Die Verlegerin von Paris - Tabea Koenig - E-Book
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Die Verlegerin von Paris E-Book

Tabea Koenig

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Beschreibung

Paris – ein Fest fürs Leben.

1921: Als Lizzie ihrer lieblosen Ehe entflieht, droht ihr nicht nur die gesellschaftliche Ächtung, auch ihre Mutter bricht mit ihr. In Paris baut sie sich ein neues Leben auf und findet in der Literaturszene neue Freundinnen, die lieben, wen sie wollen, und Lizzie mit ihrer Offenheit und Eloquenz faszinieren. Während sie als Aushilfe bei »Shakespeare and Company« für James Joyce sein Manuskript abtippt, spürt Lizzie, dass in ihr ein Traum heranwächst: Sie will selbst Bücher verlegen – und im Zauber von Paris herausfinden, wen sie lieben kann ... 

Ein atmosphärischer Roman aus dem Paris der zwanziger Jahre und eine Hommage an Geschichten und Buchhandlungen.

 

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Seitenzahl: 391

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Über das Buch

London, 1921: Die junge Lizzie wagt es, sich aus ihrer lieblosen Ehe zu befreien. Auf sich allein gestellt, reist sie nach Paris, wo sie sich ein freieres Leben aufbauen will. Schon kurz nach ihrer Ankunft gelangt sie zur Buchhandlung „Shakespeare and Company“ von Sylvia Beach. Hier, an der Rive Gauche, betritt Lizzie nicht nur eine faszinierende Welt der Bücher, sie trifft auf inspirierende Frauen, die sich mit Leidenschaft der Literatur verschrieben haben. Für Sylvia Beach tippt sie das Manuskript von James Joyce ab, und bald schon will sie selbst Bücher verlegen. Ihr Traum ist greifbar nah, da widerfährt ihr eine Tragödie, die ihr ganzes Leben verändern könnte.  

Über Tabea Koenig

Tabea Koenig, geboren 1992, studierte Soziale Arbeit und Kulturvermittlung. Sie war schon immer von starken weiblichen Persönlichkeiten fasziniert. Besonders haben es ihr das viktorianische Großbritannien sowie Paris von der „Belle Époque" bis zu den „Années folles" angetan. Sie liebt Tagträume, Bücher und lange Spaziergänge und lebt mit ihrem Mann in Basel.

Im Aufbau Taschenbuch ist ihr Roman „Die Maskenbildnerin von Paris“ lieferbar.

Mehr zur Autorin unter www.autorin-tabea-koenig.ch

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Tabea Koenig

Die Verlegerin von Paris

Historischer Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Teil 1 — Februar 1921 – März 1921

1. Kapitel — New York, Februar 1921

2. Kapitel — London, Februar 1921

3. Kapitel — London, Februar 1921

4. Kapitel — Oxford, Februar 1921

5. Kapitel — London, Februar 1921

6. Kapitel — London, März 1921

Teil 2 — März 1921 – März 1922

7. Kapitel — Paris, März 1921

8. Kapitel — Paris, März 1921

9. Kapitel — Paris, April 1921

10. Kapitel — Paris, April 1921

11. Kapitel — Paris, April 1921

12. Kapitel — Paris, April 1921

13. Kapitel — Paris, April 1921

14. Kapitel — Paris, Mai 1921

15. Kapitel — Paris, Mai 1921

16. Kapitel — Paris, Juni 1921

17. Kapitel — Paris, Juni 1921

18. Kapitel — Paris, Juli 1921

19. Kapitel — Dijon, Juli 1921

20. Kapitel — Paris, August 1921

21. Kapitel — Paris, August 1921

22. Kapitel — Paris, November 1921

23. Kapitel — Paris, Dezember 1921

24. Kapitel — Paris, Dezember 1921

25. Kapitel — Paris, Dezember 1921

26. Kapitel — Paris, Dezember 1921

27. Kapitel — Paris, Februar 1922

28. Kapitel — Paris, März 1922

29. Kapitel — Paris, März 1922

Teil 3 — September 1924 – Mai 1925

30. Kapitel — Paris, September 1924

31. Kapitel — Paris, Oktober 1924

32. Kapitel — Paris, November 1924

33. Kapitel — Paris, November 1924

34. Kapitel — Paris, April 1925

35. Kapitel — Paris, Mai 1925

36. Kapitel — Paris, Mai 1925

37. Kapitel — Paris, Mai 1925

38. Kapitel — Paris, Mai 1925

39. Kapitel — Paris, Mai 1925

Teil 4 — Juli 1925 – Dezember 1925

40. Kapitel — Paris, Juli 1925

41. Kapitel — Paris, September 1925

42. Kapitel — Paris, September 1925

43. Kapitel — London, September 1925

44. Kapitel — Oxford, September 1925

45. Kapitel — London, September 1925

46. Kapitel — Paris, Dezember 1925

47. Kapitel — London, Dezember 1925

Epilog — Paris, Mai 1928 – zweieinhalb Jahre später

Nachwort

Danksagung

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Leonard Koenig Für Deinen Glauben an dieses Buch Für Deine Liebe Für alles

Teil 1

Februar 1921 – März 1921

1. Kapitel

New York, Februar 1921

Lizzie Wellington fragte sich, ob das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, endlich nachlassen würde, sobald das Schiff mit ihr abgelegt hätte – oder ob die Schuldgefühle ihr dann erst recht zu schaffen machen würden, weil es kein Zurück mehr gab.

Noch war es möglich umzukehren, ihr ganzes Vorhaben abzublasen und Sämtliches beim Alten zu belassen. Niemand würde erfahren, was sie beinahe getan hätte. Alles würde seinen gewohnten Lauf nehmen. War ihr Leiden denn tatsächlich genug? Oder war es nicht furchtbar egoistisch, für sich selbst einzustehen?

Diese Grübelei trieb sie noch in den Wahnsinn. Sie konnte kaum stillstehen. Stechende Kopfschmerzen strahlten von ihrer Stirn bis in den Hinterkopf aus und drückten auf ihre Augen. Ständig schreckte sie auf, wenn sie jemanden sah, der ihrem Mann ähnelte.

Damit sich ihre unsicheren Hände wenigstens an etwas klammern konnten, zündete sie sich eine Chesterfield an. Einatmen, ausatmen. Das angenehme Kratzen im Hals spüren, in der Gegenwart ankommen, aufhören zu denken. Langsam kehrte Ruhe in ihr ein. Ihr Fokus richtete sich jetzt auf die Umgebung.

Es war ein winterlicher Morgen, an dem jeder Atemzug in der Lunge brannte. Blaugrauer Dunst erstreckte sich über den Hafen, einer Eiswolke gleich, die einen mit bissigen Zähnen erfasste. Lizzie kam dieser kühlende Schmerz gerade recht. Die Kälte belebte ihren Geist. Und einen wachsamen Verstand brauchte sie jetzt mehr als alles andere. Die Zigarette war schnell aufgeraucht. Sie warf den Stummel ins Meer und verfolgte mit den Augen seinen unbekümmerten Fall. Ein Anflug von Übelkeit erfasste sie, als die Reling der RMS Olympic ihr gegen den flauen Magen drückte. Passagiere drängten sich dicht an sie, die meisten plauderten aufgeregt, staunten über das prächtige Schiff oder suchten ihren Abschnitt.

Und Lizzie? Vom Deck aus überblickte sie ein letztes Mal die New Yorker Skyline. Ihr wohnte an diesem Morgen nicht der glorreiche Zauber der unbegrenzten Möglichkeiten inne, wie man es sich gern erzählte. Wie Grabsteine ragten die Gebäude in den Nebel, der ihre Enden verschluckte. Eine bedrohliche Präsenz ging von ihnen aus. Ein Sinnbild dafür, wie sich Lizzie seit drei Jahren fühlte: abgewiesen und geringgeschätzt. Nie hatte sie sich hier willkommen oder heimisch gefühlt.

Eine Geruchswolke aus Fisch, Meerwasser, Eisen und Abgasen wallte zu ihr empor, während sie auf das Geschehen im Hafen hinabblickte und der Kakophonie der rufenden Händler und Dockarbeiter lauschte. Um diese Uhrzeit herrschte Hochbetrieb. Kisten wurden geschleppt, Waren verfrachtet, Taue aufgerollt. Güter und Nahrungsmittel für eine Millionenmetropole mussten ausgeladen werden. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr gingen die Hafenarbeiter ihren Geschäften nach. Eine Kontinuität, die etwas Trostspendendes hatte. Sie kümmerte die junge Frau am Schiffsdeck nicht, die ihren fein bestickten Musseline-Mantel enger um sich schlang und ihr Herz, zerschnitten von den Scherben ihrer zerstörten Träume, aus Amerika davontrug. Sie führten ihr Leben fort, als habe Lizzie nie existiert.

Sie dachte an den Brief, den sie ihrem Mann Martin in seinem Arbeitszimmer auf dem Kaminsims hinterlegt hatte. Er würde ihn hoffentlich erst lesen, wenn sie Hunderte Seemeilen trennten. Doch mit jeder weiteren Minute, die verstrich, schwand diese Hoffnung. Das Schiff hätte schon vor einer Stunde ablegen müssen. Die Verspätung entstand durch die langwierige gesundheitliche Inspektion der Reisenden. Die Spanische Grippe war erst vor wenigen Monaten abgeflacht, eine Rückkehr der Pandemie galt es von allen Seiten zu verhindern, insbesondere, wenn man einen anderen Kontinent bereiste.

Was, wenn der Brief schon vorher in Martins Hände geraten war und er sich auf dem Weg hierher befand? Er würde nicht wie ein Ehemann trauern, dessen Herz gebrochen war, denn dafür hätte er eines besitzen müssen. Lizzie und ihren Mann mochten eine Menge Vorteile verbunden haben, die in ihren Gesellschaftskreisen nicht von der Hand zu weisen waren; Vermögen und Ansehen, doch nicht Liebe. Falls er zu solcher überhaupt fähig war, verspürte er diese wohl eher für sein schnelles Auto und die kurzen Röcke der Damen aus einschlägigen Etablissements.

Aber er würde toben und alles in seiner Macht Stehende tun, um Lizzie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Sie war seine Frau, sein Eigentum. Die Sorge, er könnte das ganze Schiff aufhalten, sie hinauszerren und zurück in ihr Stadthaus in der Park Avenue verfrachten, kam nicht von ungefähr. Lizzie wusste, wozu er fähig war, wie weit zu gehen er bereit war. Einen Martin Goldenbloom, der in vierter Generation eines der größten Eisenbahnimperien der Staaten leitete, verließ man nicht.

Alles in ihr zog sich zusammen, als sie sich nicht nur der Konsequenzen ihrer Entscheidung, sondern auch der bevorstehenden Begegnung mit ihrer Mutter bewusst wurde. Lady Alice Wellington duldete keine Vergehen in ihrer aristokratischen Familie – eine Trennung glich einem gesellschaftlichen Todesstoß. Sie war es gewesen, die diese Ehe arrangiert hatte, und war somit für ihr Scheitern mitverantwortlich. Die Enttäuschung, das Gerede, die Vorwürfe … Lizzie würde Rede und Antwort stehen, Beschimpfungen erdulden und Ratschläge hinnehmen müssen, die nicht mehr ihrem Erwachsenenalter entsprachen.

Plötzlich raste ein Studebaker so schnell an die Anlage heran, dass die Reifen quietschten. Kurz darauf kam er in der Nähe des Hafenbeckens zum Stehen. Lizzies Herz setzte aus. Der blutrote Lack war unverkennbar. Es war der Wagen ihres Mannes.

Sofort wich sie einen Schritt zurück und prallte mit einem Passagier zusammen. Rasch senkte sie den Blick, sodass ihr graublauer Glockenhut ihr Gesicht verbarg und sie Martin beobachten konnte, der nun seinerseits mit der Aufmerksamkeit eines Habichts das Schiff absuchte.

Nur seiner Eitelkeit und dem Bewusstsein ihres Ranges verdankte sie, dass er sie übersah. Denn seine Suche begrenzte sich auf das vordere Deck der ersten Klasse, nicht aber auf jenes am Heck, nahe der Rettungsboote, wo sie stand. Einem Goldenbloom käme es niemals in den Sinn, in der zweiten Klasse zu reisen. Aber Lizzie war keine Goldenbloom mehr, nicht, wenn es nach ihr ginge.

Endlich dröhnte das Schiffshorn. Vor Schreck fuhr sie zusammen und fasste sich an die Brust. Hafenarbeiter entfernten die Passagierrampen, lösten die Taue und gaben ein Zeichen. Eine Bewegung ging durch das gesamte Schiff, als die Turbinen zu rotieren begannen.

Während die Versorgungsboote die majestätische Olympic aus dem Hafen schifften, hielt Lizzie abermals den Atem an. Um sie herum herrschten Jubel und Euphorie, Passagiere winkten mit schneeweißen Taschentüchern ihren Angehörigen zu – da entdeckte Martin sie. Wie ein gezielter Schuss traf sein Blick sie ins Herz.

Unerträglich langsam fuhr die Olympic an ihm vorbei. Lizzie sah seiner Körperhaltung an, wie er um Beherrschung kämpfte. Tobende, vor Zorn lodernde Augen fixierten sie, sodass es einem Angst einjagte. Sie war froh, nicht neben ihm zu stehen.

Es erforderte ihren ganzen Mut, sich erhobenen Hauptes diesem Blick zu stellen. Sie hielt ihn aufrecht, bis sie Martin nicht mehr sah. Aber erst, als sie die Freiheitsstatue hinter sich ließ und sich das Meer vor ihr öffnete, wich die Anspannung von ihr, und das Hämmern in ihrem Kopf ließ nach.

Immer kleiner wurde die Millionenmetropole. Wie pittoreske Punkte eines impressionistischen Gemäldes tummelten sich Schlepper, Fischerboote und Privatyachten im Umkreis, bis sie ebenso verschwanden. Als frischer Wind aufkam und Lizzie die unendlichen Weiten des Ozeans sah, merkte sie, dass ihr Gesicht tränennass war. Rasch trocknete sie ihre eiskalten Wangen.

Nun, umgeben von nichts als Wasser, fühlte sie sich klein und unbedeutend. Sie war keine verheiratete Frau mehr, deren Tage als respektable Dame gezählt waren. Sie war einfach nur Lizzie. Das erste Mal allein, das erste Mal frei. All ihr Grübeln, ihr Zweifeln und ihre widerstreitenden Gefühle fanden hiermit ein Ende. Sie blickte jetzt nach vorn.

Lizzie hatte ihren Mann verlassen, hatte New York hinter sich gelassen – und sie würde nicht mehr zurückkommen.

2. Kapitel

London, Februar 1921

Eine Woche später traf Lizzie am Belgravia Square im Salon ihrer Mutter ein. Schon beim Eintreten wurde es ihr eng um die Brust. Die Macht der alten Konflikte saugte ihr die Kraft aus den Knochen, wann immer sie die Räumlichkeiten betrat, in denen noch die alte Ordnung herrschte.

Obwohl Lizzie stark und zuversichtlich sein wollte, konnte sie gegen dieses beklemmende Gefühl nicht ankommen. Es fühlte sich nicht wie eine Heimkehr an, das hatte es nie, eher wie ein lästiger Termin beim Zahnarzt, den man wahrnehmen musste und lieber schnell hinter sich brachte.

Ihre Kleidung hatte sie sorgfältig ausgesucht, trotzdem würde ihre Mutter etwas zu nörgeln haben. Die neue Mode war mehr für androgyne Körper geeignet, Lizzies Kurven, insbesondere der breiten Hüfte, schmeichelte sie jedoch nicht. Sie hatte sich daher für ein schlichtes, hochtailliertes mitternachtsblaues A‑Linien-Kleid mit weißem Bubikragen und dazu passende Mary-Jane-Schuhen entschieden. Die schulterlangen Haare trug sie unter ihrem Hut offen. Für einen gewagten Bob fehlte ihr der Mut.

Als sie ihre Mutter sah, erwiderte diese nur kurz ihren Blick. Sogleich wies Lady Wellington ihr Personal gebieterisch an, Tee zu servieren und danach unter keinen Umständen zu stören. Während die aufgescheuchten Dienstmädchen dem Befehl gehorchten und den Saal räumten, sah Lady Wellington ihre Tochter ohne eine erkennbare Gefühlsregung an.

Eine frostige Aura umgab sie. Kühle Noblesse, die sie über alles und jeden erhaben machte. Welcher Modeschöpfer auch immer die Ehre hatte, sie einzukleiden, verdiente an ihr ein Vermögen. Feinste handgewebte Stoffe, aufwendig bestickte Seide, Schichten aus Tüll und Spitze – Lady Wellington sonnte sich zu jeder Tageszeit in Eleganz und Extravaganz. Noch nie hatte Lizzie sie unfrisiert gesehen. Das Haar ließ sie sich inzwischen nachblondieren und in moderne Wasserwellen legen. Ihre Haut roch stets nach Gesichtswasser und Pflegecreme. Sonne vermied sie aufs Penibelste.

Neben ihr wirkte jeder andere Mensch fad und farblos, besonders, wenn er sich so plump und unscheinbar fühlte wie Lizzie. Trotz ihrer Kälte und Unnahbarkeit war sich Lady Wellington ihrer Weiblichkeit durchaus bewusst, und sie strahlte eine erotische Anziehungskraft aus, die sie so manche Nacht über ihre Witwenschaft hinwegtröstete.

Die Lippen ihrer Mutter zuckten, doch sie sagte kein Wort. Dies wäre ohnehin überflüssig, denn ihr stechender Blick sprach für alles Ungesagte.

Als Lizzie in Southampton ihre Ankunft angekündigt hatte, brauchte ihre Mutter nur noch eins und eins zusammenzuzählen. Wie sie Martin kannte, hatte er ohnehin ein Telegramm geschickt und sie gebeten, ihre ungehorsame Tochter zur Räson zu bringen. Lady Wellington hatte also genügend Zeit gehabt, eine Salve aus Vorwürfen vorzubereiten und auf sie abzufeuern. Kaum waren die Türen geschlossen, brach es auch schon aus ihr heraus.

»Bist du verrückt geworden? Was hast du dir bloß dabei gedacht!« Ihre Nase zuckte vor Missfallen, und sie blickte ihre Tochter an, als wäre diese ein ihr zugelaufener Hund, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Bedrohlich wölbte sich ihr Busen aus dem Korsett. »Du dürftest gar nicht hier sein.«

Lizzies Gleichgewichtssinn stand noch unter dem Einfluss der mehrtägigen Schifffahrt, doch ihr Schwindel hatte einen anderen Grund. »Nun, hier bin ich aber. Und ich werde nicht zurück zu Martin gehen. Ich habe mich von ihm getrennt.«

»Das ist unbegreiflich. Wie kannst du nur!«

»So versteh doch, Mutter! Es ging einfach nicht mehr. Ihn zu heiraten war der größte Fehler meines Lebens.«

Lady Wellington wollte nichts davon wissen und hob belehrend den Finger. »O nein, dein größter Fehler war es, ihn zu verlassen. Er hat dir alles ermöglicht! Sicherheit, Wohlstand …«

»Darauf lege ich keinen Wert. Die New Yorker Gesellschaft ist nichts für mich. Der Standesdünkel, die Erwartungen und Verpflichtungen … Es war wie in einem Kerker. Martin und ich … wir konnten uns nicht unterhalten. Wir lebten in völlig unterschiedlichen Welten.«

»In solchen Fällen lernt man, aneinander vorbei zu leben. Man beendet deswegen nicht die Ehe. Du wusstest genau, worauf du dich einlässt. Wir konnten froh sein, dass einer wie er überhaupt Interesse zeigte. Du warst schon Mitte zwanzig, die guten Männer waren im Gefecht, und dein Ruf war mehr als zweifelhaft. Dieser Journalist …«

»Halte Sean da raus!« Erst, als sich ihre Stimme überschlagen hatte und ihre Kehle brannte, merkte Lizzie, dass sie geschrien hatte. Das war ein Fehler. Sofort bereute sie ihren Kontrollverlust.

Ein triumphales Zucken umspielte die Mundwinkel ihrer Mutter. Jetzt hatte sie die Oberhand, und diese würde sie nicht mehr an Lizzie abtreten.

»Dieser Journalist«, wiederholte sie, da sie sich strikt weigerte, seinen Namen in den Mund zu nehmen, »hat dich verlassen. Du hast ihn verloren. Genau wie deinen Ruf, da du dich mit ihm eingelassen hast.«

Lizzie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. Sean war ein anderes gescheitertes Kapitel in ihrem Leben, das lange vor Martin gewaltsam zugeschlagen worden war.

Lady Wellington bemerkte den Unmut ihrer Tochter. Etwas versöhnlicher meinte sie: »Mir ist bewusst, dass eine arrangierte Ehe in einem fremden Land nicht leicht ist. Ich habe schließlich einmal dasselbe durchgemacht. Aber ich habe es für meine Familie getan. Für die gemeinsame Sache. Es war eine Pflicht, die mich mit Stolz erfüllte.«

»Ich bin aber nicht wie du«, flüsterte Lizzie, was ihre Mutter mit einem tiefen Seufzer zur Kenntnis nahm.

»Ja, dem ist leider so.«

Als millionenschwere Erbin eines amerikanischen Reeders in San Francisco hatte Lady Alice Wellington schon als Kind alles besessen, was sich mit Geld erwerben ließ, nur der Adelstitel fehlte.

Gleichzeitig drohte seit der Jahrhundertwende den Peers in Großbritannien das Ende. Viele Häuser gingen durch Misswirtschaft und einen nicht mehr zeitgemäßen Unterhalt zugrunde. Oftmals konnten die ehrenwerten Lords und Ladys nur noch auf einen alten, eindrucksvollen Familiennamen zurückgreifen, das Vermögen hingegen zerrann ihnen zwischen den Fingern.

Daher entsendeten viele reiche Familien aus Amerika ihre Töchter nach Großbritannien, um dem Adel durch eine Heirat unter die Arme zu greifen. So wurde auch Lizzies Mutter, gebürtige Alice Burt, kaum zwanzigjährig in ein fremdes, verregnetes Land geschickt, um den fast doppelt so alten Lord Wellington vor dem Ruin zu bewahren.

Abermals schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Du hättest dich wenigstens etwas länger gedulden können, ihm Kinder schenken, um das Erbe zu sichern …«

»Das geht nicht. Nicht mehr.« Lizzies Stimme klang gedehnt. Sie hatte nicht vorgehabt, darüber zu sprechen, aber jetzt sah sie keinen anderen Weg.

Ihre Mutter sah sie mit Gewittermiene an. »Was soll das jetzt wieder bedeuten?«

Lizzie holte tief Luft. »Ich hatte einen medizinischen Eingriff, eine Curettage. Meine …«, sie räusperte sich, »meine Gebärmutter wurde entfernt. Es wird keine Kinder geben.«

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, erfassten sie die Schmerzen der Vergangenheit. Es war letztes Jahr entdeckt worden. Zuerst hatte Lizzie gedacht, schwanger zu sein. Ihr Bauch war geschwollen, und sie litt unter fürchterlichen Krämpfen. Dann folgten plötzlich starke, nicht enden wollende Blutungen. Ein Gynäkologe brachte schließlich Licht ins Dunkel. Keine Schwangerschaft, keine Fehlgeburt, dafür ein Myom von der Größe eines Tennisballs.

Jetzt sah Lizzie den entsetzten Blick ihrer Mutter, die langsam begriff. Lizzie war ein Einzelkind. Die Unfruchtbarkeit bedeutete den Untergang der Familie. All das, wofür die Wellingtons gekämpft hatten, was sie aufgebaut hatten, wäre nach Lizzies Tod hinfällig. Bestenfalls gründete sie aus dem Vermögen noch eine Stiftung. Für einen Moment verspürte Lizzie eine groteske Genugtuung. »Die Linie endet mit mir.«

»Genug!«, fuhr Lady Wellington ihr ins Wort. »Wir werden sehen, was sich machen lässt. Man soll die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen.«

Stimmt, dachte Lizzie verbittert. In ihren Kreisen gab es für jedes Problem eine Lösung. Alles hatte seinen Preis.

»Es gibt Ärzte … oder arme Geschöpfe, die ihr Kind gerne an ein besseres Zuhause abtreten …«

»Davon will ich aber nichts wissen.« Lizzie wandte sich ab, ihr ganzer Brustkorb vibrierte, und sie spürte, wie sie den aufkommenden Tränen nicht länger standhalten konnte.

Lady Wellingtons Stimme hingegen war voller Wut.

»›Nichts wissen‹«, äffte sie Lizzie nach. »Als dein Vater vor elf Jahren starb, gingen sein Titel und sein Land an den nächsten männlichen Verwandten über.« Sie kräuselte die Lippen. »Und als wäre das nicht genug, haben wir viel Geld im Krieg verloren.«

Lizzie wusste, was nun folgen würde: eine Aufzählung dessen, was ihre Mutter alles versucht hatte, um den Nachlass zu regeln. In Amerika konnten Frauen problemlos erben, aber in England herrschte eine komplizierte Erbfolge, die das verhinderte. Notare gingen erhobenen Hauptes in ihren Salon hinein und kamen geknickt wieder heraus, es brachte nichts. Also musste eine vorteilhafte Ehe her. Dabei hatte sie auf niemand Geringeren als den Prince of Wales gesetzt, der vor dem Krieg regelmäßig bei den Wellingtons zu Gast gewesen war, bis Lizzie ihn mit einer unbedachten Bemerkung verärgert hatte. Weitere Bemühungen versandeten, als sie Sean kennengelernt hatte und nichts mehr von vorteilhaften Verbindungen hören wollte.

»Du warst einmal ein Juwel. Die begehrteste Debütantin deiner Saison. Mit deinem engelsblonden Haar hättest du selbst den Prinzen haben können. Und jetzt, sieh dich an. Von der potenziellen Prinzessin zur potenziellen Geschiedenen. Ach, der Gedanke bereitet mir Kopfweh.«

Lady Wellington presste ihren Handrücken an die Stirn und blickte aus dem Fenster, als posiere sie für ein präraffaelitisches Gemälde. Dann beschwor sie Lizzie von Neuem.

»Wenn du jetzt mit dem nächsten Schiff zurückkehrst, wäre Martin bereit, dir zu vergeben und dein abenteuerliches Intermezzo zu vergessen. Und das obwohl«, sie streckte ihren Rücken gerade, »du Ehebruch begangen hast. Mehr als einmal.«

Bebend sog Lizzie die Luft ein. Von ihrer Krankheit und der schwerwiegenden Operation hatte ihre Mutter also nichts erfahren. Aber die Nachricht darüber, dass sie sich anderswo Trost gesucht hatte, war wiederum bis nach England gelangt. Nicht zum ersten Mal beschlich sie der Gedanke, dass Martin wahrscheinlich das bessere Kind für ihre Mutter abgegeben hätte.

»Wie schön, dass du glaubst, alles zu wissen. Aber wusstest du auch, was er mir angetan hat? Dass er handgreiflich wurde? Dass er davon redete, mich in eine Klinik einzuweisen?«

Einen Moment glaubte Lizzie, tatsächlich so etwas wie eine Regung in Lady Wellingtons Augen zu erkennen. Ein Fünkchen Schmerz, den jede Mutter fühlt, wenn ihrem Kind Unrecht widerfährt. Doch der Funke erlosch genauso schnell, wie er aufgeflammt war.

»Nun ja«, erwiderte sie, »als dein Mann ist es sein gutes Recht, das zu tun.«

Lizzie hatte keine Worte übrig, ihre Wangen waren ganz heiß geworden. »Niemand hat das Recht, einen Menschen zu quälen«, flüsterte sie. »Geschweige denn, ihn zu brechen.«

»Hat er das? Das bezweifle ich«, machte sich ihre Mutter über sie lustig. »Sonst wärst du kaum in der Lage gewesen fortzugehen.«

»Also werde ich auch noch für meine Stärke bestraft?«

Ihre Mutter ging nicht darauf ein. »Ich kann dir jedenfalls beim besten Willen nicht weiterhelfen. Er wird einer Scheidung niemals zustimmen.«

»Er wird, sobald er begreift, dass er einen rechtmäßigen Erben braucht. Sowie er das passende Gefäß gefunden hat, in das er seinen Samen legen kann, werden die Scheidungspapiere von alleine kommen.« Und sie hatte den Verdacht, dass dies relativ bald der Fall sein dürfte.

Verhalten schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Du glaubtest schon immer, mich mit Vulgarität aus der Fassung bringen zu können. Doch ich erwarte etwas mehr Respekt dafür, dass ich deinen Ruf wiederhergestellt habe. Mir allein hast du die Rekonvaleszenz deiner Reputation zu verdanken. Dass du diese erneut mit Füßen trittst, entzieht sich meinem Verständnis. Ich habe dir so vieles ermöglicht, dich auf gute Schulen geschickt, dir teure Kleider gekauft, dir ein Vermögen in diese Ehe mitgegeben. Ich weiß nicht, woher du diese Undankbarkeit hast, aber so habe ich dich nicht erzogen.«

Der Satz hatte in Lizzie etwas ausgelöst, ihr mit einem Schlag die Kraft geraubt, um sich weiter zu streiten. Langsam richtete sie den Blick auf ihre Mutter, eine Frau, die ihr zwar das Leben, aber nie Liebe geschenkt hatte. Ihr nie Worte des Trostes oder des Mutes zugesprochen, geschweige denn sie in den Arm genommen hatte. Die alle zwei Jahre die Gouvernante ausgewechselt hatte, damit Lizzie sich nicht zu sehr an sie gewöhnte. Die, als Lizzie noch ein Kind gewesen war, minuziös mit dem Personal geplant hatte, wann es genehm war, ihr die Aufwartung zu machen. Meist im Salon, nie in den privaten Gemächern und selten länger als eine halbe Stunde täglich.

Lizzie ging zu dieser Fremden hinüber. So nahe, dass sie sogar die Venen unter ihrer zarten, alabasterfarbenen Haut am Hals und Schlüsselbein erkennen konnte.

Lady Wellington spannte die Arme an, als baute sie einen Schutzwall auf. Die Nähe war für beide unangenehm, doch Lizzie beugte sich zu ihr und stützte sich auf der Armlehne der Chaiselongue ab. Sie sah ihrer Mutter so tief in die Augen, dass sie ihr Spiegelbild darin erkennen konnte.

»Nein, das hast du nicht«, flüsterte sie mit emotionsgeladener Stimme. »Weil du die Erziehung ja immer dem Personal überlassen hast.«

Als Lizzie ihre Hand ergriff, zuckte Lady Wellington zusammen. Sie fürchtete sich vor ihr! Himmel, wie sehr musste sie diese Frau enttäuscht haben, dass sie ihr sogar Gewalt zutraute? Ihr fehlten die Worte. Sie ließ die Hand wieder los, richtete sich auf und begab sich zur Tür.

3. Kapitel

London, Februar 1921

Nach dem Streit mit ihrer Mutter fühlte Lizzie sich ausgelaugt und leer. Sie schaffte es zwar, beherrscht die obere Schlafgalerie zu erreichen und an den altehrwürdigen Ölgemälden ihrer Ahnen vorbeizuschreiten, doch als sie ihr altes Zimmer erreichte, brach alles über sie zusammen.

Da stand sie nun, im Mottenstaub ihrer kapriziösen Kindheit, in einem Zimmer, das Geborgenheit vermitteln sollte. Stattdessen drohte es dem Zerfall zum Opfer zu fallen. Teppiche und Bettvorleger waren vergilbt und fadenscheinig. Im Gegensatz zu den Prunkräumen im Erdgeschoss bestand keine Notwenigkeit, ein leeres Zimmer auf Vordermann zu bringen.

Vor dem Frisiertisch setzte Lizzie ihren Hut ab. Danach kämmte sie mit den Fingern ihr blondes, gewelltes Haar. Seit sie auf eine Zofe verzichtete, fielen ihre Frisuren weitaus schlichter aus. Ihre Fingerfertigkeit war dem Umgang mit der Brennschere nicht gewachsen, zudem fehlte ihr die Geduld.

Aus dem Spiegel blickte ihr eine junge, verunsicherte Frau mit vollem Gesicht und geröteter Stupsnase entgegen. Lizzies Gesichtszüge waren nicht von klassischer Schönheit, die blauen Augen hatten ihren Glanz verloren, hatten zu viel gesehen. Die Worte ihrer Mutter kamen ihr wieder in den Sinn. Du warst einmal ein Juwel. Die begehrteste Debütantin deiner Saison …

Sie hasste sich selbst dafür, dass ihr das so naheging. Dass sie zuließ, wie sehr ihre Mutter sie verletzte.

Manchmal fragte sie sich, ob sie von ihrem Vater mehr Unterstützung erhalten hätte. Doch sie wusste darauf keine ehrliche Antwort. Lord Wellington war ihr ein Unbekannter geblieben. Stets abwesend, begab er sich entweder auf Reisen oder zog sich auf den schottischen Landsitz zurück, da ihn die Salongesellschaften seiner Frau anstrengten. Er war ein in sich gekehrter Zeitgenosse, der kein Interesse an der Welt der anderen zeigte und diese ebenso wenig an der seinen teilhaben ließ. Lizzie war vor allem sein leidender Gesichtsausdruck in Erinnerung geblieben. Als würde ihn ständig etwas bekümmern.

Glücklich hatte sie ihre Eltern nie erlebt. Es gab zwar nie Disput, aber worüber sollte man auch streiten, wenn man sich nichts zu sagen hatte? Beide hatten Affären, aber das war kein Skandal. Das wäre es erst, würden sie offen dazu stehen. Nach außen bewahrten sie stets den Schein. Wenn sie auftraten, dann als Einheit. Nach seinem Tod trug ihre Mutter standesgemäß ein Jahr Trauer, doch weinen sah man sie nie.

Wieso fiel es Lady Wellington so leicht, das Spiel der Bourgeoisie mitzuspielen, und ihr nicht? Lizzie konnte nun, da sie »gefallen« war, regelrecht dabei zusehen, wie auch ihr Wert, einer fallenden Aktie gleich, in den Keller ging. Noch mehr ärgerte es sie, wie sehr sie sich deswegen bemitleidete. Sie ertrug ihren eigenen Anblick nicht und wandte sich schniefend von ihrem Spiegelbild ab.

Sie kam sich so dumm vor, hierhergekommen zu sein. Dabei hatte sie doch ganz genau gewusst, wie ihre Mutter reagieren würde. In nur wenigen Sätzen war sie zu einem hilflosen, ihrer Gefühle nicht gewachsenen Kind geschrumpft.

Was war aus diesem Ort geworden? Hier war sie aufgewachsen, hatte am Fenster gesessen, in den Garten geblickt und stundenlang gelesen, sich manchmal sogar selbst an Feder und Papier versucht.

Seufzend schritt sie zu ihrem Bücherregal. Ihre Finger glitten über die Buchrücken, und augenblicklich fühlte Lizzie sich besser. In all der Zeit hatten ihre Schätze unbeirrt in diesem Regal gestanden und geduldig darauf gewartet, eines Tages wieder aufgeschlagen und gelesen zu werden. Hier war ihr wirkliches Zuhause. In diesen Büchern, zwischen den Seiten. Zeilen, die sie in eine vertraute Welt trugen, in der sie einfach nur sie selbst sein durfte. Sogar ihre Kinderbücher waren noch da. Der Zauberer von Oz, Alice im Wunderland, Peter Pan. Letzteren nahm sie heraus, blies den Staub vom Einband und blätterte darin.

Ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, wie es nur von einer schönen Erinnerung hervorgerufen werden konnte. Was beneidete sie Peter Pan heute, ein Wesen voller Unschuld, sich keiner Konsequenz seines Handelns bewusst. Sie vermisste die unbeschwerte Naivität ihrer Kindheit, als es weder Liebe noch Begehren gab und die Pflichten einer Lady in ferner Zukunft lagen.

Früher war sie ein aufgeschlossenes und eigensinniges Kind gewesen, doch sie hatte schlecht gehorcht. Sie liebte Abenteuergeschichten und stahl sich nachmittags mit Freundinnen aus der Privatschule. Sie besuchten Teehäuser und Einkaufsboutiquen oder fachsimpelten darüber, was sie einmal erreichen wollten. Abends mussten sie sich vor der Rektorin verantworten.

Lizzies Verhalten verbesserte sich, als ihre Mutter den Hauslehrer Professor Tom Moore einstellte. Er versuchte nicht, sie mit Gewalt zu formen, sondern sah ihre Stärken und förderte ihr Interesse an Geschichte, Kunst, Soziologie und Mythologie. Konnte Lizzie nicht stillsitzen, verlegte er den Unterricht nach draußen. Dann besuchten sie den Zoo oder sammelten im Park Blätter, um Herbarien anzulegen.

Ihm verdankte sie auch ihre Liebe zur Literatur. Nach den Kinderbüchern folgten bald Charles Dickens, Mark Twain, Jane Austen, Emily Dickinson und die Romane der Brontë-Schwestern. In Jack London war sie als Dreizehnjährige ernsthaft verliebt gewesen. Die Bücher von Victor Hugo, Émile Zola und Honoré de Balzac überwältigten sie, auch das, was zwischen den Zeilen stand.

Besuchte sie mit dem Professor eine Buchhandlung, betrat sie mit dem Bimmeln der Ladenglocke eine sichere Welt. Der Duft der Bücher, das Geräusch, wenn sie eines zum ersten Mal aufschlug, die Aufregung, sobald die Buchstaben aus den Seiten sprangen und sich zu einem Bild verwandelten – bei keiner anderen Gelegenheit empfand Lizzie größere Zufriedenheit. Ihr Leben hatte plötzlich einen Sinn. Ohne den Sessel zu verlassen, konnte sie in fremde Welten eintauchen und neuen Gedanken folgen.

Aber der Professor brachte ihr nicht nur das Lesen, sondern auch das selbstständige Denken bei. Er legte ihr nahe, verschiedene Sichtweisen einzunehmen, kritisch zu sein und genau zuzuhören. Diskussionen mit ihm glichen einem Abenteuer, nichts davon hatte mit Standesdünkel zu tun. Es gab kein Richtig und kein Falsch, kein Sollen und Müssen, keine Themen, die für eine Lady nicht angemessen waren. Ohne den Professor wäre ihre Kindheit weitaus trostloser ausgefallen.

Bei diesen Erinnerungen an ihren alten Hauslehrer wurde Lizzie warm ums Herz. In all der Zeit war er ihr Vertrauter geblieben. Auch wenn sie sich nicht sehr oft sahen, spürte sie noch immer sein Wohlwollen. Ganz gleich wie verloren sie sich fühlte, nach einem Briefwechsel mit dem Professor sah sie die Welt wieder klarer.

Ob er noch immer in Oxford Literaturwissenschaft unterrichtete, wie er es tat, seit Lizzie keinen Hauslehrer mehr benötigte? Sie wusste, dass er nicht nur Vorlesungen über Literatur hielt, sondern selbst welche verfasste. Kleine Schätze und philosophische Ausflüge, die für sie einen ganz eigenen Wert hatten. In regelmäßigen Abständen veröffentlichte er als ehemaliges Bloomsbury-Mitglied seine Werke bei Hogarth Press, dem Verlag von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard. Die letzte Veröffentlichung lag zwei Jahre zurück. Demnach müsste bald ein neues Buch anstehen.

Beschwingt griff Lizzie nach ihrem Koffer und beförderte ihn auf das Bett, denn etwas Gutes hatte ihre Rückkehr: Sie würde den Professor treffen.

4. Kapitel

Oxford, Februar 1921

Die Fahrt nach Oxford tat Lizzie gut. Sie fuhr den Wagen selbst, wie sie es im Krieg gelernt hatte, als der Chauffeur eingezogen wurde.

Mit Höchstgeschwindigkeit bretterte sie mit dem Rolls-Royce, einem himmelblauen 1910er Cabriolet, durch die Landstraßen. Es war viel zu kalt, doch für einige Meilen klappte Lizzie das Dach ein. Sie legte den Kopf in den Nacken, bewunderte einen Moment lang das Lichtspiel der nackten Äste der Bäume auf wolkenlosem Hintergrund und genoss den eisigen Wind, der auf ihre Wangen peitschte.

Als sie in Oxford eintraf, war sie etwas zu früh dran, und so schlenderte sie durch die Cornmarket Street und erfreute sich an den historischen Bauwerken und dem Duft des Blumenmarkts. Ließ man die Altstadt hinter sich und folgte der frequentierten St. Giles’ weiter nach Norden, so passierte man Eagle & Child, den Lieblingspub des Professors. Danach folgten die Wohngebiete, wo alle Häuser derselben harmonischen Bauweise entsprangen.

Mr. Moore wohnte in einem der roten Backsteinhäuschen an der Northmoor Road.

»Wenn das nicht eine Überraschung ist! Und gerade rechtzeitig, ich habe soeben Teewasser aufgesetzt. Du meine Güte, die Zeit scheint davonzurennen. Sie sind ja eine richtige gestandene Frau.«

»Wohl nicht so gestanden, wie mir lieb wäre«, entgegnete Lizzie mit einem verlegenen Lächeln.

Der Professor wirkte hingegen um keinen Tag gealtert. Man merkte ihm an seinem leicht abgetragenen, aber gepflegten Kleidungsstil und dem zugewandten Blick durchaus den Collegeprofessor an. Dieselbe Tweedjacke mit Pullunder und Cordhose hatte er schon vor fünfzehn Jahren als Hauslehrer getragen. Das Haar war noch nicht komplett ergraut, sondern überwiegend dunkelblond. Hinter dicken Brillengläsern musterten sie wachsame Augen. Lachfältchen hatten sich in die Haut geschrieben, doch ein jungenhaftes Grinsen umspielte die schmalen Lippen.

Schon im Flur merkte Lizzie, wie die Anspannung von ihren Schultern wich und ein wohliges Prickeln sie erfasste. Wer das Haus des Professors betrat, verlangsamte automatisch seine Schritte, ging gemächlicher und bedachtsamer, erfüllt vom Geruch alter Bücher, von Tee, Staub und Pfeifentabak. Die verbogenen Regalbretter quollen über mit Folianten und Kuriosa, auf jeder freien Möbelfläche und gar auf dem Boden stapelten sich weitere Bücher. Es war die reinste Schatzhöhle.

Im Kamin knisterte ein Feuer, daneben stand ein Ohrensessel mit einer senfgelben Decke. Auf dem Beistelltisch lag eine aufgeschlagene, jedoch unvollständige Zeitung. Eine alte Angewohnheit. Der Professor sortierte sie morgens vor und sparte sich die interessanten Artikel für den Nachmittag auf. Eine Kopie des Steins von Rosette lag neben dem Kamin, auf dem Sofa eine antike Drehleier.

Offene, mit Stecknadeln versehene Karten, Kunstwerke, Fossile und Werkzeuge von Urvölkern bezeugten Tom Moores weite und gefährliche Reisen. Überall standen kleine, eingerahmte Fotografien. Eine zeigte ihn auf dem Kilimandscharo, eine andere bei Ausgrabungen auf Capri, eine dritte im Tal der Könige. Interessiert nahm Lizzie das Foto von der Kommode und schaute es sich genauer an.

»Wie ich sehe, hat Sie das Reisefieber wieder gepackt. Das ist neu, nicht wahr?«, fragte sie.

»Das haben Sie knapp verpasst, ja«, bestätigte der Professor, während er hinter sie trat, um ihr den efeugrünen Mantel abzunehmen.

»Und der Herr, der bei Ihnen steht?«

»Das ist Howard Carter, ein Ägyptologe und Forscherkollege. Leider kam es später zu einem fürchterlichen Streit mit unserem Geldgeber, Lord Carnarvon. Er ist der Ansicht, dass das Tal der Könige schon ausgeschöpft sei, da wir längere Zeit nichts Nennenswertes mehr gefunden haben.«

»Aber Sie und Mr. Carter teilen diese Meinung nicht«, schlussfolgerte Lizzie aufgrund des gedehnten Klanges seiner Stimme.

»O nein«, entgegnete er mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Er ist da drin. Irgendwo in den Tiefen der Grabschächte. Ich weiß es.«

»Wer?« Vorsichtig nahm Lizzie die Drehleier vom Sofa und setzte sich, während sich der Professor auf dem Sessel gegenüber niederließ und seine Pfeife stopfte. Ein angenehmer, würzig-süßer Duft entfaltete sich, als er sie anzündete.

»Tutanchamun. Ein junger Pharao aus der 18. Dynastie.« Mit ansteckender Überzeugung erläuterte er seine Theorien und zeigte ihr Baupläne und Kopien von Inschriften. Lizzie lehnte sich zurück und ließ sich von seinen Erzählungen einfangen.

Beim schrillen Pfiff des Teekochers schnellte der Professor in die Höhe. »Der Lapsang Souchong ist immer noch Ihr Lieblingstee? Wie trinken Sie ihn, mit etwas Milch und Zitrone?« Er schlängelte sich hinter ihrem Sofa durch.

»Pur bitte.«

»So ist’s richtig.« Seine starke Hand fiel beim Vorbeigehen anerkennend auf ihre Schulter. Schon klapperten in der Küche Tassen, und eine Dose ploppte auf.

»Werden Sie bald wieder nach Ägypten reisen?«, rief Lizzie durch den Raum und deutete erneut auf das Foto, als er zurückgekehrt war.

»Nächstes Jahr vielleicht«, antwortete er. »Vorher stehen andere Pläne an. Und Sie, Lizzie? Wie ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Greifen Sie nach den Sternen wie die Freigeister von Greenwich Village?«

Ihr Zögern reichte. Sein Lächeln verschwand, und er stellte seine Tasse wieder ab. »Was ist los?«

»Es stimmt. New York kann sehr modern sein. Nur hätte ich nicht damit gerechnet, in ein Unternehmen mit solch visionären und innovativen Ansichten einzuheiraten, das sich gleichzeitig im privaten Kreis so konservativ und patriarchalisch gibt.« Erregt griff sie zu ihrem Zigarettenschächtelchen. »Sie erlauben?«

»Nur zu.« Er nickte und beugte sich zu ihr, um ihr Feuer zu geben.

Sie nahm einen tiefen Zug und seufzte. »Offen gestanden habe ich nicht vor zurückzukehren.«

In kurzen, emotionslosen Sätzen unterrichtete sie den Professor über ihre Trennung. Er hörte ihr schweigend zu, stellte ab und an eine Verständnisfrage und nickte betroffen. Empörung und Verwunderung suchte sie in seinen Gesichtszügen vergeblich.

»Ich habe alles versucht, Mr. Moore, das dürfen Sie mir glauben«, zog sie kopfschüttelnd ihr Resümee. »Ich habe gelächelt und geheuchelt, mich elegant gekleidet, an endlosen Tischgesellschaften ausgeharrt, mich mit seinen Freunden zum Golf und Tennis getroffen und ihnen auf dekadenten Partys geduldig zugehört, wenn sie mit ihren Investitionen prahlten. Natürlich habe ich mich um Kontakte bemüht, aber es war eine Gesellschaft, die sich mir komplett entzog. Sie belächelten meine Interessen nur und meinten, diese hätten in einer modernen Welt nichts zu suchen. Und irgendwann habe ich es ihnen geglaubt.« Lizzie schluckte. »In New York habe ich aufgehört zu lesen, aufgehört zu existieren. Dass mein Mann meiner schon nach kurzer Zeit überdrüssig war, damit hätte ich mich arrangieren können. Aber seine Kontrollsucht, diese Fremde im eigenen Haus … Ich …« Plötzlich konnte sie kaum an sich halten. »Ich musste einfach davonlaufen.«

Sofort sprang der Professor auf, um sich neben sie zu setzen. Etwas unbeholfen fischte er sein Taschentuch aus der Hose, vergewisserte sich, dass es sauber war, und reichte es ihr.

Lizzie nahm es dankend an und klammerte sich schluchzend daran fest. Der Professor legte den Arm um sie und blickte durch die leicht verschmierten Brillengläser zu ihr, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Natürlich mussten Sie das. Die Familie Ihres Mannes hört sich, gelinde gesagt, schrecklich an. Ich weiß, wie klug Sie sind. Ein Geist wie der Ihre darf nicht eingesperrt sein, sonst verkümmert er. Es wäre ein Jammer, würden Sie resignieren und die nächsten fünfzig Jahre im Morast Ihrer Pflichten versinken.«

Sein Verständnis wirkte wie Balsam. »Oh, warum bin ich nicht schon eher zu Ihnen gekommen? Nie hatte ich mich getraut, mit jemandem über meine Eheprobleme zu sprechen. Wenn doch, dann hörte ich nur, dass ich mich nicht so anstellen solle und das schon schaffen würde.«

»Aber es ist genauso in Ordnung, es nicht zu schaffen. Sie sind eine starke Frau, Lizzie. Dass Sie gegangen sind, zeugt nicht von Schwäche, im Gegenteil. Denn es braucht sehr viel Mut, den Ehemann zu verlassen.«

»Danke«, flüsterte sie. Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Eine stumme Träne rann ihre Wange hinab und hinterließ einen dünnen Streifen verschmierter Schminke auf ihrer Haut.

Beide schwiegen, bis Lizzie einen letzten Zug von ihrer Zigarette nahm und sie ausdrückte. »Da hatte es kurz, bevor ich gegangen bin, diesen Moment gegeben, als ich allein in einem Café saß und überlegen musste, ob ich mir zum Tee ein Stück Kuchen leisten konnte. Ich, die Tochter eines Aristokraten, die Kleider von Lady Duff Gordon und Worth trägt, deren diamantbesetzte Armreifen dem Jahresgehalt eines Arbeiters entsprechen – besitze ohne das Wohlwollen meines Mannes nicht einen Penny. Nun bin ich gefallen. Was bin ich jetzt noch wert?«

»Fallen ist keine schlimme Sache, wenn man wieder auf den Füßen landet, und das werden Sie. Haben Sie Zuversicht. Vertrauen Sie auf sich und Ihre Instinkte. Und was Ihren Wert angeht … Eines Tages werden Sie einem Menschen begegnen, der diesen erkennt. Der sich bewusst ist, wie kostbar Sie sind. Denn Ihr Herz ist größer als das gesamte Empire.«

Gerührt drückte sie seine Hand. »Nur fürchte ich, diese Person niemals zu treffen. Ich fühle mich so verloren, so alleingelassen mit meinen Interessen. Seit ich wieder in London bin, habe ich meinen Freundinnen von früher geschrieben. Mit ein, zwei habe ich mich getroffen. Sie leiten ihre Herrenhäuser, und wenn sie nicht gerade im Wochenbett liegen, sind sie mit der Planung einer Wohltätigkeitsveranstaltung beschäftigt. Unsere Träume sind verblasst, unser Aufbegehren nichts weiter als Jugendsünden, die schon Jahre zurückliegen. Es sind nicht mehr dieselben Menschen. Die Welten, in denen wir uns bewegen, sind zu verschieden. Als liederliche Person werde ich immer das schwarze Schaf der Gruppe sein.«

Der Professor sah sie aus so tieftraurigen Augen an, als wäre er ebenso von ihrem Schmerz betroffen wie sie. »Sie sind, wer Sie sind. Das ist nichts, wofür Sie sich schämen müssen. Wenn das Ihrem Umfeld missfällt, ist es der falsche Umgang für Sie.«

»Wenn ich nur der Welt entspringen könnte«, hauchte sie sehnsüchtig.

Plötzlich erhellte sich sein Gesicht. »Interessant, dass Sie von ›Entspringen der Welt‹ reden. Ich forsche seit geraumer Zeit an einer Figur, die Ihnen gefallen könnte. Mein neuestes Buch handelt von Lilith, Adams erster Frau. Sie floh aus dem Paradies. Der Roman befasst sich mit ihren Abenteuern, die sie danach erlebt.«

»Und das sagen Sie jetzt?« Rasch wischte Lizzie sich die Tränen aus den Augen. Bücher waren weitaus spannender als der Scherbenhaufen ihrer Träume. Bücher, darüber konnte sie immer sprechen, einerlei wie belastet ihr Gemüt war.

»Wie wird der Titel lauten? Hat Mrs. Woolf schon einen Pressetext aufgesetzt? Und wann wird der Roman erscheinen?«

»Sachte, sachte. Darüber lassen Sie uns später in aller Ruhe reden. Wie gut ist Ihr Französisch?«

»Excellent, pourquoi demandez-vous?«

»Ah, ich sehe schon. Die Aussprache scheint mir zwar etwas eingerostet, aber durchaus solide.«

Amüsiert zwinkerte sie ihm zu. »Ich gehöre auch nicht zu denen, die Norwegisch lernen, nur um Ibsen zu lesen.«

Der Professor lächelte und benetzte seine Lippen. »Die Sache ist die. Ich nehme mir für das kommende Semester eine Auszeit. Ende März steht für besagtes Buch nämlich eine Lesung an.«

»Ja?«

»Es erscheint auf Englisch und Französisch zugleich. Die Lesung findet in Paris statt. Hätten … hätten Sie Lust, mich dorthin zu begleiten? Ich würde Sie einladen.«

Erstaunt horchte Lizzie auf. Sie war seit Jahren nicht mehr in Paris gewesen. Zuletzt unmittelbar vor dem Krieg, um eine Nobelschule zu besuchen – die allem Anschein nach nichts gebracht hatte. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie sich die bevorstehende Reise ausmalte.

In Paris hatte sie sich das erste Mal frei gefühlt. Sie hatte es geliebt, abends mit ihren Mitschülerinnen auszugehen, heiße Schokolade im »Les Deux Magots« zu trinken und mit den Jungs im »Ball Bullier« zu flirten. Sie liebte das linke Ufer der Seine, die Quais und die Bouquinisten, die in ihren grünen Läden so manche Bücherschätze verbargen. Das alles tauchte nun so lebendig vor ihrem inneren Auge auf, dass sie ihre Antwort kannte.

»Ja, ich würde mich sehr freuen mitzugehen.« Sie zog die Schultern hoch und kicherte übermütig wie ein junges Mädchen, weil sie es selbst noch nicht fassen konnte. Sie, die ihr ganzes Leben lang kaum eine freie Entscheidung hatte treffen dürfen, entschied jetzt aus dem Stegreif, nach Paris zu gehen.

Der Professor rieb sich die Hände. »Wunderbar. Ich habe schon eine hübsche Pension auf der Île de la Cité im Auge. Ich würde Ihnen ein Zimmer zur Hofseite empfehlen, mit Aussicht auf einen kleinen Park. Hier, ich habe Prospekte.«

Und ehe sich’s Lizzie versah, planten sie ihre gemeinsame Reise. Ganz aufgeregt breiteten sie einen Stadtplan aus und listeten auf, was sie wann besuchen wollten und welche Termine der Professor einzuhalten hatte.

»Aber vielleicht sollte ich mein Französisch tatsächlich ein wenig auffrischen«, überdachte Lizzie nach einer Weile. »Können Sie mir eine Lektüre empfehlen?«

Als Antwort streckte der Professor seinen Arm in Richtung Bücherregale. »Es gibt für jede Lebenslage das richtige Buch. Sehen Sie sich ruhig um.«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie sprang auf und wanderte die Regale ab. Belletristik, Biographien, Sachbücher, alles geordnet nach Thematik und Sprache.

»Haben Sie die alle gelesen?«

»Wo denken Sie hin!«, antwortete er. »Aber beflügelt nicht allein die Tatsache, umgeben von diesen wunderschönen Geschichten zu sein und die Möglichkeit zu haben, sich jederzeit in ihnen zu verlieren?«

»Ja, das ist ein bezauberndes Gefühl«, stimmte Lizzie ihm zu.

Bei der französischen Literatur sammelten sich die Meister wie Zola, Gide und Balzac, doch nichts dergleichen sprach sie an. Da entdeckte sie einen Roman von Colette, und augenblicklich erfasste sie ein prickelnder Schauer. Die Französin schrieb so intelligent und trostspendend, dass sie zu ihren Lieblingsschriftstellerinnen gehörte.

Vor einigen Jahren hatte Lizzie mit großem Interesse verfolgt, wie sie um die Rechte ihrer Claudine-Romane kämpfte, die unter dem Namen ihres Ehemannes erschienen waren. Der hatte nämlich den ganzen Ruhm eingestrichen, und als sich Colette von ihm trennte, wollte er natürlich den Deckmantel des Schweigens über sein Vergehen legen, aber am Ende konnte sie sich von ihm befreien. Diese Frau war ein Vorbild. Sie ging unerschrocken ihren Weg, und es hieß, sie pflege zahlreiche Liebschaften. Mit Männern und Frauen gleichermaßen.

»Eine vortreffliche Wahl«, bestätigte der Professor, als sie Renée Néré in den Händen hielt. »Eine unglückliche Liebe, eine Frau, die gegen ihr Schicksal aufbegehrt. Einige Schriftsteller haben diese Thematik schon vorher aufgegriffen, doch bei Flaubert, Tolstoi und Fontane enden die Geschichten immer so deprimierend. Aber das hier ist anders. Es ist ganz offenkundig, dass es sich hierbei um Colettes Alter Ego handelt – verlässt ihren Mann und reist nach Paris, um Sängerin und Tänzerin zu werden. Wunderbares Französisch. Und diese Botschaft. Am Ende muss sie nämlich …«

Lizzie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Danke, Professor. Aber ich würde das Buch gern selbst lesen.«

5. Kapitel

London, Februar 1921

Lady Wellington versuchte indes, ihrer Tochter von dieser Reise abzuraten. »Elisabeth, ich ersuche dich«, sagte sie vehement, »kehre zu deinem Mann zurück, ehe sein Geduldsfaden unwiederbringlich reißt.«

Als sie damit jedoch auf taube Ohren stieß, hatte sie Einwände wegen der Schicklichkeit. Man könne doch nicht mit seinem Lehrer nach Paris fahren. Separate Zimmer hin oder her, so was gehöre sich einfach nicht. Sie wagte es gar, den Professor nach London zu zitieren.

Der arme Mr. Moore, er tat Lizzie wirklich leid. Als ehemaliger Angestellter musste er schon ohne die Querelen ihrer Mutter in einem Interessenskonflikt stehen. Doch er schien ihr tapfer die Stirn zu bieten, denn mehr als einmal wurde es laut im Salon.

Lizzie saß am Treppenaufgang und lauschte wie ein Kind dem Streit seiner Eltern, ohne genauere Einzelheiten zu verstehen, da öffneten sich die Türen, und Mr. Moore rauschte davon.

»Professor?« Sie eilte ihm hinterher.

»Nicht jetzt, Lizzie.« Er hob den Zeigefinger Richtung Salon. »Gehüllt in den Gifthauch dieser Lady ist mir derweil nicht nach Plaudereien zumute.«

Es erstaunte sie, wie sehr er um Beherrschung kämpfte. So wütend hatte sie ihn noch nie gesehen. Dazu brauchte es eine Menge. Dennoch bemühte er sich rasch wieder um einen freundlicheren Ton: »Lassen Sie uns doch beim Abendessen alles besprechen. Sagen wir um halb acht im ›Eiffel Tower‹?«