Die Maskenbildnerin von Paris - Tabea Koenig - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Maskenbildnerin von Paris E-Book

Tabea Koenig

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Paris, 1914 – der Mut einer jungen Künstlerin in hoffnungslosen Zeiten.

Valérie will in Paris Kunst studieren und verlässt dafür ihren Heimatort und ihre große Liebe Gabriel. Dann bricht der Krieg aus, und die Nachricht, dass Gabriel vermisst wird, trifft Valérie schwer. Sie begegnet der Bildhauerin Anna Coleman Ladd, die Masken aus Kupfer für Kriegsversehrte anfertigt. Valérie stürzt sich in die Arbeit und verliebt sich dabei in Louis. Als der Krieg vorbei ist, wird Valérie von ihrer Vergangenheit eingeholt – und sie begreift, dass es an der Zeit ist, ihr größtes Geheimnis zu verraten ...

Die Geschichte einer jungen Künstlerin in Paris, die ihr Talent nutzt, um verletzten Soldaten neue Hoffnung zu geben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 439

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Die junge Künstlerin Valérie zieht fort von ihrem kleinen Heimatort Raduille und nach Pars, wo sie an der Académie Colarossi Kunst studieren will. Doch dafür muss sie ihre Jugendliebe Gabriel zurücklassen – und der Neuanfang in Paris fällt ihr schwer. Schon bald lernt sie den jungen Dichter Guillaume Apollinaire kennen, der Valérie unter seine Fittiche nimmt und sie in die Pariser Kunstszene einführt. Sie baut sich ein Leben auf in Paris, doch dann bricht der Krieg aus – und sie erfährt, dass Gabriel vermisst wird. Nachdem sie der Bildhauerin Anna Coleman Ladd begegnet, die hauchdünne Masken aus Kupfer für Gesichtsversehrte anfertigt, weiß Valérie: Hierfür will sie ihr Talent einsetzen, um den Soldaten neue Hoffnung zu geben. Bei ihrer Arbeit begegnet sie dem Soldaten Louis, der ebenfalls schwere Verwundungen erlitt. Die beiden verlieben sich ineinander, doch es gibt etwas, was valérie ihm nicht erzählen kann: Sie hat eine Tochter zur Welt gebracht – und die muss sie nun zu sich holen.

Über Tabea Koenig

Tabea Koenig, geboren 1992 in der Schweiz, studierte Soziale Arbeit und Kulturvermittlung. 2014 unternahm sie eine Rundreise durch Schottland, wo sie die Inspiration zum Schreiben fand. Sie war schon immer fasziniert von historischen Geschichten und besonders von Paris um 1900, der „Belle Époque“.  

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Tabea Koenig

Die Maskenbildnerin von Paris

Historischer Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Prolog — Paris, Januar 1917

Teil 1 — Fünf Jahre zuvor 1912–1914

1. Kapitel — Cherbourg, April 1912

2. Kapitel — Raduille, Mai 1912

3. Kapitel — Raduille, Mai 1912

4. Kapitel — Raduille, September 1912

5. Kapitel — Paris, September 1912

6. Kapitel — Paris, September 1912

7. Kapitel

8. Kapitel — Paris, November 1912

9. Kapitel — Paris, Dezember 1912

10. Kapitel — Paris, Januar 1913

11. Kapitel — Paris, September 1913

12. Kapitel — Paris, Juli 1914

Teil 2 — 1914–1916

13. Kapitel — Paris, September 1914

14. Kapitel — Paris, September 1914

15. Kapitel — Raduille, September 1914

16. Kapitel — Paris, März 1915

17. Kapitel — Paris, Mai 1915

18. Kapitel — Raduille, Mai 1915

19. Kapitel — Paris, Dezember 1915

20. Kapitel — Paris, Dezember 1915

21. Kapitel — Raduille, Januar 1916

22. Kapitel — Raduille, Februar 1916

23. Kapitel — Raduille, März 1916

24. Kapitel — Cherbourg, Mai 1916

25. Kapitel — Raduille, Juni 1916

26. Kapitel — Raduille, Juli 1916

27. Kapitel — Raduille, Oktober 1916

28. Kapitel — Raduille, Oktober 1916

29. Kapitel — Raduille, Dezember 1916

Teil 3 — 1917–1918

30. Kapitel — Paris, Januar 1917

31. Kapitel — Paris, Januar 1917

32. Kapitel — Paris, Januar 1917

33. Kapitel — Paris, Januar 1917

34. Kapitel — Paris, Januar 1917

35. Kapitel — Paris, Mai 1917

36. Kapitel — Paris, April 1918

37. Kapitel — Paris, April 1918

38. Kapitel — Paris, Mai 1918

39. Kapitel — Paris, September 1918

40. Kapitel — Paris, Dezember 1918

Teil 4 — 1919–1920

41. Kapitel — Paris, März 1919

42. Kapitel — Paris, April 1919

43. Kapitel — Paris, Juni 1919

44. Kapitel — Paris, Juni 1919

45. Kapitel — Paris, Oktober 1919

46. Kapitel — Paris, Januar 1920

47. Kapitel — Cherbourg, Februar 1920

48. Kapitel — Paris, Februar 1920

49. Kapite — Cherbourg, Februar 1920

50. Kapitel — Paris, März 1920

51. Kapitel — Paris, März 1920

Epilog — Moussy‑le-Vieux, Juni 1927

Nachwort

Danksagung

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne...

Gewidmet meinem Großvater, Marcel Banz. Dir hätte die Geschichte bestimmt gefallen.

Prolog

Paris, Januar 1917

Es waren immer nur wenige Sekunden nach dem Aufwachen, in denen Valérie den Krieg vergaß. Sekunden des gnädigen Dämmerns ohne den allgegenwärtigen Kummer, der sich wie ein heißes Eisen in ihre Brust brannte. Doch dieser Augenblick ließ sich nicht einfangen. Er verflüchtigte sich genauso rasch wie die Wärme unter der Decke. Kohle zum Feuern war in diesen Tagen rar, wer nicht frieren wollte, schlief im Wintermantel.

Fröstelnd zündete sie eine Kerze an. Das Licht warf lange Schatten und verzerrte die Proportionen der Möbel in diesem kleinen Zimmer am Boulevard Saint-Germain, am linken Ufer der Seine.

Einst war diese Straße von Künstlern, Literaten und Weltenbummlern belebt worden. Damals hörte man sie bis spät herumjohlen, wenn sie aus dem »Les Deux Magots« oder dem »Café de Flore« torkelten und die Luft mit ihrem Zigarettenrauch schwängerten. Heute aber schimmerte nicht die Glut der Zigaretten, sondern der Vollmond wie eine Gaslaterne im Nebel. Valérie konnte ihn deutlich durch die verriegelten Fensterläden erkennen. In den letzten Monaten hatte sie gelernt, dass es verschiedene Arten von Stille gab. Da gab es die friedvolle Stille, die nachdenkliche Stille oder die bedrückende Stille … und manchmal Totenstille.

Valérie drückte ihre Nase an das Glas. Ihr Atem beschlug in einem kleinen Oval das Fenster. Wann hatte sie zuletzt einen solch prachtvollen Mond erlebt? Wann überhaupt etwas gesehen, das schön war? Durfte sie es riskieren, die Verriegelung zu entfernen, um ihn näher zu bewundern? Sie würde zuerst die Kerze löschen müssen. Paris, die Stadt des Lichts? Das war Vergangenheit. Wer sich nicht an die Abdunkelung hielt, wurde bestraft und als schlechter Patriot bezeichnet.

Sie befeuchtete ihre Finger und löschte die Kerze. Flüchtig schwebte der Duft des Rauchs im Raum. Dann stieß sie die Läden auf und blickte hinab auf die schlafende Stadt.

Eine Patrouille marschierte die Straße entlang. Die Stiefel der Männer stapften im monotonen Takt über den Neuschnee, bis nichts mehr zu hören war. Wieder war es still. Was für eine Stille war es? Valérie hörte genauer hin und seufzte erleichtert. Friedvolle Stille. Als gäbe es kein Leid auf dieser Erde, als wäre dies ein Moment der Regeneration.

Valérie glaubte, die Stadt atmen zu hören. Ein alter Geist spukte in diesen Mauern, dessen Mörtel unnachgiebig blieb, obwohl er seit Jahrhunderten bröckelte. Ein Geist, der schon so viel Schreckliches erlebt hatte und sich dennoch nicht vertreiben ließ. Würde er eines Tages auch über das triumphieren, was derzeit geschah?

Sie ahnte noch nicht, dass sie sich getäuscht hatte. Die Stille war nicht friedlich, es war die Ruhe vor dem Sturm. Aber Valérie war zu sehr damit beschäftigt, in den Himmel zu blicken. Ihr wurde die Distanz zu ihrer kleinen Tochter Julie bewusst, die auf dem Land in Sicherheit lebte und nichts von ihrer Maman ahnte, die in Paris täglich ums Überleben kämpfte. Mit Julie ging ein weiterer Gedanke einher, und dieser ließ ihre Kehle so eng werden, dass ihr das Atmen schwerfiel. Wenn Gabriel noch lebte, blickte er dann in diesem Augenblick ebenfalls in den Himmel und dachte an sie? Oder sah er von den Sternen auf sie herab wie so viele andere, die in den letzten zweieinhalb Jahren in den Schützengräben gefallen waren?

Als sie ihre Hände zum Gebet faltete, brannten ihre Augen. »Gabriel, wo immer du bist, so Gott will …«

Ein herabsausendes Brummen ließ sie zusammenfahren. Zeppeline!

Ihr Puls schoss in die Höhe, von ihrer Brust ging eine Angst aus, die hochwanderte, über ihren Schädel kroch und ihren Verstand lähmte. Obwohl die Erfahrung sie längst eines Besseren belehrt haben sollte, hinderte diese Angst sie daran, klar zu denken. Da, wo sie aufgewachsen war, heulten nachts nur die Wölfe. Doch in Paris im Januar 1917 waren es die Bomben deutscher Fliegertruppen.

Sie durfte keine Zeit verlieren. Eilig riss sie die Zimmertür auf. »Apollinaire, wach auf! Es hat wieder begonnen!« Mit einem Satz war sie bei ihrem Freund und zerrte an seiner Schulter. »Apollinaire!«

Endlich blinzelte er sie aus schlaftrunkenen Augen an. »Was ist?«

Das Einsetzen der Sirenen, die Rufe der verängstigten Nachbarn und das entfernte Donnern von Bombeneinschlägen bedurften keiner weiteren Erklärung. Das ganze Haus erzitterte, als wäre es bloß ein Puppenhaus. Valérie ergriff Apollinaires Hand. Zusammen kauerten sie sich unter den Esstisch.

»Das haben wir von deiner Wohnung im Dachgeschoss. Wenn wir getroffen werden, sterben wir zuerst«, knurrte Valérie wenig später.

Apollinaire, an einer Zigarette ziehend, dachte pragmatischer. »Dafür werden wir nicht lebendig begraben.«

»Ich hasse es trotzdem. Ich hasse diesen Impuls, auf die Straße rennen zu wollen, obwohl es dort gefährlicher ist als hier.« Sie nahm einen Schluck aus dem Flachmann und hustete.

»Langsam, Kleine.«

Apollinaire nahm ihr den Flachmann aus der Hand und trank ebenfalls. Der Schnaps half ihnen, die Nerven zu beruhigen. Wie lange verharrten sie jetzt schon hier unter dem Tisch? Zwanzig Minuten? Dreißig? Sie wusste, dass Zeppeline nicht sonderlich große Schäden anrichteten, da sie aufgrund ihrer geringen Traglast nicht viele Bomben mit sich führen konnten. Doch die Vorstellung, wie diese lautlosen Todesboten im nächtlichen Himmel über ihre Köpfe schwebten, war furchteinflößend. Und sie waren nahe, sehr nahe, sodass einmal unter einer ohrenbetäubenden Detonation das Geschirr im Schrank erzitterte und Kalk von der Decke rieselte.

Valérie schloss die Augen. »Letztens hörte ich, wie eine Nachbarin erzählte, wie ohnmächtig sie sich bei diesen Angriffen fühle. Sie sagte, es bleibe ihr nichts anderes übrig, als ihre Bébés an sich zu pressen und sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie wenigstens alle beisammen seien, sollten sie sterben.«

»Wir könnten natürlich auch Bébés machen«, entgegnete er unverblümt mit einem Grinsen.

»Guillaume Apollinaire, ich muss doch sehr bitten!«

Er lachte – fast zu herzhaft für diese Schreckensstunde. Dabei verrutschte die Bandage um seinen Kopf, die er selbst in der Öffentlichkeit mit Stolz trug. Darunter verbarg sich eine üble Verletzung, die nicht richtig heilen wollte. Auf poetischere Art hätte er sie nicht erlangen können: ein Dichter, der im Schützengraben Mercure de France gelesen hatte, ehe ein Granatsplitter seinen Helm durchbohrte und ihn am Kopf traf. Nächste Woche sollte er sich erneut einer Operation im Militärhospital Val‑de-Grâce unterziehen. Obwohl diese Verletzung ihn zum Invaliden machte, hielt ihn das nicht davon ab, seinen nächsten Einzug zu planen. Das Kampfesfieber hatte ihn befallen, und es war weitaus schwieriger, ihn davon zu kurieren als von der Grippe.

»Ich wünschte, du gingest nicht.« Valérie wusste, dass ihre Worte nicht zu ihm dringen würden. Ein Pole, der sich eigens für das Kriegsministerium hatte einbürgern lassen, den konnte man nicht zum Umdenken bewegen. Auch Frauen waren dazu angehalten, zur Hebung der Moral beizutragen. Eine Pflicht, die Valérie immer wieder versäumte, wenn sie Männer, die ihr lieb waren, von ihrem patriotischen Eifer zu kurieren versuchte. »Apollinaire, du warst mein erster Freund, als ich hierherkam, wenn dir etwas zustößt …«

»Daran vergeude keine Tränen, solange nichts dergleichen passiert ist. Du bist so jung. Ich hingegen erfahre erst jetzt Ruhm und Ehre. Etwas, das ich als Schriftsteller fast zwanzig Jahre lang vergeblich versucht habe.«

Eine unglaubwürdige Ausrede. Apollinaire war nicht so erfolglos, wie er behauptete. Sie hob die Tischdecke und spähte zum expressionistischen Gemälde, das über dem Bett hing. Ein Geschenk seiner Muse und einstigen Geliebten Marie Laurencin. Das Bild zeigte Apollinaire umgeben von Freunden. Auch Rousseau und Modigliani hatten ihn schon porträtiert. Und vor zwei Wochen an Silvester hatte Picasso eine Feier eigens dafür veranlasst, um Apollinaires Überleben, seine Kriegsauszeichnung und seine neue Publikation zu würdigen. Er war sehr wohl jemand. Sein Wort zählte was am linken Ufer der Seine. Aber Valérie war nicht einfältig. Sie wusste, dass sie ihn nicht zwingen konnte, bei ihr zu bleiben.

»Dann versprich mir wenigstens, dass du nicht stirbst.«

»Jeder Mensch muss einmal sterben«, sinnierte er. »Aber ich verspreche dir, es soll nicht im Krieg geschehen.«

Schon beim Gedanken, dass er einmal aus ihrem Leben treten könnte, wurde ihr übel. »Um zurück auf dein Angebot zu kommen …«, wechselte sie mit einem Lächeln das Thema.

»Das war ein Scherz. Das weißt du doch?«

Natürlich wusste sie das. Liebevoll blickte sie in seine braunen Augen und fuhr mit dem Daumen über sein Kinn. Sein Ruf als Frauenheld eilte ihm voraus. Wen sollte das überraschen? Wer die Werke von Marquis de Sade neu veröffentlichte, weil er darin die sexuelle Befreiung der Frau erkannte, der musste ein hervorragender Liebhaber sein. Nur sie hatte er nie angerührt.

Valérie sprach oft während eines Bombenangriffs. Das ließ die Zeit schneller vergehen und gab ihr nicht das Gefühl, auf den Tod zu warten. Je mehr sie sich in einem Gespräch verlor, desto nebensächlicher wurde die Umgebung. Und mit Apollinaire über Liebesangelegenheiten zu reden, half ungemein.

»Man muss körperliche Anziehung von Liebe unterscheiden können. Ich habe schon zu oft ohne Bedeutung geliebt und wiederum Frauen vergöttert, ohne mich mit ihnen zu vereinen. Auf Dauer ist das wertvoller.« Das war ein sonderbares Kompliment. Gerade weil er nicht mit ihr anbändelte, zeigte er, wie wichtig sie ihm war.

»Ich kann die Frauen erobern, aber sie nicht halten. Mir wurde das Herz schon tausendfach gebrochen, sodass es auf einmal mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Aber eine Valérie Massé, die öffnet ihr Herz nur ganz oder gar nicht. Wer dein Vertrauen erfährt und es verletzt, sollte füsiliert werden. Das kann ich nicht verantworten, dafür schätze ich dich zu sehr.«

Für seine Offenheit liebte sie ihn und für seinen Stoizismus noch mehr.

Erleichtert stellte sie fest, dass die Detonationen allmählich nachließen. »Was denkst du, wie lange dauert es noch an?«

»Wenn es nur Zeppeline sind, dann dürfte es bald vorbei sein.«

»Nein, ich meine das Ganze. Den Krieg. Wird jemals ein Ende in Sicht sein?«

Sein Kopf neigte sich zur Seite, als verstünde er die Frage nicht. »Vermisst du denn dein altes Leben, ma chère?«

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Den Frieden ja, aber nicht den Rest.« Ihre Augen nahmen einen stumpfen Blick an, als sie sich die Bilder der Vergangenheit ins Gedächtnis rief.

Bilder, an die sie nicht erinnert werden wollte. Es lag jetzt bald fünf Jahre zurück. Ein halbes Jahrzehnt, und doch beschlich sie das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen. Noch immer spürte sie den Schmerz wie einen frischen Schnitt im Fleisch, wenn sie an Gabriel dachte. Gleich zweimal hatte er sie verlassen. Einmal für Claudine, einmal für den Krieg. Es war der gleiche Schmerz, der sie jeden Morgen nach ihrem gnädigen Dämmer heimsuchte.

Apollinaires Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Eine Valérie Massé, die öffnet ihr Herz nur ganz oder gar nicht. Bei Gott, sie konnte es doch gar nicht mehr öffnen. Sie hatte es schon längst verloren.

Teil 1

Fünf Jahre zuvor 1912–1914

1. Kapitel

Cherbourg, April 1912

»Du lieber Himmel! Sieh es dir an, Jules.«

Valérie staunte wie ein Kind, als sie mit ihrem Zwillingsbruder vom Hafenbecken aus auf das Schiff blickte. Es hatte etwas Ehrfurchtgebietendes. Wie eine Königin thronte es vor dem Hafen von Cherbourg, während seine vier Schornsteine in den grauen Himmel ragten. Valérie hielt ihren Hut fest, denn es ging ein frischer, noch fast winterlicher Wind. Nur ein Hauch von Enttäuschung dämpfte ihre Freude. »Schade, dass sie so weit weg ist. Ich hätte sie gern aus der Nähe gesehen.«

»Diese Distanz muss sie leider wahren, Val. Die Titanic ist so groß, wenn sie direkt am Hafen ankern würde, dann könnte ihr Sog die kleineren Schiffe beschädigen.«

Valéries Augen wanderten den Luxusdampfer Meter für Meter ab, denn sie wollte sich diesen Anblick für immer einprägen. Knapp dreihundert Passagiere stiegen zu, indem sie per Versorgungsschiffe an Bord gebracht wurden. Zwei von ihnen – das wusste Valérie, weil sie regelmäßig Zeitung las – waren der Milliardär J. J. Astor IV und seine Frau Madeleine, die ihre Reise durch die Normandie beendet hatten und nach New York zurückkehrten. Wie Valérie sie um diese Fahrt beneidete! Und wie wenig sie es nachvollziehen konnte, dass zwei Dutzend Passagiere am Hafen von Cherbourg wieder an Land gingen, weil sie nur den Ärmelkanal hatten überqueren wollen.

Verträumt lauschte sie dem Brechen der Wellen und schmeckte das Salz auf der Zunge. Sie kam gern hierher, um zu skizzieren, um das Leben am Hafen einzufangen. Sie mochte die Geschäftigkeit, die Rufe der Seemänner und den Lärm der Dockarbeiter, wenn sie Kisten schleppten und Waren entluden. Heute blickten auch sie länger auf die See, als ihren Vorarbeitern lieb war.

»Eines Tages fahre ich mit der Titanic nach Amerika«, entschied sie.

»Nach Amerika? Ich dachte, dein Ziel wäre Paris!«, rief Jules gegen den Wind.

»Natürlich, aber man soll wissen, was man vom Leben will.«

Ein Privileg, dessen sie sich als zukünftige Kunststudentin durchaus bewusst war. Nicht vielen Frauen war es vergönnt zu studieren. Sei es, weil es die Eltern nicht vorsahen oder die Akademien nicht zuließen. Aber es gab wenige Häuser, die Ausnahmen machten. Die private Académie Colarossi im Arrondissement du Luxembourg war eines davon. Schon ihre Eltern hatten dort studiert und Valérie die Liebe zur Kunst vererbt. Wie konnten sie da ihrer Tochter den Wunsch abschlagen, in ihre Fußstapfen zu treten? Schließlich atmete sie den Geruch von Farbe, Terpentin und Modelliermasse seit ihrer Geburt. Valérie liebte es, etwas zu erschaffen. Schon wenn sie die Farbtuben öffnete und anmischte, wenn sie zügig mit dem Spachtel das Gemälde grundierte, der Geruch der Materie in ihre Nase stieg und sich allmählich im Raum ausbreitete, wurde sie von einer seligen Zufriedenheit erfasst. Mit ihren Werken konnte sie ausdrücken, was sie mit Worten nicht auszusprechen vermochte. Den Umgang mit dem Pinsel war ihr von ihrer Maman zwar schon als Kind in die Wiege gelegt worden, aber in Paris sollte ihr Talent, jetzt noch einem Rohdiamanten gleich, den perfekten Schliff erhalten. Am Dorfrand von Raduille, bei der Waldgrenze, besaß sie ein kleines Atelier. Ursprünglich hatte es ihrer Mutter als Tanz- und Malstube gehört. Besonders als die Kinder noch klein waren, hatte Madame Massé von diesem ruhigen Ort profitiert, wo sie nicht abgelenkt wurde und sich konzentrieren konnte. Später arbeitete sie lieber vom großen Haus aus, und Valérie durfte das Atelier übernehmen. Es war der Ort, über den sie allein herrschte, an dem sie einfach nur für sich existierte und die Welt um sich vergaß. Es war wichtig, aber leider bei weitem nicht selbstverständlich, dass eine Frau einen Raum für sich hatte. Gelegentlich verkaufte sie ihre Bilder und Skulpturen auch auf den Märkten. Ihre Tonfiguren erfreuten sich großer Beliebtheit in der Nachbarschaft.

Am liebsten widmete sie sich den Gipsskulpturen. Doch wenn sie nicht gipste, dann malte sie, und wenn sie nicht malte, dann töpferte sie. Ihre Eltern verlangten, dass sie ihren finanziellen Beitrag für das Studium leistete. So arbeitete sie als Zustellerin drei Tage die Woche bei Monsieur Pigalle in der Post und zog mit dem Fahrrad und einem Sack voller Briefe durch die Dörfer.

Aber sie war nicht die Einzige mit einem Vorhaben. Jules ging mit ihr weiter.

»Komm mit, ich zeige dir das Hospital!«

Sie ließen den Luxusdampfer hinter sich und bogen in die Rue de l’Abbaye ein, dann standen sie vor dem Hôpital Maritime. Das Wappen eines Ankers ragte über dem schmiedeeisernen Tor. Gleich daneben befand sich die Universität. Dort würde Jules im Sommer mit dem Medizinstudium beginnen.

Ein Lazarett hatte hier schon gestanden, als Cherbourg während des Premier Empires zu einer Hafenstadt herangewachsen war, aber erst unter Napoleon III. hatte man es eingeweiht. Es war ein ansehnlicher Komplex aus hellem Stein mit hohen, weißen Fenstern. Ein sauber gerechter Kieselsteinweg führte auf das Grundstück, Rosensträucher und Palmen zierten die Parkanlage.

Ein Schauer der Ergriffenheit durchrieselte Valéries Körper.

»Ist es nicht unglaublich, welch große Veränderungen uns bevorstehen? Bald wirst du durch diese Räume schreiten und den Patienten ein besseres Leben bescheren.«

Verlegen winkte er ab. »Zunächst wohl eher die Nächte durchlernen, Laufbursche der Ärzte spielen und mich mit den Krankenschwestern um die Bettpfannen streiten.«

»Das gehört eben dazu, aber ich weiß, dass du das kannst.«

Sie hatte schon oft miterlebt, dass Jules in hektischen Situationen ruhig blieb und rasch und mit klarem Verstand reagierte. Sein Interesse für Medizin war bei einem Zwischenfall in seiner Kindheit erweckt worden, als ihr Vater eine Weinflasche zu Boden hatte fallen lassen. Diese war zerschellt und ihre Glassplitter hatten sein Bein getroffen. Mit großem Geschick hatte sich der damals zehnjährige Jules der Wundversorgung und dem Verbandwechsel des Vaters gewidmet, während ihre Maman fast in Ohnmacht gefallen war.

Jetzt sah Valérie ihren Bruder an, und ihre Stimmung veränderte sich. Da war dieses unangenehme Ziehen im Magen, das sie seit geraumer Zeit spürte, wenn sie an die Zukunft dachte. Es stieg ihren Hals hoch und schnürte ihre Kehle zu. »Wir waren noch nie getrennt.«

»Ich komme jedes zweite oder dritte Wochenende nach Raduille. Und das erwarte ich von Ihnen auch, junge Dame!« Er sagte es scherzhaft und mit dem Befehlston einer tadelnden Gouvernante, doch auch sein Blick hatte sich verändert. Der Schalk in seinen Augen war verschwunden. Stattdessen presste er die Lippen zusammen.

Es gab eine spezielle Verbindung zwischen ihnen. Eine, die nur Zwillinge kannten und die Außenstehende niemals in dieser komplexen und tiefen Form verstehen konnten. Sie besaßen einen inneren Kompass, mit dem sie einander immer fanden. Auch wenn beide ihre kleine Schwester Monique liebten, so fühlte sich Valérie ihrem Bruder näher. Sie schätzte ihn endlos. Er behandelte sie wie ein gleichwertiger Mensch, scherzte und philosophierte mit ihr und war jederzeit dazu bereit, sie bis aufs Blut zu verteidigen.

Ihr gemeinsamer Freund Gabriel war immer mit von der Partie. Er war der Sohn des hiesigen Postboten und half wie Valérie beim Sortieren und Zustellen der Post. Ihre Freundschaft reichte bis in die Kindheit zurück. Als Valérie und Jules neun Jahre alt gewesen waren und die Familie von Paris aufs Land gezogen war, war er ihr erster Schulfreund gewesen. Er hatte sie durchs ganze Dorf geführt und ihnen die besten Plätze zum Spielen und Tagträumen gezeigt. Mit den beiden war Valérie als Abenteurerin durch die Wälder gestreift, hatte ihren ersten Schnaps getrunken, im Nachbargarten Kirschen gestohlen und war bei sonstigen Streichen involviert gewesen. Dinge, die in ihren Augen der Inbegriff einer unbeschwerten Kindheit waren.

»Ach, Val, ich finde das auch nicht schön, aber so ist es nun mal, wenn man erwachsen wird.« Er berührte ihre Schulter. Seine dramatisch blauen Augen glichen einem Spiegel, in den sie blickte. Valérie hatte dieselben Augen. Ebenso die helle Haut und den sinnlichen Mund. Natürlich war ihr Gesicht weicher und femininer, doch selbst ihre Haare waren von derselben Beschaffenheit. Ein gewelltes Haselnussbraun mit einem Hauch von Kupfer.

»Komm«, sagte er nach einer Weile. »Gehen wir nach Hause.«

2. Kapitel

Raduille, Mai 1912

Valérie mochte keine Hochzeiten. Das künstliche Gehabe und der perfektionistische Eifer raubten ihr die Fähigkeit, sich für die Beteiligten zu freuen. In ihren Augen brachte es als Frau keinen Vorteil zu heiraten. Man begab sich von der Obhut des Vaters in die Obhut des Gatten, aber mehr Rechte oder Freiheit erlangte man dadurch nicht.

Die Dorfbewohner von Raduille verrenkten ihre Hälse hoffnungsvoll in Richtung Kirchportal, auf dass die Braut bald eintreten würde. Ein Hauch von Weihrauch lag in der Luft, gemischt mit dem Geruch der gemischten Parfüms der versammelten Damen. Valérie konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie Dominique draußen vor der Kirche stand und ihren Vater tyrannisierte. Die letzten Tage vor der Hochzeit hatten sie zu einer Furie gemacht.

»Meine Güte«, flüsterte Jules ihr mit einem bedeutungsschweren Seufzen ins Ohr. »Wenn die wüsste, dass …« Er hob eine Augenbraue.

Sie wollte ihrem Bruder etwas Unterhaltsames erwidern, doch da schlug die Orgel einen ohrenbetäubenden Akkord an, und die Gäste schnellten in die Höhe. Die Braut trat ein, und mit glasig schimmernden Augen schritt sie in einem weißen Kleid aus Seidensatin mit dezenten rosa Nadelstreifen ihrer Zukunft als Madame Fabron entgegen.

Valérie zwang sich zu einem Lächeln. Ihr Kleid entsprach exakt dem großbürgerlichen Stand der Familie Massé, die zwar aus den Künstlerkreisen stammte, es dort aber zu was gebracht hatte. Es war ein marineblaues knöchellanges Kostüm aus Wollserge aus dem soeben gegründeten Modehaus Patou, dazu trug sie Schuhe aus Veloursleder. Der Schnitt ihrer Jacke mit schmalem Samtkragen brachte eine hohe Taille hervor, darunter trug sie eine cremefarbene Seidenbluse mit einem hochgeschlossenen runden Ausschnitt und eine Perlenkette, die auf Brusthöhe verknotet war. Der breitkrempige Hut saß nur dank unzähliger Haarnadeln tadellos auf ihrem Kopf. Ihr graute schon jetzt vor den Schmerzen, wenn Mamans Zofe ihn am Nachmittag wieder abnehmen würde. Die darauf drapierte übergroße Schleife war in der gleichen Farbe wie das Kostüm.

Gerade las der Pfarrer aus dem Buch Rut. »Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich …«

Valérie hörte die Worte, ohne sie richtig wahrzunehmen, denn ihre Augen waren auf den Bräutigam gerichtet. Da er ihr den Rücken zukehrte, konnte sie keine Gefühlsregung erkennen. Aber sie fragte sich, ob Dominique auch dann versprechen würde, ihren Angetrauten bis in alle Tage zu lieben und zu ehren, wenn sie wüsste, dass Clément Fabron ursprünglich ihr, Valérie, einen Antrag gemacht hatte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, an Dominiques Stelle vor dem Traualtar zu stehen – und war froh, dass sie es nicht tat.

»Vergiss Paris, ich erbe die Sägerei meines Vaters und kann dir weitaus mehr bieten als Kunst. Sie vergeht. Irgendwann hast du Kinder, die dich so erfüllen, dass du diesen Tand gar nicht brauchst. Dann wirst du froh sein, dass du nicht zu viel Zeit damit verschwendet hast.« Um seine Worte zu untermauern, hatte er ihr mit einem bemerkenswerten Mangel an Taktgefühl einen Kuss auf die Lippen gepresst. Valérie hatte ihn entsetzt von sich gestoßen und ihm, ohne eine Antwort zu geben, die Tür vor der Nase zugeschlagen.

So war das, wenn man in einem Dorf wie Raduille lebte. Ab einem gewissen Alter betrachteten die jungen Männer einen anders. Man sehnte sich hier nach Ordnung, Häuslichkeit und Behaglichkeit. Daher galt auch Valérie seit ihrem achtzehnten Geburtstag als potentielle Quelle des ewigen Glücks des bürgerlichen Kleingeistes.

Andere wiederum warnten vor ihr. »Bei der musst du es gar nicht versuchen, die hat ihren eigenen Kopf.«

Obwohl sie recht hatten, taten diese Worte weh. Man erwartete nicht viel vom Leben, Träumer wie sie wurden belächelt. Schon ihre Eltern galten als kosmopolitische Ausreißer, dabei waren sie im Gegensatz zu ihren befreundeten Bohémiens in Paris ziemlich bodenständig.

Es konnte frustrierend sein, sich zwischen diesen beiden Sphären der Häuslichkeit und der Weltoffenheit zu bewegen, denn umworben zu werden, war durchaus etwas Schmeichelndes. Valéries Freundinnen teilten diese Ansicht im Übrigen nicht. In ihren Augen war sie selbst schuld, dass sie keinen Verehrer hatte, und Valérie, die gekränkt war, tat wiederum so, als wollte sie es nicht anders. In Wirklichkeit war es nicht eine Frage des Wollens, sondern des Verzichts. Wenn man nicht gerade eine Tanzschule im hauseigenen botanischen Garten leitete, so wie Maman, konnte man schlecht Künstlerin, Ehefrau und Mutter zugleich sein. Nicht in Raduille.

Valéries Vorfreude auf Paris wuchs daher täglich. Es zog sie in die Stadt, wo die Frauen sich freigeistiger und selbstbewusster gaben und ihre Gespräche durchaus mehr Substanz und Intellekt vorzuweisen hatten, als die ermüdenden Schwärmereien über galante Männer mit kräftigem Haar und starken Armen. In dieser Hinsicht erwartete sie einfach mehr vom Leben.

»Eine echte Massé«, würde Maman sagen, obschon sie insgeheim die Fäden in den Händen hielt, wenn es beispielsweise um die Anhäufung der Mitgift und der Bewachung der Tugend ging.

Ihre kunstaffinen Eltern hatten sie und ihre Geschwister aufgeschlossen erzogen und ihnen Romane von Balzac, Dumas, Proust, Zola, Gide und Colette zu lesen gegeben. Besonders Adalbert Massé verlangte eine umfassende Bildung und dass die Kinder die Werke nicht nur lasen, sondern auch verstanden.

»Was denkst du, warum hat der Bischof Jean Valjean nicht verraten, als die Gendarmerie ihn festhielt, und stattdessen behauptet, das gestohlene Silber sei ein Geschenk gewesen?« Mit solchen Fragen musste sie sich seit jeher befassen, und sie halfen ihr, das Leben besser zu begreifen.

Mit vierzehn Jahren hatte sie alle Werke von Victor Hugo gelesen. Natürlich durften auch Übersetzungen von Wilde, Dickens, Austen und den Brontë-Schwestern nicht fehlen. Melville war leider noch nicht übersetzt, also befasste sie sich mit dem Original. Bei abendfüllenden Dîners und Soireen waren Debatten über Literatur nicht nur explizit erwünscht, sondern wurden auch Pflicht. Mindestens einmal jährlich fuhr die Familie nach Paris, was Monsieur meistens mit einer Lesereise seines neuesten Romans verband. Besuche im Louvre und in andere Museen sowie Galerien galten als selbstverständlich. Madame und Monsieur Massé wollten, dass ihre Kinder ein Gespür dafür bekamen, in welch kultureller Vielfalt sie lebten. Sie wollten, dass sie die Magie erlebten, die durch Kunst entstand, dass sie den Esprit spürten und auch den Aufwand schätzten, der sich hinter der Bühne abspielte.

»Paris wird von einem Geist der Kultur gelenkt, der sich die Seine hinaufschlängelt und uns nährt«, pflegte Papa zu sagen. Bevor Adalbert in der Literaturwelt hatte Fuß fassen können, hatte er seinen Lebensunterhalt als Karikaturist bei Le Figaro verdient und zusätzlich an der Académie Colarossi doziert, wo auch die zehn Jahre jüngere Françoise studierte. Kennengelernt hatte sich das Paar allerdings nicht dort, sondern im »Folies Bergère«.

Maman hatte neben dem Kunststudium als Tänzerin von Loïe Fullers Tänzerinnen gearbeitet, und als sie den jungen Professor im Foyer erkannte, nickte sie ihm zu. Ausgerechnet im Folies Bergère, in dessen Räumlichkeiten erstklassige Damen der Nacht freien Zutritt erhielten, um für steigende Besucherzahlen zu sorgen. Zu deutlich durften sie nicht für ihr Metier werben, nur ein Kopfnicken war gestattet. Dies führte zu einem höchst delikaten Missverständnis, worüber die Eheleute noch heute lachten. Das war 1892. Ein Jahr später heirateten sie. 1894 kamen die Zwillinge Valérie und Jules zur Welt, 1899 folgte Monique. Dazwischen erlebte ihr Vater seinen Durchbruch als Schriftsteller mit einer Abenteuergeschichte eines Geistlichen, der nachts der Polizei bei Mordermittlungen hilft. Die Grundgeschichte bot Potential für eine ganze Reihe, die jährlich höhere Gewinne abwarf.

Die Familie erlangte einen Status im Großbürgertum und zog aus Paris fort in die Normandie. Maman entdeckte in der Natur die Inspiration für ihre Choreographien, und Papa konnte wunderbar vom ganzen Rummel der Stadt Abstand nehmen und von zu Hause aus schreiben.

Ein Räuspern riss Valérie aus ihren Gedanken. Jules deutete zum Brautpaar, welches sich gerade das Jawort gab. Valérie seufzte. Vor ihr stand ein großer Herr im Frack und versperrte ihr die Sicht.

»Ich sehe nichts«, murmelte sie. Da sie die Zeremonie aber auch nicht sonderlich interessierte, ließ sie ihren Blick über die Hochzeitsgäste schweifen. Manche wischten Freudentränen aus ihren Augen, manche hatten rosige Wangen, andere lächelten selig. Doch einerlei, was sie taten, sie alle blickten nach vorn zum Brautpaar.

Und dann verharrte Valéries Blick bei der einen Person, die stattdessen sie ansah und ihr aufmunternd zuzwinkerte.

Es war Gabriel Pigalle. Augenblicklich musste sie lächeln. Es tat gut zu wissen, dass es neben ihrem Bruder noch jemanden gab, der sich mit ihr verschwor. Er verstand Valérie auch ohne Worte, kannte ihre Träume und wusste von ihrer Abneigung gegenüber den Konventionen. Seit geraumer Zeit schwang aber noch etwas anderes in seinen Blicken mit, etwas, das Valérie nicht richtig zuordnen konnte und was sie zugleich irritierte und faszinierte. Sie nahm ihn anders wahr als früher, fühlte sich in seiner Gegenwart noch wohler als sonst, und manchmal färbten sich gar ihre Wangen, wenn er mit ihr sprach. Dann aber gab es Tage, an denen ihr diese Gefühle Kummer bereiteten. Tage, an denen ihr das nahende Studium allzu bewusst wurde und sie sich eingestehen musste, dass ihre Freundschaft spätestens im Herbst nicht mehr die gleiche sein würde. Sie würde schleichend verblassen, bis sie ganz verschwände, wie das nun mal war, wenn man sich aus den Augen verlor. Ein trauriger Gedanke, der sie aufseufzen ließ.

Am Nachmittag verlegte sich die Hochzeitsfeier ins »Bonaparte«. Das ganze Dorf schien anwesend zu sein. Valérie erhaschte einen Blick in das Leben, welches sie erwarten würde, wenn sie hierbliebe. So war sie aufgewachsen, und so hatte sie es schon hundertfach erlebt: Mädchen tanzten zu Volksmusik, sodass ihre Haarbänder flatterten und sich ihre Röcke bauschten. Florence, eine Freundin, die letzten Sommer geheiratet hatte, war schwanger und wurde unaufgefordert von allen Seiten mit Ratschlägen versorgt. Familienväter saßen auf den Bänken, tranken Wein, rauchten Pfeife und stampften mit den Füßen zum Takt der Musik. Mütter zogen ihren Söhnen, die sich zu maßlos benahmen, die Ohren lang. Alte erinnerten sich an vergangene Tage und bereicherten die Gesellschaft mit ihren Anekdoten.

Doch das war nicht mehr ihre Welt. Sie spürte, wie sie ihr entglitt, wie Valérie sie langsam abstreifen musste, als wäre sie ein Insekt, das sich häutete. Sie tanzte ein paarmal mit Jules, beteiligte sich an einem An Dro, scherzte und lachte, doch die echte Heiterkeit blieb aus. Dann wartete sie geduldig, bis der Brautstrauß geworfen wurde.

Er verfehlte sie knapp am Kopf und wurde von ihrer Cousine Claudine aufgefangen.

»Bravo, Claudine! Du bist die Nächste!«, rief Monique voller Begeisterung. Dabei brüllte sie Valérie, die neben ihr stand, halb ins Ohr.

In der Aufregung stahl sich Valérie wie ein Dieb davon. Das war nicht schwer, sie wurde gern übersehen und wusste ihre Unscheinbarkeit zu nutzen.

Nur einer übersah sie nicht, und seine Hände packten sie so heftig an den Schultern, dass sie erschrak.

»Gabriel!«, keuchte sie in einem ungnädigen Ton.

Dieser lächelte verschmitzt und zog den Mundwinkel hoch. »Du wolltest doch nicht schon gehen, ohne mit mir getanzt zu haben?«

Ihr Herz wollte, und seinem Grinsen konnte sie kaum widerstehen, aber ihr wurde plötzlich alles zu viel.

»Es ist mir nicht mehr nach Tanzen zumute«, sagte sie unwirsch und ließ ihn stehen.

Es war ein warmer Tag, die Sonne schien, und die Obsthaine rund um Raduille blühten. Seit einigen Wochen waren die Zugvögel wieder im Land, und die RMS Titanic, die sie im April mit Jules bewundert hatte, lag zusammen mit über tausend Passagieren auf dem Meeresgrund. Was für eine Tragödie.

Valérie ging die Dorfstraße entlang, ließ die vielen von Efeu zugewucherten Häuser ihrer Nachbarn hinter sich und sog die Luft ein. Sie liebte den Frühling mit all seinen milden Düften, dem Zwitschern, Surren und Brummen und der Abendfrische. Darum kam es ihr gelegen, dass ihr Atelier so weit abseits lag. Manchmal, wenn sie bis zur späten Stunde hier war, hörte sie nachts den Uhu und das Lärmen der Füchse.

Das Häuschen mit dem Atelier war schon über zweihundert Jahre alt. Man sagte, dass hier früher eine Heilerin gelebt habe. In ihrem Garten habe sie die sonderbarsten Kräuter und Pflanzen gezogen, Heiltränke gebraut, aber auch Gift verkauft, was ihr schließlich zum Verhängnis wurde. In Valéries Phantasie war die Frau niemand Geringeres als die persönliche Giftlieferantin der Madame de Montespan gewesen, der einstigen Geliebten Ludwigs XIV. Was mit der Hexe geschehen war, war nicht überliefert. Nur das Haus überdauerte, und manchmal beschlich Valérie das Gefühl, die Anwesenheit der früheren Besitzerin zu spüren. Es war nicht beängstigend, sondern vielmehr ein heimeliger Spuk, der sie antrieb.

Gedankenverloren schloss sie die Tür auf und betrachtete das Atelier, das sie bald zurücklassen würde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht fischte sie die Haarnadeln aus ihrer Frisur und entfernte den Hut. Obwohl sie Ordnung hielt, verwandelte sich das Atelier allmählich in eine Rumpelkammer, die Valéries Schaffensdrang nicht länger gerecht werden konnte. Gleich drei Staffeleien standen mit angefangenen Gemälden im Raum verteilt, in der Mitte befand sich ein alter Diwan. Diverse Bilder lagen in Planschränken verstaut, weitere lehnten an den Wänden. Im hinteren Bereich gab es ein schmales Tagesbett, in welchem sie sich ausruhen konnte. Außerdem gab es eine Kommode, diverse Aufbewahrungsmöbel für ihr Material und ein Bücherregal. Auch ein Ofen gehörte zur Einrichtung, damit Valérie es im Winter warm hatte, so zumindest die Theorie. Aber das Rohr war seit Jahren verstopft, und statt es zu reparieren, zog sie es vor, mit den Zähnen zu klappern. An den Wänden türmten sich Regale mit allerhand Utensilien, und es gab zwei Arbeitstische aus altem Eichenholz. Der Geruch von Farbe und Terpentin stieg in ihre Nase, weiße sowie halbfertige Leinwände warteten auf ihre Vollendung. Pinsel und Malerkittel riefen wie Sirenen nach ihr. Hier fand all ihr Schaffen seinen Anfang. Hier lernte sie Kunst kennen, hier formten sich erstmals die Ideen in ihrem Kopf. Ihr ganzes Herz steckte in diesem Atelier, ihrem Refugium.

Plötzlich war sie den Tränen nahe. Es war nicht nur der fehlende Anschluss an die Gleichaltrigen, den sie bewusst in Kauf nahm und gleichzeitig bedauerte. Nicht die verdrehten Augen, die sie hinter ihrem Rücken spürte, das Kichern der Mädchen, weil sie anders war. Es war Angst. Angst davor, dass ihr das Gleiche auch in Paris passieren könnte und sie eine Außenseiterin bleiben würde.

Was würde sie verpassen, wenn sie nach Paris ginge? Das Fest, das im Bonaparte ohne sie weitergefeiert wurde, führte ihr vor Augen, was sie nie haben würde – und auch nicht haben wollte. Man heiratete jung und entschied sich nicht bewusst für oder gegen Kinder. Sie kamen einfach und spätestens mit ihnen auch die Rollenmuster, vor denen sich Valérie fürchtete. Mutter und Hausfrau anstelle einer Künstlerin. Die eigene Freiheit aufgeben und sich dem Willen des Ehemannes beugen. Nein, das war nichts für sie, und deshalb war sie auch nie empfänglich für Tändeleien gewesen. Unweigerlich tauchte Gabriels Bild vor ihren Augen auf. Warum dachte sie jetzt an ihn? Weil er ihre Wünsche vermutlich akzeptieren würde? Aber wer konnte das schon wissen. Außerdem war es sinnlos, so kurz vor ihrer Abreise darüber nachzudenken. Bald wäre sie in Paris. Dort konnte sie sich immer noch verlieben oder es sein lassen, je nachdem.

»Hier steckst du also!« Jules lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und zog an einer Gauloises.

»Der innere Kompass«, wollte sie sagen, aber wegen ihrer tränenerstickten Stimme kam kein Ton heraus.

»Ach Val, was hast du denn? Nimmst du schon Abschied von deinem Atelier?«

So viel sie mit ihrem Bruder teilte, konnte sie ihm unmöglich ihr Herz ausschütten. »Ja … ja, ich werde es schrecklich vermissen. Dich, unsere Familie, unsere Freunde … Gabriel … Ehe der Sommer zu Ende ist, steht unser Leben auf dem Kopf. Jetzt wird alles anders, Jules.«

»Aber das muss nichts Schlechtes sein, Val«, tröstete er sie. Der Geruch des starken Tabaks drang in ihre Nase, als er näherkam und sie in die Arme schloss. »Es steht nie alles still. Dinge verändern sich, die Erde dreht sich immer weiter. Und jetzt kommt deine Zeit. Und meine! Freu dich darauf!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu bereit bin.«

Ihre Hand verschwand in seiner.

»Weißt du, den Veränderungen ist es egal, ob du bereit bist oder nicht. Sie kommen so oder so, auch ohne deine Erlaubnis. Und das ist auch gut so, denn sonst würde nie etwas passieren. Das Einzige, was du beeinflussen kannst, ist deine Einstellung. Du allein entscheidest, ob du dich auf das Leben einlässt. Auf dein Leben. Deine Welt liegt nicht in Raduille. Sie ist da draußen.« Er deutete mit dem Arm in Richtung Paris.

Tief in ihr drin spürte sie, wie seine Worte sie berührten und wie ein Heilmittel ihre Wirkung entfalteten. Er hatte recht, es war ihre Haltung, die zählte. Erwartungsvoll überblickte sie ein letztes Mal ihr kleines Atelier. Dann schloss sie ab und ging mit ihrem Bruder Arm in Arm nach Hause.

3. Kapitel

Raduille, Mai 1912

»Ich bin nicht beleidigt, dass du mich auf der Hochzeit hast stehen lassen, und ich werde auch nicht nachfragen. Aber ich hätte trotzdem erwartet, den Grund dafür zu erfahren. Als dein Freund …«

»Mein Freund?«

»Als dein Weggefährte und Kompagnon«, korrigierte sich Gabriel, »sollte ich eingeweiht sein. Wie auch immer, jedenfalls hast du verpasst, wie Nancy später am Abend Henri eine Szene gemacht hat, weil er zu intensiv mit Jacqueline tanzte.«

»Nein!«

»Doch! Und was Gustave betrifft, der hatte wohl ein Glas zu viel …«

Das schätzte Valérie an Gabriel. Er war nie gekränkt, wenn sie ihre schwierigen Momente hatte, und wusste sie aufzuheitern. Gerade standen sie in der Post und sortierten Briefe, um sie nachher zuzustellen. Manchmal alberten sie dabei herum und stellten Mutmaßungen über den Inhalt an.

»Ein Brief an Madame Moulin. Markante männliche Handschrift. Erhielt sie nicht schon letzte Woche einen vom selben Absender? Ein Verehrer vielleicht?«, riet Valérie.

»Oder ein entfernter Verwandter, ein totgeglaubter Onkel!«

»Ein totgeglaubter reicher Onkel.«

Mit diesem Geplänkel konnten sie den ganzen Tag fortfahren. Für einen Scherz war Gabriel immer zu haben. An den Winkeln seiner blaugrünen Augen erschienen kleine Falten, sobald er lachte. Sein Blick war aufrecht und mutig wie der eines Mannes, der nicht bereit war, vor jemanden zu kuschen, aber der dennoch die Etiketten der Höflichkeit einhielt. In der dunklen Postbotenuniform sah er zudem sehr stattlich aus. Ein Büschel dunkelblondes Haar quoll hervor, als er sich unter seiner Mütze kratzte.

»Die Postkarte hier ist auch interessant.« Er reichte sie Valérie. Das Bild zeigte ein junges Paar. Die Frau saß an einem Tisch und blickte verträumt auf einen Punkt, der für den Betrachter im Verborgenen blieb. Der Mann stand hinter ihr und blickte liebevoll auf sie hinab. Über dem geheimnisvollen Paar stand ein Gedicht. Gabriel las es vor:

»Du liebes Mädchen, lehne leise dein süßes Köpfchen an mich an. Und lausche still der Zauberweise, wie glücklich Liebe machen kann.«

Solche Worte aus seinem Mund zu hören, machte Valérie verlegen. Fragend sah sie ihn an. »Solche Karten gibt es hundertfach. Was ist daran so besonders?«

»Die Rückseite. Sieh her!«

»Oh, das ist interessant! Sie ist kodiert.« Die Karte bestand aus lauter Zahlen und nur wenigen Buchstaben. »Vielleicht eine Buchchiffre? Aber weshalb sollte die Person das machen?«

»Um zu verhindern, dass solche Wundernasen wie ihr alles mitlesen könnt!«, grollte die Stimme von Monsieur Pigalle durch die Post. Wie ein massiver Felsen bewegte er sich auf Gabriel zu und verpasste ihm eine Schelle. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du das unterlassen sollst? So haben deine selige Maman und ich dich nicht erzogen!«

Schuldbewusst blickte Gabriel zu Boden, er blieb ruhig, doch Zorn flammte in seinen Augen auf. In den meisten Fällen war Monsieur Pigalle ein heiterer Zeitgenosse, doch es gab Ausnahmefälle, in denen er jähzornig werden konnte.

»Das ist mein Verschulden, Monsieur Pigalle«, sagte Valérie schnell, während sie gleichzeitig hoffte, nicht ebenfalls geschlagen zu werden. Ohne mit der Wimper zu zucken, log sie: »Die Karte fiel von einem Paketstapel, weswegen ich kurz nachschauen wollte, ob auf ihr ein Päckchen vermerkt ist, damit ich sie wieder am richtigen Ort verwahren kann. Dabei hat mich meine Neugierde …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… übermannt.« Sie presste die Lippen zusammen und kreuzte hinter ihrem Rücken die Finger.

Ob es daran lag, dass Valérie beim Maître seit jeher einen Stein im Brett hatte oder weil in dem Moment die Lieferantentür klingelte –, jedenfalls entschied er, die Sache nicht weiterzuverfolgen. Den schwer beladenen Männern am Eingang rief er zu: »Hier lang! Da kommt er hin.«

Durch das große, rechteckige Fenster erkannte Valérie einen Lieferwagen der Telegraphenbauanstalt.

»Bekommen wir einen neuen Telegraphen?«

Der vorhin noch so grimmige Blick des Maître Pigalle war einem Lächeln gewichen. »Besser! Das ist ein Fernsprecher.«

Sie wäre sehr daran interessiert gewesen, bei der Installation zuzusehen, doch Gabriels Vater machte deutlich, dass ihre Arbeit sich nicht von allein erledige.

»Nun aber Abmarsch mit euch!«

Später, nachdem sie ihre Zustellungsrunde auf den Fahrrädern beendet hatten, gönnten sie sich unter einem Kirschbaum eine Pause. Gabriel zog die Jacke seiner Uniform aus, damit sie sich daraufsetzen konnten, und drehte sich eine Zigarette.

Valérie nahm ihren Strohhut ab und schloss die Augen, um die Sonne zu genießen.

»Warum schließt du deine Augen?«

»Weil es schöner ist«, antwortete sie, ohne sie zu öffnen. »Dann spürt man, wie die Sonne einen an der Nase kitzelt, und alles ist so herrlich warm. Man nimmt die Umgebung besser wahr, riecht die Düfte der Natur …«

In dem Moment gesellte sich zum Naturduft ein intensiver Tabakgeruch dazu, und Valérie öffnete verärgert die Augen. »Teil sie wenigstens mit mir!«

»Rauchen anständige Mademoiselles denn?«

»Und lügen sie für Freunde, die in Schwierigkeiten stecken?« Selbstbewusst sah sie ihn an. »Außerdem: Woher weißt du, dass ich anständig bin?« Mit einem süffisanten Grinsen zog sie ihm die Zigarette aus dem Mund und inhalierte tief. Es kratzte gewaltig, doch das ließ sie sich nicht anmerken. Den Gefallen tat sie ihm nicht.

Er verzog den Mund wie ein Schuljunge, der sich einen Streich ausdachte.

»Jedenfalls anständig genug, um einen Heiratsantrag von Clément Fabron abzulehnen, wie mir zu Ohren kam.«

»Wer hat dir das erzählt?«, stieß sie aus. Immerhin war sie diskret geblieben und hatte die Geschichte nicht überall hinausposaunt.

»Jules natürlich.«

Sie knirschte mit den Zähnen. »Diese Tratschtante!«

Grinsend nahm Gabriel ihr die Zigarette ab und sah sie an. Er kniff die Augen leicht zusammen, weil die Sonne ihn blendete.

»War das der Grund, warum du bei der Hochzeit verärgert warst? Weil du doch in ihn verliebt bist und es nun zu spät ist?« Seine Stimme klang beiläufig, doch seine Haltung wirkte nicht so entspannt, wie er vorzugeben versuchte, so als fürchtete er sich vor der Antwort.

»Ich dachte, als Weggefährte und Kompagnon würdest du nicht nachfragen?«, schlug sie ihn mit seinen eigenen Worten.

»Wie sieht es als Freund aus? Würdest du es mir dann erzählen?«

»Warum willst du das wissen?«

»Weil ich es wissen muss!« Die Situation wurde ihm sichtlich unangenehm. Solche Fragen waren nicht angebracht. Das wusste er, und das spiegelte sich in seiner Gesichtsfarbe wider. Dennoch saß er hier und wartete ihre Antwort ab, als wäre es ihm gleich, was sie von seiner Unverfrorenheit hielt.

Sie entschied, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen. »Als Freund«, sie hob die Augenbrauen, »sage ich dir, dass es nicht wegen Clément war. Ich habe keine Gefühle für ihn und werde auch in hundert Jahren keine haben.«

Erleichtert atmete Gabriel auf. Er nahm einen letzten Zug, dann drückte er die Zigarette aus. »Dann bin ich beruhigt.«

»Beruhigt?«, japste sie verlegen. Ihr Kopf fühlte sich ganz warm an. Sie ahnte, was nun kommen würde. Und obwohl sie sich geschmeichelt fühlte, kamen ihr seine Avancen ungelegen.

Das ist der falsche Zeitpunkt, mahnte eine innere Stimme. Ende Sommer bist du in Paris und führst ein ganz anderes Leben.

Aber diese Schmetterlinge fühlten sich auch unglaublich schön an, und es wirkte so verführerisch leicht, dem unterdrückten Impuls einfach nachzugeben.

Er schien ihre Unschlüssigkeit zu bemerken. »Schließ deine Augen«, sagte er sanft.

»Wieso?«

Geduldig sah er sie an. »Vertraust du mir?«

Darüber hatte sie nie nachgedacht. Aber in diesem Augenblick wusste sie, dass sie es tat.

»Ich würde dir mein Leben anvertrauen«, flüsterte sie benommen. Dann schloss sie die Augen.

»Nicht schummeln.« Das Gras raschelte, als er sich bewegte. Sein Gesicht musste dem ihren nun sehr nahe sein, denn sie spürte die Wärme seines Atems auf ihrer Haut. Er streifte sanft ihr Ohr.

»Du hast vorhin die Augen geschlossen, weil du es dann schöner findest, in der Sonne zu sitzen. Weißt du, was mit geschlossenen Augen auch schöner ist? Das hier.«

Es war kaum mehr als ein Windhauch. Eine zarte Berührung, die sich wie Seide über ihre Lippen legte. Valérie wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Mit allen Sinnen nahm sie den Kuss auf, spürte den Widerstand auf ihren Lippen, den sanften Atemstoß. Einen Moment wusste sie nicht, wie ihr geschah. Ein Gefühl der Überraschung, aber keinesfalls auf schlechte Art. Sie erwiderte den Kuss. Vorsichtig öffnete sie ihren Mund, dann war es auch schon vorbei.

Sie sah ihn an und kniff die Augen leicht zusammen, weil er immer noch so nahe bei ihr saß.

Als Gabriel sich zurückzog, spürte sie bereits eine Sehnsucht. Sie wusste sogleich, dass sie ihn nochmals küssen wollte. Noch viele Male. Aber gleichzeitig wurde ihr schwer ums Herz.

»Gabriel … du weißt doch, dass ich bald abreisen werde. Warum hast du das getan?«

»Weil ich glaube, dass wir es beide bereuen würden, hätten wir uns nie geküsst. Und weil …«, er errötete, »… es doch ein schönes Gefühl ist, verliebt zu sein. Oder nicht?«

Ihr verschlug es die Sprache. Hatte er tatsächlich »verliebt« gesagt? Doch je länger sie darüber nachdachte, umso mehr stellte sie fest, dass sie ihm zustimmen musste. Ja, auch sie fühlte es. Und trotz aller Zweifel beruhigte es sie, endlich das sonderbare flatterhafte Gefühl beim Namen nennen zu können. Sie schenkte ihm einen verträumten Blick, ehe abermals die Vernunft an ihr zerrte.

»Aber zu welchem Preis, Gabriel? Wenn wir jetzt zueinander finden, werden wir im Herbst sehr unglücklich sein. Wenn wir die Liebe zulassen, wird sie uns am Ende zerstören.«

In seinen Augen sah sie dieselbe Sorge, doch nur kurz. »Vielleicht hast du recht, vielleicht auch nicht, niemand weiß, was die Zukunft bringt. Aber eins weiß ich ganz genau, Valérie Massé: Du bist etwas Besonderes.«

»Ach, Gabriel, das bist du für mich doch auch«, sah sie ein. Sie senkte den Blick und strich gedankenverloren über seine glattrasierte Wange. Nur direkt vor den Ohren war die Haut etwas rauer, Valérie spürte die Bartstoppeln unter ihren Fingerspitzen. Gabriel sagte die Wahrheit. Niemand wusste, was kommen würde, und wer die Zukunft zu sehr verplante, riskierte die Gegenwart zu verpassen. Noch war nicht Herbst. Es war gerade einmal Frühling und das Leben wunderbar.

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, etwas klarzustellen: »Das ist aber keine Affäre.«

»Natürlich nicht.« Er nickte ernst.

»Aber ein Umwerben ist es auch nicht«, dachte Valérie laut nach, denn sie wollte ihr Herz auf jeden Fall vor Liebeskummer schützen, wenn die Trennung in ein paar Monaten bevorstünde. Wenn man sich das schon im Voraus vornahm, wäre der Verlust sicherlich zu verschmerzen, dachte sie. Eine Liebe auf Zeit. Ob so etwas tatsächlich möglich war?

»Nun, was ist es denn?«, fragte sie.

Ohne eine Antwort zu geben, stand Gabriel auf. Danach hielt er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Doch es war eine List, denn er zog sie so kraftvoll hoch, dass sie schwungvoll in seinen Armen landete. »Es ist, was es ist. Was wir sind. Und das kann uns keiner vorschreiben.«

4. Kapitel

Raduille, September 1912

Was folgte, war ein Sommer, wie ihn jedes frisch verliebte Paar nur einmal erlebte. Lange Abende, hohes Gras auf den Wiesen, verstohlene Blicke, Kichern, heimliche Küsse, und später kam eine Leidenschaft hinzu, die nicht zu bändigen war. Sie hatten gespielt und den Einsatz täglich erhöht, ohne dass es ihnen bewusst gewesen war. Oft kam er zu ihr ins Atelier und leistete ihr Gesellschaft. Sie genoss seine Anwesenheit, sodass sie stets nach neuen Gründen suchte, um mit ihm zusammen zu sein.

Sie konnten miteinander reden, scherzen und philosophieren. Gabriel nahm sich immer Zeit für sie, ganz gleich, um was für ein Anliegen es sich handelte. In der Post waren sie Verbündete. Seine Art machte es schwierig, ihn nicht zu begehren. Als Kunstliebende war Valérie der Schönheit verfallen, und Gabriel zog sie an wie das Feuer die Motte. Wenn er Valérie aus seinen tiefen, blauen Augen ansah, hatte sie das Gefühl, als könnte er direkt in ihre Seele blicken und ihr Verlangen nicht nur spüren, sondern auch steuern. Dieses Gefühl wurde intensiver, je näher der Tag ihrer Abreise heranrückte. Interessanterweise förderten diese Launen ihre Kreativität enorm. Sie verfiel in einen regelrechten Schaffensdrang. Gabriel war ihr Antrieb, und sie musste von ihm so viel wie möglich mitnehmen.

»Gib mir etwas, womit ich mich an dich erinnern kann«, sagte sie am Tag vor ihrer Abreise. Ihre Kunstprojekte nahm er geduldig hin. Mal zeichnete sie sein Porträt, mal musste er sich als gallischer Krieger verkleiden, doch alles änderte sich mit der Gipsmaske. Die wollte sie für Paris haben, als Trost, wenn sie das Heimweh überkäme. Sie strich sein Gesicht mit Vaseline ein und bedeckte es mit Gipsstreifen um Gipsstreifen.

Er legte seinen Kopf in ihren Schneidersitz und schloss die Augen, während sie sich über ihn beugte und jeden Zentimeter seiner Haut berührte. Es war so schön, dass sie sich wünschte, es würde niemals enden. Ein großes Urvertrauen lag zwischen ihnen. Gabriel konnte unter dem Gips nicht sprechen, sodass beide ihren Gedanken nachgingen. Für Valérie war das Gesicht etwas Intimes, intimer sogar als der menschliche Schoß. Es stellte das Zentrum der Kommunikation dar. Man lernte sich über das Gesicht kennen, und dies war das Fundament für alles, was darauf folgte.

Als sie später den getrockneten Gips entfernte und einen positiven Abguss vornahm, war es, als würde sie nicht sein Gesicht, sondern sein Herz in ihren Händen halten. Sie spürte, dass sich etwas zwischen ihnen verändert hatte. Etwas Grundlegendes, das sie beide irritierte.

Wären sie lebenserfahrener gewesen, hätten sie vielleicht begriffen, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegten und dass sie gerade der Liebe den nötigen Sauerstoff zugeführt hatten, um zu entflammen. Valérie suchte nach Gründen, um ihn länger zu treffen, und Gabriel wiederum nahm diese bereitwillig an. »Ich könnte die Maske noch bemalen, aber dafür brauche ich dich hier, um die richtigen Farben auszuwählen.«