Die Liebhaber der Sophie - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Die Liebhaber der Sophie E-Book

Rolf Friedrich Schuett

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Beschreibung

Philosophische Überlegungen in psychologischen Auslegungen. Dieser neue Blick hinter die imposanten Fassaden einflussreicher Denkgebäude will keine sinistren Klatschgeschichten über die Geisteshelden kolportieren. Es geht nicht darum, den kleinen Denker hinter seinen großartigen Gedanken bloßzustellen. Weisheitsliebe hat weniger mit purem Wissen zu tun als mit dem Witz bei der Ur-Sache. Metaphysische Hinterwelten haben ja häufig recht physische Hintergedanken und ganz persönliche Hintergründe, die in der stolzen Rationalität nur rationalisiert sind. Es ist meist ein unbewusstes Sein, welches das philosophische Bewusstsein mitbestimmt, sogar bei Marx und Freud selbst, ganz systematisch. Das Leben und Erleben auch der zu Recht berühmten Philosophen stimmte je sowenig überein, dass ihr Denken allzu häufig fast nichts als der gequälte Versuch einer Rechtfertigung für diese Divergenz wurde: begriffliche Überkompensation. Die wahre Rückseite der Dinge, die uns die Denker so gern zeigen, ist zuweilen das, was sie hinter ihrem eigenen Rücken treiben. Liebe und Geld regieren auch die Welt der Weltanschauer. Die europäische Philosophiegeschichte wird hier in prägnanten Philosophengeschichten erzählt. Hinter dem menschlichen Bewusstsein steckt nicht nur, wie Marx schrieb, ein bewusstes Sein, sondern auch ein Un(ter)bewusstsein, wie Freud schrieb. Oder ist ein tiefer Gedanke, der uns manchmal zu hoch ist, doch mehr und anderes als ein tiefes Gefühl, das er zuweilen verbirgt?

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INHALT

Wozu Philosophie?

Die Liebhaber der Sophie

Das griechische Altertum

Das christliche Mittelalter

Renaissance

Das 17. Jahrhundert

Das 18. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert

Das 20. Jahrhundert

Habermas und die Soziologie des Sozialismus

Lechtsrinks

: Marcuse, Benjamin, Marquard

FÜR ELKE

ZITATSACHEN

Sigmund Freud sagte zu Ludwig Binswanger, „daß Philosophie eine der anständigsten Formen der Sublimierung verdrängter Sexualität, nichts weiter, ist".

diu minne ist der natur, daz si den menschen wandelt in die dinc, die er minnet. (Meister Eckart)

Das Weib ist nichts anderes als eine Art Materie ... die uns aus ihrem Schoße hervorbringt, erhält und wieder aufnimmt... daß nämlich das Weib so wenig genug an Männern habe wie die Materie an Formen. (Giordano Bruno)

Die Philosophie hat mir auch ihre Gunstbezeigungen nicht gänzlich versagt, und trotz der Eifersucht manch ihrer Liebhaber, sich zu meinem Vorteil erklärt. (S. Maimon)

Jedes Männchen von Gedanken fand sein Weibchen. Oder die Ideen in seinem Kopf müssen entweder lauter Männchen oder lauter Weibchen gewesen sein. Denn es hat sich nie ein neuer erzeugt. (Lichtenberg)

Frauen können wohl gebildet sein, aber für die höheren Wissenschaften, die Philosophie... sind sie nicht gemacht. (Hegel)

Monsieur le Capital und Madame la Terre: Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben... In Hegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie, gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur... Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe. (Marx)

... zu bedenken könnte geben, daß das Wort Materie von mater herstammt, also von fruchtbarem Weltschoß... daß das Weib des Mannes bedarf wie der Traum der Deutung... beide auf dem Weg zur androgynen Einheit... das Letzte, das den Menschen überhaupt erwartet, ist nach Gestalt und Wesen das Weib... mit fraternitas auch ohne Vater... Der Weltstoff ging so wahrhaft als mater-ia, als Mutter der Dinge auf, als sich selbst befruchtende dazu, als autarke, sich selbst genügende ,natura naturans'... (Bloch)

Ich glaube, daß das Ideal des Genitalcharakters ganz schlecht ist. Sein typischer Vertreter ist Siegfried, vom jungen Wagner als Proletariat konzipiert... Ich glaube, daß die Vorlust mehr ist als die Lust... Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. (Adorno)

Wie Narziß protestierte Orpheus gegen die unterdrückende Ordnung der zeugenden Sexualität. Der orphische und narzißtische Eros ist ... die „Große Weigerung“. (H. Marcuse)

Sehen heißt deflorieren ... Man reißt der Natur die Schleier ab, man enthüllt sie… Der Forscher ist der Jäger, der eine weiße Nacktheit überrascht und mit seinem Blick vergewaltigt ... man jagt, um zu essen… Die Erkenntnis ist Eindringen und zugleich oberflächliche Liebkosung, Verdauung und distanzierte Betrachtung. (Sartre)

Wir müssen in Ödipus jene Gestalt des griechischen Daseins begreifen, in der sich dessen Grundleidenschaft ins Weiteste und Wildeste vorwagt, die Leidenschaft der Seinserfüllung... Die Kolonie ist das auf das Mutterland zurückweisende Tochterland. Indem der Geist Land solchen Wesens liebt, liebt er mittelbar und verborgen doch nur die Mutter. Das ist die heimatliche Erde, ... die Verschlossene... Das Sein entzieht sich... Es gibt sich und versagt sich zumal. Person ist Aktvollzieher... Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf... Dieses Wohin der Ekstase nennen wir das horizontale Schema... Erkennen ist der ekstatische Bezug zur Lichtung des Seins ... Das Seiende kann als das Seiende nur sein, wenn es in das Gelichtete der Lichtung herein- und hinaussteht... Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen... vom Ge-stell zur Lichtung... das Seiende steht im Sein... Das Wesen der Kunst ist... Dichten innerhalb der Lichtung... dieser Stoß ins Offene ... aber dieses vielfältige Stoßen hat nichts Gewaltsames ... das Innige im gespannten Auseinander im Zueinander eines Einigen ... Natur, die leicht umfangend alles in ihrer Offenheit und Lichtung einbehält... Gunst des Seins... dem Sein höriges Denken ... schmiegsam, schmiedbar, geschmeidig, fügsam leicht ... Physis meint das aufgehende Sichaufrichten... das Aufgehen ins Offene... im Sinne des Gerade-aufrecht-in-sich-dastehens... Aufgehen kann... am Hervorgehen von Tier und Mensch aus dem Schoß erfahren werden... wohlgerundete Unverborgenheit... Unverborgenheit des Seins als Mörder des Vaters und Schänders der Mutter... Wer sich auf den Weg des Denkens begibt, weiß am wenigsten von dem, was als die bestimmende Sache ihn — gleichsam hinterrücks über ihn — zu ihr bewegt. (Heidegger)

Wozu Philosophie?

Rettet die Philosophie vor den Philosophen, aber wer kein Berufsphilosoph ist, muß deshalb noch nicht denken können.

Es soll Frauen geben, die nur herumzukriegen sind durch Gespräche über Kierkegaard. Wenigstens sollte es sie geben, und nur Philosophie kann ihnen helfen, Männer zu finden, die Frauen suchen, welche liebesvorgespielte Nietzschekenner bevorzugen, zum Beispiel. Wer eine Freundin loswerden will, die auf Mindestniveau Wert legt, kann es à la Kierkegaard tun oder sich à la Schopenhauer gar nicht erst darauf einlassen. Für welche Frau von Umwelt ist es nicht schmeichelhafter, von einem Kierkegaardisten sitzengelassen als von einem tumben Allerweltskerl geheiratet zu werden? Wenn Philosophen die exemplarischen Lebensklippen auch nicht auf repräsentativ weiterzuempfehlende Weise gemeistert haben, so sind sie doch wenigstens meist auf vorbildliche Weise an ihnen gescheitert und vermochten es, was viel wichtiger ist, ihr so hinreißendes Scheitern auf bestrickende Weise zu artikulieren, daß der Verdacht naheliegt, sie hätten ihr Leben geführt als einzigen Vorwand für gute Formulierungen.

Die Philosophie für Hochstapler stammt von Hochstaplern der Philosophie. Wer die Denker mißbraucht für seine unphilosophischen Hintergedanken, muß deshalb keine Skrupel haben, sind sie doch meist selbst schon jene Hochstapler gewesen, von denen sie mehr eingespannt werden sollten. Es geht also nur darum, eine Überlebenskunst weiterzugeben, die so alt ist wie das geistige Europa selbst. Leben und Denken der berühmt gewordenen Philosophen stimmte je so wenig überein, daß ihr Denken allzu häufig fast nichts als der gequälte Versuch einer Rechtfertigung dafür war, daß es mit ihrem Leben eben nicht übereinstimmte. Wodurch anders sind sie berühmt geworden als durch einen neuesten Trick, mit Hilfe einer weltfremd lebensuntauglichen Beschäftigung sich an Existenzkampf und ehrlicher Arbeit vorbeizudrücken und sich eine warme Nische in einer Welt zu sichern, die sie angeblich nicht kannten, und ein Leben, zu dem sie angeblich nicht taugten. Sie haben von Leuten gelebt, die das gleiche Ziel hatten oder sich nicht trauten, des Kaisers neue Kleider nicht zu sehen. Seit dem Aufstieg der Naturwissenschaften, also seit der Bezauberung durch Entzauberungskünstler, ist das Schamanenrenommee des Denkbegnadeten sehr demoliert worden. Aber nur auf höherer Etage ist dieser schwindelerregende Schwindler enttarnt; für den Alltagsgebrauch im Lebensparterre unter lauter leicht Angebildeten reicht das kleine Philosophikum noch allemal, um mit der höheren Wahrheit zu bluffen (die nicht einmal in den Niederungen gilt). Geben Sie fremde Köpfe für Ihre eigenen aus! Wenn Sie Ihren Kopf verlieren, setzen Sie doch mal den von Platon auf oder von Denkwürden Kant, von Merkwürden Leibniz oder von Nobel-Preiswürden Sartre. Die haben immer ihren Kopf benutzt, damit er ihnen nicht abgeschlagen wird, und daß sie ihn benutzt haben, hat ihn den Denkern nur sehr selten gekostet, wie bei Giordano Bruno (1548-1600), der es gewagt hatte, Gott durch die Unendlichkeit des Weltalls zu ersetzen und ihn in Mutter Natur anzubeten. Was ihn um 1600 auf den Scheiterhaufen brachte, hätte ihn um 1900 zu einem Superstar des Mater-ialismus gemacht: Es geht immer ums rechte Wort zur rechten Zeit oder darum, vollendete Tatsachen zu schaffen, damit das Heidegger-Zitat passend loszulassen ist.

Meist gingen die Philosophen aufs Ganz(heitlich)e, mit Kleinkram haben sie sich selten aufgehalten, und den Handgreiflichkeiten des Lebens zogen sie die Begrifflichkeiten ihres Kopfes vor. Niemandem kann verdacht werden, daß er nicht gern in den Verdacht kommen möchte, nicht richtig denken zu können.

Wo lassen Sie denken? Klingt doch besser als die Frage:

Wo lassen Sie leben und sterben?

Wir wollen hier die großen Denkschlachtordnungen der Vergangenheiten nicht noch einmal im Sandkasten nachstellen zwischen Plato und Aristoteles, Thomas und Duns Scotus, Descartes und Spinoza, Kant und Hegel, Hegel und Marx. Die Denkfiguren der Tradition sind heute nur noch Geredefiguren. Wichtig ist für Sie nur: Wie vermeide ich die ausgetretenen Trampelpfade des gesunden Volksempfindens, ohne deshalb gleich in die soziale Abseitsfalle zu laufen oder in die Klapsmühle zu kommen? Philosophie wird heute nicht ,durch Realisierung aufgehoben' in marxistischen Endrevolutionen, sondern durch alltäglichen Mißbrauch des metaphysischen Gemeinwohls fürs rein physische Wohlleben des Einzelkämpfers. Es kommt auch nicht darauf an, die philosophischen Entlarver noch einmal zu entlarven und nachzuweisen, daß Denker auch nur mit Wasser kochen. (Sie können meist nicht kochen.) Von Hans Vaihinger gibt es eine beliebte ,Philosophie des Als-ob'. Sie ist so beliebt, weil jeder sie schon aus dem Namen her zu verstehen glaubt, ohne ein Buch von Vaihinger gelesen zu haben, und jeder hat Recht damit. Ich erwähne das nicht, weil ich Vaihingers ,Fiktionalismus' (Das Gedächtnis ist ein Denkersatz für den angesehenen Diplombluffer) für eine bedeutende Philosophie hielte, sondern weil jeder philosophische Hochstapler nur so tun sollte, als ob er denken könnte. Wichtig ist nur, daß die, welche ja auch nicht denken können, wenigstens denken, daß Sie denken können und nicht Ihre Denkschwäche als Ichstärke verkaufen. Heute blüht wie immer der Irrationalismus, dessen Anhänger aus der Not, nicht richtig im Kopf zu sein, einfach nur ganz rationell die Tugend der vitalsten Kopflosigkeit machen und jeden, der denken kann, blutarmer Wurzellosigkeit zeihen.

Dem soll hier gerade kein Vorschub geleistet werden.

Denken Sie selbst nach (aber nur dem, was Ihnen hier vorgemacht wird). Niemandem soll ein versteckter Nutzen von so etwas wie Philosophie eingeredet und aufgeschwatzt werden, aber gerade ihre vollendete Nutzlosigkeit war immer ihr einziger wahrer Nutzen.

Für Nichtphilosophen war es immer ein Problem, daß sie dort keins sahen, wo der Philosoph eins sieht, und umgekehrt. Philosophie heißt geradezu, dort nur Scheinprobleme sehen zu können, wo Nichtphilosophen wirkliche Probleme haben.

Aber verschwenden Sie nun nicht gleich Ihr Leben mit dem Lesen der Philosophen, sondern mit deren Leben. „Das Denken verbirgt den Menschen, und um den Menschen ist es uns zu tun", schrieb Sartre, selbst ein Philosoph, der nie die Katze aus dem Sack ließ. „Dasselbe nämlich ist Denken und Sein", sagte rund 2000 Jahre früher ein griechischer Zunftkollege aus der Kindheitsphase des abendländischen Denkens, als es noch ein Spiel und Spaß war, von den Denkern so ernst genommen wie das Kinderspiel von den Kindern. Parmenides war es, für den das Sein des Denkers und sein Denken dasselbe waren. Der Vater der modernen Philosophie machte daraus: Ich denke, also bin ich (wie ich denke, und ich denke, wie ich bin). Dazu brauchte die Philosophie aber etwa 2000 Jahre Zeit. Entweder hat der Philosoph nun gelebt, wie er gedacht hat, (dann können Sie sich die Lektüre seiner Werke sparen und seine Biographie als die Realisierung seiner Philosophie lesen), oder er hat anders gedacht, als er lebte — dann ist er gerade gekennzeichnet durch diese verräterische Kluft, deren Kenntnis Sie wiederum von der Notwendigkeit einer Werklektüre befreit. Das Leben der Philosophen ersetzt vollauf das Lesen der Philosophen, die eine Einheit von Leben und Denken ohnehin propagieren. Das Leben ist leicht, das Denken ist schwer, gilt für den echten Hochstapler; für den echten Philosophen ist es gerade umgekehrt. Ein Denker wie Adorno sah ,die Wahrheit' gerade in der Differenz zwischen Leben und Denken: So hat er im Einklang mit seiner Philosophie gelebt, als er sein Leben eben nicht auf der Höhe seiner Lebensweisheiten führte. (Ein schlauer Kopf, der sich vorweg abzusichern wußte gegen Vorwürfe und seinen potentiellen Kritikern zuvorkam, indem er seine eigene ,Nichtidentität' zur Identity card seiner Philosophie machte.) — Ich denke, also bin ich kein Denker.

Statt Philosophiegeschichte sind Philosophengeschichten geboten; prägen Sie sich anekdotische Bedenklichkeiten ein aus der vita passiva der Ideen-Idole.

Hat er von sich auf andere gesch(l)ossen oder von anderen auf sich? Hat er nur seine Idiosynkrasien zu Ideen verallgemeinert? Sie brauchen Geist, um zu verbergen, daß Sie selbst keinen haben. Think big, rent a head. Welche Art und wie viel Geist ist nötig, um Geist vorzuspiegeln, den man nicht hat? Eine philosophische Frage, die Sie hier nicht zu beunruhigen hat, weil niemand Ihrer Gesprächspartner Geist genug haben dürfte, sie Ihnen zu stellen, weil jeder damit ausgelastet ist, selbst Geist nur vorzuspiegeln und was er dafür hält und gehalten wissen möchte.

Mit dem Philosophen haben Sie seine Philosophie, oder die Kluft zwischen beidem ist die beste Kritik seiner Philosophie und seines Lebens. Eine Philosophie wird nicht widerlegt durch eine andere, sondern durch den Philosophen selbst. Kurz, die beste Analyse eines Denkers ist die Psychoanalyse des Denkens, das es auf die Couch des Klatsches zu zerren gilt für jeden Hochstapler von Format auf diesem Felde.

Die Philosophen selbst halten es natürlich für unphilosophisch, sich mit (ihrem) Leben zu beschäftigen. Heidegger, der Grund sah, von seinem kurzen Freiburger Engagement später abzulenken, schrieb: „Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb." Eben nicht. Auch Heidegger wurde geboren, arbeitete nicht und starb, aber ein bißchen mehr läßt sich schon sagen über die Einheit zwischen diesem größten aller Existenzphilosophen und seiner Existenz selbst.

In Deutschland lebten die bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, Heidegger, Bloch, Jaspers, Husserl, Adorno und Horkheimer als Universitätsprofessoren wie die Klassiker des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert, Kant, Fichte, Schelling und Hegel (außer Kant alles Ehemänner). Seit dem 19. Jhdt. stehen sie einander gegenüber, die gutbürgerlich staatsbeamteten Familienväter Lichtenberg, Fichte, Schelling, Hegel, Jaspers, Heidegger, Bloch, Husserl, Horkheimer, Adorno auf der einen Seite und auf der anderen Seite die ledig freiberuflichen ,Existenzialisten' Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Wittgenstein und Sartre, die Vorgänger hatten:

Zwischen den Zeitaltern von Mutter Kirche und Vater Staat gab es Einzelgänger, die freiwillig kinderlosen Junggesellen Pascal, Descartes, Spinoza und Leibniz, weniger existenzielle als mathematische Geister. Im allgemeinen wurden die großen Zölibatäre im Schoß der Mutter Kirche zur Neuzeit abgelöst durch die oft auf der Suche nach der verlorenen Mutter Natur befindlichen Kinder von Vater Staat und Alma mater.

Die großen Mater-ialisten lagen selten an den Brüsten der Alma mater. Die deutschen Idealisten wurden alle von Hauslehrern zu Professoren, von Hausdienern zu Staatsdienern.

Nie für ihren Lebensunterhalt sorgen mußten die mit reichem väterlichem Erbteil ausgestatteten Plato, Descartes, Schopenhauer und Kierkegaard.

Außer Wittgenstein empfanden sie den Reichtum nicht als Antiphilosophikum.

Epiktet und Böhme wurden geboren und starben auch als Proletarier. Ein Fichte brachte es vom Hütejungen zum Professor, Wittgenstein vom Millionenerben zum freiwilligen Klostergärtner und Spinoza vom Kaufmannssohn zu einem Brillenschleifer.

Sartre schrieb (philosophische) Literatur, um (politische) Philosophie treiben zu können. Dazu gab er seinen Beamtenstatus als Lehrer auf.

Philosophien sind Wahrpläne.

„Die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr Alles opfert, nicht ihrer Gunst gewiß seyn darf... — Wie sollte auch überhaupt die zum Brodgewerbe herabgewürdigte Philosophie nicht in Sophistik ausarten?" (Schopenhauer)

„Die Frauen Casanovas, die nicht umsonst oft Buchstaben anstatt Namen tragen, sind kaum voneinander zu unterscheiden, und auch nicht die Figurinen, die nach Sades mechanischer Orgel komplizierte Pyramiden stellen. Etwas von solcher sexuellen Rohheit, der Unfähigkeit zu unterscheiden, lebt aber in den großen spekulativen Systemen des Idealismus, allen Imperativen zum Trotz und kettet deutschen Geist und deutsche Barbarei aneinander. Bauerngier, nur mühsam von der Pfaffendrohung in Schach gehalten, verficht als Autonomie in der Metaphysik ihr Recht, alles Begegnende auf sein Wesen so umstandslos zu reduzieren wie Landsknechte die Frauen der eroberten Stadt. Die reine Tathandlung ist die auf den gestirnten Himmel über uns projizierte Schändung..." (Adorno) Doch Kant war kein Unternehmer: er holte philosophisch aus Mutter Natur nicht mehr heraus, als er zuvor in sie hineingesteckt hatte.

Nach-Denken ist für Leute gedacht, die weder Lust noch Zeit noch Intelligenz genug haben, die großen Philosophen zu studieren und ihre Wälzer zu wälzen, aber Ehrgeiz genug, von ihnen zu profitieren, um sich im gesellschaftlichen Existenzkampf zu behaupten. Ehe Sie Ihren Kopf verlieren, sollten Sie sich anderer großer Köpfe bedienen, wenn es gilt, in geistiger Notwehr mit dem definitiven Sinnspruch eines bedeutenden abendländischen Berufsdenkers jede in Gesellschaften und Debatten auftauchende Frage gezielt niederzuschlagen, statt wirklich zu beantworten. Zu mehr taugen die ehrwürdigen Philosophen nicht mehr; die großen Welterklärungs- und Weltveränderungssysteme sind nur noch geistige Trümmerhaufen, ihre Codes geknackt. Die Europhilosophiegeschichte ist ein einziger gigantischer Ideen-Steinbruch und geistiger SB-Discount, Kostümfundus und Waffenarsenal für den täglichen ideologischen Selbsterhaltungsbetrieb. Ein ,Hochstapler' ist laut Lexikon ein „Betrüger, der sich durch weltmännisches Auftreten, falsche Titel, Namen und Adelsprädikate materielle und andere Vorteile verschafft“. Denken verschafft nicht einmal Geistesadelsprädikate. Der Betrüger in spe sollte nicht darum betrogen werden, was Denken eben nicht sein kann: es spielt sein Geld nicht wieder herein, wenn der Aspirant in Kreisen verkehrt, die philosophische Wahrheiten nicht als Währung anerkennen und nicht gekränkt sind, wenn ihnen kein Kant zugemutet wird, und nicht geschmeichelt sind durch die stillschweigende Unterstellung, ein beiläufig en passant fallengelassenes Hegel-Zitat verstehen oder gar durch einen Heidegger trocken parieren zu können. Diese Sinnfindungs-Angebotspalette hat nur Sinn für solche, die Wert darauf legen, für halbwegs gebildete Menschen zu gelten, und nicht geeicht sind auf mindere Existenzkampf-Valuta wie Bizepsvergleich, Wettsuff oder Beischlafstrichlisten.

Hier gilt es sich nun eher zu behaupten unter präpotenten Snobs, Überkompensationschamps und prätentiösen Wichtigtuern. Unter Professoren und Hafenarbeitern leistet das Philosophieren vermutlich weniger Dienst, als sein Ladenpreis verspricht. Es ist weniger ein Wegweiser für Verirrte als für Irreführer und bietet eine Anthologie abschließender Bemerkungen, die jede Diskussion zu beenden versprechen, bevor sie recht anfangen kann. Es blufft weniger mit der Wahrheit als mit ewigen Binsenweisheiten von Morgen. Es soll Bluffer bluffen und ist es wert, auf seine Eignung dafür getestet zu werden, Frauen zu verführen, die für Blaustrümpfe gehalten werden wollen, wie es früher hieß, (oder um Männer zu werben, die sich als Männer von Weltgeist ausweisen wollen.) Ein bißchen mehr als bloßes Namedropping sollte schon geboten werden, obwohl es angezeigt ist, dem Sentenzen-Schuß auf den Gegner den Namen des jeweiligen Philosophen folgen zu lassen (wenigstens den Namen irgendeines Philosophen von Rang). Kein Mensch wird es besser wissen oder nachprüfen wollen. Will sagen: Es ist besser, den Namen des Geisteshelden zu verwechseln als wegzulassen.

Philosophie und Metaphysik, Ontologie und Ethiko-Theologie gelten als heillos überzählige Ladenhüter von Anno Dunnemal; bitte profitieren Sie von dieser voreiligen Fehleinschätzung und kaufen Sie rechtzeitig die Lagerbestände an herrenlosen Gütern auf, um sie dann zu Höchstpreisen an Mann und Frau zu bringen. Da liegt in den endlosen Gängen der historischen Ablage viel Schweigegold herum, das nur darauf wartet, seinen Benutzer als geistreich gelten zu lassen (und dann vielleicht reich zu machen). Denken, nein danke?

Die Geschichte der Philosophien ist eine Geschichte von Irrsinn und Irrtümern, ganz gewiß, aber wer hat sich schon glänzender geirrt (und auch andere irregeführt) als die Philosophen? Lieber so unterhaltsam danebenhauen und spinnen, als mit ewigen Wahrheiten langweilen, nicht wahr? Niemand könnte übrigens mit Philosophen bluffen, wenn diese nicht schon selbst große Bluffer gewesen wären. Es waren und sind die bedeutendsten Vorbluffer einer Epoche, ihren Opfern, d.h. Lesern immer um eine geistige Nasenlänge voraus: Wenn's rauskommt, ist es für Schüler und Fans zu spät, ein Teil ihres Lebens ist futsch. Von anderen Hochstaplern unterscheiden sich Philosophen auch dadurch, daß sie mit der Wahrheit über das Ganze bluffen, nicht über diese oder jene popelige Petitesse. Und können sie das Große Ganze schon nicht in den Griff kriegen, so wenigstens in den Begriff. Und ihre eigene Stellung darin kommt nie zu kurz.

Es gibt keine verderblichere Ware als die jeweils letzte ewige Wahrheit der Berufsphilosophen, und sobald etwas vergessen ist, kann es renoviert, reanimiert und für neu verkauft werden unter neuem Etikett. Auch der Kampf gegen ewige Wahrheiten hat als jüngster ewiger Wert an der Spekulationsbörse längst wieder abgewirtschaftet. Das Älteste ist das immer Neueste; nichts ist vergessener. Wir wollen die abendländischen Weisheiten handlich und mundgerecht serviert als geistige Suppenwürfelextrakte, nach Stich- und Schlagworten für alle alphabetischen Lebenssituationen pflegeleicht geordnet, das rechte (und linke) Wort zur rechten Unzeit als Instant-Nesphilosophie. Es steckt nichts dahinter, keine Angst; aber nicht nur beim Anwender, sondern auch weder bei Denkern noch bei Adressaten eines Geistesblitzkrieges.

Es sind sprachlos machende Sprachknüppel und zeitgewinnende linguistische Betäubungsmittel ganz für den Nahkampfgebrauch. Wer Selbstdenker richtig zu placieren weiß, gilt als Selbstdenker und nicht als Nachdenker: Originell ist nur, wer Originale selber vorführen kann. Philosophen gelten seit langem als genau jene Sophisten selbst, aus deren Bekämpfung sie geschichtlich einst in Griechenland entstanden sind. Und umgekehrt darf sich jeder highly sophisticated guy einen Philosophen nennen.

Ein normaler Hochstapler gibt sich meist für reicher aus, als er ist (um reicher zu werden), ein philosophischer Hochstapler für geistreicher, als er ist. Er ist nur mal gerade nicht flüssig. Das heißt dann, der Adept lasse metaphysische Hintergründe mehr ahnen und spielen als auffahren und aus dem Sack. Wer in den angenehmen Geruch kommen will, nicht den Binsenweisheiten von heute zu folgen, muß denen von gestern folgen, die niemand kennt und deshalb die von morgen sein können — durch Sie.

Profitieren Sie ungeniert von der unbelesensten Unbildung und Pop & Comix-Kultur Ihrer Sparringpartner. Ge