Hurenglück - Die Lilien von London - Tabea Koenig - E-Book
SONDERANGEBOT

Hurenglück - Die Lilien von London E-Book

Tabea Koenig

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein historischer Roman rund um Emily im viktorianischen London: Liebe, Verrat und Sehnsucht a la carte London, 1908: Auf der Schwelle in eine neue Epoche. Zur Londoner Saison reisen Emily, Liam und ihre Kinder in die Hauptstadt Großbritanniens. Was als gesellschaftliches Spektakel geplant war, endet im Fiasko. Während die älteste Tochter Margery in die Gesellschaft eingeführt und dem König vorgestellt wird, gewinnen militante Suffragetten den Sprössling Ines für ihre Zwecke. Und Victor, der einzige Sohn? Als er eine verbotene Liebschaft eingeht, gefährdet er dadurch die gesamte Familie. »Hurenglück – Die Lilien von London« ist der dritte Teil einer Romanserie aus dem viktorianischen England. Die ersten beiden Bände sind ebenfalls bei Piper Schicksalsvoll erschienen. »Hurenglück« ist auch ohne Kenntnis von Teil 1 und 2 lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Teil 2

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Teil 3

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

Epilog

Nachwort und Danksagung

Widmung

Für meine Mutter Maja Knapp, die einen unerschöpflichen Vorrat an Hoffnung, Liebe und Geduld hat.

Und für meinen Mann Leonard Koenig, der im Herbst 2014 mit mir zum ersten Mal nach Schottland reiste, und der damals noch nicht wusste, auf was er sich da einlässt.

Prolog

Ascot, Juni 1898

Ein lilafarbener, mit Federn verzierter Hut aus der Zuschauergalerie unter ihm kitzelte seine Nase und versperrte seine Sicht auf die Rennbahn.

Lord Atticus Fitzgerald unterdrückte ein Schnauben und beugte sich zur Seite. Von Jahr zu Jahr ähnelte das aufregendste Ereignis des Sommers mehr einer Modenschau als einem Pferderennen. Egal wohin Atticus blickte, buhlten Meisterwerke der Haute Couture um die größte Aufmerksamkeit. Es schien so, als müsse das Jahrhundert jetzt, da es sich allmählich dem Ende zuneigte, noch einmal so richtig dick auftragen. Frauen in hochtaillierten Kleidern, deren Gesichter unter weiten Hüten verborgen blieben, zierten die Armbeugen ihrer Ehegatten, während sie in ihren Ziegenleder- oder Seidenhandschuhen ergriffen applaudierten und sich von Kellnern mit Champagner verköstigen ließen.

Sie alle waren hier, um zu sehen und gesehen zu werden. Die Crème de la Crème Großbritanniens. Lord Atticus befand sich in einem Schmelztiegel voller Lords, Dukes und ehrenhaften Ladys. Und ein paar wenige nicht ganz so Ehrenhafte, wie er jetzt feststellte. Sein Blick fiel auf die Dame zu seiner Rechten, die Countess of Suthness.

Sie war eine achtunddreißigjährige schottische Adlige und eine Bekannte seiner Frau gewesen. Ihr kupferrotes Haar bildete einen magischen Kontrast zu ihren ozeanblauen Augen. Besonders gefiel ihm der eine gelbe Sprenkel. Schon immer hatte ihn ihre Erscheinung fasziniert.

Gerade donnerte eine Horde Jockeys die Rennbahn entlang, und die Countess stand auf, um ihr Pferd anzufeuern. Atticus schielte zu ihr hoch. Ein Windstoß schmiegte ihr Kleid sanft an ihren Körper. Darunter zeichneten sich äußerst wohlgeformte Kurven ab. Wie er dank seiner Ausschweifungen wusste, reichten die neumodischen Korsagen der Damen bis über die Hüften, und dementsprechend saß Atticus neben einer perfekten Sanduhr. Er schluckte und befeuchtete seine Lippen. Man merkte ihr ihre Vergangenheit nicht mehr an. Eine Frau, nun so anmutig verpackt, die einst in einem Bordell lebte …

Das lag natürlich weit zurück. So weit, dass es geradezu kleingeistig wäre, die Geschichte wieder aufzurollen. Man sagte ihr nach, dass sie sich in bewundernswerter Manier ihren neuen Pflichten hingab und dass sie ihre Bildungslücken sehr rasch aufzufüllen vermochte.

Trotz allem oder gerade deswegen spürte Atticus ein Ziehen in seiner Brust, wenn er sie traf. Im engen Korsett der gesellschaftlichen Konventionen frohlockte das Verderbliche umso mehr. Das war der Grund, warum Atticus aus den gefallenen Frauen ein Geschäft machte. Nicht offiziell natürlich. Er kümmerte sich um sie, half ihnen, eine geachtete Position zu erreichen, und als Gegenleistung kümmerten sie sich in so mancherlei Hinsicht um ihn. Den Aufstieg der Countess hatte er leider verpasst. Allzu gern wäre er ein solches Bündnis mit ihr eingegangen. Nun war sie Mutter dreier Kinder und aufgrund ihrer aufgeschlossenen Ehe nahezu unabhängig.

Mit Schmeicheleien wartete er ihr auf. Sie unterhielten sich gut, lachten und redeten über Belanglosigkeiten und Pferde, bis er sich sicher genug fühlte, das Parkett der trivialen Unterhaltung zu verlassen. »Sie sehen reizend aus, Lady Suthness. Ihr Lebenslauf erinnert mich an eine Märchenfigur. An die Geschichte von Cinderella. Natürlich nicht ganz. Im Gegensatz zum Märchen fehlt Ihnen hierfür ja auch der richtige Prinz.«

Der Übergang war ihr nicht entgangen. Etwas in ihren Gesichtszügen änderte sich. Auch wenn sie die Maskerade der Etikette aufrecht hielt, erkannte er in ihren Augen Verachtung. »Lord Fitzgerald, Sie sind wohl immer für einen albernen Scherz zu haben, wie es scheint.«

»Oh, ich scherze nicht, meine Liebe. Ich sage Ihnen nur geradeheraus, welch tiefe Bewunderung ich für Sie hege. Gewiss gäben wir ein gutes Gespann ab.«

»Das glaube ich weniger«, entgegnete sie unbeeindruckt. »Und noch etwas, Lord Fitzgerald. Ich bin nicht ›Ihre Liebe‹.«

Nein, das war sie offensichtlich nicht. Atticus hatte sich getäuscht. Sie schien über jede Versuchung erhaben. Es überraschte ihn selbst, wie schnell seine Bewunderung in Verachtung kippte. Eins war klar: Sie würde es noch bereuen, ihn zurückgewiesen zu haben.

London, November 1898

Eine kultiviertere und angesehenere Frau als Christine Pike musste erst geboren werden. Sie gehörte dank ihrer ersten Ehe mit Monsieur Gillard zu den reichsten und durch die zweite Ehe mit Chiefinspector John Pike zu den respektabelsten Frauen, die London zu bieten hatte. Als Grande Dame und Liebling der Gesellschaft zog sie auf magische Weise ihre Mitmenschen in den Bann. Einladungen in ihr Haus am Belgravia Square kamen einer Auszeichnung gleich, und betrat sie den Raum, wurde sie schnell von ihren Bewunderern umzingelt, als hofften ihre Mitmenschen, etwas von ihrem Glanz färbe auf sie ab.

Auch als sie mit ihren Söhnen das Kaufhaus Harrods betrat, blieb sie nicht lange unerkannt. Ihr wachsamer Blick hingegen fiel sofort auf die Maschine, die bis in die erste Etage reichte. Seit Wochen machte das Geschäft ein Geheimnis um dieses Konstrukt, während die Times die Bevölkerung mit wilden Spekulationen fütterte. Heute sollte die große Enthüllung folgen. Einige Damen pressten ihre Taschentücher an die Stirn, und Herren bekundeten ihre Bewunderung. Das Objekt der Stunde war eine mechanisch gesteuerte Treppe, die sich von selbst bewegte! Man musste nichts weiter tun, als sich auf eine Stufe zu stellen und sich von ihr hinauffahren zu lassen.

»Du lieber Himmel«, raunte Christine ihren Jungs zu. »Dieses Konstrukt sieht aus, als würde es direkt aus der Unterwelt stammen.«

»Nicht eher aus einem Roman von Jules Verne?«, ertönte die amüsierte Stimme von Mr. Ellis, dem Geschäftsführer. Sein dicker Bauch, die ewige Gesichtsröte und die stetige, aber sich oft abwechselnde Begleitung einer attraktiven Dame stellten seine hedonistische Veranlagung unter Beweis. Freudig schüttelte er Christines Hand. »Lady Pike. Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.«

Eine Adlige war Christine zwar nicht, doch die höfliche Anrede galt als selbstverständlich. Früher, als sie Monsieur Gillards Frau war, wurde sie »Madame« genannt, da klang das jetzige »Mrs. Pike« viel zu gewöhnlich. Die Verkäuferinnen, die sie bereits entdeckt hatten und ihre Bestellungen für sie bereithielten, huldigten ihr in ergebener Demut.

»Lady Pike, hier ist die Yardley Gesichtscreme, die Sie so lieben.«

»Lady Pike, in der Confiserie warten bereits die Veilchenpralinen auf Sie.«

»Lady Pike, das perlenbestickte Satintäschchen, welches sie bestellten, ist soeben eingetroffen.«

»Das kann warten, meine Damen.« Mr. Ellis schob Christine mit einem charmanten Lächeln an den Verkäuferinnen vorbei und brachte sie näher zur Rolltreppe. »Das müssen Sie einfach sehen, Lady Pike. Harrods ist weltweit das einzige Geschäft, das eine fahrende Treppe besitzt. Für ein noch aufregenderes Einkaufserlebnis.«

»Ich weiß nicht, Larry.« Tatsächlich spürte sie schon beim Anblick einen leichten Anflug von Schwindel.

»Ach kommen Sie, kommen Sie!« Mr. Ellis drängte Christine weiter, hielt ihre Hand, und auf drei traten sie gemeinsam auf die Stufe.

Christine wusste nicht, ob sie aus Angst oder aus Vergnügen schrie.

»Das, meine Liebe, ist die Zukunft«, sagte Mr. Ellis, während sie nach oben schwebten.

»Oh Larry, Sie verrückter Teufel.«

Oben angekommen, musste Mr. Ellis sie beim Auftritt auf den festen Boden stützen. Ein Kellner empfing sie sogleich mit einem Brandy.

»Der hier ist genau das Richtige für Sie, Lady Pike. Heute geht für jeden Besucher ein Brandy aufs Haus. Als Belohnung für ihren Mut und zur Beruhigung der Nerven.«

»Mit dem größten Vergnügen würde ich einen nehmen«, sagte Christine, ehe sie höflich verneinte. »Aber ich muss auf meine Gesundheit achten. Auf unsere Gesundheit.«

Und hier kam der Grund, warum Christine seit Wochen noch mehr strahlte als sonst. Ein unscheinbares Bäuchlein zeichnete sich unter ihrem marineblauen Nachmittagskostüm ab.

Dem aufmerksamen Mann wäre es schon früher aufgefallen, doch Mr. Ellis’ Blick zeugte von Überraschung. »Bei den Göttern, Lady Pike! Herzliche Gratulation.«

Christine strich über den Bauch. Ein Gefühl von Verlegenheit nahm plötzlich Besitz von ihr. »Und das in meinem biblischen Alter, stellen Sie sich vor!«

»Aber ich muss doch sehr bitten. Ihr Alter ist doch nicht biblisch«, widersprach Mr. Ellis ungeachtet der Tatsache. »Die beste Zeit steht Ihnen noch bevor!«

Auch mit vierzig Jahren war sich Christine die Wirksamkeit ihres Dekolletés bewusst. Natürlich würde sie mit Mr. Ellis das Gespräch über die Schwangerschaft nicht weiter vertiefen, denn das sparte sie für ihre Freundinnen auf. Was sie wirklich überraschte, war nicht ihr Alter, sondern dass sie überhaupt schwanger wurde. Denn seit vielen Jahren hieß es, sie sei unfruchtbar. Wenn überhaupt, dann war dies ihre Achillesferse. Darum war sie auch so dankbar, mit ihrem Mann trotzdem vor zehn Jahren eine Familie gegründet zu haben, wenn auch eine zusammengewürfelte. Der fünfzehnjährige Eddie stammte aus der Verbindung ihres Mannes mit seiner ersten Ehefrau. Mit seinen weichen Gesichtszügen glich er seinem Vater, nur den Lockenschopf hatte er von seiner leiblichen Mutter geerbt. Diese lebte aber schon seit vielen Jahren in Indien. Peter war zwölf und der Sohn ihrer verstorbenen Freundin Rosalie. Und nun war tatsächlich ein drittes Kind unterwegs. Eines, das in ihrem Leib heranwuchs. Einfach so.

Gelassen erlaubte sie ihren Söhnen, in der Süßwarenabteilung ihr Taschengeld auszugeben, während sie einige Bekannte entdeckte und sich in Gespräche vertiefte.

Doch schon bald erlosch ihr Frohmut, und ein kühler Windzug streifte sie, als sie einen gut gekleideten Herrn die Rolltreppe hinauffahren sah: Lord Atticus Fitzgerald. Prompt entdeckte er sie und steuerte auf sie zu. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sie höflich ignoriert.

Ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als er sie bei der Begrüßung zwischen den Schulterblättern berührte. Allein ihrer Erziehung verdankte sie ein halbherziges Lächeln. Atticus war ein charmanter, aalglatter Typ, der sich in eine gefährliche Muräne verwandeln konnte. Ein attraktiver Mäzen und Kunstsammler in ihrem Alter, der für ihr neuestes Projekt – eine Kunstgalerie in Whitechapel – nur Hohn und Spott übrighatte.

»Kunst im Armenviertel, das ist doch absurd. Kultur ist doch etwas für kultivierte Menschen, den höheren Kreisen bestimmt und ganz gewiss nicht dem Gesindel im East End. Die wissen das doch gar nicht zu schätzen, Mrs. Pike.«

Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in die Quere kamen. Im besten Fall konnte Christine Atticus als Konkurrenten sehen. Während sie seit sechzehn Jahren bei Spitalfields ein Frauenhaus führte und sich um eine anstrengende, manchmal auch ermüdende, aber durchaus lohnenswerte Reintegration ihrer Schützlinge bemühte, lockte Atticus die gefallenen Frauen ins Gaiety, seinem zweiten Standbein.

Nachdem der Schauspieler Seymour Hicks vor zwei Jahren verkündet hatte, dass das entschieden verruchtere Burlesque so tot wie ein Türnagel sei und nicht wiederbelebt werden könne, richtete sich aller Augenmerk auf das Gaiety. Nicht zuletzt, weil der Prince of Wales ein großer Befürworter der schönen Künste war. Wohlerzogene, wenn auch mittellose Frauen, aufgetaucht aus dem Nichts, verdrehten mit stilvollen Tänzen die Köpfe der Männer. In keiner anderen Branche war die Chance größer als hier, dass ein gutbetuchter Gentleman einer gesellschaftlich unterlegenen Frau einen Heiratsantrag machte. Zudem galt es als Sprungbrett für das noch viel seriösere, richtige Theater oder für den nächsten technischen Meilenstein: festgehaltene, sich bewegende Bilder, die man immer wieder aufs Neue abspielen konnte.

Christine kannte die Szene gut genug, um zu wissen, was sich hinter der Bühne abspielte. Als Mäzen versprach Atticus den jungen Frauen ein Leben im Rampenlicht, während er sie gleichzeitig gefügig machte. Sein Wort war das eines Gentlemans, sein Einfluss bestimmte den Markt und sein Geld öffnete sämtliche Türen, auch die der Umkleidekabinen. Wer gegen ihn aufbegehrte, verschwand von der Bildfläche, und die Karriere endete, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Über Nacht konnte Atticus ganze Namen aus dem Programm löschen.

»Wenn das nicht die reizende Mrs. Pike ist.« Er würde sie niemals als Lady bezeichnen. Ein Lächeln kroch über sein Gesicht. »Sie sind ohne Begleitung unterwegs?«

»Mit meinen beiden Söhnen«, antwortete sie gepresst.

»Ah, mit Ihren Söhnen. Bestimmt lesen Sie ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Haben Sie denn heute schon etwas gekauft?« Es war eine rhetorische Frage, die Antwort interessierte ihn nicht im Geringsten. Mit dem Arm machte er eine ausladende Bewegung, als würde die Modeabteilung ihm gehören. »Sehen Sie meine Tänzerinnen dort hinten? Heute spendiere ich ihnen alles, was sie haben wollen. Und was ist mit Ihren erretteten Frauen, Mrs. Pike? Sind heute welche hier, um dieses Spektakel zu bestaunen?«

Was für ein dummes Gerede, dachte Christine. Sie merkte, wenn sich jemand über sie lustig machte. Zu oft war sie seinem vermeintlichen Interesse schon aufgesessen. Er wollte sie bloß reizen. »Nein, sie sind nicht hier.«

»Wie schade«, sagte er in gespielter Bestürzung. »Sonst hätten wir unsere Schützlinge miteinander bekanntmachen können.« Er deutete nach vorn zu einer Traube von eleganten Damen, die scherzend und lachend Autogramme verteilten. Ihre Frisuren waren reichlich toupiert, vom Halswirbel aus hochgekämmt und zu einem monströsen Dutt geformt. Eine der Frauen bewunderte gerade einen sündhaft teuren Nerz, den die Verkäuferin ihr um die Schultern gelegt hatte. Ihre Rehaugen flehten Atticus an, er möge ihn ihr doch bitte kaufen. Atticus nickte mit einem gütigen Blick, und die Frauen schickten ihm kichernd Luftküsse zu.

Selbstgefällig wandte er sich wieder Christine zu. »Ich nehme an, Ihre Schützlinge können sich nicht einmal die Handschuhe von meinen leisten. Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass die elegante Lady Pike hier ein und aus geht, ohne ihnen etwas mitzubringen?«

»Ach, ärgern Sie doch jemand anders. Ich muss mir das nicht anhören«, sagte sie, ehe sie sich galant von ihm verabschiedete.

Etwas Erbostes blitzte in seinen Augen auf. Sie waren so dunkel wie Ölteiche. »Ich sehe schon. Wir zwei werden wohl nie Freunde.« Er tippte zum Gruß an seinen Zylinder, dann war er endlich fort.

Nur langsam konnte Christine die negative Energie, die sie in Gegenwart von Atticus befallen hatte, abschütteln. Doch bald gelang es ihr, wieder in ihrem Element zu versinken. Sie wollte schon die Treppe nach unten nehmen, da geschah es. All die darauffolgenden Jahre würde sie sich fragen, wie es passieren konnte. Wie ein kleiner Fehltritt ihrem Leben eine Kehrtwendung gab. Einen Moment glaubte sie, jemand hätte sie gestoßen. Doch ihre Gedanken wichen schlagartig einem Schrei, als sie haltlos hinunterfiel.

Die Schmerzen spürte sie erst, als sie ihr eigenes Blut sah und es sich unter ihrem Körper ausbreitete. Ehe sich ihre schlimmsten Befürchtungen als Gedanke manifestieren konnten, hatte der Schock die Geburt ausgelöst. Viel zu früh.

»Neiiin!«, rief sie, während sie gegen die Panik ankämpfte. Eddie, Peter und eine ganze Menschenmenge eilten ihr sofort zu Hilfe. Doch Christine wand sich vor Schmerz und Scham, ehe diese einem Schwindel wichen und sich Dunkelheit auf sie und das totgeborene Kind legte.

4. Kapitel

London, April 1908

»Ines, nimm den Ellenbogen vom Tisch!« In Emilys Stimme lag eine Schärfe, die das Mädchen sofort zu Gehorsam verpflichtete.

Liam wünschte, seine Frau wäre weniger streng zu den Kindern. Natürlich verstand er ihre Beweggründe. »Wir sind eine vorbelastete Familie. Außenseiter. Aber nun sind wir Teil der Gesellschaft. Und die Gesellschaft vergisst nicht. Wir müssen aus unseren Kindern das Beste machen, mit ihrem tadellosen Benehmen unsere Nachteile ausbügeln. Wir dürfen auf keinen Fall scheitern«, hatte sie einmal gesagt. Aber war dieser militärische Drill auch im engen Kreis der Familie nötig?

Für Liam war die Familie etwas Intimes. Hier am Tisch bei Emily, Christine und Pike sollte ein Refugium sein. Sie kannten sich schon so lange, hatten sich gegenseitig in ihren dunkelsten Stunden beigestanden sowie die schönsten Momente miteinander geteilt. Sie sprachen zu Tisch nicht über das Wetter und belanglose Trivialitäten, weil sie nichts anderes zu sagen wussten, sondern so, wie das Herz ihnen auf der Zunge lag. Hier traute sich auch mal ein stets so korrekter Chiefinspector Pike, einen über den Durst zu trinken oder eine Christine, einen unangemessenen Witz zu reißen. Dieses Privileg sollten auch seine Kinder haben.

»Wie laufen die Vorbereitungen für den Ball?«, fragte Emily. »Brauchst du noch Hilfe, Christine?«

»Alles ist organisiert. Das Einzige, was ihr tun müsst, ist gut gelaunt zu kommen und die ganze Nacht lang zu tanzen«, antwortete sie am anderen Ende des Tisches. Da das Haus am Belgravia Square mit all seinen Langzeitgästen und dem Personal aus allen Nähten platzte und die Familie über zweihundert Gäste eingeladen hatte, nutzten sie für den großen Abend die Räumlichkeiten von Lord Shackleton VIII. Dieser pflegte nämlich der Londoner Saison alljährlich zu entfliehen, indem er im Frühling und Sommer aufs Land und im Winter in die Stadt zog.

»Das hört man natürlich gern«, antwortete Liam, und schwenkte das Glas in ihre Richtung. Als Mann, der seine Emily über alles liebte, konnte er ohne Hintergedanken feststellen, dass Christine einfach atemberaubend aussah. Während Emily deutlich die Natürlichere der beiden war, liebte Christine das Dekadente. Auch jetzt trug sie ein smaragdgrünes Abendkleid aus Samt und schwarzer Spitze.

»Ich habe übrigens auch freibekommen«, verkündete Pike. »Es war zwar eine Zangengeburt, aber schlussendlich konnte ich mich durchsetzen. Whitechapel kommt auch einmal einen Tag ohne uns aus.«