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Von finnischen Waldarbeitern, schwedischen Hebammen und einer Schnapsbrennerei auf einer Pazifik-Insel ...
Ein von der UN gechartertes Flugzeug stürzt über dem Pazifischen Ozean ab. Die Passagiere können sich auf eine Insel retten und aus dem Flugzeugrumpf jede Menge kupferner Verhütungsspiralen und einiges andere Notwendige wie Äxte und Messer bergen. Weit und breit ist keine Rettung in Sicht. Die illustre Truppe finnischer Waldarbeiter und schwedischer Hebammen muss sich zusammenraufen. Ein Jahr vergeht bis ein fantasievoller SOS-Plan realisiert werden kann ...
Eine köstliche Robinsonade - von Arto Paasilinna, dem vielfach ausgezeichneten Meister des skurrilen Humors
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Seitenzahl: 217
Ein von der UN gechartertes Flugzeug stürzt über dem Pazifischen Ozean ab. Die Passagiere können sich auf eine Insel retten und aus dem Flugzeugrumpf jede Menge kupferner Verhütungsspiralen und einiges andere Notwendige wie Äxte und Messer bergen. Weit und breit ist keine Rettung in Sicht. Die illustre Truppe finnischer Waldarbeiter und schwedischer Hebammen muss sich zusammenraufen. Ein Jahr vergeht bis ein fantasievoller SOS-Plan realisiert werden kann …
Arto Paasilinna wurde 1942 im lappländischen Kittilä/Nordfinnland geboren. Er ist Journalist und einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Inzwischen hat er rund 40 Romane mit großem Erfolg veröffentlicht, von denen einige verfilmt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Auch bei uns erwarten die Fans jedes Jahr ungeduldig eine neue skurrile Geschichte vom finnischen Kultautor.
A R T O P A A S I L I N N A
Vorstandssitzung im Paradies
ROMAN
Aus dem Finnischen vonRegine Pirschel
Digitale Erstausgabe
Copyright © Arto Paasilinna and WSOY
First published by Weilin+Göös in 1974 with the Finnish Title Paratiisisaaren vangit
Published by arrangement with Bonnier Rights Finland, Helsinki.
Copyright © 1997 by Arto Paasilinna
Titel der finnischen Originalausgabe: Paratiisisaaren vangit
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2004/2017/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Kristin Pang unter Verwendung von Motiven © Image Source / Frank and Helena / plainpicture; © Josep Curto / shutterstock.com
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3152-3
luebbe.de
lesejury.de
Das Flugzeug schwankte in der Dunkelheit. Wir befanden uns über dem Stillen Ozean, genauer gesagt über dem Seegebiet von Melanesien, hatten den dreißigsten Breitengrad und den Wendekreis des Krebses überquert.
Ich musste daran denken, dass in dieser Gegend die Temperatur selbst in den kältesten Monaten nicht unter achtzehn Grad sinkt.
Die Erde hat eine heiße Zone, und die überflogen wir jetzt. Die Maschine war seit drei Stunden in der Luft, sie war in Japan gestartet, vom internationalen Linienflugplatz in Tokio.
Ich bin Journalist und ansonsten ein stinknormaler Finne, schlecht ausgebildet, besondere Kennzeichen: geringer Ehrgeiz, ein abgetragenes Jackett und ein schlichtes Gemüt. Ich bin älter als dreißig. Ich bin völlig durchschnittlich, und das macht mir manchmal zu schaffen.
Ich habe zahllose Artikel für die verschiedensten Presseorgane geschrieben, aber kaum einer hat über den aktuellen Anlass hinaus Bedeutung erlangt. Ein Bericht zum Zeitgeschehen ist wie eine Loipe, die, wenn überhaupt, nur im Winter gebraucht wird, – im Frühjahr verschwindet sie, und im Sommer existiert sie nicht mehr, niemand braucht sie, niemand vermisst sie.
Wir flogen also über den Stillen Ozean, in einer englischen Düsenmaschine vom Typ Trident. Es war Nacht, und es herrschte Sturm.
Der Steward, ein junger Brite mit langer Nase, setzte sich zu mir und sagte in vertraulichem Ton, dass verdammt schlechtes Flugwetter herrsche und die Maschine stark schwanke.
Ich konnte ihm uneingeschränkt zustimmen. Die Maschine schüttelte ihre Passagiere tatsächlich unangenehm durch. Hin und wieder blitzte es in der Ferne auf, ob es sich um ein Wetterleuchten oder einen gewöhnlichen Blitz handelte, konnte ich nicht sagen.
Ich ärgerte mich, dass ich gerade diesen Flug nach Australien genommen hatte, denn ich konnte mich erinnern, dass eine Maschine dieses Typs vor ein paar Jahren bei Paris verunglückt war und dass es bei der Untersuchung geheißen hatte, gewisse Eigenschaften der Trident könnten der Auslöser gewesen sein. Die Fluggesellschaft hatte sich ungefähr so ausgedrückt, dass die Höhenflosse die Maschine in einen überzogenen Flugzustand gebracht hatte. Wie es schien, hatte dieselbe Krankheit jetzt ausgerechnet auch unsere Maschine befallen.
Der Steward wusste, dass ich Journalist war, und fragte, ob ich für die Vereinten Nationen arbeite. Als ich das verneinte, eröffnete er mir, dass auch er nicht im Dienste dieser Organisation stehe. »Die UNO hat die Maschine für diesen Flug gechartert«, erklärte er. »Alle anderen Passagiere sind in ihrem Auftrag unterwegs, es sind Krankenschwestern, Hebammen, Ärzte und Waldarbeiter«, berichtete er mit Blick auf meine Mitreisenden, die in ihren Sesseln hockten und zu schlafen versuchten.
Ich bat den Steward, mir ein Glas Saft zu bringen. Er stand auf, um meinen Wunsch zu erfüllen. Im letzten Moment entschied ich mich anders und bestellte einen Whisky. »Das ist bei diesem Wetter wahrscheinlich das passendere Getränk«, fügte ich hinzu.
Der Steward lachte und brachte mir das Gewünschte. Auf der anderen Seite des Ganges saßen zwei Frauen, die wie Hebammen aussahen und mich tadelnd anblickten, als ich mein Getränk entgegennahm.
Der Steward setzte sich wieder zu mir. Wir unterhielten uns eine halbe Stunde lang über alles Mögliche. Der Sturm schien weiter zuzunehmen, sodass der Steward Probleme hatte vorwärts zu kommen, als er mir einen zweiten Whisky holte. Er selbst trank nichts. Aus der Sitzreihe vor mir war leises Schaben zu hören. Als ich zwischen den Lehnen hindurchlugte, sah ich eine blonde junge Frau, die sich die Fingernägel feilte. Sie blickte mich freundlich an. Keiner von uns beiden sagte etwas.
Der Steward hielt sich an der Lehne des Vordersitzes fest. Die Maschine wackelte immer heftiger, und ich musste aufpassen, dass ich nichts von meinem Getränk verschüttete.
Nach einer Weile wandte sich der Steward mir wieder zu und sagte leise, nur für meine Ohren bestimmt, dass er eigentlich keine Ahnung habe, wo wir uns befanden. Als ich verwundert fragte, wie das möglich sei, sagte er noch leiser, dass sich wahrscheinlich auch der Flugkapitän nicht mehr auskenne, zumindest nicht genau.
Er fügte hinzu, dass er so etwas eigentlich nicht sagen dürfe, aber nun spiele es keine Rolle mehr, Tatsache sei, dass sich die Maschine verirrt habe. Ich gab zu bedenken, dass es wohl besser sei, auch die anderen Passagiere über die Situation zu informieren. Der Steward vergewisserte sich, ob ich wirklich der Meinung sei, und er gestand, dass er ebenso denke. Nach diesen Worten erhob er sich und kämpfte sich durch die wankende Maschine ins Cockpit durch.
Kurz darauf ertönte aus den Lautsprechern die Stimme des Flugkapitäns. Er teilte mit, dass die Flughöhe etwa zehntausend Meter betrage und dass wir nach Südosten flögen. Allerdings lasse sich nicht feststellen, wo wir uns befänden, lediglich Flugrichtung und -höhe seien ihm noch bekannt.
Anschließend bekamen wir vom Kapitän, der sich als Mister Taylor vorgestellt hatte, einige der üblichen eleganten Umschreibungen zu hören: dass er sich nicht im eigentlichen Sinne verirrt habe, keineswegs, sondern dass er lediglich infolge der ungewöhnlichen Witterung Orientierungsprobleme habe und dass sich niemand Sorgen zu machen brauche.
Dessen ungeachtet bat Kapitän Taylor die Passagiere, sich anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Die Stewardessen verteilten Kissen, die wir uns auf die Knie legen sollten. Sie erklärten uns das Reservesauerstoffsystem der Maschine, zeigten uns, wo die Notausgänge waren und wo sich die Rettungswesten befanden. Ich tastete unter dem Sitz nach der meinen und dachte, wie schrecklich es wäre, wenn ich sie anlegen müsste.
Ich sagte zum Steward, dass all diese Maßnahmen bereits erklärt worden seien, als wir in Tokio gestartet waren.
»Dies bedeutet noch nicht, dass Gefahr besteht«, sagte er unsicher. Der Klang seiner Stimme ließ darauf schließen, dass die Katastrophe unmittelbar bevorstand.
Ich fragte mich, ob ich wohl je nach Australien gelangen würde. Seit zwei Jahren hatte ich die Reportagereise geplant und sie nun endlich antreten können.
Schon bald ging mir allerdings anderes durch den Kopf. Die Maschine kippte nämlich schwer nach links. Ich saß auf der rechten Seite am Fenster und blickte kurz hinaus, sah aber nur Dunkelheit. Mein Glas fiel zu Boden, der Steward bemerkte es nicht. Das Glas rollte unter den Sitzen hin und her und dann durch den Mittelgang bis an die Wand des Cockpits, wo es zerbrach. Scherben bringen Glück, dachte ich, ohne allerdings wirklich daran zu glauben.
Die Maschine torkelte durch die Luft und kippte von einer Seite auf die andere, dann erlosch das Licht. Es schien, als wäre der rechte Motor ausgefallen. Später zeigte sich, dass genau dies der Fall gewesen war.
Die Trident trudelte abwärts ins Meer.
Die Lautsprecher knackten, die Stimme des Kapitäns war zu hören. Er war nicht mehr wirklich ruhig. Seinen Worten war so viel zu entnehmen, dass sich die Passagiere auf eine Notlandung vorbereiten sollten. Nachts, bei Sturm, im Stillen Ozean.
Die Frauen schrien. Ich spürte Druck auf den Ohren, meine Augen tränten. Die Maschine schien direkt ins Meer zu fallen.
Nach einem langen Sturzflug richtete sich die Maschine ein wenig auf, und wieder war die Stimme des Kapitäns zu vernehmen. Durch die Dunkelheit drang seine Information: »Wir fliegen dicht über dem Meer. Der rechte Motor ist ausgefallen. Wir werden gleich im Wasser landen.«
Der Kapitän forderte die Passagiere auf, Ruhe zu bewahren, dann ließ er noch verlauten, dass er mit etwas Glück in der Nähe einer Insel landen könnte. Außerdem erklärte er, dass ein Flugzeug dieses Typs nach der Notlandung nicht zwangsläufig auf den Wellen zerschellen würde, sondern dass die Passagiere eine Chance hätten, durch die Notausgänge nach draußen zu gelangen, ehe das Wrack versank.
Ich spürte deutlich, wie die Maschine mit der Nase nach unten über dem Meer kreiste, und ich sagte mir, dass unser trefflicher Pilot vielleicht tatsächlich nach einer passenden Insel, etwa einer mit einem kilometerlangen Sandstrand, der sich als Piste für die Bauchlandung eignete, Ausschau hielt.
Im Passagierraum ging das Licht an. Die Stewardessen standen sofort auf und verteilten Rettungswesten. Ich fluchte über die Hersteller: Die Bänder verhedderten sich in der Eile, und es war fast ein Wunder, dass es allen Passagieren gelang, die Westen anzulegen.
Das Licht erlosch wieder. An der linken Tragfläche tauchte ein heller Lichtkegel auf, wahrscheinlich das Landungslicht.
Plötzlich schien die Maschine frontal gegen eine Wand zu prallen. Wir wurden alle mit dem Kopf voran an die Vordersitze geschleudert, die Kissen wurden feucht vom Blut, und das Licht erlosch endgültig. Die Tragfläche draußen neben meinem Fenster riss ab und nahm ein Stück Bordwand mit sich, und ich sah in der Dunkelheit Flammen, die jedoch sofort erloschen.
Wie sich denken lässt, herrschte im Passagierraum totales Chaos. Ich hatte das Gefühl, dass das Flugzeug gegen einen tropischen Vulkan geprallt war, bis ich feststellte, dass es gerade auf dem Meer notgelandet war. Aber Wasser ist hart wie Stein, wenn man aus großer Höhe oder mit entsprechendem Tempo hineinspringt, und wir hatten beide Fehler gemacht.
Was mir sofort auffiel, war, dass es auf dem Meer gar nicht stürmte, sondern dass die Wellen relativ klein waren. Später bekam ich die Erklärung dafür: Die Trident war innerhalb einer Korallenkette aufgeschlagen.
Die Passagiere tasteten nach den Notausgängen, öffneten sie und sprangen ins Meer. Ich spürte, wie meine Füße nass wurden, und so schwamm auch ich los, direkt durch die Öffnung, die die abgerissene Tragfläche zum Abschied hinterlassen hatte. Die Rettungsweste trug mich wunderbar, und, heldenhaft wie ich war, blieb ich in der Nähe der Öffnung und rief den Mitreisenden, die sich noch drinnen im Wrack befanden, Ratschläge zu. Sonderbarerweise machte die Maschine keine Anstalten zu versinken. Immer mehr Menschen konnten so durch die Öffnung herausspringen.
Ein großes Rettungsfloß mit hellen Lichtern an den Rändern war aus der Maschine ins Wasser gelassen worden. Ein Schwimmer nach dem anderen kämpfte sich durch die Wellen zu dem Floß und klammerte sich an die Außenseile.
Ich tat das idiotischerweise nicht, sondern blieb in der Nähe der Öffnung und, da ich wahrscheinlich wegen einer Gehirnerschütterung nicht mehr klar denken konnte, machte etwas noch Riskanteres: Ich schwamm ganz nah heran und forderte die Leute auf zu springen, ohne mich im Geringsten darum zu kümmern, dass das gierige Meerwasser immer schneller durch die Öffnung ins Innere der Maschine drang. Das große Wrack schaukelte hin und her, sodass ich am nächsten Tag erhebliche Atemprobleme hatte. Die Wellen schleuderten mich nämlich so vehement gegen die Stahlwand, dass sich ein paar meiner Rippen veranlasst sahen zu brechen.
Drinnen in der Maschine war niemand mehr, sodass mein demonstratives Heldentum völlig überflüssig war.
Schließlich begann das Wrack schnell zu sinken, und erst jetzt kam ich auf die Idee wegzuschwimmen. Mit knapper Not schaffte ich es, mich von dem Riesen zu lösen, ehe er unterging. Der gewaltige Sog zog mich zwar für ein paar Sekunden unter Wasser, aber die Schwimmweste beförderte mich wieder nach oben.
Großes Glück, oder vielmehr die geschickte Notlandung des britischen Flugkapitäns, rettete mich: Das Meer spülte mich binnen einer halben Stunde ans Ufer, wo ich mir ein paar Beulen an den Knien holte, ehe es mir gelang, aus dem Wasser zu kriechen. Ich warf mich in den Sand, um zu schlafen und den Kater loszuwerden, den ich mir in Tokio eingehandelt hatte.
Ich erwachte davon, dass das Wasser meine Füße umspülte. Nach der nächtlichen Notlandung war ich auf den Sandstrand gekrochen und, ziemlich dicht am Wasser, eingeschlafen. Es war Morgen, und die Wellen leckten ab und zu über meine Füße. Man kann sagen, dass ich in ziemlich desolatem Zustand war: Feuchter, warmer Sand war in meine Kleidung und meine Strümpfe eingedrungen, der Gürtel kniff, und in der Brust hatte ich Schmerzen.
Ich rappelte mich mühsam auf, streifte die Sandalen ab und wrang die Strümpfe aus.
Ich befühlte meine Brust und kam zu dem Schluss, dass sich wahrscheinlich ein paar Rippen vom Brustbein gelöst hatten.
Der Sand am Ufer war feucht. Zwanzig Meter landeinwärts erhob sich eine dichte Dschungelwand. Meine Armbanduhr war stehen geblieben. Meine Brieftasche war noch vorhanden, aber die Papiere waren durchnässt. Die Sonne schien, und zwar sehr heiß und aus einer für mich ungewohnten Richtung, nämlich steil von oben. Zu Hause im Norden scheint die Sonne vom Horizont, die kurze Zeit, die sie überhaupt scheint, aber hier, wo ich jetzt war, stand die Sonne tatsächlich über meinem Kopf. An sich nichts Weltbewegendes, aber auf mich macht so etwas viel Eindruck.
Ich war allein am Strand. Ich nahm meine von Wasser und Sand arg lädierte Krawatte ab und überlegte kurz, ob ich sie in die grünen Wellen werfen sollte, aber dann beschloss ich, sie einzustecken. Man weiß ja nie, was man auf einer einsamen Insel alles gebrauchen kann.
Der Ort, an dem ich mich befand, war eine Art Bucht. Im Meer erhob sich weiß umschäumt die Korallenkette, und rechts und links sah ich die Landzungen, die die Bucht umschlossen. Das Ufer bestand aus Sandstrand, und dahinter wucherte dichter Dschungel, dessen vorderste Bäume sich über den Strand beugten, wie auf dem Junibild im Pirelli-Kalender.
Kein Zweifel, ich war in der heißen Zone des Ozeans gestrandet.
Ich trug noch die Rettungsweste, sie war über und über mit feinem, feuchtem Sand bedeckt. Ich beschloss, sie abzulegen, denn ich schwitzte darunter. Ich konnte mich gut erinnern, wie schwierig es gewesen war, die Weste im Flugzeug anzulegen, aber jetzt stellte ich fest, dass es noch schwieriger war, sie loszuwerden. Die Stoffbänder waren vom Meerwasser hart geworden und scheuerten, und die Schnallen waren vom Sand verklebt. Meine Brust schmerzte, während ich mich mit der Weste abplagte. Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge, der versucht, die verknoteten Bänder seiner Skistiefel zu lösen.
Endlich hatte ich es geschafft und war völlig außer Atem. Ich hätte gern geraucht, aber die Zigaretten in meiner Tasche waren zerbröselt, und die Streichhölzer waren durchfeuchtet und unbrauchbar. Großer Durst quälte mich.
Ich wanderte am Strand entlang, aus der Stellung der Sonne zu urteilen, in westliche Richtung. Ich ließ die Bucht hinter mir, und es folgte eine zweite, ähnliche, dahinter kam eine dritte, und dann eine weitere. Den anderen Passagieren der Trident begegnete ich nicht. Die Wellen hatten den Sand am Ufer geglättet, es waren keinerlei menschliche Spuren zu sehen. Ich ging unter der heißen Sonne immer weiter. Nach einer Weile zog ich die Sandalen aus und trug sie an den Riemen in der Hand, in der anderen baumelte die Rettungsweste. Ihre Bänder hinterließen eine Spur im Sand, es sah aus, als wäre eine Maus neben mir gegangen.
Ich muss ziemlich kläglich ausgesehen haben, wie ich da entlang-trottete, matt und ausgelaugt, nach einer Zigarette lechzend, von Hunger und Durst geplagt. Von Robinson-Romantik konnte jedenfalls keine Rede sein. Zum Glück war niemand da, der dumme Bemerkungen über meinen Zustand hätte machen können.
Allerlei Gedanken gingen mir bei meiner Strandwanderung durch den Kopf. Ich fluchte innerlich über das Scheitern meiner schönen Reportagereise, die ich jahrelang geplant und für die ich monatelang eisern gespart hatte – alles umsonst. Ich dachte an meine Familie in Europa, in Finnland. Dort war wohl jetzt gerade Nacht, und erst wenn der Tag anbrach, würde sie erfahren, dass irgendwo vor Melanesien eine von der UNO gecharterte Maschine ins Meer gestürzt war, und mit ihr etwa fünfzig Passagiere: Krankenschwestern, Ärzte, Waldarbeiter und ein Journalist. Die Familie würde bestimmt um mich und mein Schicksal trauern.
Aber ob sie wirklich ernsthaft trauern würde? Ich hielt mir vor Augen, dass ich daheim in Finnland immerhin ein ziemlich schwieriger Mensch gewesen war, vielleicht würden die Verwandten und engsten Angehörigen geradezu vor Erleichterung aufseufzen. Dann machte ich eine gedankliche Kehrtwendung und begann mich innerlich an der Seelenqual meiner Familie zu weiden: Tränen, Trauer, entsetzte Worte und Vermutungen über mein Schicksal …, und was würde die Presse wohl über den Fall berichten? Diese Gedanken gefielen mir ungemein, und ich bemerkte, dass ich wieder in eine neue Bucht gekommen war.
Auch hier traf ich niemanden an.
Ich wurde müde. Ich ging landeinwärts bis an den Rand des Dschungels und setzte mich. Mein Hintern wurde nass, also stand ich wieder auf. Ich musste lange suchen, ehe ich eine halbwegs trockene Stelle fand, und fluchte innerlich über das Gelände. Bei uns im Norden gab es im Wald wenigstens Grashöcker, hier dagegen nur Kuhlen und Wasser.
Ja, genau … Wasser! Unter den Bäumen waren Vertiefungen, und darin stand in der Tat Wasser. Ich schöpfte ein wenig mit der hohlen Hand und war drauf und dran, die ziemlich heiße Flüssigkeit zu trinken, doch dann hielt ich inne. Womöglich war diese Brühe verdreckt, giftig? Wie, zum Teufel, sollte ich das wissen? Diese Gegenden sind voller Überraschungen, und ich erinnerte mich, irgendwo gelesen zu haben, dass gerade das Wasser am Äquator besonders giftig ist. Ich ließ das Wasser durch die Finger rinnen und betrachtete meine feuchten Hände. Meine Kehle war trocken, meine Hände glänzten in der Sonne.
Ich überlegte, ob ich es wagen konnte, die Hände abzulecken. Selbst das erschien mir tollkühn.
Aber dann machte ich mich über meine eigene Ängstlichkeit lustig und leckte meine feuchten Hände ab, ohne mich um mögliche Gefahren zu kümmern.
Mir passierte nichts, also steckte ich erneut eine Hand in die Wurzelvertiefung und leckte sie ab, und noch immer traten keine Vergiftungserscheinungen auf. Ich wiederholte den Vorgang mehrmals. Alles schien gut zu gehen.
Schließlich, durch die Probeversuche ermutigt, schöpfte ich mit beiden Händen Wasser, wieder und wieder, und trank wie ein Steppenpferd. Das Wasser war warm, aber salzlos, und es enthielt zumindest keine Substanzen, die sofort töteten.
Nachdem ich meinen Durst gelöscht hatte, überkam mich wieder die Gier nach einer Zigarette, und ich fuhr mit der Hand in die Hosentasche. Ich begriff, wie sich Häftlinge beim zwangsweisen Nikotinentzug fühlen mussten.
Also stand ich auf und schlug wütend mit der Rettungsweste gegen die umstehenden Bäume, Sträucher, Lianen und was da sonst noch alles wuchs. Der Tobsuchtsanfall hatte zwei Folgen: Von den Bäumen tropfte Wasser, und unmittelbar danach klatschte mir etwas in den Nacken, kalt und schwer, es fühlte sich an wie eine feuchte Schlange.
Treffender hätte ich das, was da vom Baum gefallen war, kaum charakterisieren können. Als ich es von meinen Schultern entfernte und betrachtete, stellte ich fest, dass es tatsächlich eine Schlange war, ein grünes zischelndes Wesen mit kleinem Kopf, das sich aus meinem erschrockenen Griff zu befreien versuchte. Ich schleuderte es so schnell weg, wie ich irgend konnte, und rannte mit langen Schritten an den Strand. Dort hielt ich inne, wahnsinnig vor Angst, das glitschige Tier könnte mir bis dorthin folgen.
Die Schlange machte aber keine Anstalten, mich zu verfolgen. Dennoch betrachtete ich den Dschungel jetzt furchtsamer als vor ihrem Auftauchen.
Was tat ich anschließend? Ich ging am Strand weiter, die Rettungsweste über der Schulter, gereizt vor Hunger.
Ich ging den ganzen Tag, ohne dass mir jemand begegnet wäre und mich gefragt hätte, wohin ich unterwegs war.
Gegen Abend setzte ich mich traurig hin, löste mit dem Nagelknipser das Glas von meiner Uhr, goss das Wasser aus und blies in das Getriebe. Die Uhr ging wieder. Ich setzte das Glas wieder ein und stellte die Zeiger auf fünf, dann zog ich die Uhr auf und legte mich in den Sand, um zu schlafen. Nach meiner langen Wanderung war es in dem heißen, feuchten Sand eigentlich ganz angenehm.
Das war mein erster Tag nach der Notlandung, und ich fand, dass es keinen Grund zu Freudenausbrüchen gab.
Ich erwachte am nächsten Morgen in jämmerlicher Verfassung. Der Hunger war über Nacht noch gewachsen, und ich hatte wieder große Lust auf eine Zigarette. Immerhin wagte ich Wasser zu trinken, sodass ich nicht unter Durst zu leiden hatte.
Ich sagte mir, dass ich am vergangenen Tag wahrscheinlich in die falsche Richtung gegangen war, da ich niemanden getroffen hatte, und so beschloss ich, zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren.
Die Wanderung an einem einsamen Strand ist eine eintönige, mühselige Angelegenheit. Meine einzige menschliche Gesellschaft waren die eigenen Fußspuren vom Vortag. Der Ozean wogte weiß und schön, aber ich war zu müde, um den Anblick zu genießen. Der feuchte Dschungel reizte mich auch nicht zu Erkundungen.
Es wurde Abend. Ich schlief wieder im Sand. Am Morgen des dritten Tages gelangte ich in die Bucht, in die mich das Meer nach dem Flugzeugabsturz gespült hatte. Ich wanderte weiter gen Osten.
Ich stamme aus dem hohen Norden und bin an Wildmarkwanderungen gewöhnt. Aber wider Erwarten war mir diese Übung hier am tropischen Sandstrand keine Hilfe. Ich war erschöpft, vom Hunger geschwächt und kam nicht sehr schnell vorwärts. Aber ich ging trotzdem weiter, vor mir öffneten sich immer neue Lagunen.
Ich empfand tiefe Bitterkeit gegen die englischen Flugzeugkonstrukteure. Mussten sie denn Maschinen entwickeln, die keinen anständigen Sturm vertrugen? Ich dachte auch an die melanesischen Götter, denn womöglich hatten diese zahllosen Geister einer tausendjährigen Kultur für die Havarie gesorgt, hatten sich vielleicht ein wenig Abwechslung und Spaß in der Leere des tropischen Ozeans verschaffen wollen?
Nach der heißesten Stunde des dritten Tages entdeckte ich die erste Spur von Menschen.
Im feuchten Sand lag ein kleines, blaues Käppi, von den Wellen angespült. Ich sah es schon von weitem, und obwohl ich müde war, lief ich rasch hin, hob es auf und drehte es in den Händen. Es war ein adrettes kleines Kleidungsstück, vorn waren goldene Schwingen und die Initialen der britischen Fluggesellschaft aufgestickt. Ich kannte es, es gehörte einer der beiden Stewardessen. Ich freute mich über den Fund, aber dann kam mir der Gedanke, dass diese Kopfbedeckung vielleicht das Einzige war, was von der Frau an den Strand gespült worden war. Eine schlimme Vorstellung, dass die Trägerin des Käppis im Ozean ertrunken war.
Ich steckte das Käppi in die Tasche und ging weiter. Nach mehreren hundert Metern stieß ich auf die Fußabdrücke eines Menschen. Ich sah sofort, dass sie von einer Frau stammten, denn sie waren ziemlich klein. Erst war die Frau in Absatzschuhen am Wasser entlanggelaufen, aber bald hatte sie die Schuhe ausgezogen und ihren Weg in Strumpfhosen fortgesetzt. Nach einer weiteren Strecke hatte sich die Wanderin auch der Strumpfhose entledigt und sie weit von sich geschleudert, ich entdeckte sie am Rande des Dschungels.
Ich stopfte die Strumpfhose zu dem Käppi in die Tasche und folgte eilig den weiblichen Spuren. Es war, als wären mir neue Kräfte gewachsen, ich spürte keine Müdigkeit mehr.
Am Nachmittag traf ich die Frau.
Ich erinnerte mich, dass eine der Stewardessen brünett und die andere blond gewesen war, und hatte bereits überlegt, welche der beiden die Spuren im Sand hinterlassen haben mochte, jetzt sah ich, dass es die brünette gewesen war. Ich eilte im Laufschritt zu ihr.
Die Frau war zu Tode erschöpft. Sie lag am Ufer, das braune Haar im Sand, das Gesicht dem Dschungel zugewandt. Die Wellen spülten über ihren Po, aber sie schien sich nicht darum zu kümmern. Sie war weit mehr geschwächt als ich.
Ich stellte mich mit meinem Namen vor. Sie drehte den Kopf und lächelte schwach. Dann fragte sie leise: »Könnten Sie mir Wasser geben?«
Ich schleppte sie an den Rand des Dschungels, schöpfte mit den Händen Wasser und brachte es ihr. Sie trank gierig und schien sich ein wenig zu erholen, sie setzte sich auf, strich sich durchs Haar und lächelte. Dann sagte sie: »Ich heiße Cathy McGreen.«
Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte. Ich hatte nichts, was ich der erschöpften Frau anbieten konnte, oder doch?! Ich zog das Käppi aus der Tasche und reichte es ihr. Sie wunderte sich, als sie es sah, stellte aber keine Fragen, sondern drückte es zurecht und setzte es auf.
Dann holte ich die Strumpfhose heraus und reichte sie ihr ebenfalls.
Plötzlich kam ich mir idiotisch vor und zog die Hand zurück, ich steckte die Strumpfhose wieder in die Tasche und stand auf. Ich wusste nicht, was schief gelaufen war, auf jeden Fall aber hatte ich mich wie ein Trottel benommen. Ich blickte aufs Meer und knetete die Strumpfhose in meiner Tasche in der Hand.
Die junge Frau sorgte geschickt dafür, dass sich die Situation entkrampfte. Sie sagte, dass es lieb von mir wäre, wenn ich ihre Strumpfhose weiter in der Tasche trüge, da ich einmal über eine solche verfügte. Dazu lächelte sie freundlich.
Ich schlug ihr vor, dass wir gemeinsam den Weg nach Osten fortsetzten, und erzählte, dass ich bereits ziemlich weit in westlicher Richtung unterwegs gewesen war, aber niemanden getroffen hatte.
Ich half ihr beim Aufstehen, und dann gingen wir los. Obwohl sie sehr erschöpft war, konnte sie sich immerhin auf den Beinen halten. Wir schleppten uns über viele Stunden den Strand entlang. Ich trug ihre Rettungsweste und holte ihr hin und wieder in der hohlen Hand Wasser. Wir redeten nicht viel. Sie stützte sich beim Gehen auf mich, und so kamen wir vorwärts.