland noch nie so ungerecht – und ist im europäischen Vergleich die ungerechteste. Die untere Hälfte der Pyramide – 40 Millionen Menschen – besitzt gerade mal ein Hundertstel des wirtschaftlichen Gesamtvermögens. Das unterste Viertel besitzt gar nichts oder hat Schulden. Der oberen Hälfte gehören 99 Prozent. Die obersten 10 Prozent halten allein zwei Drittel des Vermögens in ihren Händen, Tendenz steigend; das alleroberste Tausendstel der Bundesbürger, 80000 Menschen, verfügt bereits über knapp ein Viertel. Die 10 reichsten Deutschen haben sich über 100 Milliarden Euro (ca. sechs Prozent) an Vermögenswerten gesichert, auch hier: Tendenz steigend.[1]

Wer arm ist, hat also nicht nur ein miserables Einkommen, er hat auch keine Rücklagen, mit denen er eine Durststrecke überstehen könnte. Man bezeichnet in dieser neuen Kastengesellschaft die unterste Kaste, die Parias, die »Unberührbaren«, die Ausgegrenzten, Ausrangierten als »A-Gruppe«: Alte, Arme, Alleinerziehende, Arbeitslose, Ausländer. Dazu passt eine weitere statistische Meldung: Jedes zweite Kind von Alleinerziehenden lebt bereits unter der Armutsgrenze.

Deutschland galt noch bis in die 1990er-Jahre hinein als ein Land der sozialen Marktwirtschaft, des sozialen Ausgleichs. Das heißt, wir hatten vergleichsweise geringe Einkommensunterschiede – verglichen mit den USA, Großbritannien oder auch Spanien und Italien; wir lagen vergleichsweise nah an den skandinavischen Ländern, die in internationalen Vergleichsstudien in dieser Hinsicht immer am besten dastehen.

Es gab in den letzten zehn Jahren in ganz Europa, und zwar sowohl nach statistischen Erhebungen der Europäischen Union als auch denen der OECD, nur zwei Länder, in denen die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen sich noch schneller erweitert hat als in Deutschland, und diese zwei Länder sind Bulgarien und Rumänien.[2]

Vom Einzelfall zum System

Hin und wieder lösen kritische Medienberichte Empörung aus. Viele waren erschrocken, ja entsetzt, als sie im Fernsehen Zeuge wurden, wie zum Beispiel bei Amazon oder Zalando, bei Burger King, in Altenheimen und sogar bei Mercedes-Benz Beschäftigte schamlos ausgebeutet werden. Die Unternehmen gelobten, einmal ertappt, Besserung; ja, es hat sich sogar an dieser oder jener Stelle etwas zum Positiven gewandelt: Hygienische Bedingungen wurden verbessert, einzelne Entlassene wieder eingestellt, zeitraubende Pausenkontrollen abgestellt, illegale Überwachungskameras erst mal entfernt oder einige Leiharbeiter sogar fest übernommen.

Trotzdem wird das systematische Arbeitsunrecht weiter wie ein Naturgesetz hingenommen und bagatellisiert.

Es sind nicht nur die Ausreißer, die sich unsere Empörung verdient haben; wir müssen registrieren, dass mittlerweile ganze Branchen in frühkapitalistische Zustände zurückfallen; und dass selbst in den Vorzeigesektoren der Wirtschaft wie der Automobilindustrie längst nicht mehr nur Randbereiche in den Sog des Arbeitsunrechts geraten sind. Da hier für das Kapital noch viel zu holen ist, wird gerade in den Zentren des Wohlstands, in den stabilen Betrieben also, zugelangt und abgebaut. Millionen Beschäftigte arbeiten unter unwürdigen Bedingungen in allen Regionen Deutschlands.

Für dieses Buch haben zahlreiche Autorinnen und Autoren, einige von ihnen unterstützt mit einem Stipendium meiner Stiftung, die prekären und unwürdigen Arbeitsrealitäten teils selbst erlebt und ausgeleuchtet. Ich freue mich, dass sie sich diesen widrigen Zuständen ausgesetzt haben und über soziale Missstände berichten, auf die ich mein ganzes Leben lang hingewiesen habe.

Eine der Branchen, die sich besonders mit der Entwürdigung ihrer Arbeitnehmer hervorgetan hat, ist der Internethandel. Er wird von Amazon, Zalando und noch ein paar Größen dominiert. In dieser Branche sind nicht einzelne dreist und brutal agierende Manager das eigentliche Problem. Hier stimmt die ganze Richtung nicht. Hier sind sektenartige Strukturen entstanden.

Die Beiträge im Buch veranschaulichen an beispielhaften Schicksalen einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Systematik: Wie der körperliche und seelische Zusammenbruch der Beschäftigten als Folge abgeforderter Höchstleistung bei minimaler Achtung und geringer Bezahlung einkalkuliert wird, ja offensichtlich zum Geschäftsprinzip erhoben wurde. Die Belegschaften werden in schneller Folge ausgetauscht; neues »Menschenmaterial« wird angeheuert, wenn das alte, ausgepresste nicht mehr verwertbar ist oder saisonbedingt entsorgt, weggejagt und erst zum nächsten Weihnachtsgeschäft wieder einbestellt wird. Bei Zalando in Erfurt ist innerhalb von zwei Jahren rein rechnerisch die gesamte Belegschaft ausgetauscht worden. Im statistischen Durchschnitt liegt der Zeitwert der Beschäftigten für Zalando bei 12 Monaten.

Auch das Paketgewerbe gehört zu den Branchen, in denen die meisten der dort Beschäftigten unwürdig behandelt werden. Dem Lohndumping sind bei der Masse der Fahrer keinerlei tarifliche Grenzen gesetzt, die Subunternehmer sind z.T. noch weniger geschützt und haben als (Schein-)Selbstständige auch nichts von einem gesetzlichen Mindestlohn. Weil es in dieser Branche kaum staatliche Kontrollen gibt, um die Einhaltung auch jetzt schon vorhandener Schutzgesetze (zum Beispiel maximale Arbeits- oder Lenkzeiten) zu überwachen, steht zu befürchten, dass auch den Fahrern der spätestens 2017 verbindliche Mindestlohn nichts bringt. Zu viele Schlupflöcher für krumme Touren bleiben.

Bisher stellen Regierung und Justiz das ausbeuterische und boomende Geschäftsmodell der Paketbranche nicht infrage, das darin besteht, mit falschen Versprechungen gelockte Klein- oder Alleinunternehmer wie auch Fahrer mit Niedrigsteinkommen auszubeuten und erhebliche Teile der eigenen Betriebskosten auf sie abzuwälzen. Sie bezahlen mit ihrer Gesundheit, ihrer Lebensqualität und schließlich mit Privat- oder Geschäftsinsolvenzen.

Auch hier versagt bislang die Politik und fördert ganz im Sinne des neoliberalen Credos von der Eigenverantwortung jedes Einzelnen Scheinselbstständigkeit und sittenwidrige Ausnutzung der Ohnmächtigen.

Ein Lichtblick immerhin ist die Feststellung des Arbeitsministers in NRW, Guntram Schneider, vom 28. Juli 2014, in dieser Branche herrschten »gravierende Mängel«. »Erschreckend und alarmierend« sei, dass »die Mängelquote bei Unternehmen bei rund 85 Prozent« läge. Zu diesem Ergebnis waren die Behörden nach stichpunktartigen Razzien im Mai 2014 gekommen. 22 Paketverteilzentren aller großen Konzerne seien dabei kontrolliert worden. Der Grund für die nun auch zumindest in NRW festgestellten systematischen Gesetzesverstöße:

Die Profiteure der Leiharbeiterbranche brauchen keine langfristigen Verpflichtungen gegenüber ihren Arbeitnehmern mehr einzugehen. Urlaubsgeld, Krankengeld, Rentenzahlungen: alles überflüssige Kosten, der reinste »Sozialklimbim«. Nicht einmal Heuern und Feuern ist mehr nötig, gegen das sich häufig ganze Belegschaften aufgelehnt haben. Nein, das »Menschenmaterial« wird einfach zeitnah und konfliktfrei angemietet wie ein Presslufthammer, eine Hebebühne oder ein Kleinlaster.

Die Reportagen und Erfahrungsberichte in diesem Buch berichten von der eigentlich kaum für möglich gehaltenen kriminellen Energie, mit der in der »freien Wirtschaft« Gesetze gebrochen werden. Wie in der Reinigungsbranche, der Bauindustrie, bei den Automobilbauern, wo in zahllosen kleinen und großen Firmen definitiv festgelegte Schutzregelungen für Arbeitnehmer missachtet werden. Noch schlimmer, dass diese Rechtsbrüche im Wesentlichen ungeahndet bleiben. Der Staats- und Justizapparat, der allen Bürgern nicht nur das Gefühl vermitteln soll, es herrsche Rechtssicherheit, sondern der sie für jede und jeden in allen Lebensbereichen realisieren soll, versagt hier regelmäßig. Wenn Sie die entsprechenden Kapitel, etwa den Beitrag »Im Dornröschenschlaf«, gelesen haben, werden Sie vermutlich über dieses grundlegende Defizit erschüttert sein.

Menschenwürde in der Arbeitswelt?

In den Großbetrieben hat sich ein Dreiklassensystem herausgebildet: Da gibt es als erste Klasse noch die Stammarbeiter, die Zug um Zug durch billigere, willigere und schneller zu heuernde und zu feuernde Leiharbeiter – die zweite Klasse – ersetzt werden. Zur dritten gehören Mitarbeiter mit Werkverträgen, die Allerletzten. Sie dürfen noch nicht mal in die Kantine, in der die anderen noch vergünstigtes Essen bekommen.

Die Zerstörung gesicherter und dauerhafter Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitiger Zunahme prekärer Beschäftigungsformen, die Aufweichung und Entwertung des öffentlichen Rentensystems – die Politik hat die Vorschläge der Wirtschaft weitgehend umgesetzt. Die Folgen treten brutal zutage: wachsende Kinderarmut, höhere Bildungshürden, mehr Menschen ohne Kranken- und Rentenversicherung, dauerhafte Abkoppelung der unteren Schichten von kultureller und sozialer Teilhabe, Altersarmut. Trotzdem lassen die sogenannten Volksparteien bis heute nicht ab von ihrer neoliberalen Politik des sozialen Kahlschlags – ein Prozess, der mit rasantem Tempo voranschreitet.

Olaf Henkel, langjähriger BDI-Präsident und heutiger stellvertretender Sprecher und Europaabgeordneter der AfD (Alternative für Deutschland) offenbarte bereits vor Jahren in einem Interview im Berliner Tagesspiegel sein über allen thronendes Elitedenken: »Kennen Sie einen Armen?«, stellte er die rhetorische Frage. Und verriet seine Ignoranz: »Gehen Sie doch mal durch die Straßen und suchen Sie sie, die Armen. Ich finde sie nicht!«

 

Vielleicht sind es solche Repräsentanten, die der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat und frühere Minister Peer Steinbrück in seinem Buch »Unterm Strich« meint: »Ich bin in all den Jahren als Minister und als Privatperson Maklern, Investmentbankern, Beratern und Unternehmern begegnet, die von einer erschreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem ‚gemeinen Volk’ waren. Von einer wahren Parallelwelt darf mit Blick auf diese prosperierende Oberschicht gesprochen werden, die sich in einer eigenen Wirklichkeit eingerichtet hat.«

Wer nicht vorsätzlich blind – so wie Henkel – »durch die Straßen geht«, kommt nicht umhin immer häufiger ältere Menschen wahrzunehmen, die in Mülleimern wühlen und nach Verwertbarem suchen. Ein Ausdruck von Altersarmut. Die Betroffenen zahlen mit ihrer Würde und mit ihrer Lebenszeit.

Aber Würde ist ohnehin ein Begriff, der in der Arbeitswelt aus der Mode gekommen ist. Vielleicht weil die Würde, von der dann die Rede sein müsste, so billig und abgerissen wie sie daherkommt, als 400-Euro-Würde, als Ein-Euro-Jobberwürde, als Hungerlöhnerwürde bezeichnet werden müsste.

Menschen, die sehr viel leisten – lesen Sie in diesem Buch die Reportage über die Geldtransportfahrer, die ambulanten Altenpfleger oder über die Musiklehrerin auf Honorarbasis oder, oder – und die mit ihrer Arbeit der Allgemeinheit dienen, dafür größte Entbehrungen auf sich nehmen und unglaubliche Lasten schultern, werden dafür mit Billiglöhnen und Entwürdigung bestraft.

In vielen Bereichen ist es ein Ächzen und Stöhnen, zeigen sich Überforderungen unterschiedlichster Art: Ich treffe Menschen, die sich nicht mehr selbst bestimmen, die ein normales Leben nicht mehr finanzieren können, deren Familien zugrunde gehen oder gar nicht erst entstehen, weil ein Kinderwunsch nicht mehr erfüllbar ist.[3] In der gesellschaftlichen Rangordnung werden diese Lastenträger weit nach unten gedrängt, der Grund, warum sie in der veröffentlichten Wahrnehmung weitgehend ausgeblendet werden.

Obwohl schon die schiere Zahl aufrütteln müsste: Es gibt 10 Millionen Niedriglöhner, das sind sämtliche Bewohnerinnen und Bewohner aller deutschen Millionenstädte zusammen – und trotzdem erfolgt kein kollektiver Aufschrei. Der schwarz-rote Mindestlohn – so sehr ich einen wirklichen Mindestlohn begrüße – wird daran nichts Grundlegendes ändern. Wer bereits heute die für alle in drei Jahren verbindlichen 8,50 Euro erhält, kommt bei einem Vollzeitarbeitsplatz exakt auf Hartz-IV-Niveau, eingerechnet Grundsicherung, Wohn- und Heizkosten und Beschäftigtenzuschlag. Ein so niedriger Mindestlohn kann das Problem nicht beseitigen, dass zu viele Menschen in diesem Land nicht nur arm ohne Arbeit, sondern auch arm durch Arbeit sind.

Armut und Gegenwehr

Das hat die Agenda 2010 gewollt und auch erreicht. Aber dank dieses Armenbekämpfungsinstruments – das will ich nicht verschweigen – geht es vielen Arbeitnehmern in Deutschland heute besser als Arbeitnehmern in anderen europäischen Staaten. Denn im Konkurrenzkampf mit den Unternehmen aus den anderen Industriestaaten haben die deutschen Kapitalisten dank der erfolgreichen Lohnsenkungspolitik mithilfe von Zeitarbeit, befristeten Verträgen, Werkverträgen und steigender Wochenarbeitszeit die Nase vorn. Deutschland hat mit den schon mehrfach genannten knapp 25 Prozent den größten Anteil an Niedriglöhnern unter Europas Kernländern, mehr sogar als der Durchschnittsprozentsatz aller 27 EU-Länder.

Man kann diese Politik weitertreiben, man kann die Ungerechtigkeit noch steigern, dann bleibt es dabei, dass die Abgehängten und der Rest von Europa den Reichtum einer schmalen Oberschicht, besonders in Deutschland, weiter mehren hilft. Und große Teile des deutschen Mittelstandes weiter darauf hoffen müssen, nicht in die Verliererzone abzurutschen.

Woran liegt es, dass kollektive Gegenwehr gegen diese Politik der Abkopplung eines Viertels unserer Bevölkerung vom erreichten Lebensstandard ausbleibt, dass Armut in Deutschland – jedenfalls gemessen an ihrer Ausprägung, ihrer Erscheinungsform – noch immer weithin unsichtbar ist, selbst wenn die Zahl der Menschen, die Mülleimer durchstöbern, wohl jedem ins Auge fällt?

Auch bei uns tötet Armut. Nur schleichend, nicht so plötzlich, nicht so sichtbar. Ein Erfahrungssatz aus der Frühzeit des Kapitalismus ist wieder bittere Realität geworden: »Weil du arm bist, musst du früher sterben.« Der »Datenreport 2013«[4] stellt klar, dass die Lebenserwartung von armen Menschen hierzulande zehn Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung liegt. Ein Umstand, den der Präsident der Bundesärztekammer Montgomery »eine Schande für Deutschland« nennt.

An den frühen Tod denkt natürlich kaum jemand, der jetzt, in dieser Stunde, irgendwo auf der Straße oder in irgendeinem Unternehmen für einen Kümmerlohn schuften geht. Besonders nicht diejenigen, so vermute ich, für die ein solcher Zustand neu ist, die so etwas bisher höchstens vom Hörensagen kannten. Weil sie selbst lange Zeit gut verdient haben, als abhängig Beschäftigte oder selbstständige Unternehmer, sogar mit Hochschulabschluss, Facharbeiterbrief oder Fachschulabschluss, hoffen sie bis zuletzt, dass sie es in ihre alte Position zurückschaffen.

Ich habe bei meinen Undercover-Recherchen solche Menschen kennengelernt, die diesen Absturz hinter sich und trotzdem ihre Hoffnung nicht verloren hatten. Sie ackern weiter, sie wollen wieder raus aus der Misere, aber individuell, nicht gemeinsam mit anderen. Diese Entsolidarisierung ist die Crux, denn da, wo nur eine Minderheit gewerkschaftlich organisiert ist (und dann oft auch nur heimlich) und kein Betriebsrat existiert, sind der Entrechtung und Willkür Tür und Tor geöffnet.

Ich habe in den letzten Jahren in einigen der sogenannten niedrigen Jobs gearbeitet, die aus Menschen »working poor« machen, solche, die von ihrer Arbeit mehr schlecht als recht leben können. Ich war Callcenter-Agent, Hilfsbäcker für Lidl und Paketauslieferer und erlebte, wie meine Kollegen in all diesen Tätigkeiten erniedrigt und aufs Übelste ausgebeutet wurden. Gleichzeitig war ich stolz, an der Seite von Menschen zu arbeiten, die trotz dieser für Nichtbetroffene kaum vorstellbaren Widrigkeiten den Buckel hinhalten, sich aber das Kreuz nicht brechen lassen.

Millionen Beschäftigte stecken heute in diesem Gefüge fest – warum? Weil die Gesellschaft sie im Stich lässt und weil sie den Nutznießern dieser Verhältnisse nicht Einhalt gebietet. Es gibt zwar demnächst den hart erkämpften Mindestlohn,[5] aber Tarifschutz ist in diesen Sektoren weiterhin ein Fremdwort, Kontrollbehörden lassen sich nur selten blicken und wenn, dann meist vorher angekündigt. Selbst Gewerkschaften sind Mangelware, weil da, wo fast niemand organisiert ist, einer Gewerkschaft die Mittel fehlen, um dranzubleiben und nicht nur mal kurz vorbeizuschauen. Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass je nach Definition zwischen 10 und 20 Millionen »atypisch« oder prekär Beschäftigte Opfer dieses Ausbeuterskandals sind.[6]

Wir erleben einen schwer erträglichen Zustand: Die Gesellschaft wird von einem Geflecht aus Demütigung und Entwürdigung durchzogen. Eine Metastasierung von Unrecht und Ausbeutung sorgt für massenhafte Erkrankung und Erniedrigung. Befeuert von so unsäglichen Wirtschaftsstrategen wie Michael Rogowski, der schon vor zehn Jahren als damaliger Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie meinte: »Die Arbeitskraft hat einen Preis, wie ihn auch Schweine haben. Im Schweine-Zyklus ist der Preis hoch, wenn es wenig Schweine gibt. Werden viele Schweine angeboten, sinkt halt der Preis.« Ähnlich deutlich forderte der ehemalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walther: »Manche von uns (!) werden sich darauf einstellen müssen, künftig einen Lohn zu bekommen, der in Deutschland zum Überleben nicht mehr reicht.«

Der soziale Rassismus

In Deutschland (und auch in den anderen europäischen Ländern) gibt es bekanntlich einen nicht zu unterschätzenden Anteil rassistisch eingestellter Bürgerinnen und Bürger. Auch das wissen wir aus der amtlichen Statistik. Viele von denen, die hier malochen, haben eine Migrationsbiografie, sind Deutschrussen, Deutschtürken oder haben nicht einmal die vollen Bürgerrechte, weil sie keinen deutschen Pass haben.

Im deutschen Schulwesen werden Kinder aus Migranten-Elternhäusern bis heute eklatant benachteiligt, genauso wie Arbeiterkinder von Deutschstämmigen. In einem großen Teil der Eliten dieses Landes fließt bis heute eine Unterströmung des ethnischen und sozialen Rassismus, eine tief sitzende Verachtung gegen »die da unten«, die Proleten, die Türken.

Die Bildungs- und Aufstiegschancen sind verdammt ungleich verteilt. Der Zugang zu dieser Gesellschaft ist reglementiert. Sie ist an vielen Stellen eine blockierte und an vielen Stellen eine geschlossene Gesellschaft. Akademikerkinder haben eine sechsmal höhere Chance, ein Studium aufzunehmen, als Kinder von nicht studierten Eltern, erst recht von Migratenkindern.

Wenn geschulte Rassisten – ich meine die Sarrazins – solchen Menschen auch noch die Schuld für ihre Situation geben, auf ihnen noch Hass und Verachtung als »Reindeutsche« abladen, stellt das die Verhältnisse komplett auf den Kopf. »Bloß nicht auf die Ursachen schauen!«, ist ihre Devise. Bloß nicht eingestehen, dass das Einwanderungsland Deutschland seine neuen Bürgerinnen und Bürger auch nach 50 Jahren immer noch nicht willkommen heißt, immer noch nicht mit dem Herzen aufnimmt und selbst der dritten Generation noch mit Misstrauen und Abwehr begegnet.

Das sind Menschen, die andere wegen ihres Aussehens und ihrer Herkunft verachten und verächtlich behandeln, um daraus einen Ansehenserfolg, einen persönlichen und sozialen »Profit« zu ziehen.

Diese Arroganz treffen wir auch auf einem anderen Gebiet an. Viele derjenigen, die sich heute zur ökonomischen Elite rechnen, glauben, ihr Reichtum mache sie gegenüber den »Minderleistern« zu etwas Besserem. Diese überhebliche Haltung dringt wie ein Fäulnisprozess auch in andere Schichten ein.

Vor einiger Zeit zeigte sich sogar der leider so früh verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der sicher nicht linker Umtriebe verdächtig war, über diese soziale Arroganz, die kapitalistische Alltagsgier und ihre Folgen entsetzt. Als Resümee seiner Anklageschrift »Ego« machte er sich eine Binsenweisheit zu eigen, die unsereins von seinesgleichen vor etlichen Jahren noch als vergröbertes klassenkämpferisches Klischee um die Ohren geschlagen bekommen hätte. Ich zitiere ihn wörtlich: »Ich bin wie wir alle Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.«

Work-watch

Und ändert sich etwas? Man lässt vielmehr diejenigen gewähren, die Entrechtung zum anwaltlichen Programm erhoben haben, den »Unrechtsanwälten«, die widerständige Gewerkschafter und Betriebsräte nach allen Regeln des Psychoterrors an der Organisierung von sozialer Empathie und Gegenwehr zu hindern versuchen und aus den Unternehmen drängen. Ich war nach Begegnungen mit vielen Betroffenen und täglich bei mir eingehenden grausamen Schilderungen aus Betrieben so erschüttert, dass ich Anfang 2012 mit anderen zusammen eine Initiative gegründet habe: work-watch. Sie klingt mit Absicht so ähnlich wie Human Rights Watch. Die Initiative sammelt, beobachtet, interveniert und veröffentlicht solche Fälle und versucht, das Thema »Bossing« – so nennt sich das Mobbing von oben – ebenso auf die politische Agenda zu setzen wie das Einreißen von Schutzschranken gegen übermäßige Ausbeutung.

Solche Initiativen der Zivilgesellschaft sind bitter nötig, sie wollen und werden keine Konkurrenz zu Gewerkschaften sein, sie können etwas anderes, nämlich das Unrecht unabhängig und ohne Rücksicht auf eine nächste Verhandlung mit dem Arbeitgeber offen anprangern. Wie kann es sein, dass in einer Demokratie, die angeblich nicht am Werkstor endet, Methoden der psychologischen Kriegsführung gegen Arbeitnehmer zielbewusst eingesetzt, selbst nach Bekanntwerden geduldet und beschwiegen und die Opfer nicht geschützt oder entschädigt werden?

Der Kündigungsschutz ist weitgehend ausgehebelt, und Unternehmer, die am längeren Hebel sitzen, können jeden Unliebsamen unter Vorwänden erst mal aus dem Betrieb entfernen. Und dann braucht es oft Monate und Jahre, bis jemand vielleicht zu seinem Recht kommt, aber inzwischen mürbe gemacht und seinem Arbeitsplatz und seinen Kollegen entfremdet ist und sich vielleicht mit einer schäbigen finanziellen Abfindung abspeisen lässt.

Seit dem Zusammenbruch oder besser der Implosion des real existierenden Pseudosozialismus, der 25 Jahre hinter uns liegt, pflegt und trainiert der real existierende Kapitalismus täglich seine Raubtiermentalität und hat sie zum alternativlosen Modell erkoren. Dieses Modell reißt nicht nur eine wachsende Millionenzahl von Menschen ins Elend – vorwiegend im globalen Süden. Es zerreißt auch das soziale Gefüge in den westlichen Regionen. In Spanien, Frankreich und Griechenland proben meist junge Menschen deshalb den Aufstand. Sie wollen das Abrutschen ihrer Gesellschaften in die Barbarei verhindern. Wir können von ihnen lernen. Dass soziales Gewissen auch in Deutschland wieder erwacht, macht Mut und Hoffnung.

Ich vermisse eine Politik, die eindeutig Partei ergreift und sich den mächtigen Wirtschaftslobbyisten verweigert. Hier verlangt es nach Parteilichkeit und Bekennermut für die Ausgegrenzten und »Visionen«, die über das Arrangement der Tagespolitik hinausgehen.

Wer »Visionen« habe, solle zum Arzt gehen, sagte einst der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der heutzutage das chinesische Wirtschaftsmodell geradezu glorifiziert. Vorstellungen über den Status quo hinaus, von einer besseren, gerechteren, demokratischeren Gesellschaft stören diejenigen, die sich gern als »Pragmatiker« oder »Basta-Politiker« darstellen.

Wir sollten nicht vergessen: Die positiven Realitäten von heute, wie zum Beispiel die Gleichstellung der Frau, Kinder- und Minderheitenrechte, Arbeitsschutzgesetze und Umweltschutzbestimmungen waren die oft verspotteten Visionen und Utopien von einst. Unsere heutigen Visionen und Forderungen nach Bewahrung der Natur, Entschleunigung, menschengerechten Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitverkürzungen müssen die Realitäten von morgen werden, damit es noch eine lebenswerte Zukunft geben kann. Dafür müssen wir gemeinsam mit den Menschen, die guten Willens sind, über Landes-, Partei- und Standesgrenzen hinweg kämpfen.

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Teil 1Die Kosten von König Kunde: Internethandel völlig losgelöst

Revolutionär soll er sein, der Internethandel. Alles umwerfen, die Welt verändern. Das stimmt. Aber auch nicht. Denn auch hier wie überall sonst im Handel kauft ein Händler die anderswo produzierte Ware an und verkauft sie mit Aufschlag an den Kunden. Der Aufschlag reicht mitunter für einen Profit, mitunter auch nicht, es kommt ganz auf die Konkurrenz, auf die Nachfrage und auf die Einkaufspreise an. So weit, so altbekannt.

Was der Internethandel schon eher revolutioniert, sind Bestell- und Auslieferungsweg. Wer sich früher selbst auf die Socken machen musste, um eine Ware zu ordern (und manchmal auch gleich mitzunehmen), später dann per Postkarte oder Telefon bestellen konnte, nimmt heute den (Um-)Weg übers Internet. Eigentlich auch nichts umwerfend Neues, schneller halt, ohne Vorwahl, grenzenlos. Und der Auslieferungsweg? Den besorgt ein bezahlter Bediensteter, man könnte auch Diener sagen, Paketsklave (ein schlimmes Wort, von vielen Betroffenen meist nicht gern gehört, andere tragen die Bezeichnung stolz als Wutabzeichen). Auch nicht wirklich neu. Nur massenhafter, noch grenzenloser und wieder ohne Vorwahl. Wir berichten im Teil 3 dieses Buches davon, wie das »läuft«.

Revolutionärer Internethandel? Eigentlich, zumindest rein menschlich betrachtet, das Gegenteil von revolutionär: Der Internethandel reduziert die menschlichen Wahrnehmungen, die üblicherweise beim Warenkauf zur Entscheidungsfindung eingesetzt werden, er riecht nicht, er lässt sich nicht anfassen, er schmeckt nicht. Hier wird nur gesehen und manchmal auch gehört. Revolutionär?

In gewisser Hinsicht schon: Der Internethandel beschleunigt in wahnsinnigem Tempo die Konzentration im Handel. Weil Kunden zu faul zum »traditionellen« Einkaufen sind, auf inflationäre Weise via Internet weltweit nach begehrten Produkten und noch mehr nach Billigstpreisen fahnden, und weil ihnen der Transport der Waren durch die Bediensteten kaum oder gar nicht berechnet wird, gehen den realen Kauf- und Handelshäusern millionenfach Verkäufe und damit Umsätze und Profite verloren. Sie fusionieren oder verschwinden ganz vom Markt. Nicht unbedingt die Hofläden auf dem Bauernhof. Aber die Karstädter, die Buchläden, die Einzelhandelsgeschäfte von Elektronik, Schuhen, Reisen oder Eintrittskarten. Jeweils 30 Prozent der Medien, Computer und anderer Elektronikartikel gehen nicht mehr über den Ladentisch, sondern wurden bereits vom Internethandel übernommen. Knapp 10 Prozent am gesamten Einzelhandelsumsatz gehen auf sein Konto.

Produkte dieses Konzentrationsprozesses aus Kundenfaulheit, Neugier, Gier und Tempo sind zum Beispiel Amazon und Zalando.

Zugegeben: Das ist natürlich sehr einseitig betrachtet. Der Internethandel ist auch bahnbrechend und verführerisch, eröffnet Start-up-Unternehmern neue Chancen, lässt kleine Nischenläden überleben, eröffnet alten Sparten neue Segmente (26000 Einzelhandels-Unternehmen sind »online«), macht aus Dorfbewohnern Großstadt-Shopping-Queens und -Kings und verschafft dir und mir Einblicke in unbekannte Warenwunderwelten.

Der Internethandel boomt. Weltweit werden dort jährlich nach Schätzungen der Investmentbank Goldman Sachs mittlerweile 820 Milliarden Euro und in Deutschland 26 Milliarden Euro umgesetzt. Der Handel selbst geht sogar von 40 Milliarden Euro für 2013 aus, was 20 Prozent mehr als 2012 wären. Immense Steigerungsraten. Fest steht: Über 40 Millionen der zwischen 14- und 69-Jährigen bestellen mittlerweile (auch) online und lassen sich entsprechend beliefern.

Aber wie steht es um die »Arbeitsplatzgewinner« dieser Boombranche? Also diejenigen, die all die Internetbestellungen abarbeiten müssen.

Alleinherrscher Amazon: »Work hard. Have fun. Make history«

»Work hard – have fun – make history« ist das Firmenmotto bei Amazon. Hart arbeiten trifft zu. Spaß an der Arbeit eher weniger. Und Geschichte schrieb bisher vor allem der Konzern: Innerhalb weniger Jahre wuchs Amazon zum größten Online-Versandhändler weltweit und in Deutschland heran. Auf Kosten und zulasten der Beschäftigten.

Wer bei Amazon die Arbeit aufnimmt, der taucht in eine ganz eigene Welt ein. Das gilt in vielfacher Hinsicht, und zu spüren bekommt es jeder neu Eingestellte (New Hire) von Anfang an. Zuerst bekommt er oder sie ein dickes Heft mit Regelwerk, Ethik und Verhaltenskodex in die Hand gedrückt. Die Verkehrssprache, das merkt man gleich, ist speziell »Amazonisch«. Englische Ausdrücke für alles und jedes, für Positionen und Abläufe – und sie müssen wie Vokabeln gelernt werden, damit »die Receiver und Stower im Inbound, die Picker und Packer im Outbound« schnell drin sind in der »schönen neuen Amazon-Welt« mit ihren eigenen, häufig irritierenden und nicht nachvollziehbaren Regeln.

Die Receiver und Stower, die Picker und Packer, das sind die KollegInnen im Bereich Wareneingang und Lagerung (Inbound), die die Waren annehmen und einlagern, und diejenigen, die als Kommissionierer und Packer im Bereich Bestellbearbeitung und Warenausgang (Outbound) arbeiten. Sie stellen mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln bis drei Vierteln den Großteil der rund 17000 Beschäftigten in Deutschland und arbeiten im Zweischichtsystem in Früh- und Spätschicht, auch samstags.

Viele der Amazon-Filialen liegen in strukturschwachen Gebieten. Für die Beschäftigten hat das drastische Folgen: Zur Arbeit zu kommen ist nämlich häufig ein kleines Abenteuer. Denn die Versandhandelszentren liegen nicht nur auf dem platten Land, sondern auch noch außerhalb der Ortschaften in Gewerbegebieten, oft mit schlechter oder ganz ohne Bus- oder Bahnanbindung.

Zeitverschwendung plus Halbmarathon

Ein Kollege aus einem Versandhandelszentrum, ein Picker, nennen wir ihn Martin,[7] erzählt: »Die Anfahrt zur Frühschicht um 6.30 Uhr muss man genau planen. Eine Bahn- oder Busverbindung gibt es so früh nicht, jedenfalls nicht mit Anschluss zum Bus zu Amazon. Ich müsste um vier Uhr aufstehen, damit ich pünktlich anfangen könnte. Ohne Auto ist man aufgeschmissen. Aber selbst mit Auto hat man ein Problem: Es gibt zu wenig Parkplätze auf dem Gelände. Besonders im Weihnachtsgeschäft wird es immer sehr eng. Dann werden zwangsweise Fahrgemeinschaften vorgeschrieben. Einweiser kontrollieren das und lassen dich nicht auf den Parkplatz, wenn nicht mindestens drei Leute im Auto sitzen.«

Was natürlich nichts mit ökologischer Gesinnung, sondern ausschließlich damit zu tun hat, dass jeder weitere Parkplatz den Konzern Geld kosten würde. Das man sparen kann, auch wenn die Mitarbeiter bei ihrer Anfahrt größere Umwege in Kauf nehmen müssen.

Wenig freundlich geht es dann weiter, wenn der Betrieb endlich erreicht ist: »Schon wenn ich das rundum vergitterte Gelände sehe und durch das Drehkreuz am Eingang gehe, kommt bei mir so ein Gefängnis-Feeling auf. Dann muss ich zuerst in die Umkleide, wo man Handy und sonstige persönliche Gegenstände in den viel zu kleinen Spinden abzulegen hat. Ein bisschen ist das, als wenn man seine Persönlichkeit abgibt. Danach mach ich mich auf zur Sicherheitsschleuse. Die Kontrollen dort sind schlimmer als am Flughafen. Oft bilden sich hier lange Schlangen. Je nachdem wo ich eingesetzt bin, laufe ich danach noch zehn Minuten an meinen Arbeitsplatz in die Halle. Du musst dich vorher noch auf eine Anwesenheitsliste für einen eventuellen Feueralarm eintragen. Und deinen Handscanner holen. Erst dann kann ich mich einstempeln oder ›einbatchen‹, wie das bei uns heißt. Erst jetzt beginnt die Arbeitszeit. Wenn du dich eine Minute später einbatchst, werden dir 15 Minuten abgezogen. Bleibst du länger, kriegst du das aber erst ab 15 Minuten gutgeschrieben.

Nach monatelangen Auseinandersetzungen haben Belegschaft und Betriebsrat erreicht, dass mittlerweile das Einstempeln gleich an der Sicherheitsschleuse erfolgt. Die Arbeitszeit beginnt also jetzt endlich unmittelbar hinter der Schleuse. Aber am eigentlichen Arbeitsplatz muss man sich über den Handscanner noch einmal anmelden. Legt man dann nicht direkt mit seiner konkreten Tätigkeit los, gibt’s gleich wieder Stress. Umgekehrt läuft die Prozedur für die 45 Minuten Pause pro Tag, je nach Regelung ist sie am Stück oder aufgeteilt in 30 plus 15 Minuten zu nehmen. Kollegen beklagen, dass die Pausen oft nach Auftragslage hin- und hergeschoben werden. Besonders hektisch wird es, wenn die ›cut offs‹ bevorstehen, das sind feststehende Uhrzeiten, zu denen die Lkws der Logistiker wie DHL und Hermes voll beladen abfahren.

Es kommt vor, dass du in der Spätschicht, die um 15 Uhr beginnt, deine Pause erst um 21 Uhr hast. Abmelden zur Pause musst du dich an deinem Scanner direkt am Arbeitsplatz. Danach läufst du wieder ewig durch die Halle, durchs Treppenhaus, zur Schleuse und wartest dort in der Schlange. Dann gehst du zum Spind, Geld und Handy holen. Dann stehst du Schlange in der Kantine zur Essensausgabe und noch mal an der Kasse. Bis du den ersten Bissen runter hast, ist die Pause halb rum. Das ist unser täglicher Pausenklau.«

Aber weil sich Widerstand lohnt, konnte auch an dieser Stelle durch mehr Kassen und dezentrale Pausenräume an verschiedenen Standorten die Lage etwas entspannt werden. Was bitter nötig ist, denn für die KollegInnen sind die Pausen quasi lebensnotwendig, ihre Laufleistung auf der Arbeit, besonders der Picker, ist enorm.

Martin: »Du läufst dir die Füße wund, praktisch ununterbrochen acht Stunden am Stück. Nur wenn du einen Artikel aus dem Regal holst, stehst du mal einen Moment. Setzen ist verboten. Selbst wenn mal wenige Aufträge da sind und du Leerlauf hast, musst du stehen bleiben. Ich würde gern mal mit einem Schrittzähler picken gehen.« Das hat ein Undercoverjournalist vom stern mittlerweile gemacht und kam auf 15 bis 20 Kilometer.[8] Allerdings kann das je nach Auftragsvolumen mehr werden. Kollegen von Martin haben aufgrund ihrer Erfahrungen sogar 25 bis 30 Kilometer errechnet. Und man muss bedenken: Jeden Tag müssen diese Laufleistungen erbracht werden!

»Das Arbeitsamt hat uns bei den Vermittlungsgesprächen etwas von 7 bis 10 Kilometern erzählt«, berichtet Martin. »Kein Wunder«, sagt er, »alle Neuen haben Probleme mit den Füßen, den Knien und dem Rücken. Auch Leute, die jung und sportlich sind. Ich hatte auch schon blutige Blasen an den Füßen.«

Überwachung total

Jeden Morgen gibt es das sogenannte Start Meeting, von den Kollegen »Morgenandacht« genannt. Martin erzählt: »Die Morgenandacht, eine Art Appell wie beim Bund. Je nach Manager auch mit Anbrüllen. Jeden Tag gibt es mindestens einen Safety-Tipp. Zum Beispiel: ›Benutze den Handlauf an den Treppen‹, ›Fahrt euch nicht über den Haufen mit den Scarts‹. Dann wird was zur Quality gesagt: Was am Vortag gut gelaufen ist, was schlecht. Wie viele Aufträge noch offen sind. Zum Beispiel: ›100000 Units sind offen, wir müssen reinhauen!‹

Dann wird noch gefragt, ob jemand Fragen hat, die die Allgemeinheit was angehen. Da melden sich oft nur Arschkriecher, die was zur Qualitätsverbesserung sagen. Manchmal werden auch Stellungnahmen der Geschäftsleitung vom Blatt abgelesen, z.B. zu Streiks von ver.di. Da gibt es dann üble Anti-Gewerkschaftshetze.«

Die Überwachung der Kollegen und ihrer Arbeitsleistung findet gleich von mehreren Seiten statt: durch den Handscanner, der alle Vorgänge registriert, durch Überwachungskameras an vielen Ecken, natürlich durch Vorgesetzte und manchmal auch durch Kollegen.

Martin beschreibt: »Der Handscanner sagt dir, wo du hingehen musst: Halle, Etage, Regalnummer, Fach, Artikel. Dann musst du das Fach abscannen, den Artikel entnehmen, rundum ansehen, ob nichts beschädigt ist, das ist der berühmte ›Sechs-Seiten-Blick‹, dann den Artikel abscannen.

In der EDV können die Vorgesetzten sehen, wie viele Leute gerade am Picken sind. Man sieht, wie viele Artikel jede Person picken sollte, man sieht, was noch fehlt, wie lange der letzte Pick her ist und wo der Picker da stand. Scheinst du ihnen zu langsam zu sein, bekommst du Anweisungen per Scanner: ›Bitte schneller picken!‹, oder du wirst gleich einbestellt: ›Bitte zum Leadplatz kommen!‹ Der Lead ist der Gruppenleiter. Leider kann man nicht zurückschreiben. Mit Kollegen unterhalten sollst du dich auch nicht, das kostet ja Zeit. Sie knapsen mit jeder Minute.«

Die Process Guides, die den Leads zuarbeiten und die Prozessabläufe optimieren sollen, werden auch zur Überwachung eingesetzt. Sie machen auch sogenannte Audits. Dann laufen sie neben den Kollegen her und fragen sie dabei ab: »Was machst du mit einem Missing (fehlender Artikel)?«, »Was machst du mit einem Damage (schadhafter Artikel)?«

Martin: »Für deine ›Performance‹ ist wichtig, dass du fehlerfrei arbeitest. Die Fehlerquote wird ermittelt. Du musst aufpassen, dass dir nicht zu Unrecht Fehler angehängt werden. Mir ist kürzlich passiert, dass da ein falsches Handy im Fach lag. Das habe ich als Missing gemeldet. Kurz drauf kam der Lead und sagte: ›Komm mal mit, da ist kein Missing.‹ Wir gingen zum Fach, und da lagen die richtigen Handys. Nur durch Zufall hab ich dann mitbekommen, dass zwischenzeitlich die Leute von der Qualitätssicherung da waren und das Fach aufgeräumt haben. Sonst wäre das auf meine Fehlerquote gegangen.«

Unter dem Deckmantel von Safety, Quality und Kundenservice wird gegenseitiges Ausspionieren und eine Kultur des Anschwärzens gefördert. Martin: »Wir werden so getrimmt, dass wir dem Lead oder dem Manager Fehler von Kollegen melden sollen. Da heißt es dann: Der Kunde soll ja keine beschädigten Artikel bekommen. Oder: Die Sicherheit der Mitarbeiter ist uns wichtig. Wenn also jemand einen Fehler macht oder Safety-Regeln nicht einhält, dann sollen wir denjenigen darauf aufmerksam machen. Und wenn das nichts nützt, sollen wir es melden. Nicht wenige machen das auch und beobachten ihre Kollegen. Man muss aufpassen, an wen man gerät, und was man zu wem sagt. Der kann dich sofort in die Pfanne hauen.«

Die »Performance« der Mitarbeiter wird bei den »Feedback«-Gesprächen besprochen, die mehr oder weniger regelmäßig stattfinden. In Kombination mit den befristeten Arbeitsverträgen sind sie ein sehr wirksames Druckmittel. Damit werden Zielvorgaben gesteckt und versucht, eine Art Akkordtempo durchzusetzen.

Martin: »Manchmal hat man wochenlang gar kein Feedback, dann auf einmal an mehreren Tagen hintereinander. Man kriegt dann gesagt, man hätte soundsoviele Picks gemacht, andere machten aber viel mehr Picks. Wenn man dann argumentiert, man hatte große und unhandliche Artikel dabei, oder der Fahrstuhl zum Picktower kommt oft nicht, dann kriegt man zu hören, das wäre alles berücksichtigt und in die Vorgaben hineingerechnet. Aber keiner weiß, woher die Zahlen und Vorgaben kommen. Du kannst nix nachvollziehen.

Dann wird Druck aufgebaut: ›Was machst du, um deine Performance zu verbessern?‹ Wenn man sagt, man tue sein Bestes, dann sagen sie, dass du auf die Zielzahlen kommen musst. Obwohl wir ja nicht im Akkord bezahlt werden. Feedback und Befristungen sind ihre größten Druckmittel. Den Befristeten wird gesagt: Wenn du schlechte Zahlen hast, wirst du nicht übernommen.«

Wettbewerbe werden laufend veranstaltet, man denkt sich da immer wieder neue Spielchen aus, um die Mitarbeiter anzutreiben. So gibt es zum Beispiel eine »Power Hour«, da sollen alle reinhauen, und wer am meisten Picks schafft, bekommt als Preis ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Power Hour Champion«.

Performance und Wettbewerb sind umso absurder, als der Workflow, also der Arbeitsfluss, vom operativen Management per IT gesteuert wird. Dadurch ist es natürlich auch möglich, die Zuteilung von leichteren und schwierigen Aufträgen an den jeweiligen Beschäftigten zu beeinflussen. Kollegen berichten, dass die Sieger solcher Wettbewerbe ausschließlich viele Kleinaufträge (= viele Picks) oder Aufträge mit Artikeln aus einem kleinen Radius erhielten. Das bedeutet, die anderen Kollegen müssen dann umso öfter die großen und weiter auseinanderliegenden Waren picken.

Ironischerweise erinnert das an die Hennecke-Bewegung in der seligen DDR. Durch das gezielte Pampern der Vorzeigearbeiter geriet die Arbeitsorganisation der anderen Beschäftigten derart ins Hintertreffen, dass insgesamt keine Produktivitätssteigerung erzielt wurde. Hauptsache, der Konkurrenzkampf untereinander durch (wenn auch künstlich hochgepuschte) Zahlen funktionierte …

Amazon stellt Versandarbeiter grundsätzlich nur befristet ein, obendrein noch mit einer Probezeit von sechs Monaten, und macht vom Teilzeit- und Befristungsgesetz ausgiebig Gebrauch. Für sachgrundlose Befristungen erlaubt das Gesetz drei Verlängerungen für einen Zeitraum bis zu zwei Jahren, den Amazon bei vielen auch ausschöpft, indem die befristeten Arbeitsverträge mehrfach verlängert werden. So ist je nach Standort und Jahreszeit immer etwa ein Drittel bis die Hälfte der Stammbelegschaft befristet. Hinzu kommen im Weihnachtsgeschäft dann noch die befristeten Saisonkräfte.

Wenn ein Standort aufgebaut oder erweitert wird, gibt es von Zeit zu Zeit kleine Entfristungswellen. Die Auswahl trifft das Management.

Martin: »Die Auswahl hat oft gar nichts mit der Performance zu tun, eher damit, wer den Leads und Managern passt und wen sie loswerden wollen. Ich hab schon erlebt, dass Leute mit vielen unentschuldigten Fehltagen übernommen wurden. Und andere nicht, die immer reingehauen haben und nie krank waren. Ich glaube manchmal, die würfeln das aus, so willkürlich, wie das läuft. Aber es macht großen Stress und Druck auf die Leute, denn sie haben keine sichere Lebensplanung.«

Besonders viele Kollegen trifft es am Ende des Weihnachtsquartals. Alle haben geschuftet und hoffen, sie werden verlängert. Die einen sind dabei, die meisten müssen gehen. Im Amazon-Jargon sind die Mitarbeiter »hands«, und der Vorgang des Rauswurfs der Befristeten heißt wie beim Viehtransport »ramp down«, also die Rampe hinuntertreiben.

Und so ähnlich geht es auch zu. Claus vom Standort Graben bei Augsburg erzählt: »Oft wird den Leuten bis zum letzten Tag der Befristung nicht gesagt, ob sie verlängert werden. Zum Beispiel nach dem Weihnachtsgeschäft werden die Kollegen in die Büros geschickt. Da empfängt sie dann nicht mal ein Mitarbeiter von Amazon, sondern einer von der Security-Firma. Im Büroflur werden die einen in Raum A, die anderen nach nebenan in Raum B geschickt. Der Security-Mitarbeiter geht dann erst in den einen Raum und sagt den Leuten, dass sie verlängert werden. Da gibt es natürlich großen Jubel. Das hören die Kollegen nebenan und wissen schon, dass sie die Niete gezogen haben. Ihnen nimmt man dann ihre Mitarbeiterkarte ab, sie müssen die Arbeitsklamotten und Sicherheitsschuhe abgeben, sofort ihren Spind leer räumen und gehen. Viele nehmen aber die Sicherheitsschuhe normalerweise mit nach Hause, ziehen sie morgens an und kommen mit ihnen zur Arbeit, denn unsere Spinde sind so klein, dass man Schuhe kaum reinkriegt. Im Weihnachtsgeschäft 2011 hab ich erlebt, dass dann welche am 31. Dezember barfuß vor die Tür gesetzt wurden und sehen konnten, wie sie nach Hause kamen.«

»Wenn Sie die Wahl zwischen Amazon und Pest haben: Wählen Sie die Pest!«

Der Satz stammt von Andrew Wylie, Literaturagent in den USA und bekannter Amazon-Kritiker – jedenfalls dann, wenn es um den Plan von Amazon geht, mit einem eigenen Verlag dem Buchhandel den Garaus zu machen. Andrew Wylie studierte zunächst in Harvard Romanistik und gehörte später in New York zum Umfeld von Andy Warhol. Im Jahr 1980 gründete er dort seine Agentur »The Wylie Agency« und vertritt mit dieser mehr als 800 Schriftsteller, etwa Norman Mailer, Salman Rushdie, Vladimir Nabokov oder Susan Sontag. Geäußert hat Wylie diesen Satz in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Zeitung,[9] aus dem wir einige der treffendsten Antworten wiedergeben:

»Die Verhandlungsstrategien von Amazon sind brutal. Sie agieren als Monopolist und haben es darauf angelegt, den Handel mit gedruckten Büchern zu zerstören. Man muss ihnen mit allen Mitteln Widerstand leisten.«

»Das sind keine interessanten Leute, ihr Konzept ist uninteressant, pure Zeitverschwendung. Man hat sie zu wichtig genommen.«

»Ich glaube nicht daran, dass sie in irgendeinem Sinne beabsichtigen, auf dem Feld der Buchproduktion konkurrenzfähig zu werden. Ihr Verlagsprogramm, das sich durch seine Idiotie auszeichnet, ist nur dafür da, der Welt weiszumachen, sie nähmen das Verlagsgeschäft ernst. Nicht einmal MacKenzie Bezos, die Frau von Jeff Bezos, publiziert bei Amazon. Sie brachte ihren Roman »Traps« zu Knopf. Niemand, dem es ernst mit der eigenen literarischen Arbeit ist, würde sich von Amazon verlegen lassen, und Jeff Bezos ist intelligent genug, das zu wissen. Kein Schriftsteller, der bei Sinnen ist, wird glauben, dass Amazon es ehrlich meint, wenn man verkündet, man strebe einen Platz unter den großen Verlagen an. Das ist eindeutig nicht der Fall. Nichts, was Amazon publiziert, lohnt die Lektüre. Wenn Amazon Bücher druckt, ist das nichts weiter als ein Abholzungsprogramm.«

»Amazon hat das Justizministerium mit Erfolg dazu überredet, gegen die großen Verlagshäuser in New York eine vollkommen unbegründete Klage zu erheben – mit dem Vorwurf, sie wollten durch gemeinschaftliche Absprachen mit Apple, dem Hersteller des iPad, die Preise für E-Books fixieren. Die Klageschrift war Punkt für Punkt von Amazon diktiert. Mit diesem eigensüchtigen Verhalten konnte Amazon nur durchkommen, indem die Firma die Attrappe eines Verlagsprogramms auf die Beine stellte. So kann sie sich als Mitbewerber der Buchverlage ausgeben und vertuschen, was sie wirklich ist: ein Vertriebsunternehmen, das es auf ein Monopol abgesehen hat.«

»Jeff Bezos ist einer der reichsten Männer der Welt, hat also ganz gut für sich gesorgt. Bücher sind für ihn weniger wichtig als Kühlschränke.«

»Mein Rat lautet: Wenn Sie die Wahl haben zwischen der Pest und Amazon, wählen Sie die Pest!«

Die Krake

So viel Gleichgültigkeit gegenüber Mitarbeitern verweist darauf, wie wenig dieser Konzern seine Beschäftigten achtet. Im Kontrast dazu behandelt Amazon die Waren, die er umschlägt, mit größter Wertschätzung. Sie sind das Höchste, Beste und Wertvollste überhaupt, vom Rasenmäher bis zum Tablet. Längst steht bei Amazon ihr Anfangs- und Prestigegeschäft, der Handel mit Büchern und CDs, nicht mehr im Vordergrund. Heute findet man im Online-Gemischtwarenladen eine breite Produktpalette: von elektronischen Geräten bis hin zu Möbeln, Lebensmitteln, Rasenmähern und Autoreifen. Amazon produziert Filme selbst, nimmt Autoren direkt unter Vertrag und verlegt Bücher, bietet Cloud Computing und Software an, bringt eigene Reader und Tablets heraus.

Ein wichtiges Standbein ist das Geschäft für Dritte: Amazon bietet großen wie kleinen Händlern eine Verkaufsplattform für ihre Produkte und wickelt den Versand ab.

Amazon ist eine Art »Krake Nimmersatt«. Es gibt keinen Bereich, den der Global Player sich nicht erschließen will, wenn möglich natürlich als Pionier und in marktbeherrschender Stellung. Die Mission ist nach eigener Philosophie: »das am meisten kundenorientierte Unternehmen auf dem Planeten zu sein, wo die Leute jedes Produkt entdecken können, das sie online kaufen möchten«.

Ein eigenes Smartphone produzieren, Baustoffe verkaufen, werbetrickreich Paket-Drohnen fliegen lassen und Touristen in den Weltraum schießen wird uns das Weltkaufhaus demnächst angeblich auch noch bescheren.

Seit den Anfängen 1994 in Seattle betreibt der Firmengründer, CEO und Hauptaktionär Jeff Bezos in den USA und international eine aggressive Expansionsstrategie. Es geht um die Marktführerschaft und möglichst großen Vorsprung vor der Konkurrenz durch günstige Preise – und geringe Gewinnmargen –, um langfristig Kasse zu machen.

Sinnbild dafür mag das Lesegerät Kindle sein, das Amazon zu Dumpingpreisen (und phasenweise gar umsonst) auf den Markt geworfen hat, und auf dem nur bei Amazon gekaufte E-Books gelesen werden können. Gern verschenkt man die Kindles auch als gute Tat an Kindergärten und Schulen. Die gar nicht so innovative Idee (siehe Microsoft): Hat man erst eine marktbeherrschende Stellung bei der Hardware, kann man später bei der Software umso ungenierter abzocken.

Die Expansionsstrategie zieht Bezos bisher auch auf Kosten der Gewinne durch: In manchen Quartalen gab es Gewinneinbrüche oder gar kleine Verluste. Dividenden wurden bisher nicht ausgeschüttet. Doch da der Aktienkurs seit Jahren nach oben zeigt, halten sich die Aktionäre hier schadlos.

Auch Amazon-Boss Jeff Bezos kommt auf seine Kosten. 2013 belegte er mit einem geschätzten Vermögen von 25 Milliarden Dollar in der Forbes-Liste Platz 19 unter den reichsten Menschen der Welt. Nebenbei und quasi aus der Portokasse kaufte er 2013 für 250 Millionen Dollar die traditionsreiche Washington Post.

Natürlich nutzt der Global Player auch alle Möglichkeiten zur »Steueroptimierung«, die die Politik in den vergangenen Jahrzehnten eröffnet hat. Sitz der europäischen Holding Amazon EUSARL ist Luxemburg. Die deutsche Amazon.de GmbH ist eine 100-prozentige Tochter. Jedes deutsche Versandhandelszentrum ist wiederum 100-prozentige Tochter von Amazon.de, wird aber als eigene Gesellschaft in der Rechtsform einer GmbH geführt.

Der Sitz in Luxemburg führt zu der erfreulichen Situation, dass Amazon.de im Jahr 2012 bei Umsatzerlösen von 6,5 Milliarden Euro lediglich 3,2 Millionen Euro Steuern in Deutschland bezahlte.[10] Deutscher Verwaltungssitz ist München, Kundenservicezentren gibt es in Regensburg und Berlin.

Der Kern der Unternehmenstätigkeit spielt sich in den insgesamt neun Versandhandelszentren an acht Standorten ab (Stand Ende 2013). Die ersten Zentren in Deutschland entstanden in Bad Hersfeld (je eins in 2001 und 2009) und Leipzig (2006). Zwischen 2010 und 2013 ging es dann Schlag auf Schlag: sechs neue Niederlassungen wurden eröffnet: in Graben bei Augsburg, in Rheinberg und Werne in NRW, in Koblenz und Pforzheim, zuletzt in Brieselang bei Berlin.

Bevorzugt werden Standorte gewählt, die eine gute Autobahnanbindung haben, nicht allzu weit von einem Flughafen entfernt und gerne in strukturschwächeren Regionen liegen. Das hat den Vorteil, dass Politik, Agentur für Arbeit und Jobcenter dem Konzern zu Füßen liegen. Auf eine Anfrage im Bundestag Anfang 2013 gab die Bundesregierung die Zahl von mindestens 14 Millionen Euro Fördermitteln bekannt, die von Bund und Ländern an Amazon geflossen sind. Kommunale Ausgaben für vielfältige Infrastrukturleistungen sind darin noch gar nicht erfasst.

An jedem Standort arbeiten zwischen 1500 und 3500 Beschäftigte. Bundesweit gab Amazon 2013 im Schnitt 9000 unbefristet Beschäftigte an. Hinzu kommen noch mal rund 7000 bis 8000 befristet Beschäftigte, die man ebenfalls zur Stammbelegschaft zählen muss; denn Befristungen sind auch außerhalb des Saisongeschäfts eine Dauereinrichtung bei Amazon. Zum Weihnachtsgeschäft werden zusätzlich noch einmal Tausende weiterer Saisonkräfte eingestellt, sodass sich die Standortbelegschaften zeitweise verdoppeln.

Wo Amazon hinkommt, fegt das Unternehmen den regionalen Arbeitsmarkt an ungelernten Kräften und Langzeitarbeitslosen leer. Die Jobcenter werden »Kunden« los, auf deren Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt sie nicht mehr zu hoffen wagten. Da darf Amazon dann auch eigene Büros in der Agentur beziehen und dort direkt rekrutieren. Zuschüsse für Langzeitarbeitslose inklusive.

Eine Betroffene erzählt: »Ich war in Hartz IV und bin zu Amazon gezwungen worden. Sie wollten mir sonst die Gelder kürzen. Wir kamen bei der Agentur in eine extra Etage, dort saßen die Amazon-Leute und führten mit großen Gruppen von 50 bis 60 Leuten ihre Tests durch.«

Amazon macht eigene Einstellungstests. Wer sie besteht, ist drin. Die Einstellungspraxis ohne Ansehen von Herkunft und bisherigem Lebenslauf ist vielleicht das einzig Positive, das man über den Konzern sagen kann: Menschen mit Migrationshintergrund, Jugendliche, die noch nie eine Stelle hatten, Langzeitarbeitslose, Ex-Hartz-IV-BezieherInnen, Ex-Selbstständige, Menschen in Privatinsolvenz, Ex-Drogenabhängige, Ex-Strafgefangene – all diese KollegInnen machen einen guten Teil der Belegschaft aus.

Bei der Besetzung von Vorgesetzten-Positionen ist die Auswahl schon etwas strenger, hier wird auf die richtige Einstellung Wert gelegt: »Stetige Weiterentwicklung bietet motivierten Mitarbeitern die Möglichkeit, ihr Potenzial zu entfalten und mit einem hohen Maß an Eigentümerdenken und Verantwortlichkeit bedeutungsvolle Ergebnisse zu erzielen.« Natürlich wird den so eingetunten Vorgesetzten kein Quäntchen Eigentum geschenkt, schon gar nicht am Konzern – aber sie sollen so handeln, als wäre oder würde alles ihr’s werden, was sie aus Pickern, Packern und den anderen herausholen.