Die Lockdown-WG - Mimi J. Poppersen - E-Book

Die Lockdown-WG E-Book

Mimi J. Poppersen

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Beschreibung

Der Lockdown verändert einiges bei den Bewohnern des Heidelberger Altbaus, die seit vielen Jahren unter einem Dach leben. Bisher grüßt man sich nur gelegentlich, kennt die Namen der Nachbarn, aber nicht die Menschen und ihre Geschichten dahinter. Dies fällt kaum jemandem auf, bis zu dem Tag, an dem die Stadt ein Warnschild im Hausflur aufhängt. Das ganze Mietshaus steht unter Quarantäne! Bald bemerken die Bewohner, dass sie nun auf sich gestellt sind und aufeinander zugehen sollten, um sich zu unterstützen. Doch schaffen sie das, so unterschiedlich, wie sie alle sind? Die kleine Emily aus dem Dachgeschoss macht den Anfang. Kann sie die stets schlecht gelaunte ältere Dame aus dem Erdgeschoss aus der Reserve locken? Und findet der Einfall der indischen Familie bei den anderen Hausbewohnern Anklang? Es folgen turbulente Tage, an denen Geheimnisse gelüftet, Wahrheiten ausgesprochen und Barrieren überwunden werden. Vor allem aber verändert sich das Leben aller in dem Haus. Ein Jahr später verwandelt der Wintereinbruch die Lockdown-WG in eine zauberhafte, romantische und amüsante Weihnachtswelt.

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Inhaltsverzeichnis

1. Emily

2. Liese

3. Sarah

4. Riya

5. Liese

6. Alexander

7. Liese

8. Alexander

9. Riya

10. Sarah

11. Leon

12. Susanne

13. Liese

14. Priya

15. Emily

16. Alexander

17. Liese

18. Riya

19. Emily

20. Susanne

21. Alexander

22. Opa Fred

23. Priya

24. Liese

25. Emily

26. Alexander

27. Opa Fred

28. Emily

29. Fred Becker

30. Charu

31. Emily

32. Liese

33. Susanne

34. Sarah

35. Emily

36. Liese

37. Herr Schirmer

38. Ein Jahr später

Teil 2

Weihnachten in der Lockdown-WG

1. Liese Schröder

2. Opa Fred

3. Emily

4. Charu

5. Sarah

6. Riya

7. Priya

8. Alexander

9. Leon

10. Priya

11. Riya

12. Emily

13. Liese

14. Charu

15. Amal

16. Alexander

17. Riya

18. Susanne

19. Andreas

20. Sarah

21. Andreas

22. Liese

23. Emily

24. Priya

25. Charu

26. Sarah

27. Andreas

28. Sarah

29. Emily

30. Charu

31. Liese

32. Herr Schirmer

Impressum

Die Lockdown-WG

(Sammelband)

von

Mimi J. Poppersen

Mimi J. Poppersen auf Instagram

Text Copyright © Mimi J. Poppersen

1. Korrektorat: Anja Karl

2. Korrektorat: Jo van Christen

Lektorat: Media-Agentur Gaby Hoffmann | https://www.profi-lektorat.com

Coverdesign by A&K Buchcover | https://www.akbuchcover.de/

Verwendete Grafiken:

stock.adobe.com - 217993541

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher

Genehmigung der Autorin. Personen und Handlungen

sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden

Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtig.

“A good neighbor is a priceless treasure.”

chinesisches Sprichwort

Es sind die kleinen Dinge, die etwas bewegen können!

Der Lockdown verändert einiges bei den Bewohnern des Heidelberger Altbaus, die seit vielen Jahren unter einem Dach leben. Bisher grüßt man sich nur gelegentlich, kennt die Namen der Nachbarn, aber nicht die Menschen und ihre Geschichten dahinter.

Dies fällt kaum jemandem auf, bis zu dem Tag, an dem die Stadt ein Warnschild im Hausflur aufhängt. Das ganze Mietshaus steht unter Quarantäne! Bald bemerken die Bewohner, dass sie nun auf sich gestellt sind und aufeinander zugehen sollten, um sich zu unterstützen.

Doch schaffen sie das, so unterschiedlich, wie sie alle sind?

Die kleine Emily aus dem Dachgeschoss macht den Anfang. Kann sie die stets schlecht gelaunte ältere Dame aus dem Erdgeschoss aus der Reserve locken? Und findet der Einfall der indischen Familie bei den anderen Hausbewohnern Anklang?

Es folgen turbulente Tage, an denen Geheimnisse gelüftet, Wahrheiten ausgesprochen und Barrieren überwunden werden. Vor allem aber verändert sich das Leben aller in dem Haus.

Ein Jahr später verwandelt der Wintereinbruch die Lockdown-WG in eine zauberhafte, romantische und amüsante Weihnachtswelt.

1. Emily

lebte in dem Mietshaus in der Heidelberger Altstadt, seitdem sie sich erinnern konnte.

„Als ich schwanger mit dir war, habe ich mich auf die Suche nach einer größeren Wohnung gemacht, und wir sind hier eingezogen“, hatte sie ihre Mutter schon mehrmals sagen hören.

Damals, vor neun Jahren, hatte Sarah Becker somit nach einer größeren Wohnung gesucht. Demnach musste ihre vorherige noch kleiner gewesen sein als die jetzige, was sich das Mädchen kaum vorstellen konnte.

Allerdings war Emily mit ihrem Zuhause voll und ganz zufrieden. Für sie, ihre Mutter und die zwei Meerschweinchen gab es genug Platz. Sie mochte die überschaubare Dachwohnung, die mit ihren Schrägen etwas Gemütliches hatte.

Doch seit ein paar Wochen lebte auch ihr Großvater bei ihnen. Seitdem diese Pandemie ausgebrochen und immer schlimmer geworden war, wollte ihre Mutter ihn bei sich haben und nicht mehr im Pflegeheim, wo es Opa sowieso nie gefallen hatte.

Deshalb hatte Emily ihr Zimmer aufgegeben, um es ihrem Großvater zu überlassen. Dies tat sie gerne, denn sie liebte ihren Opi und war froh, ihn nun immer hier zu haben, anstatt ihn nur gelegentlich im Altersheim zu besuchen. Ihr Opa war der lustigste Mann, den sie kannte, und er konnte die besten Geschichten erzählen. Ob er tatsächlich all das erlebt hatte, was er berichtete, blieb sein Geheimnis.

Zumindest freute sich Emily immer wahnsinnig auf das Abendessen, wenn ihr Opa so richtig in Fahrt kam. Oft war er tagsüber müde und sie sah ihn kaum, doch abends taute er auf und plauderte über sein ereignisreiches Leben, meist noch mehr, wenn er ein Glas Wein dazu trank.

Ihre Mutter meinte zwar oft etwas wie „die Geschichte kennen wir doch schon, Papa“ oder „das hast du uns ja erst vor Kurzem erzählt“, aber Emily konnte seinen Erzählungen immer und immer wieder lauschen, denn jedes Mal kam ein neues Detail hinzu.

Emily gefielen ihre eigenen vier Wände – sie mochte diesen Ausdruck, den sie erst neulich gelernt hatte. Ihre Mutter hingegen beklagte sich oft über die vielen Schrägen in der Wohnung.

„Wir haben einfach nicht genug Stellwände“, bemängelte sie, doch Emily fand es gerade dadurch heimelig. Besonders im Winter, wenn sich Eiskristalle an den Fenstern bildeten, Mama die Weihnachtsdeko auspackte und viele Kerzen ein gemütliches Licht verströmten, liebte sie ihr Zuhause. Oder wie jetzt im Frühling, wenn sie den winzigen Balkon bepflanzten und alles anfing zu blühen. Im Sommer konnte es allerdings sehr warm werden in der Dachwohnung. Im letzten Jahr war es dermaßen heiß gewesen, dass sich sogar die Kerzen gebogen hatten. Meist blieben sie dann so lange draußen, bis es endlich etwas abkühlte.

Obwohl die kleine Familie schon lange in dem Mehrfamilienhaus lebte, kannte sie die anderen Mitbewohner kaum. Zwar hatten sie im Vorbeigehen deren Namen auf den Klingelschildern gelesen und gelegentlich den einen oder anderen im Treppenhaus gesehen, aber dabei blieb es dann auch. Meist grüßte man sich nur freundlich. Oft tat man sogar eher so, als würde man den anderen gar nicht sehen, da man in Eile war. Man lebte unter einem Dach, war sich aber völlig fremd.

„Das wird sich nun ändern“, prophezeite Sarah beim Abendessen.

„Warum denn das?“, wollte Emily wissen und auch Opa Fred schaute von seinem Lieblingsessen auf. Einmal in der Woche kochte ihre Mutter ein richtiges Festessen, meistens mittwochs. An diesem Tag kam Sarah früher von der Arbeit nach Hause und genoss es, ein hervorragendes Essen zuzubereiten. Heute gab es ungarisches Gulasch, genauso, wie Opa Fred es mochte, dazu handgeschabte Spätzle und leckeren Feldsalat.

„Weil wir ab morgen in einer Quarantäne sind. Habt ihr den riesigen Zettel nicht gesehen? Was meint ihr, warum ich heute solche Unmengen eingekauft habe?“, fragte sie in die Runde.

Emily war nichts aufgefallen und Opa Fred hatte, wie so oft, das Haus gar nicht verlassen. Es war ihm meistens zu anstrengend, die vielen Treppen nach unten zu steigen. Beide zuckten ahnungslos mit den Schultern und blickten sich fragend an.

„Was heißt das in Quarantäne?“, erkundigte sich Emily. Zwar waren durch einen Lockdown gerade alle Restaurants geschlossen, die Schulen aber bisher von einer Schließung verschont geblieben. Hierüber war Sarah heilfroh gewesen, die nur einen uralten Laptop besaß, von dem sie gar nicht wusste, ob er überhaupt noch funktionierte. Sollte Emilys Schule auf Onlineunterricht umstellen, müsste sie ihren Laptop wohl aufrüsten oder am besten gleich einen neuen kaufen.

„In unserer Straße gab es zu viele Infektionsfälle, sodass alle Häuser unter Isolation gestellt wurden. Unseres gehört auch dazu.“

„Obwohl wir gar kein Corona haben?“

„Na ja, sagen wir mal so, bis wir sicher sein können, dass wir nicht infiziert sind.“

Man konnte förmlich beobachten, wie Emily mit gekrauster Stirn über die Worte ihrer Mutter nachdachte und ihre Schlussfolgerungen zog. „Heißt das, wir können gar nicht mehr rausgehen?“

„Genau das!“

„Da bin ich aber besonders traurig“, scherzte Opa Fred, den es in den letzten Tagen kaum nach draußen gezogen hatte. Insgeheim sorgte sich Sarah etwas, dass ihr Vater sich immer weniger bewegte.

„Hast du nicht gerade erst einen Test gemacht?“, wandte sich Fred an seine Tochter.

„Das stimmt. Vor einer Woche hatte ich ein negatives Ergebnis. Aber in der Zwischenzeit kann viel passiert sein. Selbst bei der Arbeit haben wir nicht genug Tests, um uns mehrmals wöchentlich zu testen.“

Da Sarah als Krankenschwester in der Unfallchirurgie arbeitete, hatte sie in den letzten Wochen mitbekommen, wie dramatisch die Lage war. Geplante Operationen wurden verschoben, um Corona-Patienten aufzunehmen. Auf ihrer Station, wie auf vielen anderen, hatten sie alle Hände voll zu tun. Nicht auszudenken, wenn die Zahl der Erkrankten rasant ansteigen würde. Schon jetzt waren einige Intensivstationen überfordert.

Diese Details behielt sie für sich, um die beiden nicht unnötig zu beunruhigen. Dass sie nun unter Quarantäne gestellt waren, war bereits genug Grund zur Sorge. Der Gedanke, dass sie die nächsten Tage hierbleiben musste, gefiel ihr gar nicht. Äußerst ungern ließ sie ihre Kollegen im Stich. Sarah war mit Herzblut Krankenschwester.

„Vielleicht kannst du dich ja um die Leute hier im Haus kümmern“, schlug Emily vor, als hätte sie ihre Gedanken lesen können.

„Da hast du recht, mein Schatz“, meinte Sarah betont positiv.

„Und wer versorgt uns jetzt?“, dachte Emily gleich praktisch, die schon immer eine schnelle Auffassungsgabe gehabt hatte.

„Ich glaube, für die nächsten Tage haben wir erstmal genug zu essen.“ Sarah deutete auf die vielen Tragetaschen, die teilweise noch gar nicht ausgepackt in der Küche standen.

„Außerdem habe ich einige Freundinnen, die uns Essen vor die Tür stellen können, und etwas bestellen können wir schließlich auch.“

„Oh je. Was ist denn dann mit der armen Oma im Erdgeschoss, die schon ohne so eine Karantine immer so schlechte Laune hat?“, überlegte Emily laut.

„Quarantäne“, verbesserte Sarah und lächelte sie an. Ihr wurde ganz warm ums Herz, dass Emily als Erstes an die ältere Frau dachte.

Sie musste zugeben, dass dies eine sehr berechtigte Frage war.

2. Liese

Schröder schaute aus ihrem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss, von dem aus sie die Straße bestens im Auge hatte, und fragte sich, was all das zu bedeuten hatte. Von ihrem Spähplätzchen aus konnte sie die Seitenstraße, in der sie wohnte, gut überblicken. Sogar ein Stück der Fußgängerzone konnte sie von hier aus sehen, wo es immer viel zu beobachten gab. Das liebte sie.

Den lieben langen Tag konnte sie hier sitzen, um die Leute im Visier zu haben. Sie hatte sich ihren Beobachtungsplatz bequem eingerichtet: Ein gemütlicher Ohrensessel stand bereit, falls ihre Beine mal schlapp machten, ein winziges Opernfernglas war immer in Griffnähe und sogar einen Block mit Stift hatte sie zurechtgelegt, um etwas Wichtiges notieren zu können.

Man konnte sagen, dass sie bestens über die ganze Nachbarschaft Bescheid wusste. Von den meisten kannte sie den genauen Tagesablauf.

Gerade hatte sie den Zettel der Stadt Heidelberg aus ihrem Briefkasten gefischt, der auch in Übergröße an der Haustür und mehrmals im Flur hing.

Achtung! Coronaausbruch! Quarantäne!

Mehrere Personen in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zeigen Symptome des Coronavirus.

Bleiben Sie bitte ab morgen im Haus, bis sich das Gesundheitsamt bei Ihnen meldet,

um die vorgeschriebenen Tests durchzuführen!

Mit einem Auge schielte sie auf die Tageszeitung, die sie sich jeden Morgen holte, und las in großen schwarzen Buchstaben die Überschrift:

Engpass bei den Coronatests!

Arztpraxen völlig überfordert!

Patienten müssen tagelang warten!

„Na, das kann ja was werden!“, murmelte sie und nahm das Klatschblatt in die Hand, um den Artikel noch einmal zu lesen.

Obwohl viele ihre Lieblingszeitung als Käseblatt abwerteten, wusste sie, dass dort alles Wichtige und vor allem die Wahrheit stand.

Genauestens studierte sie den Bericht und überlegte, was zu tun sei. Hätte sie den Zettel nur etwas früher aus ihrem Briefkasten geholt, denn nun waren alle Lebensmittelläden bereits geschlossen – zumindest die in ihrer Nähe. Sicherlich gab es große Discounter etwas außerhalb, die man mit dem Auto erreichen konnte und die noch geöffnet hatten, aber Liese erledigte alles zu Fuß in einem Radius von etwa fünfhundert Metern von ihrem Zuhause. Sie besaß überhaupt keinen Wagen.

Liese Schröder wohnte seit fast vierzig Jahren in dem Mehrfamilienhaus. Damals war sie mit ihrem Mann Heinz und ihrem fünfjährigen Sohn hier eingezogen. Die Welt war in jenen Tagen in Ordnung gewesen. Es gab nicht viel, über das sie sich beklagen konnte, ganz im Gegensatz zu heute.

Ein paar Jahre nach dem Einzug in dieses Haus veränderte sich ihr Ehemann. Immer aufbrausender wurde er. Bald waren seine Stimmungsschwankungen kaum mehr auszuhalten. Seinerzeit war er ein erfolgreicher Autohändler, der mit seiner positiven Art alle Kunden um den Finger wickelte. Doch auch bei seiner Arbeit fielen die cholerischen Anfälle bald auf. Erst verlor er den Job, um kurz darauf eine bipolare Störung diagnostiziert zu bekommen.

Es war unfassbar, wie schnell aus einer glücklichen Familie eine zerrüttete werden konnte. Erst war Heinz lange Zeit in der Klinik, doch bald war klar, dass er nie mehr derselbe werden würde. Zurück in diese Wohnung kam er zumindest nie, und wo er sich jetzt befand oder, ob er überhaupt noch lebte, wusste Liese nicht.

Leider hatte ihr Sohn Andreas den Verlust seines Vaters nur schwer verkraftet und immer seiner Mutter die Schuld daran gegeben.

Andreas war sich sicher, dass sie ihren Ehemann vergrault hatte. Dazu musste man sagen, dass auch Liese nicht die Ruhe in Person war und ganz schön aus der Haut fahren konnte. Dies wurde im Alter nur schlimmer und Andreas hatte sie wohl ein paar Mal zu oft zurechtgewiesen.

Leider hatte sie ihren Sohn nun auch schon seit acht langen Jahren nicht mehr gesehen. Früher hatte er sie zumindest noch manchmal angerufen, beispielsweise immer zu ihrem Geburtstag. Jedoch auch dieser Anruf blieb seit letztem Jahr aus. Lieses beste Freundin, mit der sie sich regelmäßig getroffen hatte, war vorletztes Jahr gestorben. Somit war Liese schon seit Längerem komplett auf sich selbst gestellt.

Nicht gerade die beste Aussicht, wenn man auf die achtzig zuging. Im Unterbewusstsein war Liese klar, dass sie sich wohl langsam nach einem Platz in einem Altersheim umschauen sollte. Doch sie wollte aus dieser Wohnung nicht weg, obwohl diese nicht nur mit positiven Erinnerungen behaftet war. Die meisten Mitbewohner in dem Haus mochte sie nicht, obgleich sie diese kaum kannte. Kennenlernen wollte sie sie allerdings auch nicht.

Sie kannte zwar ihre Gewohnheiten, da sie sie ständig beobachtete, hatte aber noch nie ein Wort mit jemandem gesprochen, außer vielleicht einem knappen „guten Tag“.

Direkt über ihr wohnte seit einiger Zeit eine vierköpfige Familie, die aus Indien kam. Zwar hatte sie nichts gegen Ausländer, redete sie sich ein, dennoch wollte sie mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Alleine wie es im ganzen Haus stank, wenn die kochten! Liese wollte gar nicht wissen, was sie in ihren Töpfen alles zusammenbrauten. Es roch zumindest furchtbar.

Sie hatte gelesen, dass die globale Pandemie den komischen Essgewohnheiten der Chinesen zu verdanken war. Angeblich verspeisten sie Fledermäuse und hatten sich so das Virus eingefangen. Liese wollte sich nicht ausmalen, was die Familie im Stockwerk über ihr so verzehrte.

Im zweiten Stock wohnte Familie Bierbaum. Den Namen fand sie ja noch ganz lustig, aber auch mit diesen Leuten stimmte etwas nicht, da war sie sich sicher.

Der Sohn, der mittlerweile im Teenageralter war, lief stets schwarz gekleidet herum und blickte drein wie drei Tage Regenwetter. Sicher ging er gar nicht mehr zur Schule und verkaufte Drogen oder Ähnliches. Dann hatten sie vor einigen Monaten noch ein Baby bekommen. Musste das denn sein, in diesem Alter?

Auch, wenn sie sonst von den Bierbaums nicht viel aufschnappte, von dem Baby bekam sie alles mit. Alle im Haus wussten, dass es die Nächte nicht durchschlief und sich die Seele aus dem Leib brüllte. Liese hatte einen äußerst leichten Schlaf und wurde jede Nacht davon geweckt.

Was also bitte sollte sie an dieser Familie mögen?

Die Wohnung darüber stand leer – zum Glück. Das war ihr um einiges lieber, als irgendwelche komischen Nachbarn.

Im Dachgeschoss wohnten eine Frau mit ihrem Kind und seit Neuestem ein älterer Mann. Vermutlich war dieser etwa in ihrem Alter, doch er wirkte auf sie wie ein betagter Greis. Er ging wenig aus dem Haus, wohingegen sie jeden Tag zu Fuß unterwegs war. Nicht, dass sie es als Wettstreit sah, aber sie fühlte sich um einiges fitter als dieser Mann.

Im Grunde konnte sie nichts gegen diese Familie sagen, sie merkte allerdings, dass das kleine Mädchen sie dauernd so komisch anstarrte, als hätte sie Angst vor ihr oder würde erwarten, dass sie ihren Hexenbesen zückte und damit davonbrauste.

Als in dem Moment ihre Türklingel ertönte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie hatte niemanden auf dem Weg zum Haus gesehen.

Wer konnte das bloß sein?

3. Sarah

war einmal mehr überrascht, welch Einfühlungsvermögen ihre Tochter im zarten Alter von acht Jahren an den Tag legte, da konnte sich mancher Erwachsene eine Scheibe von abschneiden. Es war herzerwärmend, dass Emily als Erstes an die ältere Dame im Erdgeschoss dachte, obwohl diese sie noch nie freundlich gegrüßt hatte. Von freundlich konnte gar nicht die Rede sein, da sie immer äußerst grimmig dreinschaute, aber nicht einmal gegrüßt hatte sie bisher.

„Das ist lieb von dir, dass du an Frau Schröder denkst.“ Sarah streichelte ihr liebevoll über den Kopf.

„Ist das die alte Kratzbürste von ganz unten?“, rief Opa Fred mit viel zu lauter Stimme, da er, wie so oft, seine Hörgeräte nicht trug.

„Ja, genau die“, antwortete Emily und musste über seinen Kommentar lachen.

„Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob sie jemanden hat, der sie versorgt, zumindest habe ich noch nie gesehen, dass sie Besuch bekommt“, grübelte Sarah.

„Kein Wunder bei der Schreckschraube“, kommentierte Opa mit vollem Mund. Damit hatte er wohl leider recht.

Nachdem alle eine Weile schweigend weitergegessen hatten, griff Emily das Thema wieder auf. „Es hat bestimmt einen Grund, warum sie immer so schlecht gelaunt ist. Wir haben doch so viel Essen übrig. Soll ich ihr eine Portion runterbringen?“

„Von meinem köstlichen Gulasch? Auf gar keinen Fall!“, protestierte Fred zuerst, lächelte sie dann aber an. „Nein, mein Kind, das ist eine großartige Idee. Geh ruhig runter zu dem Hausdrachen und bringe ihm etwas zu essen. Pass nur auf, dass er dich nicht gleich mit auffrisst“, fügte er noch augenzwinkernd an.

Rasch war Emily aufgesprungen, um Plastikschüsseln aus dem Schrank zu holen, in die sie das Essen füllte. Sarah fand ihre Fürsorge beispiellos und ein wenig mutig, bei der griesgrämigen alten Frau zu klingeln.

Keine fünf Minuten später machte sich Emily auf den Weg nach unten. Niemals würde sie ihrem Opa und ihrer Mama verraten, wie sehr ihr Herz in dem Moment klopfte. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, und wenn sie ehrlich war, ganz schön Bammel vor der unfreundlichen Frau im Erdgeschoss.

Todesmutig drückte sie kurz darauf den Klingelknopf.

Eine Weile starrte Liese Schröder auf ihre Wohnungstür, als würde sie einen Geist erwarten.

Zu ärgerlich aber auch, dass ich keinen Spion habe, war ihr Gedanke, während sie auf ihre Haustür zuging.

„Wer ist da?“, brüllte sie nicht gerade freundlich.

„Emily“, kam es mit zaghafter Stimme zurück.

„Emily?“, fragte sie und öffnete die Tür einen Spalt weit, nur so weit, dass sie hinausblicken konnte, man sie aber nicht sah. Das machte sie immer so, wenn sie die Leute im Hausflur beobachtete. Sie stand stumm da und musterte das kleine Mädchen aus dem Dachgeschoss.

„Ich kann Sie sehen!“, erklärte dieses und lächelte sie an. Sie trug einen Mundschutz und hatte sogar Handschuhe an. In den Händen schwenkte sie zwei Gefäße, wenn Liese das richtig erkennen konnte.

„Was willst du?“, knurrte sie und hörte sich dabei griesgrämiger an, als es gemeint war.

„Wir sind doch jetzt im Lockdown, also in Quarantäne, und da wollte ich Sie fragen, ob Sie etwas von unserem Essen haben möchten?“

„Nein danke!“, gab Liese knapp zurück und wollte die Tür schon wieder schließen. Zugegeben tat ihr das kleine Mädchen nun doch ein wenig leid, wie es dastand und traurig auf die Schüsseln blickte, die sie mitgebracht hatte. Blitzschnell hatte es sich im nächsten Moment umgedreht und stand bereits auf den ersten Treppenstufen.

„Was gibt es denn zu essen?“, erkundigte sich Liese, die nun doch neugierig war und die Tür weiter geöffnet hatte.

„Das Lieblingsessen von meinem Opa: Gulasch, handgeschabte Spätzle und Feldsalat. Schmeckt absolut lecker“, erklärte Emily und strahlte bis über beide Ohren.

Liese Schröder war etwas überfordert und wusste gar nicht, womit sie diese plötzliche Zuneigung verdient hatte.

„Das hört sich wirklich fein an“, meinte sie, schnappte sich schnell ihre Mundbedeckung, die an ihrer Garderobe hing, und trat einen Schritt über die Türschwelle. So sehr sie sich auch bemühte, mit freundlicher Stimme zu sprechen, gelang es ihr nicht ganz. Auch war sie von jeher misstrauisch und fragte sich, ob die Wohngemeinschaft sie wohl vergiften wollte.

„Ihr habt da aber kein Gift reingemischt, oder?“, wollte sie daher forsch wissen.

„Nein, was denken Sie denn? Ich hoffe, das war ein Witz“, wehrte Emily empört ab und streckte ihr die Schüsseln entgegen. Es roch ganz vorzüglich.

„Ich danke dir. Und du heißt Emily?“, fragte Liese, die sich nun fast freundlich anhörte.

„Ja. Und du?“

„Ich heiße Liese.“

„Dann guten Appetit, Liese!“, wünschte Emily frohgemut und machte sich wieder auf den Weg nach oben.

Als sie um den nächsten Absatz gegangen war, wo ihre Nachbarin sie nicht mehr sehen konnte, hielt sie kurz inne und holte tief Luft. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals. Dies hatte sie mehr Überwindung gekostet, als sie vorher gedacht hatte, doch nun war sie froh, der älteren Dame das Essen gebracht zu haben. Zum Schluss hatte sie sich ja ein wenig gefreut.

Verwundert blickte Liese Schröder Emily nach und fragte sich, wie sie zu solch einer netten Geste kam. Wieder in ihrer Wohnung ging sie direkt in die Küche, um ihr Abendessen zu inspizieren. Zugegeben hatte sie einen Bärenhunger. Vermutlich hätte sie sich nun ihr übliches Käsebrot mit einer Tomate gemacht.

Ein Blick in den Kühlschrank gab ein äußerst mageres Bild ab. Wenn sie daran dachte, dass sie nun nicht mal mehr einkaufen gehen konnte, wurde ihr ganz anders.

Neugierig öffnete sie die beiden Gefäße und ihr lief sofort das Wasser im Mund zusammen. In der großen Tupperschüssel sah sie Gulasch in einer köstlich duftenden sämigen Sauce mit einer ordentlichen Portion Spätzle. In dem kleineren Gefäß war ein knackiger Feldsalat mit Speckwürfeln. Genauso, wie sie es mochte. Liese beschloss, sich das Essen aufzuteilen und daraus zwei Portionen zu machen, dann hätte sie noch etwas für den nächsten Tag.

Zufrieden setzte sie sich an ihren Küchentisch, öffnete sogar eine Flasche Wein zu dem Festmahl und machte eine Kerze an. Vorsichtig probierte sie den ersten Bissen und war erneut überrascht. Das Essen schmeckte noch besser, als es aussah.

Zwar konnte Liese Schröder gut kochen und hatte dies früher auch gerne getan, aber wer kochte schon mit Freude für sich selbst?

Als sie die üppige Portion aufgegessen hatte, lehnte sie sich zufrieden zurück. Jetzt hatte sie nur noch ein Problem. Ihr war klar, dass sie sich für diese Nettigkeit bedanken musste. Nur hatte sie keine Ahnung, wie sie dies anstellen sollte.

4. Riya

wunderte sich, was an diesem Mittwoch anders war. Schon seit über einer Stunde lungerte sie vor dem Fenster herum und linste immer wieder hinaus, um ihn zu sehen.

Sonst kam er mittwochs doch stets gegen 18 Uhr nach Hause. Dabei hatte er meist seine Gitarrentasche unter den Arm geklemmt. Offensichtlich hatte er an diesem Tag immer Gitarrenunterricht. Zu gerne würde sie ihn einmal spielen hören.

Sein Gesicht hatte sie bisher nur ein paar Mal gesehen. Meist hatte er einen Kapuzenpullover an, von dem er die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.

Eigentlich hatte er es gar nicht nötig, sein Gesicht so zu verstecken, da er durchaus hübsch war. Sehr gutaussehend sogar, wie Riya fand. Zumindest, wie sie es von den wenigen Malen beurteilen konnte, wo sie ihn gesehen hatte.

Auch trug er meist dunkle, vornehmlich schwarze Kleidung. Auf Riya wirkte er irgendwie traurig, hatte aber doch eine anziehende Ausstrahlung. Zumindest klopfte ihr Herz immer ein bisschen schneller, wenn sie ihn sah.

Da war er! Automatisch trat sie direkt ans Fenster und blickte hinunter. Sie konnte von Glück sagen, dass er meist auf den Boden schaute und niemals hinauf. Leon hieß er, das hatte sie mittlerweile herausgefunden. Riya fand, dass der Name perfekt zu ihm passte.

„Leon, der Löwe“, sprach sie leise und lächelte.

Schon war er im Haus verschwunden und Riya etwas enttäuscht, dass ihr Happening für heute so schnell vorbei war. Wie lange sie auf ihn wartete und wie lange sie ihn sehen konnte, stand in keinem Verhältnis.

Mit flinken Schritten flitzte sie zur Eingangstür, um durch den Spion noch einmal einen Blick auf ihn erhaschen zu können. Doch dieser Augenblick war meist noch enttäuschender. Oft sah sie nur einen Ärmel oder etwas undefinierbares Dunkles vorbeihuschen.

Diesmal jedoch blieb Leon direkt vor ihrem Eingang stehen, was sie wunderte. Sie konnte ihn von der Seite sehen, wie er in unmittelbarer Nähe vor dem Wohnungseingang stand und auf sein Handy blickte.

Noch näher schmiegte sich Riya an die Tür und linste durch den Spion, als wolle sie hindurchkriechen. So lange hatte sie ihn bisher nie anschauen können. Gespannt hielt sie den Atem an.

„Warum stehst du denn schon wieder vor der Tür?“, ertönte in dem Moment die Stimme ihrer Mutter aus der Küche. Wie erstarrt beobachtete Riya, wie Leon den Kopf drehte und sie direkt anblickte. Ihr Herz blieb beinahe stehen.

Hatte er ihre Mutter etwa gehört? Konnte er sie durch den Spion sehen?

In Zeitlupe drehte sie sich um, um sich von ihrem Türspion zu entfernen. Sicher hatte Leon ihre Mutter gehört. Wie peinlich!

Warum hatte diese überhaupt Deutsch mit ihr gesprochen?

Sonst sprachen sie zu Hause meistens Hindi. Langsam ging sie in die Küche und machte ihrer Mutter ein Zeichen, leise zu sein.

„Wen beobachtest du denn da ständig?“, wollte diese forsch wissen, lächelte jedoch.

Riya fühlte sich etwas ertappt und wollte natürlich nicht zugeben, dass sie den Jungen von oben bereits seit Wochen ausspionierte.

„Ach nichts, ich schaue nur, wer da so vorbeikommt“, log sie äußerst schlecht und spürte zu ihrem Ärgernis, wie sie auch noch rot wurde. Zwar sah man dies bei ihr nicht so deutlich, da sie eine dunkle Haut hatte, doch ihre Mutter kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade nicht die Wahrheit sagte.

Ihre Mutter schüttelte nachdenklich den Kopf und rührte weiter in dem Topf, in dem etwas vor sich hin köchelte.

„Du weißt, dass es keinen Sinn macht, sich hier zu verlieben“, meinte sie dann mit ernster Stimme. Auch ihr Lächeln war verschwunden. Kritisch blickte sie ihre Tochter an und erwartete eine Antwort.

„Weißt du das?“, hakte sie nach, da ihre Tochter nicht reagierte.

„Ja, Mutter“, antwortete Riya genervt, drehte sich auf dem Absatz um und ging in ihr Zimmer.

„Du kannst mir beim Kochen helfen!“, rief ihre Mutter ihr hinterher, doch sie gab vor, nichts gehört zu haben, und schloss ihre Zimmertür etwas lauter als eigentlich nötig.

Niedergeschlagen legte Riya sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. Ihre Mutter hatte sie wieder auf den Boden der Tatsachen geholt, bevor sie überhaupt angefangen hatte zu träumen.

Natürlich wusste sie, dass sie sich hier in Deutschland nicht verlieben sollte. Obwohl sie sich nach drei Jahren in diesem Land gut eingelebt hatten, war von Anfang an geplant gewesen, nach Indien zurückzukehren, wenn ihr Vater seine Arbeit hier erfolgreich abgeschlossen hatte.

Ihr Vater war von einer großen Softwarefirma aus Indien geholt worden und bekam für dieses Projekt ein gutes, für indische Verhältnisse horrendes Gehalt. Ihre Eltern hatten dies gleich als Chance gesehen, dass Riya und ihre Schwester auf eine deutsche Schule gehen sollten, um die Sprache zu lernen.

Das hatte bisher alles wunderbar geklappt. Riya sprach mittlerweile sehr gut Deutsch und ihrer kleinen Schwester Charu hörte man kaum noch an, dass sie aus Indien stammte.

Bei ihren Eltern war das schon anders. Sie konnten sich verständigen, sprachen untereinander aber meist Hindi und ihr Vater in seinem Job nur Englisch. Für sie gab es weniger Gelegenheiten, die Sprache zu lernen.

Wann sie wieder nach Indien zurückkehren würden, stand noch in den Sternen. Es war nur klar, dass sie zurückgehen würden, vermutlich innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahre.

Das war eben der große Haken, denn dann stand Riya eine arrangierte Ehe bevor, wie es in Indien üblich war. Auch ihre Eltern waren eine arrangierte Ehe eingegangen.

Riya wusste sogar schon, wer der Auserwählte sein würde. Ein Freund ihres Cousins. Einmal hatte sie ihn bisher gesehen, das war’s. Nicht einmal geredet hatte sie mit ihm, und das sollte ihr zukünftiger Ehemann werden. Dieser Gedanke war für sie einfach unvorstellbar.

Ihre Mutter hatte auf sie eingeredet wie ein Wasserfall und ihre Auswahl begründet. Riya verstand die Gründe durchaus, aber konnte man jemanden heiraten, ohne ihn zu lieben?

Je länger sie in Deutschland lebte, umso abwegiger fand sie die Vorstellung einer arrangierten Ehe. Niemals würde sie dies ihren Freundinnen hier erzählen. Wie sollten die das verstehen, wo sie es selbst ja nicht einmal begriff.

Ihre Mutter hatte sich bei ihren Gesprächen nie über die arrangierte Ehe mit ihrem Vater beschwert. Zwar war sich Riya nicht sicher, ob man bei ihren Eltern mittlerweile von Liebe sprechen konnte, aber sie kamen gut miteinander klar und schienen glücklich. Vermutlich hatten sie sich einfach aneinander gewöhnt und respektierten sich. Mehr konnte man bei den meisten indischen Ehen nicht erwarten.

Eine unbeschreibliche Traurigkeit überkam sie, während sie auf ihrem Bett lag und an die Decke starrte.

Warum musste alles so kompliziert sein?

Warum konnte sie sich nicht einfach verlieben und glücklich sein?

Sie hatte bestimmt nicht geplant, sich in jemanden zu vergucken ... Sie hätte auch niemals gedacht, dass dies so einfach gehen würde, doch mittlerweile war sie sich sicher, dass sie sich in Leon verliebt hatte.

Warum auch sonst wartete sie jeden Tag, bis er nach Hause kam und sie ihn ein paar Sekunden sehen konnte?

Noch nie hatte sie ihn länger betrachten können, geschweige denn mit ihm gesprochen. Einmal war sie mit zwei schweren Taschen vom Einkaufen gekommen, und er hatte gerade die Haustür aufgeschlossen, die er ihr dann netterweise aufhielt.

Ihr Herz hatte so schnell geschlagen, dass sie Angst hatte, er könne es hören. Völlig beschämt hatte sie auf den Boden geblickt und nur ein leises Dankeschön gemurmelt. Sicher dachte er, sie sei etwas komisch oder würde kein Wort Deutsch sprechen.

Ihm für einen kurzen Moment so nah zu sein, hatte sie unglaublich glücklich gemacht. Nun wusste sie, was es hieß, Schmetterlinge im Bauch zu haben.

Ihr Leon, der Löwe. Der Name Riya bedeutete die Sängerin, was durchaus passte, da sie sehr gerne sang. Zwar nie öffentlich oder professionell, aber sie hätte zu gerne Gesangsunterricht genommen.

Der Name ihrer Schwester Charu bedeutete die Schöne. Ihre Eltern hatten diesen Namen gewählt, weil sie mit einer Lippenspalte auf die Welt kam, nichtsdestotrotz aber ein wunderschönes Kind war. Nach mehreren Operationen sah man von der anfänglichen Fehlbildung mittlerweile gar nichts mehr. Nur wenn man es wusste, vielleicht ein bisschen.

Ihre Mutter hieß Priya, was die Liebevolle bedeutete. Ihr Vater hatte den Namen Amal, was für Hoffnung stand. In Indien war die Bedeutung der Namen sehr wichtig, bedeutender als hierzulande, wie Riya glaubte.

Überhaupt kannte sie keine ihrer Klassenkameradinnen, die sich so sehr an einer Religion orientierten, wie sie selbst und ihre indischen Freunde.

Zwar tat Riya dies aus Überzeugung, aber gerade wenn es um die Eheschließung ging, wünschte sie sich etwas Moderneres.

„Was ist denn mit dir? Du schaust so traurig“, vernahm sie in diesem Moment die Stimme ihrer kleinen Schwester, die durch die Tür lugte.

„Alles okay. Ich bin ein bisschen müde“, behauptete Riya und stand auf, um ihre kleine Schwester zu umarmen, die sie sehr ins Herz geschlossen hatte.

„Komm, lass uns Mama in der Küche helfen“, schlug sie vor und Charu folgte ihr völlig unbekümmert. Wenn sogar sie merkte, dass Riya traurig war, musste sie dies beim Essen unbedingt überspielen. Sie wollte keine weiteren Fragen ihrer Mutter beantworten und erst recht nicht, dass ihr Vater auf ihr Problem aufmerksam wurde. Eine Diskussion darüber mit ihm konnte sie sich gar nicht vorstellen. Die wollte sie sich ersparen.

An diesem Abend kochte ihre Mutter eines ihrer Lieblingsgerichte: Aloo Gobi. Das war ein vegetarisches Curry, das hauptsächlich aus Kartoffeln und Blumenkohl bestand. Riya und Charu liebten dieses Gericht, das zwar würzig, aber nicht zu scharf schmeckte.

Seit sie denken konnten, ernährten sie sich vegetarisch, wie fast fünfzig Prozent aller Inder. Riya kannte kaum jemanden in ihrer Heimat, der ein Nicht-Vegetarier war, wie sie die Fleischesser bezeichneten.

In ihrer Heimat hatte sie höchstens mal jemanden Hühnerfleisch essen sehen. Rindfleisch war absolut tabu, da Kühe heilig waren und man sie verehrte. Ihre Eltern gehörten der hinduistischen Religion an und glaubten somit an die ewige Wiedergeburt. Demnach konnte die Seele eines Menschen auch in einem Tier wiedergeboren werden. Daher wollten viele Hindus keine Tiere töten.

Für Riya war es ganz selbstverständlich, kein Fleisch zu essen. Sie mochte nicht einmal den Geruch davon und konnte sich nicht vorstellen, es einmal zu probieren. Immerhin war diese Ernährungsweise auch hier mittlerweile voll im Trend, und sie wurde deswegen nicht schräg angeschaut.

Netterweise tat ihre Mutter so, als hätte die vorherige Unterhaltung nicht stattgefunden. Sie gab sich gut gelaunt, machte Scherze und verteilte die Aufgaben an ihre Töchter. Riya mochte die großzügige Küche. Vieles spielte sich in diesem Raum ab. Inder kochten unheimlich gerne und waren gesellige Menschen. Auch gefiel ihr, dass die Küche einen Balkon hatte, von dem aus man in den heimeligen Hinterhof blicken konnte. Die Vierzimmerwohnung war perfekt für sie. Die Mädchen hatten ihre eigenen Zimmer und im Schlafzimmer der Eltern hatte sich ihr Vater ein kleines Homeoffice eingerichtet.

Vorhin war er noch mal ins Büro gefahren, um einige Sachen zu holen, die er in der Quarantäne benötigte. Zwar hatte er vorher auch manchmal von zu Hause aus gearbeitet, hatte aber einige wichtige Unterlagen noch in seinem Büro. Sehr eilig war er aufgebrochen.

Ihre Mutter war noch einmal einkaufen gegangen, wobei Riya und Charu sie begleitet hatten. Wie drei Packesel waren sie anschließend nach Hause marschiert.

Zum Glück hatte Riya niemanden getroffen, den sie kannte.

Als ihr Vater etwas abgehetzt zur Tür reinkam, stand das Essen bereits dampfend auf dem Tisch. Das Aloo Gobi schmeckte wie immer vorzüglich. Dazu gab es Chai Tee und Kokosmilch, was die Mädchen gerne mischten.

Während des Abendessens wurde darüber gesprochen, wie die nächsten Tage ablaufen sollten. Riyas kleine Schwester hatte viele Fragen dazu, was Quarantäne bedeutete. Charu war in der zweiten Klasse, und eine Klassenkameradin würde ihr die Schulaufgaben in den Briefkasten werfen. Riya konnte ihre Aufgaben online erledigen. So wie es aussah, würden die Schulen sowieso bald schließen. Es kam ständig in den Nachrichten und der Bundesstaat Bayern war nun mit dieser Entscheidung vorgeprescht und hatte bereits alle Kindergärten und Schulen geschlossen. In der Vergangenheit hatte sich gezeigt, dass bald die anderen Bundesländer folgen würden.

Nach dem Abendessen zog sich Riya in ihr Zimmer zurück, um ein bisschen mit ihrer Freundin zu chatten und etwas zu lesen.

„Riya, komm doch mal bitte her!“, hörte sie nach einer Weile die Stimme ihres Vaters. Sie kannte diesen Tonfall. Er hatte nichts Gutes zu bedeuten.

Hatte Priya etwa mit Amal gesprochen?

„Mach bitte die Tür hinter dir zu“, forderte ihr Vater sie auf, als sie ins Wohnzimmer kam.

Sie konnte sich schon denken, was er zu sagen hatte.

Mit hängenden Schultern setzte sie sich ihm gegenüber.

5. Liese

Schröder tingelte schon eine Weile durch ihre Wohnung und überlegte, was sie der kleinen Emily als Dank schenken könnte. Ehrlich gesagt war sie mit der Situation etwas überfordert. Seit gefühlt einer Ewigkeit hatte sie nichts geschenkt bekommen und sich genauso lange für nichts bedanken müssen.

Sie war sich nicht sicher, ob sie noch wusste, wie man so etwas überhaupt anstellte.

Da sie die nächsten Tage nicht einkaufen gehen konnte, musste es etwas aus ihrem Haushalt sein. Natürlich nichts Uraltes, Verstaubtes ...

Und da war schon das Problem. Was sollte sie in ihrer Wohnung haben, was einem kleinen Mädchen gefallen könnte?

Etwas verzweifelt blickte sie sich in ihrer Vorratskammer um. Bald wurde ihr klar, dass sie hier wohl kaum eine kleine Aufmerksamkeit für Emily finden würde. Darüber hinaus versetzten sie der Anblick ihrer Speisekammer und die Tatsache, dass sie die nächsten Tage das Haus nicht mehr verlassen konnte, in leichte Panik. Ihr Vorratsraum war so gut wie leer geräumt und sicherlich waren die wenigen Lebensmittel, die hier noch lagerten, mittlerweile abgelaufen. Ewig hatte sie hier nicht ausgemistet.

Gleich nutzte sie die Gelegenheit und nahm einen Staubwedel zur Hand, um die Regalbretter etwas abzustauben. Nach etwa fünfzehn Minuten betrachtete sie ihre klägliche Ausbeute für ein Geschenk. Sie hatte lediglich eine angebrochene Packung Schnapsbohnen und eine Schachtel Merci gefunden, die sie laut Verfallsdatum spätestens vor drei Jahren hätte verschenken müssen. Das konnte sie wohl vergessen.

Sie musste woanders suchen. In dem Moment kam ihr eine Idee. Sie ging zu dem Zimmer, das sie mehrere Monate lang nicht mehr betreten hatte.

In dem Zimmer von Andreas, das immer noch so aussah, als könne er jeden Moment zurückkommen, blickte sie sich suchend um. Bis Andreas etwa 22 Jahre alt war, hatte er hier gelebt, was mittlerweile genauso lange her war. Ihr kleiner Junge war inzwischen 42 Jahre alt.

Tatsächlich sah sie ihn in dem Moment im Alter von etwa zwölf Jahren vor sich, wie so oft. In ihrer Erinnerung würde er einfach immer ein kleiner Bub bleiben. In ihrem Gedächtnis war die Zeit verankert, in der alles noch harmonisch gewesen war: Andreas hier zu Hause glücklich spielend und Heinz vor seiner Krankheit, als die beiden noch ein sorgenfreies Ehepaar waren. Gut, sie hatten auch manchmal gestritten, wie es in jeder Ehe vorkam, aber alles in allem waren sie doch recht unbeschwert gewesen, zumindest in ihrer Retrospektive.

Sie betrat dieses Zimmer nicht oft. Langsam ging sie durch den Raum und schaute sich die Bilder an, die an der Wand hingen, als hätte sie diese noch nie gesehen. Auch für das Betrachten seiner CD-Sammlung nahm sie sich Zeit. Tatsächlich fühlte sie sich sogleich in die 90er-Jahre zurückversetzt. Es war doch ein Jammer, dass sie sich so entzweit hatten.

Nachdem sie eine Weile herumgestreift war, musste sie einsehen, dass sie wohl nichts finden würde, was Emily gefallen könnte.

Gerade, als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, fiel ihr Blick auf ein Schachspiel, das sie Andreas zu seinem neunten oder zehnten Geburtstag geschenkt hatte. So alt musste Emily doch in etwa sein. Vielleicht etwas jünger.

Langsam trat sie auf das Regal zu, in dem das Spiel stand, und nahm es heraus. Mit einer Hand wischte sie den Staub von der Oberfläche, während sie mit der anderen das kleine Häkchen löste, das das Kästchen zusammenhielt. Es war ein hübsches Holzschachspiel und damals gar nicht billig gewesen, wie sie sich erinnerte. Andreas hatte unbedingt so ein Spiel haben wollen mit magnetischen Holzfiguren.

Kurz setzte sie sich an den Schreibtisch, um zu kontrollieren, ob das Spiel noch vollständig war. Man konnte ja nie wissen nach so langer Zeit. Nachdem sie alle Figuren auf ihren Platz gestellt hatte und zufrieden feststellte, dass keine fehlte, hätte sie fast Lust bekommen, selbst Schach zu spielen.

Damals hatte sie gelernt, wie dieses trickreiche Spiel funktionierte, da Andreas kaum einen Gegenspieler gehabt hatte. Sein Vater war zu der Zeit viel arbeiten gewesen, und wenn Freunde zu ihm gekommen waren, hatten sie lieber etwas anderes machen wollen, als Schach zu spielen. Geduldig hatte ihr Sohn ihr das Schachspiel beigebracht, um sie dann immer wieder zu besiegen. Wenn sich Liese richtig erinnerte, hatte sie nur ein einziges Mal gegen Andreas gewonnen. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob er ihr das Schachspiel überhaupt richtig beigebracht hatte.

Liebevoll packte sie die schmucken Holzfigürchen wieder in die Kiste und verschloss das Häkchen. Irgendetwas sagte ihr, dass dies etwas sein könnte, worüber sich das Mädchen von oben freuen würde.

6. Alexander

Bierbaum war schon wieder den ganzen Tag umhergestrichen, ohne etwas Sinnvolles zu tun. Was konnte er auch Großartiges machen in der momentanen Situation?

Seinen Antiquitätenladen hatte er bereits vor einigen Wochen schließen müssen. Dies würde der Todesstoß für sein Geschäft sein, dessen war er sich sicher, denn auch schon vor dem Lockdown lief sein Laden nicht wirklich gewinnbringend.

Täglich verließ er das Haus, um „zur Arbeit“ zu gehen. Seiner Frau Susanne hatte er weismachen können, er habe einen Ersatzjob gefunden. Ihr hatte er erzählt, er würde gegen Geld einem Freund bei der Renovierung eines Hauses helfen. Natürlich war dies eine Notlüge gewesen.

Was hätte er auch sonst machen sollen?

Er wollte nicht, dass sie sich so viele Sorgen machte. Seitdem Susanne vor einem halben Jahr noch mal Mutter geworden war, war sie nah ans Wasser gebaut. Fast vermutete er, dass sie so etwas wie eine postnatale Depression hatte, aber davon wollte sie nichts wissen.

Susanne war immer eine äußerst taffe Frau gewesen, die ihr Leben im Griff hatte und ihren Erfolg genoss. Daher konnte sie es auch nicht ausstehen, seit einigen Monaten auf Alex und sein Gehalt angewiesen zu sein.

Als sie sich in Mutterschaftsurlaub begab, war von der Pandemie noch keine Spur gewesen, und sie wiegte sich in der Sicherheit, ihren Job so bald wie möglich wieder aufnehmen zu können. Das sah mittlerweile ganz anders aus.

Die Chancen, ihren vorherigen Job wieder aufzunehmen, beliefen sich gegen null. Vor der Pandemie und ihrer Schwangerschaft war sie die Geschäftsführerin des größten Heidelberger Fitnessstudios gewesen. Sie war in dieser Position geradezu aufgeblüht.

Die ungeplante Schwangerschaft hatte ihr den ersten Strich durch die Rechnung gemacht, die Pandemie den zweiten. Mittlerweile war das Fitnessstudio auch geschlossen, und wann sie dort wieder anfangen würde, stand in den Sternen.

Natürlich belog Alex seine Frau nicht gerne. Ihm war aber klar, dass sie schlaflose Nächte haben würde, wenn sie die Wahrheit wüsste. Die Sache mit dem Job und der Wohnungsrenovierung war einigermaßen plausibel, da sein erlernter Beruf Bauingenieur war.

Die Idee mit dem Antiquitätenladen hatte er vor etwa drei Jahren gehabt. Damals hatte er sich endlich seinen Traum erfüllen wollen: Sein eigener Chef sein, nicht mehr kontrolliert werden, keine Vorgaben, die zu erfüllen waren, einfach frei sein. Das war schon immer sein Wunsch gewesen, und eines Morgens hatte er gesehen, dass der hübsche kleine Buchladen in einer Seitengasse der Fußgängerzone zu verpachten war.

Alex überlegte nicht lange, besprach sich kurz mit Susanne, die seine Idee ebenfalls guthieß, und ein paar Tage später war er der Besitzer des kleinen Ladens.

Dass er Antiquitäten verkaufen wollte, stand außer Frage. Von jeher hatte er sich für kunstvolle Sachen interessiert und diese gesammelt, ging gerne auf Flohmärkte und Auktionen, um Schnäppchen zu erhaschen.

---ENDE DER LESEPROBE---