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Ein Mann, listenreich, doch nicht heimtückisch. Ein Rachefeldzug, so raffiniert wie witzig.
Stellen Sie sich vor, Sie kommen in ein Dorf - und keiner mag Sie.
Der Brückenbaumeister Akseli Jaatinen soll in der finnischen Provinz eine Brücke bauen. Jaatinen ist auf den ersten Blick kein Sympathieträger - auf jeden Fall nicht bei der Dorfprominenz.
Die boshaften Dorfoberen wollen ihn loswerden - doch Jaatinen weiß sich zu wehren. Scheinbar am Boden, plant er mit raffinierten Tricks seine Rache ...
Eine entlarvende Satire über das Dorfleben und Politik - von Arto Paasilinna, dem vielfach ausgezeichneten Meister des skurrilen Humors
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Seitenzahl: 219
Stellen Sie sich vor, Sie kommen in ein Dorf - und keiner mag Sie. Der Brückenbaumeister Akseli Jaatinen soll in der finnischen Provinz eine Brücke bauen. Jaatinen ist auf den ersten Blick kein Sympathieträger - auf jeden Fall nicht bei der Dorfprominenz. Die boshaften Dorfoberen wollen ihn loswerden - doch Jaatinen weiß sich zu wehren. Scheinbar am Boden, plant er mit raffinierten Tricks seine Rache …
Arto Paasilinna wurde 1942 im lappländischen Kittilä/Nordfinnland geboren. Er ist Journalist und einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Inzwischen hat er rund 40 Romane mit großem Erfolg veröffentlicht, von denen einige verfilmt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Auch bei uns erwarten die Fans jedes Jahr ungeduldig eine neue skurrile Geschichte vom finnischen Kultautor.
Arto Paasilinna
Die Rache des glücklichen
Mannes
Roman
Aus dem Finnischen vonRegine Pirschel
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Erstausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © Arto Paasilinna and WSOY
First published by Weilin+Göös in 1976 with the Finnish Title Onnellinen mies
Published by arrangement with Bonnier Rights Finland, Helsinki.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1997 by Arto Paasilinna, Finnland
Titel der finnischen Originalausgabe: Onnellinen mies
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2002/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: FAVOURITBUERO, München unter Verwendung von Motiven © shutterstock: AKaiser | Ramona Kaulitzki
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3151-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Da war eine alte Holzbrücke, die über einen schwarzen Fluss führte. Den Fluss nannten die Einheimischen Blutfluss und die Brücke Blutbrücke, und der Grund dafür war, dass während des Bürgerkrieges an jener Stelle folgender Kampf stattgefunden hatte:
Von Norden war eine Maschinengewehrkompanie der Weißen angerückt, um die Brücke zu erobern, die von den Truppen der Roten gehalten wurde. Die Roten hatten sich am Südende der Brücke hinter der Uferböschung verschanzt und leisteten mehrere Stunden lang erbitterten Widerstand. Aber die Angreifer hatten ihr Maschinengewehr so ausgerichtet, dass sie mit seiner Hilfe das Gelände kontrollieren konnten, und so gingen sie als Sieger aus dem Kampf hervor.
Am Abend jenes lange zurückliegenden Tages drangen die Weißen nach heftigem Beschuss auf die Brücke vor, und viele Rote wurden ihre Gefangenen, etliche ließen ihr Leben. Während jener entscheidenden Augenblicke war der Zugführer der Roten, ein Mann namens Vornanen, auf die Brücke gelaufen, wo er zur Zielscheibe des Maschinengewehrs geworden war. Der Überlieferung zufolge hatte Vornanen, in seinem Blut liegend, noch mit sehr lauter Stimme geschrien:
»Die kommenden Generationen werden unser Blut rächen!«
Eine andere Version besagt, Vornanen habe vor seinem Tod Folgendes gerufen:
»Diese Gemeinde wird noch einmal vor den Roten auf Knien liegen, und vorher wird das Blut, das jetzt fließt, hundertfach gerächt!«
Die Weißen nahmen die Brücke in Besitz, spießten den blutüberströmten Vornanen mit dem Bajonett auf und warfen ihn in den Fluss; es wird erzählt, ein Bauernsohn namens Jäminki aus derselben Gemeinde habe diese letzte Tat verübt. Von da an wurde die Brücke also Blutbrücke und der Fluss Blutfluss genannt. Der Strom riss Vornanens Leiche mit sich, sie wurde niemals gefunden, sofern überhaupt nach ihr gesucht wurde, und mit den Jahren verblasste die Erinnerung an dieses blutige Ereignis.
In den dreißiger Jahren fanden auf der Brücke Tanzveranstaltungen statt, und manchmal prügelten sich die jungen Männer des Dorfes dort zum Zeitvertreib, wobei häufig auch der Dolch zum Einsatz kam.
Während des Zweiten Weltkrieges patrouillierte Eemeli Jäminki, ein Mitglied des Schutzkorps und der reichste Bauer der Gemeinde Kuusmäki, mit geschultertem Gewehr auf der Brücke. Er war Vorsitzender des Wohlfahrtsausschusses und brauchte somit nicht an die Front, doch militärisch aufgeklärt, wie er war, wollte er dennoch seine Kraft in den Dienst des Staates stellen. So stand er denn fast während des ganzen Krieges auf der Brücke und bewachte sie. Vor allem fürchtete er, Fallschirmjäger könnten auftauchen und die Brücke anzünden oder sprengen, doch war er sich auch noch einer anderen Gefahr bewusst, und so spähte er häufig besorgt zum Himmel, ob vielleicht Bomber der Roten Armee die kleine Holzbrücke angreifen wollten. Er forderte sogar ein Luftabwehrgeschütz zur Verteidigung der Brücke, doch das wurde ihm nicht bewilligt. Die ständige Sorge um die eventuelle Gefahr aus der Luft ließ Jäminkis Gesicht während jener Kriegsjahre faltig, ja regelrecht hart werden.
Nach dem Krieg flutete ein wachsender Verkehr über die Brücke, und unter ihr strömte der Fluss und transportierte ungeheure Mengen schwarzen Wassers zum Meer. Im Laufe der Jahre ließ dieses Wasser die Holzkonstruktion der Brücke faulen und so morsch werden, dass nur noch mittelschwere Lastwagen gefahrlos passieren konnten. Kommen wir schließlich zur Gegenwart und zu jenem Frühlingstag, an dem ein hoch gewachsener Mann die Brücke betrat.
Es war der Brückenbauingenieur Akseli Jaatinen.
Ingenieur Jaatinen, sechsunddreißig, lehnte sich an das alte Geländer und blickte in das schwarze Wasser. Es war ein Morgen gegen Ende März, und aus dem Fluss stieg rätselhafter Nebel zur Brücke auf, sodass der Mann fast darin verschwand. Doch da es bereits hell war, konnte man sein Äußeres erkennen. So sah er aus:
Dickes Haar, eine große Nase, in den Augen ein stechender Blick. Die nackten, riesigen Pranken ruhten auf dem Geländer, die Knöchel waren dick und die Gelenke breit, an seinen Hosenbeinen war zu erkennen, dass auch die Knie recht massiv waren. Ein zielstrebig, vielleicht auch ein wenig einschüchternd wirkender Mann, denn seine Augen, die jetzt ins Wasser starrten, lagen tief in ihren Höhlen. Es wäre dem Betrachter nicht eingefallen, das Gesicht dieses großen Mannes schön zu nennen, doch sah Ingenieur Jaatinen auch nicht unangenehm aus. Kein Mann wie jeder andere, das merkte man.
Auf der Busstation des Kirchdorfes hatte Jaatinen seinen Koffer in der Gepäckaufbewahrung abgegeben, hatte Kainulainen, dem Baumeister der Gemeinde, der ihn empfing, die Hand gegeben, und die Einheimischen, die die Busstation bevölkerten, hatten neugierig geschaut, wer da in ihrem Dorf aufgetaucht war: ein Ingenieur, der nicht mit dem eigenen Auto kam, sondern mit dem Linienbus wie ein mittelloser Fotovergrößerer. Aufgefallen war besonders Jaatinens Kleidung, die nicht im Entferntesten einem Studierten entsprach: Der Mann trug seine grüne Windjacke offen, darunter war ein kariertes Flanellhemd zu erkennen. Keine Krawatte, kein Jackett …, und seine Füße steckten in langschäftigen Gummistiefeln, die ungebügelte Hose war vom gleichen Stil.
»Diesen Mann würde man nicht für einen Ingenieur halten«, sagte die Inhaberin der Cafeteria, während sie Jaatinen hinterherschaute, der zur eingangs erwähnten Brücke strebte.
Grundlos war dieser in gewisser Weise eigenartige Mann nicht zur Brücke gekommen. Nachdem er eine Weile dort gestanden hatte, löste er sich vom Geländer, überquerte die Brücke von einem Ende zum anderen, sprang auf die Böschung hinunter und inspizierte die Unterkonstruktion; dabei stieß er einen Stein, der vor seinem Stiefel aufgetaucht war, ins Wasser, warum, das kann man nicht wissen. Dann zündete er sich eine Zigarette an, eine grüne North, und setzte sich auf die Balken des Widerlagers, um zu rauchen. Doch lange blieb er nicht in der Morgenkühle unter der nebligen Brücke sitzen. Er stand auf, spuckte die Zigarettenkippe aus, trat sie mit dem Stiefel in den Sand und ging wieder nach oben.
Ab neun Uhr trafen nach und nach andere Männer bei der Brücke ein, es waren gewöhnliche finnische Arbeiter in Arbeitskleidung. Jaatinen redete mit ihnen, fragte einen jeden, wo er vorher beschäftigt gewesen war, ein ganz normales Gespräch unter Männern.
Bis zehn Uhr hatten sich bei der Brücke schon mehr als zwanzig Männer versammelt. Aus dem Kirchdorf Kuusmäki kam noch vor dem Mittag ein schwerer Tieflader, auf seiner Ladefläche standen ein Bagger und eine Baubaracke. Bald erschien noch ein zweites Fahrzeug und brachte eine kleinere Baubude und weitere Arbeitsgeräte. Jaatinen zeigte den Fahrern die Plätze, die er ausgesucht hatte, sie entluden die Lasten und fuhren wieder davon. Die Zimmerleute stellten die Baracke und die Baubude auf Balken und richteten sie mithilfe einer Wasserwaage aus, sodass die Einrichtungsgegenstände hineingetragen werden konnten. Jaatinen ging zu der kleinen Bude, eine Rechen- und eine Schreibmaschine und ein Drehstuhl wurden ihm gebracht. Die übrige Einrichtung war eingebaut: an einer Seite ein Urkundenschrank, an der anderen das Bett, in einer Ecke ein Ölofen und eine Gasflasche. Über dem Bett hatte ein früherer Baustellenleiter Zeitungsfotos mit nackten Frauen angepinnt. Jaatinen riss die Fotos herunter, zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb; er sagte:
»Frauen haben sich hier nicht zu rekeln.«
Als er sein Büro eingerichtet hatte, rief er die Männer am Ufer zusammen und hielt eine kurze Ansprache:
»Ich bin Brückenbauingenieur Akseli Jaatinen und trage die Verantwortung für diese Baustelle. Wir errichten neben der alten Brücke eine neue, größere aus Beton, und wie euch bekannt ist, dauern die Arbeiten bis zum Herbst. Dann werdet ihr ausbezahlt, sodass sich jeder von euch darauf einstellen kann. Es soll nach Stunden abgerechnet werden, aber ich werde versuchen, jedes Mal wenn es sich ergibt, Akkord anzusetzen. Wählt aus euren Reihen einen Vertrauensmann, damit ihr euer Anliegen vorbringen könnt, falls es zu Differenzen kommt. Die Baustelle untersteht dem Straßenbauamt, das hier von mir vertreten wird. Heute ist der erste Arbeitstag, aber wir legen nicht gleich los, machen uns erst ein wenig mit den Örtlichkeiten vertraut. Morgen um acht fangen wir an, das Erdreich von der Böschung abzutragen, wir überprüfen die Markierungen, und einige von euch beginnen mit der Zufahrtstraße zur neuen Brücke. Ich kann hundsgemein werden, wenn man mir dazu Anlass gibt, aber auf den früheren Baustellen hat es nie einen Anlass gegeben. Ich habe mehr als dreißig Brücken und dazu einige Meilen Landstraße gemacht, Baustellen hatte ich also zur Genüge. Glaubt mir im Guten, wenn ich euch etwas sage, oder ich haue euch in die Schnauze.«
Die Männer lachten.
»Scheint ein ehrlicher Kerl zu sein«, sagten sie hinter seinem Rücken über Jaatinen.
Jemand entzündete am Flussufer ein Lagerfeuer. Die Männer ließen sich dort nieder, sie kochten Kaffee, rösteten Wurst und verzehrten ihren Proviant. Am Nachmittag kam Kainulainen, der Baumeister der Gemeinde, zur Baustelle. Er sah, wie die Männer am Feuer herumlagen, einige hielten ihre nackten Füße in den Fluss. Kainulainen ging zu Jaatinen in die Baubude, brachte ihm einige Papiere, unterhielt sich kurz mit ihm und fuhr dann mit seinem Auto ins Kirchdorf zurück.
Auf dem Gemeindeamt berichtete er, was er am Fluss gesehen hatte:
»Sie lagen nur herum. Dass die neue Brücke bis zum Herbst fertig wird, können wir wohl vergessen. Der Ingenieur scheint ein komischer Kerl zu sein, verbrüdert sich gleich am ersten Tag mit den Arbeitern.«
Die Mitarbeiter im Gemeindeamt wirkten besorgt. Jemand sagte, es sei Pech für die Gemeinde, dass ein solcher Mann mit dem Brückenbau beauftragt worden sei, nachdem man jahrzehntelang gewartet habe.
»Heutzutage gibt es die unmöglichsten Typen«, konstatierte man.
Am nächsten Tag ging es gleich morgens an die Arbeit. Die Männer trugen mit Spaten die Erdschicht von den Uferböschungen ab, der kleine Bagger kam ihnen zu Hilfe, die Markierungen wurden überprüft. Zwei Lastwagen fuhren das abgetragene Erdreich ab. Gegen Mittag wurde zum ersten Mal Felsgrund für die neue Straße weggesprengt.
Jaatinen genoss den Frühling und die Tatsache, dass die neue Arbeit in Gang kam. Die Männer auf der Baustelle gingen ebenfalls frisch zu Werke. Sie hatten einen gewissen Manssila, einen Zimmermann, zu ihrem Hauptvertrauensmann gewählt; er war Kommunist, Mitglied des Gemeinderates, um die Fünfzig. Er berichtete Jaatinen, dass der Winter hart gewesen sei, Arbeitslosigkeit habe die Männer im Dorf heimgesucht. Der Bau der neuen Brücke sei von ihnen sehnsüchtig erwartet worden, und so seien sie jetzt froh, dass es endlich losgehe und ihre Existenz wieder besser gesichert sei.
»Die Kommune hat im Winter keine einzige eigene Arbeitsmaßnahme durchgeführt«, erklärte Manssila. Baumeister Kainulainen und Gemeindevorsteher Jäminki hätten um Weihnachten zu den Arbeitslosen gesagt, die Gemeinde habe keine eigenen Mittel, um für Beschäftigung zu sorgen.
»Wir sind dann mit einer Abordnung nach Helsinki gefahren und haben schließlich diesen Brückenbau mit Geldern des Staates durchsetzen können. Aber viele Männer sind während des ganzen Winters arbeitslos gewesen.«
Es ging rasch voran, denn Jaatinen berechnete den Männern vieles nach Akkord, waren sie doch so lange Zeit arbeitslos gewesen. Alle waren eifrig bei der Sache, und eine Woche nach Beginn der Arbeiten konnten die Zimmerleute bereits die ersten kleineren Verschalungen machen. Baumeister Kainulainen erschien hin und wieder, um den Fortgang der Arbeiten zu beobachten, obwohl ihm diese Art der Einmischung in keiner Weise zustand. Es war zu sehen, dass ihn die aufgeräumte, fröhliche Stimmung auf der Baustelle ein wenig ärgerte, hatte er doch gleich am ersten Tag darüber geschimpft, dass der neue Ingenieur die Männer müßig am Ufer herumliegen ließ. Das flotte Arbeitstempo entzog jetzt diesen Aussagen den Boden. Kainulainen betrachtete Jaatinen mit Widerwillen und erzählte im Dorf, dass die Leute am Fluss von einem Extrem ins andere gefallen seien: erst werde herumgelegen, dann werde geschuftet.
»Als ich gestern Abend hinkam, saß der Jaatinen mit Manssila im Baubüro. Beide hatten eine Schnapsfahne. Sie haben uns aus dem Bezirksbüro einen versoffenen Bauleiter geschickt und extra einen Ingenieur, bloß wegen der einen Brücke, dabei gäbe es genug Baumeister. Er verbrüdert sich außerdem zu sehr mit den Arbeitern, das führt zu nichts Gutem.«
Jaatinen entging nicht, wie eifrig Kainulainen die Arbeit beobachtete. Einmal sagte er denn auch gutmütig zum Baumeister:
»Der Brückenbau scheint dich ja mächtig zu interessieren.«
Mit dieser Äußerung wollte er dezent zu verstehen geben, dass Kainulainens ständige Besuche auf der Baustelle nicht unbedingt nur willkommen waren. Kainulainens Interesse für den Fortgang der Arbeiten ging so weit, dass er zwischen den Männern herumlief, ihnen oft im Weg war und immer wieder seine Ratschläge anzubringen versuchte. Die waren zudem oft inkompetent, und das merkten die Männer, denn Jaatinen kam für gewöhnlich hinzu und gab seine eigenen Instruktionen.
»Jede Baustelle hat ihre besonderen Plagen«, sagte Zimmermann Manssila zu Jaatinen am Ufer.
»Wenn er nur nicht in den Fluss fällt«, erwiderte Jaatinen, während er Kainulainen beobachtete, der auf dem schwankenden Baugerüst herumlief.
»Ich würde es ihm gönnen«, murmelte Manssila.
Da ertönte ein Schrei und ein lautes Platschen, und als Jaatinen und Manssila noch einmal hinsahen, war Baumeister Kainulainen von der Bildfläche verschwunden. Er war tatsächlich in den Fluss gefallen. Die Arbeiten wurden unterbrochen, alle Männer rannten ans Ufer, um mit anzusehen, wie die Strömung den Baumeister erfasste. Er versuchte in seiner dicken Kleidung zu schwimmen, doch das frühjahrskalte Wasser ließ ihn so steif werden, dass er nicht gleich das Ufer erreichte, sondern hinter dem Balkenkasten der alten Brücke verschwand. Die Bauleute liefen am Ufer hinterher. Besonders große Eile legten sie dabei nicht an den Tag, wie Jaatinen bemerkte. Daraus ließ sich schließen, dass sich die einheimischen Arbeiter nicht viel aus Baumeister Kainulainen machten.
»Los, ziehen wir ihn an Land«, sagte Manssila schließlich und warf Kainulainen ein Seil zu. Der Baumeister griff danach und gelangte bald ans Ufer. Seine schweren Kleidungsstücke troffen, seine Zähne klapperten vor Kälte und seine Hand presste sich um die schwarze Aktentasche; er hatte sie also während der ganzen Zeit bei sich gehabt und war dadurch beim Schwimmen behindert worden.
Kainulainen schüttelte notdürftig das Wasser aus seinen Kleidern. Dann stieg er auf die Böschung, öffnete seine Aktentasche und goss das Wasser aus. Ein dickes Bündel nasser Papiere fiel ins Gras, außerdem nasse rote Socken und eine Krawatte. Kainulainen wrang seine Socken aus und breitete die Papiere auf dem Rasen aus, sie wurden vom Wind auseinander geweht, und die Männer mussten hinterherlaufen und sie einsammeln. Erde klebte an den Papieren, und sie wirkten kein bisschen trockener als vorher. Sämtliche Arbeiter der Baustelle hatten sich in einem großen Kreis um Kainulainen geschart und sahen ihm zu. Schließlich merkte er, dass seine Lage einigermaßen lächerlich war, er raffte seine Papiere zusammen, stopfte sie in die Aktentasche zu den Socken und klappte den Deckel so wütend zu, dass er sich einen Finger einklemmte, er fluchte und schlug die Tasche erneut zu.
»Ihr habt das Gerüst mit Absicht so gemacht, dass ich in den Fluss fallen musste«, blaffte er die umstehenden Männer an. Jaatinen bedachte er mit einem besonders wütenden Blick.
»Es war keine Absicht. Aber so ein Malheur passiert oft auf Baustellen, wenn sich dort Außenstehende aufhalten«, sagte Jaatinen.
»Außenstehende« – dieses Wort ärgerte Kainulainen maßlos. Er stapfte in seinen nassen Sachen und mit der nassen Tasche unter dem Arm zu seinem Auto, stieg ein, knallte die Tür zu und fuhr ab. Seit dem Tag ließ er sich nicht mehr auf der Baustelle blicken.
Auf dem Gemeindeamt ging Kainulainen von Zimmer zu Zimmer und erzählte allen, wie man ihn auf der Baustelle behandelt hatte. Man hatte ihn eindeutig mit Absicht in den Fluss gestoßen, hatte allerlei Anspielungen gemacht, ihn im Grunde genommen von dort vertreiben wollen. Und warum? Kainulainen war sich sicher, dass Jaatinen und seine Männer ihn deshalb nicht auf der Baustelle haben wollten, damit die Unfähigkeit des Ingenieurs und der Pfusch der Arbeiter nicht entdeckt werden würden, sondern für alle Ewigkeit im stummen Beton verborgen blieben. Die Korridore auf dem Gemeindeamt wurden nass von Kainulainens tropfender Kleidung, aber der Baumeister bemerkte es nicht, so erregt war er. Die Putzfrau lief mit dem Wischlappen hinter ihm her, um seine Spuren zu trocknen. Die Mädchen im Büro kicherten, wie es Mädchen in solchen Situationen zu tun pflegen.
Umso ernster waren Gemeindevorsteher Jäminki und Baumeister Kainulainen, als sie im Zimmer des Letzteren zusammensaßen und sich über den Ingenieur unterhielten. Am Ende ihrer Beratung beschlossen sie, das Bezirksbüro des Straßenbauamtes über den Vorfall zu informieren. Jäminki übernahm das Reden:
»Am ersten Tag haben sie auf der Baustelle nur rumgelegen und Würste am Feuer gegrillt, und jetzt arbeiten sie dort so schnell, dass wir fürchten, sie liefern Pfusch. Wir fragen uns, ob der Ingenieur überhaupt genug Eisen in den Beton tut oder ob er es womöglich auf eigene Rechnung weiterverkauft … Und den Bauinspektor unserer Gemeinde haben sie ins Wasser geschmissen. Das ist der jüngste Vorfall, ist eben erst passiert.«
Im Bezirksbüro wies man die Beschwerden zurück, man erklärte, Jaatinen sei in jeder Weise rechtschaffen, die Gemeinde habe keinerlei Grund zu Befürchtungen. Die Brücken, die Jaatinen gebaut habe, seien für finnische Verhältnisse wahrhaft vorbildlich, und auch international gesehen …
»Und sie riechen dort nach Schnaps. Außerdem macht sich dieser Ingenieur mit den Arbeitern gemein, einmal saß ein hiesiger Kommunist, den Namen lasse ich unerwähnt, dieser Kommunist also, der auf der Baustelle der Hauptvertrauensmann ist, saß mit dem Ingenieur einträchtig in der Baubude zusammen, und beide hatten eine Schnapsfahne. Sollte sich das Straßenbauamt nicht langsam für diese Zustände interessieren?«
Die Antwort aus dem Straßenbauamt lautete:
»Hören Sie mal, Jäminki, die Baustelle untersteht uns, und somit tragen wir die volle Verantwortung. Wir sind auch verantwortlich für die Moral und lassen uns selbst von den Leuten anhauchen, falls es dazu Anlass gibt. Mischen Sie sich nicht in Dinge ein, die nicht in Ihre Zuständigkeit fallen.«
Nach dem ergebnislosen Telefonat murmelten die beiden Kommunalbeamten:
»Überall wird man für dumm verkauft.«
»Die haben uns einen Teufel hergeschickt.«
In Jaatinens Baubude gab es keinerlei Komfort. Er versuchte, sich im Kirchdorf Kuusmäki eine bessere Wohnung zu besorgen, doch niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. Es schien, als hätte Jäminki die Einwohner davor gewarnt, den Ingenieur aufzunehmen. Jedenfalls herrschte in Kuusmäki plötzlich so große Wohnungsnot, dass er in seiner schmutzigen und engen Baubude hausen musste.
Da es dort keine Waschmöglichkeit gab, gewöhnte er sich an, morgens und abends im Fluss zu baden. Er watete nackt und nur mit einem Stück Seife bewaffnet in das dunkle Wasser, seifte sich von oben bis unten ein und planschte herum wie ein Flusspferd. Oft blieben auf der Brücke Passanten stehen, um zuzusehen, wie sich der große Mann im Fluss säuberte. In solchen Augenblicken stieß Jaatinen für gewöhnlich ein dumpfes Gebrüll aus, um so seinem Waschauftritt einen zusätzlichen dramatischen Effekt zu verleihen.
Eines Nachmittags hielt auf der Brücke ein schwarzes Personenauto, und ihm entstieg ein kleiner, untersetzter Mann. Es war der Pfarrer der Gemeinde Kuusmäki, Propst Roivas. Der betagte Propst beobachtete eine Weile den im Fluss herumbrüllenden Jaatinen und rief ihm dann zu:
»Ich bin Propst Roivas, guten Tag, Ingenieur Jaatinen!«
»Tag, Tag, Propst!«
Propst Roivas erklärte nunmehr in freundlichem, wenn auch strengem Ton, dass viele Mitglieder der Kirchgemeinde ungehalten seien über die Art und Weise, wie sich der Ingenieur sauber halte; sie fänden es unpassend, dass er sich nackt an einem öffentlichen Ort wasche, noch dazu zweimal täglich, im Hellen. Er müsse sich wenigstens eine Badehose anziehen, so Roivas.
»Ich denke hierbei besonders an die weiblichen Mitglieder meiner Gemeinde, und vor allem an die Jugend.«
Jaatinen erwiderte, er leiste schmutzige Arbeit auf einer Baustelle, es bringe ihm nichts, in der Badehose ins Wasser zu steigen, sondern nach dem schweren Arbeitstag verlange der ganze Körper nach sorgfältiger Reinigung.
»Die Kirchgemeinde Kuusmäki steht keineswegs auf dem Standpunkt, dass der Mensch nicht überall sauber sein sollte, sowohl geistig als auch körperlich, doch nichtsdestotrotz fordere ich Sie auf, sich zu bekleiden, wenn Sie in den Fluss gehen, oder vielleicht könnten Sie wenigstens so ein …, wie nennt man das gleich, also ein Handtuch für unten benutzen.«
»Frauen sind hier noch nicht aufgetaucht«, sagte Jaatinen.
»Bisher vielleicht nicht, ich weiß nicht …, aber dies ist eine öffentliche Brücke, und sie wird auch von Frauen benutzt. Es ist ungehörig, dass Sie sich nackt in einem öffentlichen Fluss waschen und dadurch womöglich ehrenhaften Frauen die Möglichkeit nehmen, diesen Verkehrsweg zu benutzen …, ich glaube sogar, dass sich schon jetzt viele Frauen geweigert haben, diesen Weg zu nehmen, denn im Dorf ist bekannt, dass Sie sich hier in sittlich fragwürdiger Form zeigen. Wir leben zwar in wilden Zeiten, aber ich möchte vermeiden, dass der allgemeine Sittenverfall hier in meiner eigenen Gemeinde noch begünstigt wird.«
»Muss man das Ganze denn nun wirklich so ernst nehmen?«, meldete Jaatinen im Fluss seine Zweifel an.
»Vielleicht erscheint Ihnen Ihr Handeln nicht so unerhört, wie es in Wirklichkeit ist. Ich kenne mehrere weibliche Mitglieder meiner Gemeinde, für die Ihr Anblick in diesem Aufzug eine große Erschütterung wäre. Sie sind anscheinend unter rauen Männern auf ihrer Baustelle gewöhnt an derlei Unsittlichkeiten, wie ich es mal nennen möchte, und Sie verstehen womöglich nicht den vollen Ernst der Angelegenheit. Ich muss in diesen Dingen streng sein und kann öffentliche Unsittlichkeit nicht dulden.«
Propst Roivas überlegte kurz, ehe er fortfuhr:
»Gott hat uns alle nach seinem Ebenbild geschaffen, aber das bedeutet nicht, dass dieses Bild öffentlich vor allen Leuten gezeigt werden muss.«
Jaatinen kletterte ans Ufer. Er betrachtete dieses Bild, trocknete es ab und verhüllte es dann mit Hemd und Hose. Als das grobschlächtige Gottesbild verhüllt war, rief Jaatinen dem Propst zu:
»Hören Sie mal, Roivas. Sie verstoßen während der ganzen Zeit gegen die Straßenverkehrsordnung. PKWs dürfen auf der Brücke nicht parken, Sie gefährden damit den Verkehr. Fahren Sie sofort weg, oder ich erstatte Anzeige gegen Sie. Was die Angelegenheiten der Kirchgemeinde angeht, so möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich weder Ihrer noch einer anderen Kirchgemeinde angehöre, sondern im Zivilregister geführt werde. Wenn Sie also sittliche Wünsche an mich haben, dann wenden Sie sich an die weltlichen Behörden.«
Jaatinen hatte gar nicht so boshaft werden wollen, aber irgendwie fielen ihm diese beleidigenden Worte einfach aus dem Mund.
Der alte Kirchenmann war tief gekränkt. Er stieg in sein Auto und murmelte vor sich hin: »Es ist ungeheuerlich …, Gott wird ihn strafen.«
Propst Roivas sagte sich, dass die Welt tatsächlich jede Moral verloren habe. Noch vor dreißig Jahren wäre es ausgeschlossen gewesen, dass sich jemand derartig aufführte. In den dreißiger Jahren hätte man solche Männer ohne viel Federlesens aus dem Verkehr gezogen, damals herrschte noch Ordnung im Land. Der Propst musste an seine Jugend denken, und eine gewisse Begebenheit aus den zwanziger Jahren fiel ihm ein. Als Abiturient war er in Helsinki aufgrund einer Wette nackt die Esplanade bis zum Restaurant Kappeli hinuntergerannt …, damals war allerdings Nacht gewesen …, und außerdem hatte er jenen weit zurückliegenden Vorfall mit dem himmlischen Vater durch Beten bereinigt. Beides ließ sich überhaupt nicht miteinander vergleichen; dieser Ingenieur war kein Kind mehr, sondern ein erwachsener Mann, wie man sehr wohl sehen konnte. Schauderhaft.
Die Arbeiten kamen in jenem Frühjahr gut voran. Jaatinen stellte fest, dass die Männer aus Kuusmäki ehrlich und fleißig waren. Sie wirkten nach außen hin still und unauffällig, konnten aber tüchtig zupacken. Da die Baustelle klein war, hatte man keine Kantine errichtet. Die Männer bereiteten sich in der Mittagspause selbst ihr Essen am Feuer und verzehrten es im Schein der Flammen; Jaatinen gesellte sich zu ihnen, und in diesen Ruhepausen lernte er seine Leute noch besser kennen.
Manssila, Gemeindevertreter und Vertrauensmann, erwies sich als der Korrekteste von allen. Er war ein sehniger Mann, auf seinem gefurchten Gesicht zeigte sich nur selten ein Lächeln, auch war er nicht sehr gesprächig. Doch er war es, der Jaatinen von der Vergangenheit der Brücke und von Vornanens Schicksal erzählte. Dabei stellte sich heraus, dass auch Manssilas Vater in jenem Kampf während des Bürgerkrieges verwundet worden war.
»Wir Kommunisten dieses Dorfes, und gewiss auch die anderen Linken, wir haben seit jenen Zeiten ziemlich viel auszustehen. Du kannst dir nicht vorstellen, Jaatinen, was für nachtragende Leute hier in Kuusmäki wohnen. Auch du solltest dich vor diesen Bauern in Acht nehmen.«
Ein anderer interessanter Mann war Pyörähtälä, jung und unverheiratet, ein langer und magerer Bursche, immer fröhlich, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Jaatinen befreundete sich von Anfang an mit ihm. Pyörähtälä war der intelligenteste Mann der Baustelle, vielleicht nicht allzu fleißig und auch nicht besonders sorgfältig, aber wann sind solche Männer je Arbeitstiere gewesen.
Die Baustelle lebte, sie war in Fahrt wie ein Zug. Fröhlich und munter ging es weiter bis zu einem Dienstag Mitte Juni; an dem es plötzlich einen jähen Umschwung in der Stimmung gab.
Schon morgens bemerkte Jaatinen, dass Pyörähtälä nicht mit den anderen zur Arbeit kam. Die Männer unterhielten sich leise über ihn, Jaatinen verstand nicht, was sie sagten. Allmählich kam die Arbeit jedoch in Gang.
Es vergingen ein paar Stunden, und Pyörähtälä ließ sich immer noch nicht blicken. Jaatinen erkundigte sich bei Manssila, ob er etwas über den Verbleib des Mannes wisse und ob der vielleicht erkrankt sei.
»Krank ist er nicht …, er hat etwas zu erledigen.«