Oma Lotte macht die Biege - Mimi J. Poppersen - E-Book

Oma Lotte macht die Biege E-Book

Mimi J. Poppersen

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Beschreibung

Lieselotte Krügers 75. Geburtstag verändert alles. An diesem Tag entdeckt ihr Enkel Luke den alten VW-Bus in ihrer Garage und beginnt prompt, diesen liebevoll zu restaurieren. Luke möchte Oma Lottes Wunsch erfüllen: eine Spritztour nach Straßburg mit dem VW-Bulli. Mit leichtem Gepäck machen sie sich auf den Weg, nicht ahnend, dass ihre Tour keinesfalls in Straßburg endet, sondern erst beginnt. Bei einem Stadtbummel treffen sie auf Pascal, dessen Schicksal sie berührt. Ihr Entschluss, Pascal zu helfen, führt sie zu ihrem nächsten, überraschenden Ziel. Pascal soll nicht der letzte Fremde sein, der sich zu ihnen gesellt und ihre Weiterreise gen Süden bestimmt. Mit jedem Tag und jedem Mitreisenden wird ihre Fahrt ins Blaue kurioser. Denn sie alle verbindet eines: Spontanität und Abenteuerlust. Eine außergewöhnliche Reise, die für alle einen unvorhergesehenen Lauf nimmt.

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Oma Lotte macht die Biege

von

Mimi J. Poppersen

Text Copyright © Mimi J. Poppersen

Cover Design: Rafi Gnirck

Cover Images © Adobe Stock

Lektorat: Media-Agentur Gaby Hoffmann

Alle Rechte vorbehalten

Mimi J. Poppersen auf Instagram

“Travel is the only thing you buy that makes you richer”

(Unknown)

1

So sieht also mein 75. Geburtstag aus, dachte Oma Lotte und blickte sich in der Runde der Gratulanten um. Sie waren recht zahlreich erschienen zu ihrem Ehrentag. Völlig unnötig, wie sie fand. Denn was war an diesem Geburtstag schon anders als an all den anderen vierundsiebzig davor?

Vielleicht könnte es ja ihr letzter sein … Das war es doch, warum sie eigentlich alle hier waren. Zumindest war der 75. Geburtstag von ihrem Ehemann Wilhelm der letzte gewesen – und das war nicht einmal drei Monate her.

Oma Lotte betrachtete ihre Familie. Ihr Sohn Michael und seine Frau Susanne prosteten ihr zu. Gerade hatte er wieder dieses „Bei-uns-ist-alles-okay“-Lächeln auf den Lippen und nickte seiner Mutter wohlwollend zu. Dabei wusste Lieselotte schon lange, dass Michael und seine Frau kein Paar mehr waren. Zwar wohnten sie noch zusammen unter einem Dach, lebten aber in der viel zu großen Villa getrennt. Seit Jahren fragte sie sich, warum die beiden immer zu ihrem Geburtstag und Weihnachten diese Show abzogen, als wären sie noch glücklich vereint. Sie hatte es schon lange in ihren Augen, an den Blicken, die sie sich zuwarfen, gesehen, dass dies ein Trugschluss war.

Dann war da noch ihre Tochter Melanie, die mit Mitte vierzig immer noch Single und kinderlos war. Die Marotte, als Tarnung irgendwelche Männer auf ihren Geburtstag mitzuschleppen, hatte sie zum Glück vor ein paar Jahren aufgegeben. Bis heute wartete ihre Mutter darauf, dass sie ihr endlich sagen würde, dass sie mit Männern einfach nichts am Hut hatte.

Ihre Kinder hatten wirklich keine Ahnung, wie gut sie sie kannte und dass sie jede auch noch so kleine Lüge sofort durchschaute.

Auch einige Nachbarn waren erschienen. Alles gutbürgerliche, nette Menschen, die sie offensichtlich mochten. Vielleicht waren sie aber auch nur auf ein Stück Kuchen und ein Tässchen Kaffee aus, dem einen oder anderen würde Lotte dies durchaus zutrauen. Immerhin hatte sie ihr bestes Porzellangeschirr aufgetischt. Namentlich kannte sie nur wenige von den Gästen aus der Nachbarschaft. Ihr Namensgedächtnis wurde immer schlechter. Außerdem waren sie sich alle so ähnlich, wie Oma Lotte fand, dass sie sich ihre Namen einfach nicht merken konnte. Und wenn sie doch einen Namen behalten konnte, hatte sie diesen bis zu ihrem nächsten Geburtstag sowieso wieder vergessen.

Lotte hieß mit bürgerlichem Namen Lieselotte Krüger und wurde von fast allen „Oma Lotte“ genannt. Sogar von ihrer besten Freundin Trudi, die genauso alt war wie sie.

Trudi war seit dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren nicht mehr dieselbe und hatte immer mehr abgebaut. In diesem Augenblick hockte sie etwas zusammengefallen auf dem viel zu weichen Sofa und stierte abwesend auf den Fußboden. Vor ihr stand ein Rollator, den sie Lottes Meinung nach gar nicht brauchte.

So soll es mir nicht ergehen, beschloss Lotte in dem Moment. Ich werde hier nicht versauern, nur weil mein Mann gestorben ist.

„Oma Lotte, nun pack doch endlich mal deine Geschenke aus“, riss sie in dem Moment die Stimme ihres Enkels aus ihren Gedanken. Luke, ihr einziger Enkel, den sie abgöttisch liebte.

Zuerst war sie mit dem Namen Luke gar nicht einverstanden gewesen. Warum konnten ihm seine Eltern nicht einen normalen deutschen Namen geben, wie Andreas, Thomas oder eben Michael? Michael Junior. Wobei sie sich eingestehen musste, dass ihr Sohn ja auch nicht Wilhelm Junior hieß.

Seine Eltern behaupteten, sie hätten diesen Namen gewählt, falls Luke mal eine internationale Karriere anstreben würde.

„Dann hättet ihr ihn ja auch Chang nennen können“, erwiderte Oma Lotte damals erbost, „heutzutage haben doch die Chinesen das meiste Sagen.“

Das Thema wurde nie wieder aufgegriffen und schon bald fand Lotte, dass zu ihrem Enkel kein Name besser passen konnte als Luke.

Unter neugierigen Blicken packte sie nun ihre Geschenke aus. Alles praktische Sachen, wie etwa ein Buch mit riesigen Buchstaben, sodass man dies auch auf mehrere Meter Entfernung hätte lesen können, oder eine Armbanduhr mit einem extra großen Ziffernblatt und ein Abonnement für eine Fernsehzeitung.

Das Einzige, was fehlt, ist eine Packung Windeln für Erwachsene, überlegte Oma Lotte etwas betrübt, während sie dankend in die Runde nickte.

Nur von Luke bekam sie etwas wirklich Besonderes geschenkt: ein knallbuntes Batik-Shirt mit der Aufschrift „FOREVER YOUNG!“.

2

Nachdem alle Gäste gegangen waren, fand Oma Lotte, dass sie zufrieden sein konnte mit ihrer Geburtstagsfeier. Es hatte eine gute Stimmung unter den zahlreichen Gästen geherrscht. Alle hatten satt und zufrieden ihr Haus verlassen. So sollte es sein.

Nun war nur noch ihre Familie anwesend und sie wollte sich mit ihrer Tochter an den Abwasch machen.

„Lass nur, Mama, ich mache das schon“, bot Melanie an und nahm ihr sachte das wertvolle Porzellangeschirr aus der Hand.

Hiergegen hatte Lotte keine Einwände. Warum sollte sie sich an ihrem Geburtstag nicht mal ein bisschen bedienen lassen?

Stattdessen beschloss sie, in der Garage nach passenden Vasen für die vielen Blumensträuße zu suchen, die gerade alle noch etwas provisorisch untergebracht waren. Ihre Tochter hatte für so etwas keinen Blick und die meisten Sträuße einfach in Biergläser gestellt.

Ihr Haus war äußerst praktisch aufgeteilt, darauf hatte Wilhelm beim Kauf, vor gefühlten hundert Jahren, Wert gelegt. Von der Küche aus ging es über eine recht geräumige Speisekammer direkt in die Garage. Gerade jetzt im fortgeschrittenen Alter war es sehr komfortabel, die Einkäufe nach nur wenigen Metern direkt in der Vorratskammer abstellen zu können.

Auch hatten sie beim Kauf des Hauses die Lage gut durchdacht, es lag etwas außerhalb von Heidelberg, im schönen Neckartal, mit einem großen Garten für die Kinder, aber auch Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe. Perfekt für eine junge Familie.

Gerade stand Oma Lotte in der Speisekammer und wollte die Tür zur Garage öffnen, als sie bemerkte, dass diese nur angelehnt war. In dem Moment vernahm sie Stimmen dahinter. Natürlich waren dies wieder Michael und Susanne, die sich angifteten. Gerade wollte Lotte schwungvoll die Tür öffnen, um dem Streit ein Ende zu setzen, als einige Wortfetzen an ihr Ohr drangen, die sie stutzen ließen.

Selbstverständlich wäre sie niemals auf die Idee gekommen, die beiden zu belauschen, aber wie von selbst klebte ihr Ohr bereits an der Tür. Nun verstand sie jedes Wort.

„Du musst es ihr endlich sagen!“, keifte Susanne gerade mit scharfer Stimme. „Hör auf, es immer weiter vor dir herzuschieben. Das bringt doch nichts. Wie lange willst du denn noch warten?“, redete sie auf Michael ein, der gar nicht zu Wort kam.

Woher kam eigentlich der Glaube, dass immer Schwiegermütter die Furchtbaren seien? Schwiegertöchter konnten genauso schlimm, wenn nicht noch biestiger sein, war Lottes Gedanke, während sie weiter horchte.

„Ich weiß auch nicht, Susanne. Ich möchte sie einfach nicht vor den Kopf stoßen. Und außerdem finde ich, sie kommt noch ganz gut zurecht“, stammelte ihr Sohn nun.

Mit einem Mal wurde Lotte klar, dass es nicht um Melanie oder Luke ging, sondern um sie selbst.

„Also, sieh dich doch mal um. Dieses Chaos! Alleine die Garage. Warum stehen hier überhaupt drei verrostete Wagen, wo sie doch gar kein Auto fährt?“

Da hatte sie leider recht, musste Lotte insgeheim gestehen. Aber dieser Ton. Wie sie mit ihrem armen Sohn redete, diese Furie.

„Das braucht halt seine Zeit … Außerdem müsste ich ihr dabei helfen und das habe ich in letzter Zeit einfach nicht geschafft.“

„Ach ja? Was machst du denn anderes Wichtiges? Hast du wieder mal eine Affäre mit einer deiner Sekretärinnen?“ Ihre Stimme klang hierbei süffisant.

In dem Moment beschloss Lotte, genug gehört zu haben. Laut räusperte sie sich und täuschte einen Hustenanfall vor, bevor sie äußerst umständlich die Garage betrat, um den beiden genug Zeit zu geben, die peinliche Situation zu überspielen.

Tatsächlich hatte Susanne wieder ihr unechtes, völlig verkrampft wirkendes Lächeln aufgesetzt, als sie die beiden anblickte.

„Mama, was ist eigentlich mit den ganzen Autos?“, wollte Michael sogleich von ihr wissen, angestachelt von seiner Frau.

„Ja, das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht“, tat Lotte unschuldig. „Das ist eine gute Frage“, fügte sie noch einsichtig an und lächelte ihren Sohn an. Denn das war die Wahrheit. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mit den ganzen Fahrzeugen tun sollte. Dies hier war Wilhelms Reich gewesen. Sie selbst hatte das letzte Mal 1988 hinter einem Steuer gesessen. Genau gesagt: am 12. Mai 1988.

Oft hatte sie diese Geschichte zum Besten gegeben. Ihr Mann hatte sie ständig beim Autofahren zurechtgewiesen und immer mehr verunsichert, sodass sie eines Tages auf einer Landstraße eine Vollbremsung hinlegte, ausstieg und zu Wilhelm sagte: „Von jetzt an fährst du. Ich setze mich nie wieder hinter ein Lenkrad.“ Daran hatte sie sich von da an strikt gehalten und würde dies wohl kaum in ihrem hohen Alter noch einmal ändern.

„Hast du noch mehr Wagen als den alten Volvo von Opa?“, wollte Luke in dem Moment wissen, der gerade die Garage betrat und wohl den Rest der Konversation mitbekommen hatte.

„Ja“, bestätigte Oma Lotte fast stolz, „einen alten Trabbi, der aber, glaube ich, nie gefahren wurde, und noch den da drüben.“ Dabei deutete sie auf ein Fahrzeug unter einer Abdeckung auf der anderen Seite der Garage, in der vier Fahrzeuge Platz hatten.

„Darf ich da mal drunter schauen?“, wollte Luke neugierig wissen.

„Natürlich, mein Schatz“, säuselte Oma Lotte, worauf Susanne ihre Arme vor der Brust verschränkte und die Augen verdrehte.

Wie so oft, fiel ihr auf, dass Lukes Eltern so wenig Herzliches und Sinn für Humor hatten, was ihr in der Seele wehtat. Ihr Enkel war von jeher trotzdem ein aufgewecktes, fröhliches Kerlchen, gewesen. Manchmal fragte sie sich, wie er es mit diesen Trauerklößen als Eltern überhaupt aushielt. Dies musste er zwar nicht mehr lange, denn mit seinen neunzehn Jahren würde er bald ausziehen, aber dennoch hatte sie Mitleid mit ihm. Schließlich konnte er nichts dafür, dass die Beziehung der beiden auseinandergegangen war.

„Wie cool ist das denn?“, hörte sie da Lukes begeisterte Stimme, der gerade die vordere Seite der Abdeckung hochgezogen hatte. Darunter erschien die Frontseite des Wagens in weißem und mintgrünem Lack. Mit einigen schnellen Handgriffen hatte er bald die ganze Schutzhülle abgezogen und blickte ungläubig auf das Fahrzeug.

„Oma Lotte, das gibt es doch gar nicht. Das ist ja ein VW-Bus T1 Samba!“

„Ja, genau. Du kennst dich aber gut aus. Dieser VW-Bulli ist aus dem Jahr 1962.“

„Weißt du, dass das eine totale Rarität ist. Gerade dieses Modell mit den vielen Fenstern und in diesen Farben.“

„Nein, das wusste ich nicht. Aber wenn du das sagst, glaube ich dir das“, sagte Oma Lotte und ging ein paar Schritte auf ihren Enkel zu.

„Das ist schon ein toller Bus“, gestand nun auch Lukes Vater und gesellte sich ebenfalls zu ihnen, „aber er wurde auch schon länger nicht mehr gefahren.“

„Ich gebe es auf!“, schimpfte Susanne in ihre Richtung und wandte sich zur Tür. Zufrieden registrierte Lotte, dass niemand Susanne Beachtung schenkte, die gerade noch einmal verachtend schnaubte und die Tür hinter sich zuschlug.

„Wann wurde er das letzte Mal gefahren? Und darf ich mal reingucken?“, wollte Luke gespannt wissen. Bereits als Kleinkind war er so begeisterungsfähig gewesen, was Oma Lotte immer wieder faszinierte. Wenn sich Luke für etwas interessierte, konnte er Stunden damit verbringen. Luke begeisterte sich für die verschiedensten Dinge und war vielseitig begabt, wie Oma Lotte fand. Beispielsweise kannte er sich mit allen technischen Sachen hervorragend aus, ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Aber auch künstlerisch war Luke talentiert und steckte voller Ideen. Viel Zeit investierte er auch in die Musik und spielte leidenschaftlich in einer Band Gitarre. Im Grunde interessierte er sich für alles, was nichts mit der Schule zu tun hatte.

Deshalb waren sie auch alle außerordentlich froh gewesen, als Luke letzten Monat ein durchaus passables Abitur abgeschlossen hatte, woraufhin ihm nun alle Türen offen standen, wie seine Eltern immer wieder betonten.

„Schau dir diese Inneneinrichtung an! Wie liebevoll und detailliert das alles noch verarbeitet ist“, begeisterte sich Luke gerade, während er im Inneren des VW-Busses kniete und geradezu andächtig über das lederne Interieur strich.

Oma Lotte war gerührt, wie entzückt ihr Enkel von der alten Rostschüssel war. Gerade hatte sich dieser hinter das Steuer gesetzt, seine Hand auf die lange, freistehende Gangschaltung gelegt und fragte: „Meinst du, der fährt noch?“.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Lotte ehrlich, „obwohl dein Opa ihn immer gut gepflegt hat … und auch stets den TÜV erneuert hat, auch wenn wir bestimmt seit zwanzig Jahren damit nicht mehr in den Urlaub gefahren sind. Ich glaube, in den letzten Jahren war die Strecke zum TÜV und zurück die einzige Bewegung für den Bus. Dein Opa kannte dort jemanden, der wohl bei jeder Prüfung ein Auge zugedrückt hat. Ich hole mal die Schlüssel, dann sehen wir ja, ob er anspringt.“

Als sie wiederkam, hatten die beiden Männer die Heckklappe geöffnet und blickten interessiert hinein. Augenscheinlich war der Motor noch in einem guten Zustand. Oma Lotte hörte, wie sie über die Funktionsweise des Motors fachsimpelten, wobei sie vermutete, dass keiner der beiden hiervon wirklich Ahnung hatte. Wenn sich jemand damit auskannte, dann wohl eher Luke als ihr Sohn, der in Bezug auf Technik schon immer zwei linke Hände gehabt hatte.

Doch egal, was bei diesem Manöver herauskommen würde, war es schön, Vater und Sohn mal wieder in solch einer Eintracht zu sehen, ohne Streit und böse Worte. Dies war in den letzten Monaten kaum der Fall gewesen. Gerade wenn es um das Lernen zum Abitur ging, waren sie öfters aneinandergeraten. Oft genug hatte Luke davon berichtet.

3

„Darf ich mal probieren, ihn anzulassen?“, fragte Luke mit strahlenden Augen, nachdem Oma Lotte ihm den Wagenschlüssel überreicht hatte.

„Gerne. Du hast ja bald den Führerschein“, antwortete sie und zwinkerte ihm zu.

Das war auch so ein stetiges Streitthema. Seine Eltern hatten darauf bestanden, dass Luke sich das Geld für seinen Führerschein selbst verdienen sollte und somit hatte sich dies über ein Jahr in die Länge gezogen. Oma Lotte war fast aus allen Wolken gefallen, als sie erfahren hatte, was man heutzutage für diesen Wisch hinlegen musste. Natürlich hatte sie Luke daraufhin immer wieder Geld zugesteckt, damit er die Fahrstunden bezahlen konnte. Nächste Woche sollte nun endlich die Fahrprüfung sein, der Luke schon so lange entgegenfieberte.

Glücklich saß Luke kurz darauf hinter dem Lenkrad des Oldtimers und drehte vorsichtig den Zündschlüssel um. Es fehlte nur noch ein Trommelwirbel. Alle Anwesenden hielten den Atem an und warteten gespannt, doch leider tat sich … Nichts.

Die Enttäuschung darüber war Luke anzusehen. Etwas hilflos blickte er seinen Vater an, der nur mit den Schultern zuckte.

Hierbei wird er ihm keine große Hilfe sein, dachte Oma Lotte, was sie aber für sich behielt.

„Ich glaube, Wilhelm hat die Batterie abgeklemmt“, mutmaßte sie hierauf, wobei sie eigentlich gar keine Ahnung von solchen Sachen hatte. Aber daran meinte sie, sich zu erinnern.

„Wo ist denn die Batterie bei diesem Fahrzeug?“, wollte Michael wissen, der sich wieder einmal nicht gerade als Autokenner outete. Dabei war er oft genug in diesem VW-Bus mit seinen Eltern im Urlaub gewesen. Da hätte er seinem Vater ja mal über die Schulter schauen können, aber leider hatte er keinerlei technisches Interesse. Der Beruf des Immobilienmaklers war wirklich genau das Richtige für ihn.

Vielleicht lag es auch an den unterschiedlichen Interessen von Vater und Sohn, dass die beiden sich schon seit längerer Zeit nicht mehr gut verstanden. Oma Lotte hatte registriert, dass Michael viele Sachen wichtiger waren, als Zeit mit seinem Sohn zu verbringen. Sein Büro etwa, mit allem, was damit zusammenhing, sein Golfclub und seine Reisen rund um die Welt. In diesem Leben war für Luke nicht mehr viel Platz. Vor allem, seitdem dieser ein etwas anstrengender Teenager war.

Während Michael noch in dem geöffneten Motorraum nach der Batterie suchte, hatte Luke bereits die richtige Stelle gefunden und einen der hinteren Sitze hochgeklappt, wo sich normalerweise die Autobatterie befand. Im Augenblick allerdings war das Fach leer.

„Keine Batterie da“, kommentierte Luke seinen Fund.

„Das kann gut sein. Wilhelm hat diese bestimmt vor gut zehn Jahren ausgebaut und wahrscheinlich nie eine neue eingebaut.“

„Papa, können wir auf dem Rückweg noch beim Autoteileladen vorbeifahren? Der hat noch bis sechs Uhr offen“, ereiferte sich Luke sofort und blickte seinen Vater hoffnungsvoll an. Oma Lotte fand seine Euphorie rührend und hätte sofort alles stehen und liegen lassen, um ihn dorthin zu kutschieren.

„Nein, Luke, das geht nicht. Ich bin jetzt schon spät dran für das Treffen auf dem Golfplatz. Dort ist heute eine besondere …“, als er in dem Moment den strafenden Blick seiner Mutter bemerkte, lenkte er schnell ein, „Na gut, eigentlich können wir das schon machen … wenn es schnell geht.“

Na, geht doch! dachte Oma Lotte und beobachtete zufrieden, dass sich Lukes Miene augenblicklich aufhellte.

„Ich flitze in den Laden und komme fünf Minuten später mit einer neuen Batterie wieder raus. Nichts einfacher als das“, erklärte Luke gut gelaunt, während er auf seine Großmutter zuging und diese umarmte.

„Oma Lotte, ich würde gerne morgen wieder vorbeikommen, um die Batterie einzubauen und zu schauen, ob der Bus anspringt. Passt dir das oder hast du was vor?“

Da musste sie gar nicht lange überlegen. Was sollte sie schon vorhaben?

„Gerne, Luke. Ich bin hier“, antwortete sie und fragte sich insgeheim, warum sie ihm nicht schon lange den VW-Bulli gezeigt hatte.

Sie folgten Michael zurück ins Haus, dem man nun anmerkte, dass er es eilig hatte. Im Grunde war ihr Sohn immer im Stress, stets auf dem Weg zum nächsten Termin, nahm sich selten mal Zeit für etwas, außer für das Golfspielen vielleicht.

Im Wohnzimmer saßen Melanie und Susanne, jede in einer anderen Ecke des Raums, auf ihr Smartphone starrend. Die beiden hatten sich noch nie sonderlich leiden können.

„Wir müssen los. Luke möchte noch eine neue Batterie für den VB-Bus kaufen“, erklärte Michael in Richtung seiner Noch-Ehefrau, die daraufhin wieder nur die Augen verdrehte.

„Und wer zahlt das?“, fing Susanne gleich an zu stänkern.

„Das zahle natürlich ich. Es ist ja schließlich mein Bus“, erklärte Oma Lotte bereits und zückte ihr Portemonnaie. Während sie Luke das Geld überreichte, schenkte sie seiner Mutter ein breites Lächeln. Immerhin lächelte Susanne zurück. Früher hatte sie ihre Schwiegertochter durchaus leiden können. Manchmal fragte sie sich, was wohl in der Zwischenzeit passiert war, dass sie so griesgrämig geworden war. Vielleicht war es auch nur Michaels Anwesenheit, die sie so gereizt erscheinen ließ.

„Bis morgen, mein Lieber“, sagte sie dann zu ihrem Enkel und freute sich bereits, ihn so bald wiederzusehen.

Aus dem Fenster beobachtete sie, wie die Familie in den neuen Porsche Cayenne von Michael stieg und die Eltern gleich wieder in eine heftige Diskussion verfielen. Am liebsten hätte sie beiden mal für einen ganzen Tag Klebeband über den Mund geklebt. Bei dieser Vorstellung musste sie kichern und winkte ihnen zum Abschied noch einmal fröhlich zu, was nur Luke erwiderte.

Melanie blieb noch etwas länger und half ihrer Mutter weiter beim Aufräumen. Oma Lotte spürte, dass auch sie etwas bedrückte, hielt sich aber zurück, danach zu fragen. Sie kannte ihre Tochter. Diese würde niemals auf Aufforderung etwas erzählen, sondern nur, wenn sie Lust dazu hatte. So war sie schon als Kind gewesen. Also würde sie warten.

4

Überrascht blickte Oma Lotte auf den Wecker auf ihrem Nachttisch und überlegte, was sie geweckt haben könnte. Die Uhr zeigte erst kurz nach 7 Uhr morgens an, viel zu früh, um aufzustehen, wie sie fand. In dem Moment vernahm sie erneut das Geräusch, das sie aus dem Schlaf geholt hatte, und registrierte, dass es die Türklingel war.

Wer konnte das so früh sein?

So schnell wie sie konnte schlüpfte sie aus dem Bett und zog sich ihren Morgenmantel über, um aus dem Fenster zu spähen. Vor dem Gartentor sah sie niemanden. Also musste der frühe Besucher direkt an ihrer Haustür stehen. Obwohl sie dies etwas ungewöhnlich fand, machte sie sich gleich auf den Weg. Natürlich war sie auch ein wenig neugierig …

„Ich bin gleich da!“, rief sie, während sie vorsichtig die Treppe hinabstieg. Gerade, wenn sie ihre Brille nicht trug, musste sie langsam gehen. Schritt für Schritt tastete sie sich hinab. Schließlich wollte sie nicht, dass es ihr erging wie ihrer alten Schulfreundin Elfriede, die sich bei einem Sturz auf der Treppe die Hüfte gebrochen und davon nie wieder ganz erholt hatte.

„Ein Moment noch!“, brüllte sie erneut.

Ohne lange zu zögern, riss sie kurz darauf die Haustür auf. In Gedanken hatte sie sich schon ein paar Worte zurechtgelegt, um den Postboten ordentlich zusammenzustauchen. Was diesem überhaupt einfiel, so früh bei ihr zu klingeln. Doch vor ihr stand kein Briefträger, sondern Luke.

„Luke! Ist irgendetwas passiert?“, wollte sie sogleich beunruhigt wissen. Denn warum sonst stand er mitten in der Nacht vor ihrer Tür.

„Nein, Oma Lotte, alles bestens“, erwiderte dieser gut gelaunt und gab ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange.

„Ich bin hier, um die Batterie einzubauen“, erklärte er, als wäre es das Normalste auf der Welt, und hielt ihr einen Karton vor die Nase. Dazu grinste er glücklich.

Oma Lotte war wirklich überrascht über den frühen Besuch ihres Enkels. Sprachlos blickte sie Luke hinterher, der sich bereits auf den Weg zur Küche machte. Es kam nicht allzu oft vor, dass es Oma Lotte die Sprache verschlug.

„Oder ist dir das nicht recht?“, stockte Luke plötzlich, drehte sich um und musterte sie besorgt.

„Doch. Doch. Natürlich ist mir das recht“, lenkte Lieselotte gleich ein und trabte ihrem Enkel hinterher.

Als dieser in der Küche ankam, zog er eine Tüte aus seinem Rucksack und verkündete fröhlich: „Ich habe uns Brötchen mitgebracht. Hast du Lust auf ein Frühstück? Soll ich Kaffee machen?“

Wie Luke so dastand, mit den vor Begeisterung geröteten Wangen und strahlenden Augen, erinnerte er Oma Lotte an den kleinen Jungen von damals. Auch seinerzeit hatte er dieses Leuchten in den Augen gehabt, wenn ihn etwas faszinierte. Im Moment schien es wieder so zu sein. Sein Tatendrang war kaum zu stoppen.

„Frühstück hört sich gut an. Aber geh du ruhig schon mal in die Garage und lass mich das Essen zubereiten“, entschied Oma Lotte und deutete mit einem Kopfnicken Richtung Garagentür.

Dies ließ sich Luke nicht zweimal sagen und machte sich sofort auf den Weg.

Oma Lotte ging erst noch einmal nach oben, um sich anzuziehen. Schließlich wollte sie das Frühstück mit ihrem Enkel nicht im Morgenmantel zu sich nehmen. In diesem Aufzug hätte sie sich äußerst unwohl gefühlt.

Während sie die Treppen hinaufging, fiel ihr wieder einmal auf, wie unnötig weitläufig das Anwesen war. Damals, vor einer halben Ewigkeit, war diese Größe durchaus angemessen gewesen. Immerhin hatten sie zwei Kinder, gerne Gäste im Haus und Wilhelm auch sein Büro in den eigenen vier Wänden gehabt. Doch mittlerweile standen all diese Räume leer und oft fühlte sich Oma Lotte, als würde sie in einem Museum übernachten. Manche Zimmer im obersten Stockwerk betrat sie nur, um diese zu putzen und sie dann wieder unbewohnt zu lassen, bis sie erneut Staub wischen musste. Was für eine Zeitverschwendung.

Früher hatte sie eine Putzfrau gehabt, doch mittlerweile fand sie dies Geldverschwendung, schließlich hatte sie mehr Zeit als genug, und konnte ganz gemütlich einen Raum nach dem anderen in Ordnung bringen. Zwar kam es ihr oft so vor, dass sie gerade wieder von vorne anfangen konnte, wenn sie mit dem letzten Zimmer fertig war, aber so war das nun mal.

Wieder dachte sie an das Gespräch von ihrem Sohn und Susanne, das sie belauscht hatte. Offensichtlich waren auch sie der Meinung, dass sie mit dieser großen Villa überfordert war. Sie würde dies zwar nie zugeben, aber ein klein wenig hatten sie damit schon recht.

Lieselotte schob die unliebsamen Gedanken beiseite und wählte in ihrem gut bestückten Kleiderschrank etwas zum Anziehen aus. Sie genoss es, sich hübsch zurechtzumachen. Gerne trug sie ein Kostüm, am liebsten von Coco Chanel, eine völlig zeitlose Mode, wie sie fand. Dazu stattete sie sich gerne mit den passenden Accessoires aus, wie einem hübschen Halstuch, Schmuck oder einer farblich abgestimmten Handtasche.

Praktisch war dabei, dass sich in den letzten vierzig Jahren ihre Konfektionsgröße kaum verändert hatte und sie somit auf eine stattliche Auswahl an Kostümen zurückgreifen konnte. Heute entschied sie sich jedoch für etwas Bequemeres.

Wer weiß, vielleicht benötigt Luke ja meine Hilfe, dachte sie, während sie die Kleidung aus dem Schrank nahm. Sie wählte eine dunkelblaue Baumwollhose, die sie auch gerne zum Spazierengehen trug, ein etwas ausgewaschenes T-Shirt mit einem hübschen Veilchenmuster am Kragen und eine dazu passende Strickjacke.

Hierauf bürstete sie ihr immer noch volles Haar kräftig durch und steckte es hoch, trug etwas Lippenstift und Rouge auf und betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Sie wollte ja nicht eingebildet sein, aber mit ihren 75 Jahren konnte sie sich immer noch sehen lassen.

Als kurze Zeit später die ersten Tropfen Kaffee durch die Maschine liefen, vernahm sie Musik aus der Garage und hörte, dass Luke zufrieden die Melodie mitträllerte.

---ENDE DER LESEPROBE---