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Sulo Auvinen ist Engel-Aspirant und hat gerade den Grundkurs in "Himmlisches Beschützen" abgeschlossen. Im Leben ein hoffnungsloser Tollpatsch bekommt er als ersten Job eine einfache Aufgabe zugeteilt: Er soll Aaro Korhonen beschützen, einen Mann in den Vierzigern, dem das Glück (bisher) stets hold war. Aaro ist wohlhabend und mit sich im Reinen. Bis Schutzengel Sulo seine Arbeit aufnimmt ...
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Zeit:5 Std. 8 min
Arto Paasilinna, 1942 in Kittilä/Lappland geboren, ist Journalist und einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Für seine Bücher wurde er mit einer Reihe von Literaturpreisen ausgezeichnet. Inzwischen hat er rund vierzig Romane mit großem Erfolg veröffentlicht. Arto Paasilinna hat weltweit eine große Fangemeinde.
ARTO PAASILINNA
SCHUTZENGEL MIT OHNE FLÜGEL
RomanAus dem Finnischen vonRegine Pirschel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen Aus dem Finnischen von Regine Pirschel
Titel der finnischen Originalausgabe: »Tohelo suojelusenkeli«
Für die Originalausgabe: Copyright © 2004 by Arto Paasilinna Published by arrangement with WSOY, Helsinki Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz Umschlagmotiv: © shutterstock / Piotr Rzeszutek, © shutterstock / JimYoung Lee, © shutterstock / Zvonimir Atletic, © shutterstock / Chamille White, © shutterstock / Iurii Dawdov E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-4804-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Tod ist in Kuopio immer wieder eine harte Erfahrung, gerade für die lebenslustigen Savolaxer. Für den zweiundachtzigjährigen Religionslehrer Sulo Auvinen bedeutete der Tod allerdings den Beginn eines neuen, beschwingten Daseins. Bevor wir uns Sulo Auvinen und seinen himmlischen Heldentaten zuwenden, begeben wir uns zunächst in die frühlingshafte Hauptstadt.
Helsinki erlebte einen herrlichen Morgen zu Beginn des Mai. Die Sonne war bereits aufgegangen, der Park von Hietaniemi erfüllt vom Gesang der Lerchen, die hoch durch die Lüfte schwirrten. Leichten, lässigen Schrittes wanderte Aaro Korhonen in Richtung Mechelininkatu, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Er war jetzt vierzig Jahre alt und befand sich in einem Lebensabschnitt, in dem er keine Pflichten mehr hatte. Er musste nicht zur Arbeit, auch nicht nach Hause, eigentlich nirgendwohin, wenn er keine Lust dazu verspürte. Er konnte sich einfach treiben lassen. Er hatte keinen Zeitplan, wohl aber Geld. Aaro war der ehemalige Verwalter der Pellet-Fabrik von Pietarsaari, er hatte gut verdient und war ein sparsamer Mann.
Am Krematorium glitt ihm würdevoll ein schwarzer Leichenwagen entgegen. Die finnische Flagge über dem Kotflügel wehte auf Halbmast, ein Verstorbener befand sich also auf seiner letzten Reise. Das Fahrzeug hielt neben Aaro an. Der Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter und grinste, im linken Augenwinkel zuckte fröhlich und vertraut ein Muskel.
»Aaro! Ich bin’s, Oskari, erinnerst du dich?«
Aaro Korhonen erinnerte sich sehr gut an Oskari Mättö, den netten Kumpel aus dem Norden, den er aus gemeinsamen Zeiten in der Armee kannte. Es war einige Jahre her, dass sie miteinander telefoniert hatten. Damals hatte Oskari bei einer Umzugsfirma gejobbt und, kräftig wie er war, Klaviere und Flügel geschleppt.
Vor zwanzig Jahren hatten Oskari und Aaro als Rekruten in Hiukkavaara bei Oulu in der Jägerkompanie der Nördlichen Brigade gedient. Oskari hatte bereits damals dieses Zucken am linken Auge gehabt, ein unfreiwilliges Zusammenziehen von Wangenmuskel und Augenlid, das an ein schelmisches Augenzwinkern erinnerte. Die Sache wäre harmlos gewesen, hätten sie nicht den stupiden Sergeanten Siiloinen als Ausbilder gehabt, der das unfreiwillige Augenzwinkern persönlich nahm und sich verhöhnt fühlte. Wütend befahl er dem Rekruten Mättö, seine Miene zu beherrschen, aber was konnte Oskari für seine angeborene Muskelzuckung? Bei den Mädchen kam er damit gut an, nicht aber bei dem Sergeanten. Siiloinen gewöhnte sich an, Oskari Mättö zu schikanieren, wann immer sich die Gelegenheit bot. Oft ließ er den armen Burschen rennen bis zum Umfallen, oder er machte ihn vor der ganzen Kompanie lächerlich – ohne Erfolg. Oskari Mättö trat vor und schrie mit bebender Stimme und augenzwinkernd:
»Herr Sergeant! Einen Unschuldigen verspottet man nicht! Was kann ich dafür, dass mein Gesicht zuckt!«
Oskari sammelte am Schießstand Patronen, bis er genug beisammen hatte, um das Magazin eines Sturmgewehrs zu füllen. Aaro, seinem besten Kumpel auf der Stube, verriet er seinen grausamen Racheplan. Bei passender Gelegenheit würde er Sergeant Siiloinen erschießen. Die Gelegenheit kam im Winter während der Partisanenausbildung am Ufer des Valkeislampi-Sees. Oskari und Aaro saßen am Lagerfeuer und bewachten die Skispur der Rekrutenmannschaft. Sie brieten sich Ringwurst, die Aaro von zu Hause geschickt bekommen hatte. Ihre Sturmgewehre lehnten an einer Föhre, Aaros Waffe war mit Platzpatronen geladen, in Oskaris Gewehr steckte scharfe Munition. Sergeant Siiloinen kam über das Eis des Sees geglitten. Er lehnte sich auf seine Skistöcke und begann in gewohnter Manier auf dem Rekruten Mättö herumzuhacken.
»Sergeant, jetzt knallt’s!«
Oskari durchschoss mit einer gezielten Salve Siiloinens linken Skistock. Schon weniger genügt, einen Menschen, auch einen Soldaten, zu erschrecken, aber die Rache war noch nicht vollendet. Oskari watete durch den Schnee zum Sergeanten, bedrohte ihn mit der Waffe und forderte einen seiner Skier. Als er diesen erhalten hatte, drosch er ihn dem Sergeanten auf den Hintern, bis er zerbrach.
»Her mit dem anderen Ski, Sergeant, oder ich schieße!«
Oskari verprügelte den Sergeanten auch mit dem zweiten Ski so heftig, dass das Opfer Versöhnung vorschlug. Sie wurde mit Handschlag besiegelt, und Siiloinen stapfte in der Spur der Rekruten davon. Am gegenüberliegenden Seeufer angekommen, rief er dumpf herüber:
»Alles nur Kanonenfutter, keiner von euch Teufeln hat das Zeug zum Offizier!«
Die Freunde verbrannten die Reste der Skier und Stöcke im Feuer, womit die Angelegenheit allerdings nicht erledigt war. Aaro und Oskari bekamen für das Entwenden und Verbrennen der Skier ihres Ausbilders acht Tage Arrest aufgebrummt, außerdem mussten sie die Kosten erstatten. Siiloinen kaufte sich für das Geld neue und bessere Skier, hörte aber mit den Schikanen auf.
Oskaris Muskelzuckung machte ihm seither kaum mehr zu schaffen, das Auge und der Wangenmuskel zuckten nur noch, wenn er sich besonders herzlich freute, wie jetzt über die Begegnung mit seinem alten Armeekameraden Aaro Korhonen.
Oskari spendierte eine Runde Zigaretten und bat seinen Freund schließlich, ihm zu helfen, den Leichnam in die Kapelle des Krematoriums zu tragen. Der zuständige Mitarbeiter würde erst in einer Stunde kommen, aber als Fahrer des Leichenwagens hatte Oskari von Amts wegen einen Schlüssel zur Kapelle. Sie öffneten die Seitentüren und schleppten den Eichensarg hinein. Oskari holte ein weißes Blumengebinde – frische Lilien – aus dem Auto und arrangierte es auf dem Sarg.
»Allein kann ich diese schweren Kisten nicht mehr heben, das macht mein Rücken nicht mit. Früher habe ich mir ein Klavier einfach unter den Arm geklemmt und einen Flügel geschultert.«
Als die Arbeit getan war, erkundigte sich Aaro, ob es sich bei dem Leichnam um einen Mann oder eine Frau handelte, sofern die Frage gestattet sei.
»Moment, ich hole den Frachtbrief.«
Laut Fahrtenbuch des Bestattungsinstituts Lindell lag im Sarg eine Frau namens Hilma Katariina Väisänen, Gastwirtin, gestorben im achtundsiebzigsten Lebensjahr. Die Trauerfeier würde um elf Uhr beginnen, und anschließend ginge es für Oskari im Eiltempo nach Honkanummi, ein Polier aus Vallila hatte das Zeitliche gesegnet, auch für ihn war ein Eichensarg bestellt. Am Nachmittag müsste er dann das Fahrzeug in die Werkstatt bringen.
Hier stutzte Oskari und stellte Überlegungen an, ob da vielleicht eine Verwechslung vorlag, da die Gastwirtin hier in einem Eichensarg lag, obwohl es sich laut Transportpapieren um einen Kiefernsarg handeln sollte, der mit einem weißen, spitzenumsäumten Tuch verhüllt war.
»Das muss ich überprüfen.«
Oskari schraubte den Deckel auf.
Im Sarg ruhte friedlich ein etwa fünfzigjähriger Mann, die Augen geschlossen, wie es sich gehörte, und die Hände auf der Brust gefaltet. Graues Haar, am Kinn sprießender Bartwuchs. In jeder Weise stilvoll darauf vorbereitet, verscharrt zu werden.
»Da hab ich ja Schwein gehabt, es ist keine Frau, dies muss der Polier sein.«
Eile war geboten. Es galt, die offizielle Hilma Katariina Väisänen aus der Leichenhalle zu holen und den Polier nach Honkanummi zu schaffen. Oskari schätzte, dass er die beiden Leichen innerhalb einer halben Stunde austauschen könne, aber er wollte, dass Aaro bei der Kapelle wartete, wenn er Hilma brächte. Gemeinsam schraubten sie die Reisekiste des Polier zu und hievten sie eilends wieder ins Fahrzeug.
Eine halbe Stunde später fuhr der Leichenwagen mit qualmenden Reifen wieder beim Krematorium vor. Die Hecktür aufgerissen, den Sarg mit vereinten Kräften nach drinnen gewuchtet und mit professionellen Griffen auf die Schienen zum Ofen gestellt. Oskari erklärte, dass dies das erste Mal sei, dass bei Lindell die Leichen vertauscht worden waren. Aaro vermutete, dass Tote öfter fälschlich verbrannt und an den falschen Stellen und unter falschem Namen bestattet wurden, aber da die Särge nicht geöffnet werden, bemerkt niemand die Verwechslungen. Die Leiche einer Kneipenwirtin brennt nicht anders als die eines Poliers.
Als Oskari bereits wieder unterwegs war, kam ein Bursche im schwarzen Mantel angeradelt, der sich als Pastor vorstellte. Er hielt Aaro für den Krematoriumsangestellten, gab ihm forsch die Hand und erklärte, dass es an diesem Tag im Urnenhain zwei Bestattungen gebe, mit Reden für die jeweilige Asche. Just in diesem Moment tauchte der Mann auf, der eigentlich zuständig war. Aaro übergab ihm die Amtsgeschäfte und setzte erleichtert seinen Weg zur Mechelininkatu fort. Am Zaun des Friedhofes sprang ihn ein Eichhörnchen an und hängte sich fordernd an sein Hosenbein, aber als es merkte, dass er keine Nüsse dabeihatte, ließ es ihn in Ruhe. Der Tag war noch jung. Aus Erfahrung wusste das Tier, dass bald jede Menge trauernder Besucher kommen würden, in deren Taschen vielversprechend die Nusstüten knisterten.
In der Mechelininkatu angekommen, wandte sich Aaro Korhonen in Richtung Töölö und hoffte, nach den morgendlichen Toten bald auf lebendigere Menschen zu stoßen. Die frischen Düfte des Frühlings lockten ihn in ein kleines Café, dessen Eingangstür einladend offen stand. Eine Tasse Tee wäre jetzt genau richtig.
Im Café Väisänen war eine junge Frau in Trauerkleidung damit beschäftigt, den Fußboden zu wischen. Ihr Hinterteil zeigte abweisend zur Straße, Schweiß glänzte auf ihrer besorgten Stirn.
»Ist das Café etwa geschlossen?«
»Ja, ist es.«
Wie sich zeigte, war das Lokal wegen eines bedauerlichen Todesfalles geschlossen, ja es stand sogar zum Verkauf, und sobald die einstige Betreiberin Hilma Katariina Väisänen um elf Uhr sachgemäß verbrannt worden wäre, müsste die Serviererin Viivi Ruokonen hier ihre Zelte abbrechen und sich nach einer anderen Arbeit umsehen. Doch zuvor musste sie noch einiges erledigen, zum Beispiel, im Hinblick auf potenzielle Käufer, die Geschäftsräume reinigen. Die Wohnung der Verstorbenen im Obergeschoss hatte sie bereits vor der Obduktion sauber gemacht. Das Inventar würde in der kommenden Woche auf einer Auktion versteigert werden und der Erlös in den Nachlass einfließen.
Aaro Korhonen half der jungen Frau beim Wischen, und bald putzten sie auch die Fenster. Zu diesem Zeitpunkt traf der Immobilienmakler ein, und Aaro beschloss, ihm ein Kaufangebot zu machen, sowohl für das Café als auch für die Wohnung der Verstorbenen, drei Zimmer und Küche, ohne Balkon. Kein Fahrstuhl, aber sonst eine passable Behausung. Als Aaro die Wohnung inspizierte, registrierte er, dass die Inhaberin allein darin gewohnt hatte. Die Küchenschränke waren alt, aber sauber, der Kühlschrank müsste erneuert, das Bad renoviert werden. In einem der beiden Schlafzimmer waren Bücher untergebracht. Viivi Ruokonen hatte in letzter Zeit die Blumen gegossen. Es wirkte, als wäre die Inhaberin der Wohnung nur vorübergehend verreist. Hier konnte man jederzeit einziehen. Da der Kaufpreis mäßig und sowohl die Privat- wie auch die Geschäftsräume sauber und ordentlich waren, war Aaro bereit, eine Vorauszahlung zu leisten und die Schlüssel in Empfang zu nehmen. Er sagte sich, dass er günstig zu einem Café und einer Wohnung gekommen war. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, dass er, ein sonst so ruhiger und besonnener Mann, diesen spontanen Kauf getätigt hatte. Aber ein Blick auf Viivi Ruokonen sagte ihm, dass es möglicherweise doch nicht nur eine momentane Laune gewesen war. Er brauchte ein Heim und einen Arbeitsplatz, und er sehnte sich nach weiblicher Gesellschaft. Jetzt war all das greifbar, da musste er schnell und ungeniert zuschlagen. Wenn es schiefgehen würde, könnte er ja wieder verkaufen und weiterziehen.
Oskari Mättö meldete sich über das Mobiltelefon und erzählte, dass der Polier stilgerecht in Honkanummi begraben und beweint worden war. Wie ging es Aaro sonst so, was gedachte er in nächster Zeit zu treiben? Wo wohnte er und wovon wollte er leben?
»Ich habe soeben ein kleines Café mit einer netten Wohnung im Obergeschoss gekauft. Ich beabsichtige zu schreiben, Bücher und so was.«
Aaro erkundigte sich nun seinerseits, ob Oskari möglicherweise einen schwarzen Anzug hätte, denn eigentlich müsste er an der Beerdigung jener morgendlichen Toten teilnehmen, sie war nämlich die ehemalige Betreiberin des Cafés, und es war ihr Nachlass, den er gekauft hatte. Im Bestattungsinstitut gab es vermutlich schwarze Anzüge zu mieten. Oskari bot ihm seinen eigenen Anzug an, sie könnten die Kleider tauschen, er brauchte seine schwarze Kluft heute nicht mehr, auf der Fahrt in die Werkstatt könnte er genauso gut Aaros Alltagsklamotten tragen.
Bekleidet mit Oskaris tiefschwarzem Traueranzug trat Aaro, zusammen mit der Serviererin und dem Immobilienmakler, ins Krematorium, wo der Pastor, den er bereits kannte, eine rührende Rede zu Frau Hilma Katariina Väisänens Gedenken hielt. Anwesend waren etwa fünfzig Personen, hauptsächlich ehemalige Gäste des Cafés. Blumengebinde bedeckten den schönen Sarg, der nach Abschluss der Zeremonie stilvoll den himmlischen Flammen entgegenglitt, deren Glut sogar den Teufel neidisch gemacht hätte.
Kinder und Philosophen stellen eine Menge Fragen, ohne je eine Antwort zu erhalten. Wo beginnt das Universum, und wo endet es? Was liegt dahinter? Wie viel Zeit ist seit dem Beginn der Zeit vergangen, und wann endet die Zeit? Gibt es einen Gott? Wie viel Gehalt bekommt der Papst?
Wie ist es den Engeln möglich, die Gedanken und die Taten der Menschen vorauszusagen, und wie gelingt es ihnen, diese Taten zu beeinflussen? Auch das ist eine Frage, die den Leser eventuell beschäftigen mag. Es sei jetzt und hier endgültig klargestellt, dass all die speziellen Fähigkeiten der Engel nicht weiter verwunderlich sind. Die Engel sind von Gott geschaffen und demzufolge allmächtig, so hat Gott es seinerzeit gewollt, und fertig. Jener schlichte Reim Engelchen, gibt’s die denn? ist sinnlos. Wer nicht an Engel glaubt, möge darüber mit Pfarrern und Bischöfen diskutieren, von denen es im Christenvolk Zigtausende gibt, vielleicht sind es gar Hunderttausend. Gut bezahlte und genährte Männer, neuerdings gesellen sich in den nordischen Ländern auch einige Frauen dazu. Bei ihnen kann man sich erkundigen, ob es Engel gibt und welche Abmessungen ihre Flügel haben. Die erste Frage wird garantiert positiv beschieden, auf die zweite werden die Kirchendiener eine Antwort schuldig bleiben.
Wie bekannt, befindet sich der christliche Himmel neuerdings in Kerimäki, wohin er Mitte der 80er-Jahre verlagert wurde, als der Kranfahrer Pirjeri Ryynänen den lieben Gott vertrat, während der ein Sabbatjahr einlegte. Seither werden in der größten Holzkirche der Welt die laufenden Angelegenheiten der Schöpfung geregelt. Gott selbst ist in Kerimäki kaum jemals anzutreffen, er hat seinen eigenen himmlischen Wohnsitz. Aber Engel fliegen in der Gegend umso mehr herum, oft in hundertköpfigen Schwärmen, im besten Falle sind Tausende geflügelter Wesen vor Ort. Die Verantwortung im Himmel trägt der heilige Petrus, unterstützt wird er von dem hochrangigen Engel Gabriel. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass sich der ganze Betrieb trotz seiner Größe und Effizienz im Unsichtbaren vollzieht. Die Anwohner ahnen nicht einmal, dass Engel die Kirche von Kerimäki bevölkern und auch draußen in so dichten Wolken umherschwirren wie sommers die Mücken am Himmel von Lappland.
Es sei erwähnt, dass im christlichen Himmel von Kerimäki spezielle Engel arbeiten und dass man dort kaum gewöhnliche Verstorbene trifft, denn sie haben ihren eigenen Himmel irgendwo in höheren Regionen unter der Obhut von Gott dem Allmächtigen. All die Milliarden von Christen würden nie und nimmer in der Holzkirche von Kerimäki Platz finden, auch wenn sie die größte ihrer Art in der Welt ist. Außerdem passt der Begriff vom Himmel und seinen Freuden nicht unbedingt vollinhaltlich auf die Atmosphäre und den Betrieb in dem alten Gebäude. Kerimäki ist also ein Himmel der Engel und in diesem Sinne ein bedeutsamer Ort. Ohne Engel, also ohne himmlische Arbeitskräfte, gingen die Angelegenheiten der Menschheit und der ganzen Schöpfung – man mag es kaum laut sagen – zum Teufel.
Am selben Maientag, da Aaro Korhonen aus einer momentanen Eingebung heraus in der Mechelininkatu eine Wohnung und Geschäftsräume kaufte, versammelten sich in der Kirche von Kerimäki an die fünfhundert Engelsaspiranten zum alljährlichen Grundkurs für Beschützerdienste. Auf der Welt gibt es viele Tausende Schutzengel. Die überwiegende Mehrheit ist imstande, ihre Aufgabe selbstständig, durch ihr Talent und dank der zu Lebzeiten erworbenen Erfahrungen im Bereich der Fürsorge und Betreuung zu erledigen, aber für das Amt des Schutzengels bewerben sich auch manche, denen diese Erfahrung und das Talent fehlen. Der Schutz eines gewöhnlichen Sterblichen mag, aus der Sicht eines allseitig befähigten Engels betrachtet, als leichte Aufgabe erscheinen, ist es aber durchaus nicht immer. Zwar stehen den Schutzengeln himmlische Hilfsmittel zur Verfügung, doch treten bei deren praktischer Anwendung leider oft Schwierigkeiten auf. Die vielen Unglücksfälle bei den Menschen sprechen da eine deutliche Sprache. So war man im Himmel also dazu übergegangen, Engel, die sich auf diesem Gebiet betätigen wollen, zu schulen, und jetzt hatten sich gut fünfhundert von ihnen in der Kirche von Kerimäki versammelt, um Vorträge zu hören und praktische Übungen durchzuführen.
Der heilige Petrus und der Engel Gabriel referierten auf dem alljährlich stattfindenden Kurs über allgemeine Fragen des Schutzes der Menschen, und erfahrene Engel vertieften die Lehren in weiteren Beiträgen. In den praktischen Übungen bewahrten die Teilnehmer ausgewählte Bewohner der näheren Umgebung davor, Mist zu bauen, und erzielten dabei gute Erfolge. Zum Beispiel hatten sie im vergangenen Jahr einen gewalttätigen und unbeherrschten Bauern so weit gemäßigt, dass er zum Kerimäkier des Jahres gewählt wurde. Er hatte sich so gut entwickelt, dass er sich nicht mehr mit seinem alten, rostigen Lada in der Kurve an der Kirche überschlug. Er hatte sich ein neues Auto kaufen können und seine Frau war schwanger geworden, obwohl er sie früher grün und blau geschlagen hatte.
Am aktuellen Kurs nahm auch Sulo Auvinen teil, ehemals Religionslehrer am Gymnasium von Juva, der vor einigen Monaten im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben war. Lehrer Auvinen hatte also auf Erden ein hohes Alter erreicht, aber als Engel war er ein Anfänger. Er brannte darauf, Schutzengel zu werden. Als Mensch war er hilfsbereit und ein Beschützer gewesen, besonders, da er hingebungsvoll als Religionslehrer gearbeitete hatte, was für ihn wie eine Berufung gewesen war.
Religionslehrer Sulo Auvinen war zu Lebzeiten ein recht schmucker Mann gewesen: etwas mehr als mittelgroß, von schlanker Figur, auch sein Gesicht hatte angenehme Züge gehabt. Seine äußere Erscheinung war also sehr passabel gewesen, was sich von seinem irdischen Lebensweg aber keineswegs behaupten ließ. Er war ein guter Kerl, aber ein hoffnungsloser Tölpel gewesen. Sein Studium hatte er mit mäßigem Erfolg abgeschlossen, er war nicht Pastor, nicht Propst und auch nicht Bischof geworden, sondern ein schlichter Religionslehrer. Dabei mangelte es ihm nicht an Verstand, sondern an Lebenstüchtigkeit. Was Sulo anpackte, ging meistens schief. Immer wieder geriet er in Schwierigkeiten, fuhr sein Auto in den Graben, beleidigte die Leute, ohne es zu merken, heiratete aus Versehen, fällte Bäume auf dem Grundstück des Nachbarn, sein Wecker klingelte nicht, er aß giftige Pilze. Aber er gab immer sein Bestes, das lässt sich nicht leugnen, und mit Zähigkeit und Zuversicht meisterte er schließlich sein Leben. Nachdem er mit fünfundsechzig Jahren pensioniert worden war – also vor mehr als fünfzehn Jahren –, war Auvinen mit seiner Frau von Juva nach Kuopio gezogen, wo er seine letzten Lebensjahre damit verbracht hatte, die Sozialfälle der dortigen Kirchgemeinde Petonen zu betreuen – und von diesen Fällen gab es in dem neuen Wohngebiet wahrlich genug. Als er ein paar Jahre später verwitwet war, hatte er sogar die Türen seines Hauses für einige hoffnungslos dem Alkohol verfallene schwarze Schafe der Gemeinde geöffnet, wobei er allerdings darauf geachtet hatte, dass sich die neuen Bewohner nicht für immer in seiner sauberen Wohnung einnisteten und sie mit ihrem Gestank verpesteten. Seine Schützlinge verursachten jedoch Wasserschäden und nahmen bei ihrem Auszug das Familiensilber mit, das Sulo dann allmonatlich in der Pfandleihe einlöste. Zu Weihnachten zog er mit der Sammelbüchse durch die Straßen, und stets fand er ein Häuflein hilfsbereiter Menschen, sodass er Wollpullover und anständiges Essen für die Obdachlosen kaufen konnte. Auf diesen Pfaden der Mildtätigkeit glitt er aus und brach sich den Oberschenkel, der jedoch gerade rechtzeitig vor seinem Tod verheilte, sodass man ihn nicht mit Gipsbein zu Grabe tragen musste.
Sulo Auvinen war eine stattliche Erscheinung: Die Spannweite seiner Flügel betrug immerhin elf Meter. Bei einigen dicken Engeln konnten es auch schon mal bis zu fünfzehn Meter sein. Obwohl die Engel Geisterwesen sind, haben sie doch Flügel, und als Gott die Flügel schuf, achtete er natürlich darauf, dass sie die entsprechenden Proportionen zum Körper haben.
Durch die gesamte Geschichte der Christenheit hindurch zieht sich ein schreckliches Missverständnis hinsichtlich der Engelsflügel. Wieso nur haben die theologisch gebildeten Menschen, Pastore, Bischöfe, ja sogar die Päpste nie begriffen, dass sich die Engel, wären ihre Flügel so kurze Stümpfe, wie auf religiösen Gemälden dargestellt und in kirchlichen Schriften beschrieben, nie in die Lüfte erheben könnten. Selbst wenn es ihnen vielleicht gelänge, mit der Unterstützung des Windes und von einem Hügel aus ein Stückchen zu flattern, würden sie doch alsbald wie ein Stein zu Boden fallen, und dieses Unglück mit anzusehen, geschweige denn anzuhören, wäre ganz sicher nicht erhebend.
Engel sind also prachtvolle Vögel. Neben ihnen wirkt selbst der stolzeste Seeadler bescheiden wie ein kleiner Sperling. Nur den riesigen Albatros kann man halbwegs mit Sulo Auvinen oder den anderen größeren männlichen Engeln vergleichen. Der Albatros gehört ja zur Familie der Sturmvögel, und er nistet auf einsamen Ozeaninseln. Manchmal gleitet er tagelang auf seinen mächtigen Schwingen dahin, deren Spannweite bis zu vier Metern beträgt. Der Albatros lebt in Kolonien und legt jeweils nur ein großes Ei, ist also auch in dieser Hinsicht den Engeln ähnlich – auch der Mensch produziert ja jährlich nur einen Nachkommen, ein Kind also, lediglich in Ausnahmefällen werden Zwillinge oder manchmal sogar Drillinge geboren.
Ornithologisch könnte man die Engel also als Obergattung der Familie der Albatrosse bezeichnen, wenn dieser Vergleich gestattet ist. Heißen die Albatrosse mit lateinischem Namen Diomedea exulans, so könnte man die Engel entsprechend Diomedea angelus nennen. Ansonsten allerdings sollte man sich hüten, die Engel als Vögel einzustufen, denn sie haben, außer den Flügeln und dem Schwanz, kaum andere Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel Sulo Auvinens Beine sind die ganz typischen Stampfer eines Savolaxers, er hat keine Schwimmhäute und auch keine Adlernase, geschweige denn ein alles bedeckendes Federkleid. Auch befinden sich seine Afteröffnung und seine Geschlechtsorgane dort, wo sie auch früher schon waren, und nicht wie bei Vögeln unter dem Schwanz inmitten von allerlei Gefieder. Eine ganz andere Sache ist, ob Sulo Auvinen oder die anderen Schutzengel diese letztgenannten Organe noch brauchen. Schließlich leben sie durch den Geist, wie es in der Bibel so schön heißt.
Die Holzkirche von Kerimäki ist weltweit die größte ihrer Art. Sie ist fünfundvierzig Meter lang, zweiundvierzig Meter breit und dreißig Meter hoch. Nicht einmal die finnischen Domkirchen in Turku und Helsinki haben diese Ausmaße, womit klar wäre, warum nicht sie den Himmel beherbergen. In den Balkentempel von Kerimäki also passten ohne Weiteres die fünfhundert Engelsaspiranten, die den ersten Grundkurs für Beschützerdienste im Jahre 2004 besuchten.
Der heilige Petrus eröffnete das Seminar und sprach über die unvollkommenen Lebensgewohnheiten der Menschen, aufgrund derer sie himmlischen Schutz benötigten. Er hob hervor, dass die bevorstehende Arbeit geistig anspruchsvoll sei, nannte sie aber zugleich auch außerordentlich befriedigend. Nach seiner Eröffnungsrede verwies er auf die zahlreichen Pflichten, die ihn rufen würden, und flog davon, wobei er versprach, zur Abschlussveranstaltung wieder anwesend zu sein. Anschließend wurde ein alter Engel aufgerufen, den Gabriel als Theodor Tolpo vorstellte, ein Zimmermann und Kirchenbauer, der im neunzehnten Jahrhundert gelebt hatte. Er wurde gebeten, etwas über die Kirche zu erzählen, denn er hatte sie einst zusammen mit seinem Vater erbaut. Während der laufenden Arbeiten am Bau war der Alte gestorben, und der Sohn hatte weitergemacht und die schwere und verantwortungsvolle Arbeit in Ehren vollendet.
»Man hat mich gut Hundert Jahre lang wegen der unerhörten Ausmaße des Gebäudes aufgezogen, immer wieder wurde behauptet, wir hätten uns bei den Messungen geirrt, hätten Meter und Klafter verwechselt. Aber das ist Quatsch, wir haben die Kirche so gebaut, wie die Ortsbewohner sie haben wollten und wie es in den Entwürfen vorgesehen war.«
Tolpo war ein ernster Mann, auf seine Worte war Verlass. Die Engelsschar folgte dem Erbauer ins Innere des riesigen Balkengebäudes.
Der Architekt A. F. Granstedt hatte den Entwurf geliefert. Die Kirche wies Elemente der Antike, der Gotik, des romanischen und sogar des byzantinischen Stils auf, ganz wie es für die Zeit typisch war. Der Architekt hatte sich unter anderem an den Domkirchen von Florenz und Aachen und sogar an der Hagia Sophia von Konstantinopel orientiert.