Die Reise der Amy Snow - Tracy Rees - E-Book
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Die Reise der Amy Snow E-Book

Tracy Rees

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Beschreibung

Als Baby wurde Amy Snow ausgesetzt. Mittellos und von allen gehasst wird sie auf dem noblen Hatville Court aufgezogen. Die schöne Tochter des Hauses, Aurelia Vennaway, ist Amys einzige Freundin und der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Als Aurelia jung stirbt, bricht Amys Welt zusammen. Aber Aurelia macht ihr ein letztes Geschenk: ein Bündel Briefe, das Amy auf Schatzsuche schickt. Einen Code, den nur Amy entschlüsseln kann. Am Ende erwartet Amy ein Geheimnis, das ihr Leben verändern wird. Amy Snow begibt sich auf eine Reise quer durch England.

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Seitenzahl: 678

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Das Buch

Amy Snow hat nie erfahren, was Liebe ist, sie hat nie eine Familie gehabt. Als Baby wurde sie in einer Schneewehe ausgesetzt. Die 10-jährige Aurelia findet sie und nimmt sie auf im Herrenhaus Hatville Court. Doch Amy wird von Aurelias Eltern und den Bediensteten gemieden. Ihre einzige Verbündete bleibt über Jahre hinweg Aurelia. Diese vergöttert Amy, sie ist für sie die Schwester, die sie nie hatte.

Als Aurelia viel zu jung stirbt, ist Amy völlig auf sich allein gestellt. Aurelias Eltern verstoßen sie und verlangen, dass sie das Herrenhaus sofort verlässt. Am Tag der Beerdigung macht sich Amy mit nur zehn Pfund in der Tasche auf eine folgenschwere Reise. Doch Aurelia hat alles für sie vorbereitet: In vielen Briefen erzählt sie ihrer Freundin von den wichtigsten Menschen ihres Lebens und dem großen Geheimnis, von dem nie jemand erfahren durfte.

Die Autorin

Tracy Rees studierte in Cambridge und hat acht Jahre in einem Sachbuchverlag gearbeitet. Ihr Roman »Die Reise der Amy Snow« wurde aus über tausend Einsendungen in einem Schreibwettbewerb als Gewinner ausgewählt und wurde sofort nach Erscheinen zum Lieblingsbuch der englischen Leser. Tracy Rees lebt in South Wales, England.

TRACY REES

Die Reise der

AMY SNOW

Roman

Aus dem Englischenvon Elfriede Peschel

List

Das Original erschien 2015 unter dem Titel Amy Snow bei Quercus Publishing, London.

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ISBN: 978-3-8437-1263-7

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Malgorzata Maj / arcangel images; FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

In Liebe meinen Eltern gewidmet

PROLOG

Januar 1831

Aurelia Vennaway hielt den Atem an, als sie auf Zehenspitzen den muffigen Salon verließ und heimlich über den Flur schlich. Ihre Mutter und ihre Tanten hatten ihr während der vergangenen Stunde keine Aufmerksamkeit gezollt, was aber nicht als Erlaubnis, sich zu entfernen, missverstanden werden durfte. Ihre Mutter ging davon aus, dass das Wetter sie ans Haus binden und sie sich endlich einmal still und anständig in einen Winkel setzen würde, wie sich das für ein kleines Mädchen gehörte.

Sie zog sich ihren Pelzhut über die dicken Zapfenlocken, ihre »Salonfrisur«, und schlüpfte in die festen Stiefel. Genauso rasch, wie sie sich nun ihren blauen Umhang überstreifte, bevor sie die Tür aufstemmte, hätte sie gern ihr Schicksal abgestreift.

Es war einer dieser glitzernden, lockenden Tage, die wie ein Vorgeschmack auf den Himmel waren. Es hatte zu schneien aufgehört und der Schnee lag dick und silberweiß auf dem Boden. Die Sonne strahlte und der Himmel leuchtete in einem tiefen, jenseitigen Blau. An einem Tag wie diesem konnte alles möglich sein.

Aurelia sank bis zu ihren Knien ein, richtete sich aber standhaft auf und ärgerte sich über ihre unsinnigen Röcke. Sie raffte diese zu dicken Bäuschen und taumelte wie ein staksendes Reh durch den Schnee, dessen kristallene Kälte ihr in den Lungen brannte.

Vergangene Woche hatte sie ihre Mutter fünf Tage lang nicht gesehen. Der metallische Geruch von Blut und die Schreie, die aus ihrer Schlafkammer drangen, waren jetzt nur noch Erinnerung und ihre Mutter weilte wieder inmitten der Familie – war aber schwerer denn je zufriedenzustellen. Aurelia war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt versuchen wollte. Die Atmosphäre im Haus war angespannt und konnte jederzeit kippen.

Das Sonnenlicht schaffte es nicht durch die Bäume hinter dem Haus. Schneebeladene Eibenäste und verkümmerte, spillerige Finger von Eichenzweigen streckten sich Aurelia entgegen. Sie legte ihre Hände darauf und begrüßte sie wie alte, tröstliche Freunde. Ihre Locken hatten sich gelöst und lagen wie Schlangen auf ihren Schultern. Bis auf das Kreischen der Eichelhäher war alles still. Sie schwang sich auf einen tiefen Ast, um zu lauschen, und träumte davon, Hatville Court zu verlassen und niemals zurückzukehren.

Als sie die merkwürdigen Schreie hörte, wäre sie fast in die Schneewehen gefallen. Sie kamen schwallartig, waren schwach, aber durchdringend und bedrängten sie, herunterzuspringen und sich auf die Suche zu machen. Sie hatte das Gefühl, als würde eine übernatürliche Kraft Fang-mich-doch mit ihr spielen. Wieder ertönten sie – das Lied eines Kobolds – und zogen sie durch die Bäume hinaus ans Sonnenlicht.

Schließlich stand sie auf einer Hügelkuppe. Vor ihr wand sich etwas Blaues, Haarloses im Schnee. Noch hielt der Zauber der alten Bäume sie in ihrem Bann und sie hatte Angst, das Geschöpf anzufassen. Aber dann brach ihre Neugier den Zauber und sie trat näher. Es war ein Menschenkind, ein winziges Baby. Sie löste eilig den Umhang und griff nach dem Säugling. Seine Haut war so kalt wie Erdbeersorbet. Sie wickelte ihn ein und drückte ihn an sich.

Da stimmte doch etwas nicht, befand Aurelia, wenn ein nacktes Kind allein am Rande eines einsamen Waldes lag.

»Hallo?«, rief sie und sah sich um. »Hallo? Ich habe Ihr Baby!«

Nichts als Schweigen und eine Krähe, die sich auf ihren seidigen Schwingen in die Lüfte erhob. Das Baby war sehr kalt und wog fast nichts. Aurelia drehte sich um und rannte los, so schnell es ihre Röcke erlaubten.

ERSTER TEIL

Januar 1848

EINS

Ich weiß, dass sie mich beobachten. Die Straße, die aus dem Dorf herausführt, ist lang und gerade. Erst nach einigen Meilen kommt eine Biegung, die mich aus dem Blickfeld der oberen Fenster des großen Hauses entlässt. Ich weiß, was sie sehen: ein Nichts, ein Niemand. Eine kleine stramme Gestalt, einsam und in Trauerschwarz gekleidet, mit steifen Röcken, die sich raschelnd an meinen Stiefeln reiben, den Umhang gegen die Kälte fest an den Leib gedrückt. Eine frisch gestärkte schwarze Haube sitzt trostlos auf meinem Kopf, mit ihren Bändern spielt der Wind. Ein hoffnungsloseres Bild kann man als Reisende im Januar wohl kaum abgeben.

Frost bedeckt die Felder und die Straße, das Dorf ist einsam und leer, meine Stiefel hinterlassen eine Spur von Abdrücken, die sich im Unendlichen verlieren. Und genau das erhoffen sie sich auch von mir – dass ich verschwinde wie ein geschmolzener Fußabdruck. Wenn ich kann, werde ich ihrem Wunsch nachkommen. Der Grund, weshalb ich hier bin, der einzige Mensch, den ich je geliebt habe, liegt nun sechs Fuß unter der Erde, unter dichten schattengrünen Eibenzweigen in einem stillen Winkel des Kirchhofs. Dort hat man sie gestern begraben.

Die Luft ist so kalt, dass sie mir die Tränen aus den Augen brennt, Augen, von denen ich dachte, sie hätten sich für alle Zeit ausgeweint. Nach den biblischen Strömen, die ich in den vergangenen drei Tagen vergossen habe, glaubte ich nicht, dass meine ausgelaugte Gestalt noch über Wasserreserven verfügte. Doch wie es scheint, gehen das Leben, die Trauer und der Winter weiter. Meine Zehen sind taub geworden auf dem langen Marsch, der mich von Aurelias Grab und von Hatville Court wegführt, dem einzigen Zuhause, das ich je gekannt habe, so missgünstig es mir gegenüber auch war.

Schon bald dräut die Dunkelheit. Eine Mondsichel, so scharf, wie ich noch keine gesehen habe, hängt klar umrissen an einem grauen Himmel, und vor mir sehe ich die Umrisse von Ladywell, dem nächsten Weiler. Ich bin viele Stunden gelaufen.

Dort werde ich einkehren, weil mir nichts anderes übrigbleibt, obwohl meine Bedürfnisse weder durch Essen, Ale oder ein Feuer gestillt werden können. Die Kälte in meinen Knochen ist nichts gegen das Eis in meinem Herzen, und keine auch noch so angenehme Gesellschaft vermöchte mich für das Fehlen von Aurelia zu entschädigen. Aber bis zum nächsten Dorf wären es noch mal sechs Meilen und die Straßen liegen in völliger Finsternis. Weiterzugehen wäre der Gipfel der Torheit, eine junge Frau ganz allein war für Wegelagerer schon immer ein leichtes Ziel. Und obwohl ich nur wenig Zuversicht habe, dass mein Leben sich jemals wieder lebenswert anfühlen wird, möchte ich es doch nicht einfach wegwerfen. Aurelia mag tot sein, aber sie ist mit mir noch nicht fertig. Ich werde ihren auf dem Sterbebett geäußerten Wünschen genauso gewissenhaft nachkommen, wie ich das tat, als sie noch bei mir war.

Ich betrete das Rose and Crown. Mit meinem zweiten, geheimen Erbe von Aurelia könnte ich mir auch das White Harte Royal leisten, ein Hotel, das einen guten Ruf genießt. Aber zwischen Ladywell und Enderby bleibt nichts geheim. Und sollte man auf Hatville Court erfahren, dass Amy Snow sich ein Zimmer im Harte genommen hat, wären sie bereits morgen wie die Höllenhunde in ihrer Kutsche hinter mir her. Denn dann hätten sie Verdacht geschöpft, dass zu meiner Hinterlassenschaft mehr gehört als das, was offensichtlich ist.

Das Rose and Crown muss genügen. Was hier in der Gaststube geplaudert wird, mag einer jungen Dame, die um ihren Ruf bedacht ist, nicht angemessen sein, aber schließlich bin ich keine Dame: Dies hat man mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben.

In der Eingangshalle zögere ich. Was bin ich? Ein ehrbares Fräulein oder ein Gossenkind? Bedienstete, Schwester oder Freundin? Die Rolle, die ich in der Geschichte von Aurelia Vennaway spiele, ist mir selbst das größte Rätsel, zumal jetzt, da ich aufgerufen bin, sie zu Ende zu bringen.

»Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Ein sehr zurückhaltender Gastwirt kommt auf mich zu, umklammert seine Hände, als fürchte er, mit seiner bloßen Anwesenheit Ärgernis zu erregen. Wie gut ich dieses Gefühl kenne.

»Besten Dank, Sir. Ein Zimmer für die Nacht, wenn es recht ist, und vielleicht eine Kleinigkeit zum Abendessen – nichts Üppiges – und ein wärmendes Getränk.«

»Gewiss, Miss, gewiss. BELLA!« Sein gastfreundlicher Ton schlägt in Gebrüll um, und ein junges Mädchen kommt in die Eingangshalle geflitzt wie ein Hase aus seinem Bau.

»Bella, zünde im Barley Room ein Feuer an und nimm der Dame die Tasche ab«, erteilt er seine Anweisungen, nun wieder in normaler Lautstärke. »Darf ich Ihnen empfehlen, Miss, das Abendessen in der Gaststube einzunehmen? Ich schlage dies nur vor, weil dort bereits ein Feuer lodert und es einige Zeit dauern wird, bis Ihr Zimmer angenehm temperiert ist. Es ist ruhig in der Stube – die Kälte hält die meisten zu Hause und, verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber Sie sehen aus, als wären Sie bis auf die Knochen durchgefroren, Miss …?«

»Snow.«

Da sieht er mich an und es scheint ihm zu dämmern. Bella bleibt mit meiner Tasche, die ihren dünnen Arm fast bis zum Boden zieht, stehen und starrt mich mit unverhohlener Neugier an, bis er ihr befiehlt, sich an die Arbeit zu machen.

»Sollten Sie mit der Gaststube einverstanden sein, Miss Snow, werde ich mich gern selbst Ihrer annehmen und dafür sorgen, dass Sie ungestört sind. Und wenn Sie dann gegessen haben, wird Ihr Zimmer auch für Sie bereit sein.«

Seine Freundlichkeit treibt mir wieder die Tränen in die Augen und ich vermag sie nur mit allergrößter Anstrengung zurückzuhalten.

Ich nehme mein Abendessen in der Stube ein, und obwohl ich nur ganz wenig essen kann, verfehlen die Wärme und der Wohlgeschmack nicht ihre kräftigende Wirkung. Ich verweile nicht länger, sondern ziehe mich auf mein kleines, schlichtes Zimmer zurück, das wie versprochen leidlich warm ist. Benommen mache ich Toilette, allerdings nur das Nötigste.

Während meiner Wanderung kam mir die Idee, niederzuschreiben, wie ich meine Zeit verbringe und wohin ich reise, damit mein Leben ein wenig Substanz bekommt, es ein Zeugnis davon gibt. Allein in der Stille, lastet Aurelias Abwesenheit schwer auf mir, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, klein beizugeben, nicht gleich am Anfang meiner Suche. Ich muss so stark wie möglich sein.

Ich beginne zu schreiben. Denn etwas anderes gibt es für mich nicht zu tun.

ZWEI

Ich kann nicht umhin, ich muss mit einer Betrachtung über Betten beginnen. Zweifellos ein unziemlicher Gegenstand für eine junge Dame, doch warum eigentlich? Ein Bett ist ein Ort, in dem sich der Großteil des Lebens abspielt – Geburten, Todesfälle, Leidenschaften und Träume –, all jene höchst fundamentalen Augenblicke unserer fragilen menschlichen Existenz.

In dieser Geschichte gibt es einige wichtige Betten, nicht zuletzt das Krankenlager meiner Herrin, das sie in den letzten drei Jahren nicht oft verlassen konnte. Und mein eigenes, mein erstes bekanntes Bett, das aus Schnee war – eine jungfräuliche weiße Matratze, die meinen winzigen Kopf stützte, meine strampelnden Gliedmaßen umfing und mein armes Kinderfleisch so sehr abkühlte, dass ich blau bis auf die Knochen war. Es gab mir auch meinen Namen. Ich verdanke ihm jedoch nicht nur einen passenden Namen, sondern auch ein angemessenes Symbol meiner Identität. Mein Stand in dieser Gesellschaft, die wir unsere Welt nennen, leitet sich von dieser kalten weißen Leere ab.

Dieses weiche, glitzernde, wunderschöne Bett hätte ich nicht überlebt – was auch nicht beabsichtigt war, sehen wir den Tatsachen ruhig ins Auge –, wäre da nicht ein eigenwilliges Kind gewesen, das nur selten das tat, was ihm befohlen wurde. Dieses Kind war Aurelia Vennaway, einziger Spross von Sir Charles und Lady Celestina Vennaway, der vornehmsten Familie der Grafschaft.

Mit ihren frühreifen acht Jahren war Aurelia ihren Eltern gleichermaßen Schatz wie Fluch. Unbeeindruckt von ihrem eigenen hohen gesellschaftlichen Stand, schien sie die angeborenen Unterschiede in der Wertigkeit, die zwischen den Menschen existieren, nicht wahrzunehmen. Ich hingegen habe meine Augen nie vor der Tatsache verschlossen, dass einige Kinder unendlich kostbarer sind als andere.

An dem Tag, als sie mich fand, trug Aurelia ein kupferfarbenes Kleid und feste braune Stiefel mit kupferfarbenen Knöpfen. Sie war eingehüllt in einen himmelblauen Umhang und hatte einen cremefarbenen Pelzhut auf dem Kopf. Natürlich kann ich mich daran nicht erinnern, aber sie erzählte es mir. Aurelia erzählte mir sämtliche Geschichten meiner frühen Jahre in akribischer Genauigkeit, als wollte sie meine unbekannte Herkunft mit einer reichhaltigen Lebensgeschichte wettmachen.

An jenem Tag hatte die Langeweile sie in dem überheizten Salon mit seinen viel zu vielen Menschen darin geradezu verschlungen. Auch wenn draußen so viel Schnee lag wie seit Menschengedenken nicht mehr, lachte doch die Sonne und Aurelia konnte nun mal im Freien am besten atmen. Keine vier Wände egal welchen Raums boten ihr den Horizont, nach dem sie sich sehnte – einen Horizont, den sie mit ihren Augen ermessen und den sie auf ihren eigenen zwei Beinen erobern konnte. Sie war wie ein wildes Tier, wie Cook immer sagte.

Sie rannte in den Wald, wo die Eichelhäher ihre Empörung derart innig herauskreischten, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass sie mich überhaupt hörte. Aber sie tat es, und obwohl sie ihren Hut verlor, als sie durch den Schnee rutschte und krabbelte, fand sie mich – dünn und verzweifelt unter einem endlosen blauen Himmel. Ich frage mich, ob ich überhaupt dazu in der Lage war, dies bewusst wahrzunehmen, oder ob Aurelia in ihrem himmelblauen Umhang mir nicht wie eine aus Luft geformte Göttin vorkam.

Anders als die Babys von Vettern und Cousinen und Bekannten, die bis dato ihre Erfahrung mit Kindern geprägt hatten, war ich nicht rotgesichtig und herzig, sondern spindeldürr und blau. Auch war ich nicht in mehrere Ellen Satin und Spitzen gewickelt; ich war völlig nackt. Ich schrie, sagte sie, als wollte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen.

Sie hüllte mich also in ihren Umhang und rannte mit mir nach Hause. Unter Missachtung sämtlicher Regeln des Anstands platzte sie, ohne vorher die Stiefel auszuziehen, in den Salon, wo ihre Mutter und die Tanten noch immer zusammensaßen, stickten und plauderten. Mit entsetztem Aufstöhnen kommentierten sie die Schneespuren auf dem Teppich, als Aurelia das Bündel vorsichtig vor dem Feuer ablegte und den Umhang auseinanderschlug.

Sie konnte nicht verstehen, warum Lady Vennaway auf meine Ankunft mit dem Aufschrei »Aurelia!« reagierte, als hätte sie etwas wahrhaft Schlimmes angestellt. Sie konnte nicht begreifen, warum sie in Ungnade gefallen war – und dies war eindeutig der Fall –, weil sie einer lebendigen Seele geholfen hatte. Ebenso wenig konnte sie verstehen, warum ihre Tante Evangeline so ein Theater wegen des verlorenen Hutes machte, als wäre ein Hut wertvoller als ein Baby.

Doch schon bald erklärten sie ihr, dass nicht alle Babys gleich viel wert waren, sondern ihr Wert von vielen Dingen abhing, insbesondere von den Umständen ihrer Geburt und der Familie, in die sie hineingeboren wurden. Dass die Welt in der Tat Raum hatte für eine ganze Hierarchie von Babys. Ich war ein besonders wertloses Exemplar, eine widerwärtige Ausgeburt der Schande – wenn auch nicht ihrer eigenen –, das weder willkommen noch dem erhabenen Haushalt der Vennaways angemessen war.

Gleich nach meiner Ankunft in Hatville Court wurde ich in die Küche verbannt. Das lodernde Feuer im Salon und der flauschig weiche Perserteppich standen mir nicht zu. Nein, die Abwärme des Küchenherds und eine hastig ausgeleerte Kartoffelkiste mussten genügen. Aber Aurelia bestand darauf, mir dorthin zu folgen, und gemeinsam kümmerten sie und Cook sich um mich, päppelten mich auf, bis ich wieder rosig und lebendig war.

Lady Vennaway war zutiefst entsetzt. Und dies nicht wegen der mir angetanen Grausamkeit, denn ihr war sehr wohl bewusst, dass die Menschheit jenseits der besten Familien ein einziger Sündenpfuhl war. Sondern dass das Ergebnis derartiger Amoralität sich auf ihrem Grundstück zeigte, auf ihren Haushalt übergriff – das war das Ungeheuerliche. An jenem Tag wollte sie (und ihr Ehemann war mit ihr einer Meinung) mich nur loswerden. Es gab Waisenhäuser, Armenhäuser, dafür geschaffen, um Probleme wie mich zu lösen. Aber ihre geschätzte, vergötterte Aurelia wollte davon nichts hören.

Man mag sich Hatville Court als ein neuzeitliches Schlachtfeld wie das von Agincourt vorstellen, wo das Kampfgeschehen über zweieinhalb Jahrzehnte immer wieder abflaute, um dann erneut anzuschwellen. Die eine Armee bestand aus Lord und Lady Vennaway: mächtig, angesehen, vermögend und immer unbestreitbar im Recht. Sie hatten die Historie, die Autorität und die Konvention auf ihrer Seite. Die gegnerische Armee vertrat Aurelia. Als Kind, ja auch als Tochter hatte sie keinerlei Siegeschancen, doch sie weigerte sich, diesen Tatbestand anzuerkennen, und sie kam damit recht weit.

Die meisten Kämpfe Aurelias waren unbedeutender Natur: Es ging um die Wahl eines Kleides, die Zensur ihrer Lektürevorlieben, ob sie ihre Mutter bei deren morgendlichen Besuchen in der Nachbarschaft begleiten musste oder nicht. Manchmal gewann sie, aber meist verlor sie. Ihr Eintreten für mich war jedoch der erste von mehreren Fällen, in denen sie sich gegen alle Widerstände durchsetzte. Ihren Sieg errang sie durch pure Halsstarrigkeit, indem sie einen eisernen Willen zeigte, wie er einer jungen Dame keinesfalls anstand. Ich vermute auch, dass sie auf einen Wutanfall zurückgriff. Doch so wie auch dem hervorragendsten General eine Verstärkung zupasskommen mag, so wurde auch Aurelias Kampagne von unerwarteten Verbündeten unterstützt.

Unter den ersten waren Lady Vennaways auf Besuch weilende Schwestern. Zwar entsetzte sie mein Anblick, aber einige drückten auch ihr Mitgefühl für mich armes Kind aus und waren erleichtert, dass die Vorsehung mich in eine Familie so großen Wohlstands gebracht hatte und mich in Zukunft davor bewahrte, anderen zur Last zu fallen. (Gut möglich, dass sich hinter diesen philanthropischen Gefühlen auch Missgunst gegen Lady Vennaway verbarg, der stolzesten und schönsten der Schwestern.)

Die zweite Verstärkung traf in Gestalt von Hochwürden Mr Chorley nur zwei Stunden später ein. Sollte ihn das Geschnatter der Frauen, in das er geriet, erschreckt haben, lenkten ihn die Neuigkeiten, die ihn erwarteten, gleich darauf ab. Aurelia, die sich seit meiner Ankunft bockig zurückgezogen hatte, tauchte plötzlich wieder auf und informierte ihn über ihre Entdeckung. Ihre blumige Beschreibung des armen blauen Babys erfuhr weitere Ausschmückung durch Gwendoline, die jüngste und unbesonnenste der Tanten. Der gute Hochwürden war ebenfalls der Meinung, dass Gott mich zu den Vennaways gebracht hatte, um mein Leben zu retten und zugleich Lady Vennaway mit der unschätzbaren Gelegenheit zu segnen, ihrer Christenpflicht nachzukommen und dem ganzen Dorf ein Vorbild zu sein.

Für die Vennaways stand der gute Ruf über allem. Ihre Ladyschaft war in die Ecke getrieben. General Aurelia obsiegte.

DREI

Im schwindenden Licht meiner Laterne ziehe ich aus der Tasche meines schwarzen Kleides einen Brief. Ich wiege ihn in meinen Händen und denke dabei zurück an die Eröffnung von Aurelias Testament. Mir ist, als sei seitdem ein ganzes Leben vergangen. Dabei war es erst gestern.

Die Beerdigung – eine abscheuliche Angelegenheit – fand am Morgen statt, danach zogen wir uns alle zurück, um im Privaten zu trauern. Um vier Uhr nachmittags versammelten wir uns im Herrenzimmer: Lord und Lady Vennaway, Aurelias Cousine Maude, ich selbst, Cook und Mr Clay, der Dorfschullehrer. Kurz gesagt, die von ihr Bedachten. Und natürlich Wilberforce Ditherington, ihr Anwalt.

Der Raum war diesem düsteren Anlass angemessen. Überhaupt ist das ganze Haus, so stattlich es auch ist, düster und nüchtern. Wer als Besucher zum ersten Mal nach Hatville kommt, mag sich von der Anlage täuschen lassen, die voller Leben, üppig und weitläufig ist. Die saftigen Felder und wogenden Wälder, die ausgedehnten Wiesen und Obstgärten, die ummauerten Gärten mit ihren Kräutern und Rosen sind allesamt seit hundert Jahren unverändert. Doch die Schönheit, der Überfluss findet sich nur im Freien.

Die Fassade des Hauses ist beeindruckend, keine Frage. Hat man es jedoch betreten, wird der Neuankömmling Mühe haben, einen Schauder zu unterdrücken. In zwei der Flügel ist sämtliche Einrichtung mit Tüchern abgedeckt. Das spärliche Mobiliar in den großen Räumen ist altmodisch. Auf den Tischen wird das Essen serviert und die Stühle bieten Platz zum Sitzen, doch weitere Inspiration sucht man vergeblich. Keinem auf Hatville käme es in den Sinn, an Behaglichkeit oder Schmuck zu denken.

Von dem Moment an, als Aurelia starb, spürte ich mein eigenes Lebenslicht in mir erlöschen. Und so konnte die von allen Anwesenden verachtete Amy Snow, die gestern in der Ecke des düsteren Herrenzimmers stand, die missbilligenden Blicke nicht mehr spüren, die auf sie abzielten.

Mr Ditherington las vor, auf welche Weise Aurelia ihr persönliches Vermögen zu verteilen wünschte, und die Worte wehten über mich hinweg wie Sand. Geldbeträge, intonierte er, würden an die diversen philanthropischen Einrichtungen gehen, die Aurelia unterstützte: die Gesellschaft zur Erziehung der Unterklasse, die Anti-Cholera-Bewegung von Surrey, die Allianz zur Förderung menschlicher Behausungen für die Mittellosen und so weiter. Aurelias Eltern starrten aus dem Fenster und waren wie immer wenig begeistert und leicht verwirrt angesichts der milden Taten Aurelias. Dann kam Mr Ditherington auf die persönlicheren Hinterlassenschaften zu sprechen, und die Vennaways hörten wieder genauer hin.

Mr Clay schwankte, als er die Summe erfuhr, die sie seiner kleinen Schule vermacht hatte. Damit wurden Reparaturen, Schulmittel und Erweiterungen möglich, eine Verwirklichung seines langgehegten Traums.

Cousine Maude war entzückt, dass sie all die prächtigen Kleider, Hauben und Umhänge Aurelias bekam. Denn selbst in ihrer Gebrechlichkeit noch verfolgte Aurelia die neuesten Modeerscheinungen und ließ sich regelmäßig maßgeschneiderte Kleider aus London kommen. Sie war immer recht – und zu Recht – eitel gewesen.

Cook weinte, als sie hörte, dass Aurelia ihr mehrere Schmuckstücke, darunter auch ihr goldenes und mit Rubinen besetztes Medaillon zugedacht hatte. Lord und Lady Vennaway nahmen es mit gequälten Mienen hin, aber Cook war hier nicht die Gefahr. Sie war eine Bedienstete, die schon lange zur Familie gehörte, weshalb die Zuneigung Aurelias zu dieser Frau verständlich war. Und Aurelia konnte nun mal nicht anders, als unangemessen großzügig zu sein.

Ich war diejenige, die eine Gefahr bedeutete, denn ich hatte ihr näher gestanden als alle anderen. Trotz meiner beschämenden Anfänge und dem hartnäckigen Beharren der Herrschaft, dass ich eine niedrige, mehr als entbehrliche Bedienstete war, hatte Aurelia darauf bestanden, mich erst zur Zofe, dann zur Gesellschafterin und in den letzten Monaten zur Privatpflegerin zu erheben. Dabei hatten sie mich mit zahllosen kleinen und großen Grausamkeiten loszuwerden versucht, aber Aurelia ließ es nicht zu, von mir getrennt zu werden, und ich verfüge über ein äußerst starkes Durchhaltevermögen.

Als mein Name vorgelesen wurde, versteiften sich alle Anwesenden. Aurelias Eltern warteten gereizt darauf zu erfahren, mit welch unerträglicher Verschwendung sie mich postum beschenken würde. Was in diesem Fall aber überraschend harmlos ausfiel:

Amy Snow, meiner wahren Freundin und ergebenen Gefährtin während dieser langen Jahre meiner Krankheit, hinterlasse ich zehn Pfund, eine Summe, von der ich weiß, dass sie diese klug einsetzen wird, um ein neues Leben zu beginnen, wo immer es ihr gefällt. Dazu meinen goldenen Granatring, welchen ich sie dringend ersuche, zu meinem Andenken zu tragen. Ebenso mein letztes Skizzenbuch, in dem ich meine Eindrücke vom vergangenen Herbst festgehalten habe. Diese waren umso leuchtender dank ihrer Freundschaft, die wie ein gutes Feuer brannte und die Kälte meines bevorstehenden Dahinscheidens vertrieb.

Ich war mir der erleichterten Seufzer um mich herum nur allzu bewusst: Es bestand so kurz nach Aurelias Tod also keine Notwendigkeit, eine Szene zu machen. Der Ring, den sie mir vermacht hatte, war weniger kostbar als Cooks Medaillon – hauptsächlich von sentimentalem Wert. Die Geldsumme entband sie der Notwendigkeit, eine Entscheidung darüber zu fällen, was sie mit mir tun sollten; ich wusste, dass sie keinen einzigen Penny drauflegen würden. Das sehr persönliche Skizzenbuch war für mich bedeutsamer als für sie. Das konnten sie verschmerzen. Oh, wie gut sie uns alle kannte.

Zehn Pfund. Dies war der Geldbetrag, den Mr Ditherington mir feierlich vorzählte und am gestrigen Spätnachmittag in die Hand drückte. Einen Ring und ein Skizzenbuch. Dies waren die Andenken, die ich mir an den Finger und in meine Reisetasche steckte, wohl wissend, dass ich Hatville Court am nächsten Tag für immer den Rücken kehren würde. Ich hätte meine Sachen auch gleich nach Aurelias Hinscheiden gepackt, hätte man in der Nachbarschaft nicht so gut über ihre Gefühle für mich Bescheid gewusst. Wäre ich nicht auf der Beerdigung erschienen, hätten die Leute geredet, und Gerede war den Vennaways zuwider. Zudem wurde ich natürlich bei der Verlesung des Testaments gebraucht und es hätte keinen guten Eindruck gemacht, wenn sie mich dann so spät noch weggeschickt hätten. Und jene feine Verkettung von Zeit und Umständen hatte möglich gemacht, was am nächsten Morgen geschah. An diesem Morgen. Heute!

Ich schlief unruhig, noch immer zerfressen von Einsamkeit und voller Angst vor einer Zukunft, die ich mir nicht vorzustellen vermochte. Aber ich vertraute Aurelia: Wenn sie sagte, ich könne mit zehn Pfund ein neues Leben beginnen, dann würde ich das auch tun. Diese aufwühlende Mischung aus Vertrauen und Angst begleitete mich durch den ganzen Morgen, als ich im faden Winterlicht auf die Beine kam und mich ans Fenster stellte, um meinen Blick auf den Horizont zu richten in der Hoffnung, dort eine Eingebung zu finden.

Und dies geschah auch, wenn auch nicht auf die von mir erwartete Weise. Mr Clay spazierte im Küchengarten auf und ab.

Das erstaunte mich. Natürlich war er gestern nach der Testamentseröffnung nach Hause gegangen. Warum war er so früh wieder zurück, und dann noch inmitten der Gemüsebeete? Mit den Vennaways hatte er bestimmt nichts zu schaffen, schließlich war er doch nur ein unbedeutender Schullehrer ohne Abstammung.

Dann blickte er auf, entdeckte mich und hob eine Hand, wobei sein Mund sich zu einem »Ah!« öffnete, das ich natürlich nicht hören konnte. Mit einer Folge von Gesten lud er mich ein, zu ihm zu kommen, was, wie er mir zu verstehen gab, heimlich zu geschehen habe, wobei er mich aber gleichzeitig seiner Ehrerbietung versicherte. Ich hatte nicht gewusst, dass eine Kommunikation ohne Worte derart ergiebig sein konnte. Ich kleidete mich hastig an, band mein Haar zusammen und lief dann durch die stillen Flure hinaus in den ummauerten Küchengarten.

»Gibt es einen Ort, wo wir ungestört sind? Abseits des Hauses?«, fragte er sofort mit leiser, drängender Stimme. Was immer er vorhatte, es war eindeutig zu wichtig, um Zeit mit Nettigkeiten zu vergeuden.

Also führte ich ihn durch ein Tor, dann entlang einer Straße und in ein kleines Wäldchen. Dort waren wir, abgeschirmt von Bäumen und dem Morgennebel, unbeobachtet. Flüsternd verbreitete der Wind in seiner eigenen unverständlichen Sprache seine Geheimnisse. Die Bäume verharrten in rätselhaftem Schweigen, kahl und schwarz, wie die Wahrheit von Aurelias Tod.

Er sah sich um und zog, als er den Platz zu seiner Zufriedenheit fand, seinen Hut. »Ich bitte um Verzeihung, Miss Snow, dass ich Sie in einer so schwierigen Zeit behellige. Doch Sie müssen wissen, dass ich im Auftrag zu Ihnen komme.«

»In wessen Auftrag, Mr Clay?«

Seine eigenen Worte schienen ihn zu verwirren. »Von Miss Vennaway.«

Mein Herzschlag setzte aus. Wie war dies möglich?

Er griff in seinen Übermantel und zog ein Päckchen heraus. Zögernd hielt er es fest. »Als ich gestern Abend nach Hause kam, fühlte ich mich … in gehobener Stimmung wegen der großzügigen Zuwendung, mit der sie mich bedacht hat. Ich setzte mich in mein Arbeitszimmer und verfasste einen ausführlichen Brief an Miss Page, in dem ich ihr von Miss Vennaways Großzügigkeit und Weitsicht berichtete. Miss Page und ich sind einander versprochen, wissen Sie?«

»Ich weiß, Mr Clay, ich weiß.«

»Und dann, nun, nahm ich ein paar Koteletts zu mir.«

»Koteletts, Mr Clay?«

»Jawohl, Koteletts. Gebraten mit Kräutern und Zwiebeln, köstlich. Ich finde, dass Glück zu einem herzhaften Appetit führt. Und so dauerte es einige Zeit, bis ich in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, um das Päckchen zu öffnen, das Mr Ditherington mir anvertraut hatte. Es war ziemlich groß, wie Sie sich erinnern werden, und ich erwartete, juristische Unterlagen darin zu finden.«

Ich konnte mich nicht an das Päckchen erinnern, so zerstreut, wie ich während der Testamentseröffnung gewesen war. Aber sollten sich darunter ein paar letzte Worte von ihr befinden, hätte ich für diese alles gegeben, was ich besaß.

»Tatsächlich enthielt es sehr wenig für mich. Einen Bankscheck über die festgelegte Summe und einen Brief mit äußerst freundlichen Wünschen für die Zukunft der Schule und mein eheliches Glück. Doch der Brief enthielt auch eine Bitte. Und … das hier.« Endlich überreichte er mir das Päckchen.

Darauf stand Amy Snow in Aurelias vertrauter Handschrift, geschrieben mit ihrer violetten Lieblingstinte. Ich konnte es kaum glauben und blickte hoch in Mr Clays ernstes Gesicht.

»Die Bitte lautete, Ihnen dies persönlich auszuhändigen, bevor Sie Hatville Court verlassen, und Stillschweigen darüber zu bewahren, dass ich es getan habe. Ich konnte ihr das nicht verwehren.«

»Sie hat an alles gedacht«, sagte ich leise.

»Sie haben ihr alles bedeutet. Ich wünsche Ihnen Glück, Miss Snow. Ich hoffe, Sie werden in mir einen Freund sehen, wohin auch immer Ihr Weg Sie führen wird.«

Er verneigte sich und ich machte einen Knicks, dann ging jeder seiner Wege. Er wünschte mir eine gute Reise und ich ihm meinen Segen für seine Bemühungen um die Schule, in dem sicheren Bewusstsein, dass ich den guten Mr Clay niemals wiedersehen würde.

Länger verweilen würde ich nicht. Ich war angekleidet und hatte bereits halb gepackt. Wenn es mir gelänge aufzubrechen, bevor ich den Vennaways begegnete, würde dies uns allen Unannehmlichkeiten ersparen. Aber zuerst wollte ich erfahren, was sie mir mitzuteilen hatte. Hastig machte ich das Päckchen auf und zog einen Umschlag heraus. In dem Umschlag steckten ein Bündel Geldscheine, die ich nicht zählte, und ein Brief, den ich sofort öffnete. Ich wollte kein Risiko eingehen und ihn im Haus lesen, denn selbst in meinem Zimmer konnte ich mich nicht darauf verlassen, ungestört zu sein. Also blieb ich in dem Wäldchen und las zitternd im Zwielicht, wobei ich die Worte vor mir kaum zu fassen vermochte.

Dann eilte ich zurück. Ich packte zu Ende, verschloss meine Reisetasche, bürstete mein widerspenstiges dunkles Haar und rüstete mich für meinen Weg.

Als plötzlich die Schlafzimmertür aufsprang, rutschte mir fast das Herz in die Hose. Ich wirbelte herum und sah Lord Vennaway mit grauem Gesicht und bebendem Schnurrbart auf mich zukommen.

»Du!«, krächzte er und strich sich mit der Hand durchs Haar, bevor er sie in eine Tasche steckte, als Faust wieder hervorholte und wieder wegsteckte. »Du bist hier und solltest es nicht sein, hättest niemals hier sein dürfen. Wer bist du überhaupt? Machst dir das sanfte Herz meines Mädchens und seine Unschuld zunutze. Erschwatzt dir seine Zuneigung. Bleibst hier, wo du nicht willkommen bist. Intrigantin! Landstreicherin! Abschaum! Du hättest sterben sollen, nicht sie. Wir schätzten sie, aber sie war wie eine vom Brand befallene Rose. Und du warst Gift in ihrem Ohr. Du warst kein passender Umgang für sie. Womöglich hätte sie leben können, wenn du sie in Ruhe gelassen hättest, aber das wolltest du nicht. Du wolltest es nicht!«

Ich hatte ihn nie so sprechen hören. Eigentlich hörte ich ihn so gut wie nie sprechen – wir gingen einander normalerweise aus dem Weg. Seine Frau war weitaus öfter meine Peinigerin, von ihr hatte ich unzählige Male vernommen, dass das falsche Kind gedieh, dass Aurelia etwas Großes vorherbestimmt war, dass sie mich im Schnee hätte sterben lassen sollen. Lord Vennaway hingegen trug seine Missbilligung nur zur Schau – wie eine Regenwolke über einem Picknick. Dass dieser Mann nun wütend, leidvoll und tobend in meinem Zimmer stand, war zutiefst beängstigend. Ich wich vor ihm zurück.

»Was hast du da?«, wollte er wissen und drängte sich an mir vorbei und griff nach meiner Reisetasche.

Ich hielt vor Entsetzen die Luft an. Das kostbare Päckchen! Das durfte ich nicht verlieren, bevor ich mir seinen Inhalt angesehen hatte. Ich durfte Aurelia so kurz vor meinem Aufbruch nicht enttäuschen!

Wenigstens befand sich der Brief sicher in meinem Rock. Instinktiv legte sich meine Hand darauf und ich spürte sein papierenes Rascheln. Lord Vennaway starrte mich finster an und für einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde meine Hand wegreißen und den Brief und das Geld finden. Aber stattdessen fing er an, meine Tasche zu durchwühlen, ein nicht weniger demütigender Übergriff. Kleider, Bücher, Unterwäsche (ich schloss vor Scham die Augen) und alte Briefe wurden durch die Luft geworfen, so dass sie auf Bett und Fußboden landeten, während er seine besessene Suche mit einem Grunzen begleitete. Das Päckchen wurde im Nu entdeckt.

»Was ist das?«, herrschte er mich an, als er Aurelias Handschrift auf der Verpackung fand.

Ich musste etwas sagen. »Ein Geburtstagsgeschenk. Von Aurelia.«

»Ein Geburtstagsgeschenk? Du hast keinen Geburtstag. Du hast keine Geburt, die es wert ist, beachtet zu werden.« Seine Augen bohrten sich in meine.

Das vermochte mich nicht zu treffen. Ich hatte Schlimmeres gehört.

»Wir haben uns angewöhnt, einen Geburtstag für mich anzunehmen. Im Januar. Der Tag, an dem ich gefunden wurde. Es war ein paar Tage bevor sie … sie …« Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich brachte es, Gott steh mir bei, nicht über mich, gestorben zu sagen. »Ich behielt es«, haspelte ich weiter, »damit ich etwas von ihr habe, nachdem … nachdem …«

Entsetzt beobachtete ich, wie er es hin und her drehte, als wollte er es öffnen.

»Nein!« Ich konnte nicht anders. Ich streckte meine Hand danach aus, aber er stieß mich grob weg.

Er riss das Papier auf und ich sah zu, zur Hilflosigkeit verdammt. Ein durchscheinender grüner Stoff quoll heraus, weich und feminin, vielleicht auch bestickt, was ich in meinem Schrecken nicht zu erkennen vermochte. Auch diesen warf er beiseite. Die Verpackung landete auf dem Bett, die grüne Gaze glitt zu Boden.

»Raus hier!«, zischte er. »Verlass mein Haus und kehre nie zurück. Wir haben deine widerliche Anwesenheit viel zu lange geduldet. Nun ist Aurelia tot und damit auch jede Zuneigung zu dir. Du sollst wissen, dass wir, solltest du jemals wieder einen Fuß auf dieses Anwesen setzen, den Gendarmen rufen und dafür sorgen werden, dass du für immer entfernt wirst.«

Zitternd sammelte ich meine Habseligkeiten zusammen. Diesmal gab es kein sorgfältiges Packen, ich stopfte nur alles hinein. Den grünen Stoff und die zerrissene Verpackung zuerst, darauf dann alles andere, während er mir dabei zusah, wie ich ungeschickt die Sachen an mich raffte und manches wieder fallen ließ. Mein einziger Gedanke war der zu fliehen, ohne dass Aurelias Vermächtnis entdeckt wurde. Ich packte so schlecht, dass die Tasche kaum zuging und mein altes graues Kleid oben herausquoll.

Es gab keine Abschiedsgrüße. Nicht einmal Cook kam, um mir auf Wiedersehen zu sagen, doch ich nehme an, dass es ihr verboten war. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich befand mich auf dieser langen, geraden Straße. Aber das Geld und der Brief waren unentdeckt und das Päckchen befand sich noch immer in meinem Besitz. Und das allein zählte.

VIER

Der Barley Room im Rose and Crown hat etwa ein Viertel der Größe meines Zimmers auf Hatville und enthält die doppelte Menge an Mobiliar. Es riecht nach Politur und Ruß. So einsam und fremd ich mich hier auch fühle, bin ich glücklicherweise für mich und kann endlich Aurelias Geschenk gründlich untersuchen.

Der grüne Stoff ist Seide, bestickt mit winzigen Sträußchen Myosotis – Vergissmeinnicht. Es ist eine leichte Stola, wie feine Damen sie auf Sommerbällen tragen, um ihre elfenbeinfarbenen Schultern zu verhüllen. Wenn ich meine Nase in die seidigen Falten stecke, bilde ich mir ein, Jasmin und Mondlicht zu riechen. Doch für so etwas Hübsches ist jetzt nicht die richtige Jahreszeit und ich bin auch kein Mädchen, das so etwas tragen kann.

Ich zähle das Geld und entdecke, dass es einhundert Pfund sind. Nachdem ich es verdutzt betrachtet habe, verstecke ich es, weil ich nichts Besseres finde, in meinem Waschbeutel. Noch ist es bei mir nicht sicher.

Im Schein der Lampe lese ich den Brief Stunden nach meiner ersten Lektüre in der grauen Morgendämmerung noch einmal. Jetzt liegt der satte goldene Schein der Laterne auf dem Blatt.

Meine geschätzte Amy,

wenn Du diesen Brief liest, ist Mr Clay meiner Bitte nachgekommen, woran ich auch nie einen Zweifel hatte, und ich bin tot, wie das für mich immer feststand. Meine Liebe, ich weiß um Deinen großen Schmerz. Aber während unserer gemeinsamen Zeit waren wir doch glücklich, nicht wahr? Ich kenne nicht viele, die sich einer derart tiefen Zuneigung und engen Kameradschaft rühmen können, wie sie uns verband. Ich mag zwar als Einzelkind zur Welt gekommen sein, aber ich hatte dennoch eine Schwester.

Genug davon, denn meine Gefühle kennst Du selbst gut genug und da ist so vieles, was ich Dir mitteilen muss. So nah wir uns auch waren und sind, meine Liebste, es gibt Geheimnisse, die ich Dir vorenthalten habe. Doch nicht aufgrund mangelnden Vertrauens, wie Du hoffentlich weißt. Du wirst es verstehen, wenn Du sie erfährst, was auch immer meine Absicht war. Aber es sind keine Geheimnisse, die ich einfach einem Brief anvertrauen kann – jedenfalls nicht diesem. Ich wünschte von ganzem Herzen, dass ich sie Dir selbst erzählen könnte, im Schein des Feuers mit zusammengesteckten Köpfen, wie wir das so oft getan haben. Bereite Dich auf vieles vor, liebe Amy, was Du noch nicht weißt.

Erinnerst Du Dich noch, Liebes, an die Schatzsuchen, die ich, als Du klein warst, immer so freudig für Dich vorbereitet habe? Sobald Du zu Bett gegangen warst, grübelte ich, was für Anhaltspunkte ich Dir geben und an welch geheimen Orten ich etwas für Dich verstecken könnte, schlich mich dann hinaus, um alles zu verteilen und beobachtete dich schließlich voller Freude, wenn du herumliefst, um den Schatz zu finden! (Für gewöhnlich nichts weiter als eine alte Puppe oder ein Spitzentaschentuch, aber wir wussten beide, warum das so war, nicht wahr? Und einmal auch ein paar handgefertigte Pralinen, die ich Dir aus London mitbrachte – dieses Geschenk konntest Du wenigstens essen, bevor sie es Dir wegnahmen! Oh, Du hast recht, wir aßen sie beide.)

Was haben diese alten Erinnerungen mit dem Hier und Jetzt zu tun, wirst Du Dich fragen. Genau dies: Dies ist der Anfang der letzten Schatzsuche, die ich für Dich vorbereitet habe. Versteh meine Briefe (von denen es einige geben wird) als Anhaltspunkte – jeder wird Dich zum nächsten führen. Ich habe geplant, dass meine Geschichte sich erst nach und nach enthüllt, mit jedem Brief, der Dich weiter von Hatville wegführt, weiter weg von der Niederträchtigkeit, mit der Du dort behandelt wurdest, und du sicherer und stärker und freier wirst. Wenn Du den vierten oder fünften Brief erhältst, wird die Spur für alle anderen kalt sein. Keiner kennt mich so gut wie Du, meine Liebe.

Verzeih mir also, wenn es hier noch keine Antworten gibt. Verzeih mir ebenso, wenn der Ton dieses Briefs gänzlich falsch ist. Dies sind womöglich nicht die besten ersten Worte, die man jemandem von jenseits des Grabes sendet. Aber verstehst Du, während ich dies schreibe, bin ich noch immer hier, sitze an meinem Schreibtisch in dem Zimmer, das Du so gut kennst. Erst vor fünf Minuten sagte ich gute Nacht zu Dir, und morgen werde ich Dein liebes Lächeln sehen. Wir nahmen uns vor, uns nach dem Frühstück in den Rosengarten zu setzen. Es fällt schwer, als Tote zu schreiben, wenn das Leben noch immer so süß ist.

Doch mein Tod kommt näher. Wenn er eintritt, wirst Du ohne Freunde sein, denn wir beide kennen die unglückliche – nein grausame – Haltung meiner Eltern Dir gegenüber. Unsere Freundschaft ist kostbar und ich hoffe, dass Du sie nie bereuen wirst, aber ich habe Dich auch wie eine Gefangene gehalten, Dich ans Haus gebunden und von mir abhängig gemacht. Jetzt kannst du frei fliegen, kleiner Vogel! Und ich werde Dir helfen, denn Du hast mir geholfen, mehr, als Dir jemals bewusst sein wird.

So. Du trauerst, Du bist allein. Aber es soll Dir an nichts fehlen. Ich lege eine Geldsumme für Dich bei. Es wird mehr kommen, aber fürs Erste reicht das. Lächerliche zehn Pfund! Als würde ich Dir je einen derart nichtigen Betrag vermachen! Dass sie das von mir denken konnten, empört mich, und doch kommt es mir sehr zupass. Die grüne Stola ist ein Geschenk. Sie wird Dir gut zu Gesicht stehen, Amy, auch wenn ich bezweifele, dass Du mir das glaubst.

Deine erste Anweisung bei dieser Schatzsuche? Reise nach London, meine Liebe. Das ist Dein erstes Ziel. Du hast Geld, Du kannst bequem reisen, genieße Deine Fahrt, so gut es geht. Betrachte staunend diesen Teil unseres Königreichs, der so anders ist als Enderby! Wenn Du dort ankommst, suche einen Buchladen namens Entwhistle’s auf. Geh dort in die Abteilung für Naturgeschichte. (Eine Dame, die in den Werken von Mr Beckwith stöbert … Oh, was für ein Skandal! Achte darauf, dass Dein labiler Geist nicht explodiert, meine Liebe!) Richte Deine Gedanken auf das Buch, das wir in jenem Sommer, nachdem Mr Howden uns zum Abendessen besuchte, so ausführlich diskutiert haben. Ziehe dabei auch die Variablen in Betracht, dann wirst Du einen Brief von mir an Dich finden. Wie ich das angestellt habe? Ach, ich bin doch eine Zauberin, mein kleiner Vogel.

Um zum Schluss zu kommen, liebe Amy: Fass Dir ein Herz! Ich erwarte nicht, dass Du Dich über Nacht von meinem Verlust erholst oder mich vergisst oder mich ersetzt (denn ich bin einzigartig, oder nicht?). Aber ich erwarte von Dir, dass Du lebst. Und gut lebst. Denn das Leben, das Du bisher gekannt hast, ist abgesehen von unserer Freundschaft kein Leben gewesen, wie es sein kann und sein sollte.

Ich flehe Dich an, folge meiner Spur. Nicht nur, weil sie Dich weiter bringen wird, als Du Dir das vorstellen kannst, sondern weil ich etwas unerledigt gelassen habe, das nur Du abschließen kannst. Unsere Spiele und Abenteuer sind noch nicht zu Ende. Ha! Um mich zum Schweigen zu bringen, braucht es mehr als den Tod!

Mit all meiner Liebe,

AV

FÜNF

Sie war nicht kleinzukriegen. Selbst als die eiserne Faust ihrer Diagnose sie traf und die Hoffnungen von Hatville Court unter ihrem schmerzlichen Schlag zerschmetterte, lachte sie. Sie lachte tatsächlich! Und mein Leben veränderte sich für immer.

Bis dahin war mein Leben äußerst seltsam verlaufen, ein einziges Stück- und Flickwerk, was in Anbetracht meiner Anfänge kaum überrascht. Die Schneematratze wurde durch eine Kartoffelkiste ersetzt und die Kartoffelkiste durch ein Kinderbett, nachdem Lady Vennaway sich dem allsehenden Auge der Gesellschaft beugte und befand, dass ich bleiben durfte. Sie machte allerdings zur Bedingung, dass ich ihr nicht unter die Augen kam, man sie nicht mit Fragen meiner Erziehung behelligte und ich, sobald ich alt genug war, um von Nutzen zu sein, als Bedienstete eingestellt wurde.

Das Kinderbett war ein Geschenk von Marcus, der das Anwesen verwaltete. Seine Frau hatte ihm in rascher Folge sieben Kinder geboren und ihn dann wissen lassen, dass er, sollte er jemals wieder Anstalten machen, sich ihr auf amouröse Weise zu nähern, ein Körperglied verlieren würde und gezwungen wäre, sich eine neue Anstellung zu suchen. Das Kinderbett wurde in einem Winkel der Küche aufgestellt und ich verbrachte darin mein erstes Jahr.

Der wesentliche Teil meiner Fürsorge lag in Cooks Händen. Sie war großherzig und patent und fast immer da. Aber sie hatte auch viel zu tun und übertrug, wenn nötig, die Verantwortung an eins der Mädchen (eine ständig wechselnde Besetzung, bedingt durch die Schreckensherrschaft von Lady Vennaway) oder an Robin, den Hilfsgärtner, der selbst erst acht Jahre alt war, aber dank seiner jüngeren Schwestern schon sehr viel Erfahrung hatte. Er war sanftmütig und viel verantwortungsvoller, als dies seinem Alter entsprach, und er gehörte zu den Menschen, die einem das Gefühl vermitteln, alles werde gut.

In meinen ersten Monaten wurde ich von einer Amme namens Lucy gestillt und die Sorge um meine sanitären Bedürfnisse fiel, wenn Cook bis über die Ellbogen im Teig steckte, jedem zu, der sich gerade in der Küche aufhielt. Es konnte also riskant sein, schnell mal auf eine kleine Nascherei vorbeizukommen.

Ich wuchs, wie Babys das so tun, und war schon bald zu groß, um in der Küche vernünftig untergebracht zu werden. Als ich zu krabbeln begann, befand ich mich in dieser Welt voller Hackmesser, Flammen, Gläser und Flaschen in veritabler Gefahr. Und so erweiterte sich der Verantwortungsbereich meiner Fürsorger auf das gesamte Anwesen von Hatville.

Robin pflegte mich in eine Schubkarre zu setzen, wenn der Boden nass war, und nahm mich mit, wenn er den Lavendel schnitt, Äpfel aufsammelte oder Mauern reparierte.

Cook verließ sich außerdem auf Benjamin, den niedrigsten der Stallburschen. Er war zu unbedeutend, um Lord Vennaways berühmte Pferde zu bewegen, und musste die Stallarbeit erledigen – ausmisten, Zaumzeug reinigen, Heunetze reparieren und so weiter. Somit stand ich den ganzen Tag unter Beobachtung und war aus dem Blickfeld von Lady Vennaway, was das wichtigste Kriterium war, das jede Regelung meiner Betreuung erfüllen musste. Man sagte mir, ich sei stundenlang zufrieden in einem Heuhaufen gesessen.

Selbst Jesketh, der Butler, eine stattliche Erscheinung mit silbernen Haaren, wurde bedrängt, einzuspringen, wenn es nötig war. Erhob er Einwände, drohte Cook ihm damit, ihm seinen Kirschkuchen vorzuenthalten. Und so hielt man mich auf Biegen und Brechen am Leben.

Und dann war da natürlich auch noch Aurelia. Sie war es, die mir meinen Namen gab: Snow aus offensichtlichen Gründen und Amy nach ihrer Lieblingspuppe. Dies war in der Tat ein sehr großes Kompliment, denn diese erste Amy kam aus Paris und trug ein mitternachtsblaues Satinkleid. Sie hatte blaue Augen, schwarzes Haar und war das Hübscheste, was Aurelia je gesehen hatte. Dieser Vorgängerin zu entsprechen war schwer, und ich glaube, dass kein sterbliches Kind dem Standard von so viel Lieblichkeit gerecht werden konnte.

Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist Aurelia. Ich dürfte etwa zwei Jahre alt gewesen sein, sie zehn. Ich wühlte im Stall herum, als sie mit fliegenden Röcken hereinkam, um ihr Pony zu reiten. An die Farbe des Ponys und seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern (aber man hat mir erzählt, es sei Lucky gewesen, ein Apfelschimmel) und auch die Farbe von Aurelias Reitkleid (der Legende nach ein kräftiges Grün mit rotem Besatz) habe ich vergessen. Aber ich erinnere mich sehr gut an ihr quirliges Wesen: wie sie in den Stall gerauscht kam, mit ihren Knopfstiefeln auf dem Kopfsteinpflaster aufstampfte und beim Aufsitzen in ihren Sattel Strohhalme aufwirbelte, dann wendete und auf Lucky davonjagte und ins Licht verschwand.

Während meines Heranwachsens wurde ich von einem mageren blauen Baby zu einem mageren blassen Kind, kleinwüchsig und von merkwürdigem Aussehen, wie man mir erzählte, mit einer Wolke rußschwarzer Haare und haselnussbraunen Augen, die viel zu groß für mein schmales Gesicht waren. Als ich dann, in Lady Vennaways Worten, »alt genug war, um von Nutzen zu sein«, wurde ich auf der Stelle von allen beschlagnahmt.

Robin lehrte mich Unkraut von Nutzpflanzen zu unterscheiden, und sobald ich aufrecht stehen konnte, bekam ich beigebracht, wie ich die Bürste zu halten und ein Pferd zu striegeln hatte. Cook zeigte mir, wie man Äpfel, Kartoffeln und anderes gesundes Gemüse auf Fäulnis hin überprüfte.

Mein Blickfeld bestand hauptsächlich aus Beinen: Küchentischbeine (und das Königreich der Brotkrumen und Zwiebeln dazwischen), hart arbeitende braune Hosenbeine, kluge schwarze Hosenbeine, die das Reich der Vennaways bewachten, Pferdebeine, Beine von Leitern und Beine, die sich, unter Röcken verborgen, in ständiger Bewegung befanden.

Meine Erinnerungen an diese Phase sind schwach, aber sie sind meist erfreulich. Ich denke an sie in sich verlagernden Blöcken von Gerüchen, Geräuschen und Farben. Die Küche war Zwiebeln und Sirup, Klappern und Geschrei, schwarzer Herd und rotes Feuer. Die Gärten waren Erde und Äpfel, das weiche, rhythmische Schnaufen des in die Erde gestoßenen Spatens, Regenbogen und Regentropfen. Die Ställe waren Heu und Pferde, Wiehern und Wind, Gold und Braun und Staub und Glanz.

Und von Anfang an erinnere ich mich, dass Aurelia fast täglich mit mir spielte oder mit mir spazieren ging. Obwohl ich ohnehin viel Zeit im Garten verbrachte, kam er mir anders vor, wenn sie meine pummelige kleine Hand in ihrer elegant behandschuhten hielt und mir ihre Lieblingsblumen und Vögel zeigte. Sie wusste fast genauso viel über die Pflanzen und Geschöpfe wie Robin, aber es war eine andere Art von Wissen. Sie kannte die lateinischen Namen der Dinge und wusste, woher sie stammten, während Robin wusste, was sie mochten und was man tun musste, damit sie gut gediehen.

Ich bewunderte sie. Sie war schön, freundlich und strahlend und behandelte mich wie ihren besonderen Liebling.

Am schönsten war es, wenn sie mir zum Einschlafen vorlas. Damals befand sich mein Bett in der Spülküche. Dort schlief sonst keiner, die Bediensteten waren weit weg, hoch oben in den Dachböden untergebracht. Aber man fand, dass ich noch zu klein sei für die vielen Treppenstufen, und die Arbeitstage waren so lang, dass ich nachts immer nur wenige Stunden allein war. Manchmal kam Aurelia zur Schlafenszeit zu mir heruntergeschlichen, zog sich einen Stuhl heran und beugte sich über mich. Dann legte ich meinen Kopf auf ihren Arm und lauschte ihrer Stimme: melodiös, fröhlich und irgendwie anders als die anderen mir bekannten Stimmen. Ob draußen der Regen trommelte oder über allem das Summen und Zwitschern einer violetten Sommerdämmerung lag und ein schöner Tag sich dem Ende zuneigte – es waren zauberhafte, gesegnete Zeiten.

SECHS

Ich schlafe schlecht in meiner ersten Nacht fern von Hatville Court, in dem schmalen Bett des Rose and Crown. Doch das überrascht mich nicht. Seit Aurelias Tod ist mein Herz wie ein wildes Tier. Es schläft mit einem offenen Auge, mit einer neuen Vorsichtigkeit, die wohl nie wieder verschwinden wird. Ich werde zeitig wach.

Eine Reihe von Eindrücken stürmen auf mich ein und fallen so schnell über mich her, dass sie mich atemlos zurücklassen. Gefühle begleiten sie. Keine Aurelia – Trauer wie ein enges Korsett, das alles abschnürt. Kein Hatville Court – eine Mischung aus Angst und Erleichterung. Und heute werde ich offenbar nach London reisen! Ein Anfall von Beklommenheit. Und der Brief. Briefe! Wilde Hoffnung und Freude. Ich habe noch mehr von Aurelia zu erwarten, was mich durch diese düsteren Tage führen wird.

Ich wasche mich und kleide mich an. Zwar habe ich keinen Appetit, aber zum ersten Mal seit Tagen bin ich entschlossen, auf mich zu achten, und werde also essen. Ich habe Geschäfte zu erledigen, Aurelias Geschäfte. Wie klug sie war! Sie wusste, wenn etwas auf Erden mich antreiben könnte, dann meine Hingabe an sie. Sie könnte tausend Jahre tot sein und dennoch würde ich ihr zu Gefallen sein wollen.

Ich lese ihren Brief noch einmal und vergrabe ihn dann wieder tief in meiner Rocktasche. Ich werde ihn immer bei mir tragen.

Zu meiner Erleichterung steht der Gastwirt in seiner ganzen Leibesgröße im Foyer und ich brauche ihn nicht zu suchen. Das fiele mir auch ohne die Flut von Gefühlen schon schwer, die mich jede Minute umzuwerfen droht. Von meinem Wesen her bin ich wohl eher scheu. Mein Leben spielte sich immer in Hatville ab, ich habe es so gut wie nie verlassen. Und Aurelia hatte recht: Es war ein Gefängnis. Aber als solches verstand ich es nie, nicht solange auch sie darin war. Wir waren wie zwei Vögel, die einander in einem sehr edlen Käfig Gesellschaft leisteten.

Nun zwingt sie mich, meinen Horizont zu erweitern, doch ich sehe mich im Moment noch nicht dazu in der Lage, ihr dafür dankbar zu sein. Ich erwarte nicht, dass man mich außerhalb von Hatville freundlich willkommen heißen wird, so sehr bin ich daran gewöhnt, mich als lästig zu verstehen. Ich weiß jedoch, dass ich mich, um Aurelias Wünschen nachzukommen, auf die Hilfe und die Informationen anderer werde verlassen müssen, wenn auch zum Glück nicht auf ihr Geld. Deshalb bin ich außerordentlich dankbar, als Mr Carlton sich erkundigt, ob er mir in irgendeiner Weise helfen könne.

»Besten Dank, Mr Carlton, Sie sind sehr freundlich. Haben Sie eine Vorstellung davon, zu welcher Uhrzeit die Züge heute fahren? Ich werde zum Bahnhof laufen und dann … ich bin mir nicht sicher …« Mir gehen die Worte aus. Ich habe noch nie eine Reise unternommen. Ich weiß kaum, wie ich die Fragen formulieren soll, die ich stellen muss. Und ich möchte dieses schäbige Gasthaus nicht eher verlassen als nötig, es steht für mein allerletztes Bindeglied an das mir vertraute Leben.

»Gewiss, Miss Snow, gewiss. Wenn Sie so gut wären, mich in mein Büro zu begleiten, dort können wir alles in Erfahrung bringen, was Sie wissen müssen.«

An der Tür bleibt er stehen und zwinkert mir zu. »Keine Angst, Miss Snow, wir werden Mr Bradshaw zu Rate ziehen.« Ich halte Ausschau nach einem gutmütigen Gentleman mit weißem Schnurrbart und einem klugen Gesicht. Doch der Raum ist bis auf eng nebeneinanderstehende Bücherregale und einen sehr großen, unordentlichen Schreibtisch recht leer. Papiere und Federkiele türmen sich darauf und geschmückt wird er von drei langen Nadeln, auf denen büschelweise Rechnungen aufgespießt sind.

»Also dann«, sagt Mr Carlton strahlend und holt eine dicke Broschüre herunter, die sich als Buch geriert. Spuren im dicken Staub des Regals verraten, dass dieser Band häufig zum Einsatz kommt. »Dies ist die wunderbarste Publikation, die es je gegeben hat, Miss Snow. Kennen Sie Mr Bradshaw?«

»Leider nicht.«

»Er ist der Autor dieses hervorragenden Kompendiums. Eine Sammlung sämtlicher Fahrpläne sämtlicher Züge sämtlicher Zuggesellschaften im ganzen Land. Wissen Sie, wie viele Zugreisen das sind, Miss Snow?«

»Ich fürchte, das kann ich nicht erraten, Mr Carlton.«

»Und ich ebenso wenig! Das kann keiner, außer vermutlich Mr Bradshaw selbst. Nun gut, in einem Wort, die Antwort lautet viele! Sehen Sie nur, Miss Snow, all die Züge!« Er blättert in hilfloser Verwunderung die Seiten des Buchs durch. Es scheint wirklich eine sehr große Anzahl von Zügen zu geben.

»Überlegen Sie nur«, ergänzt er, »noch bis vor ein paar Jahren fuhren Postkutschen durch diesen Teil von Surrey. Fortschritt, Miss Snow, Fortschritt!« Er brütet über seinem Orakel und feuchtet sich die Daumen an. Auf jeder Seite sehe ich ein schwarz gedrucktes, undurchdringliches Dickicht, nichts als Spalten und Ziffern und Linien. Sollte dies meine Zukunft repräsentieren, entmutigt es mich mehr denn je.

»Ha!«, triumphiert er, als er die richtige Seite gefunden hat. »Erlauben Sie, Miss Snow?«

»Sehr gern, Sir.«

»Hinauf oder hinab?«

»Wie bitte?«

»Möchten Sie erfahren, wann die Züge hinauf- oder wann sie hinunterfahren, Miss Snow?«

Ich zögere. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie sich alle eben über den Boden bewegen, aber ich denke, dass mich jetzt wohl nichts mehr überraschen kann.

»Nach Norden oder nach Süden, Miss Snow? Hinauf nach London oder hinunter nach Brighton?«

»Oh, ich verstehe! Danke, Mr Carlton. Nun …« Ich versuche, meine Antwort so zu formulieren, dass es sich so anhört, als überlegte ich noch und würde mich für London entscheiden, weil es naheliegend war, dorthin zu fahren, und nicht, weil ich bereits ein vorherbestimmtes Ziel habe. Ich darf nicht vergessen, dass ich für Außenstehende noch ziellos und ungefestigt bin, mit nur zehn Pfund, die mir gehören. Und dass ich sehr vorsichtig sein muss in allem, was ich sage und tue.

Schließlich stellen wir fest, dass ich erst in einer knappen Stunde das Rose and Crown verlassen muss. Mr Carlton besteht darauf, mir einen Jungen mitzuschicken, der mir meine Tasche trägt und mich in den Zug setzt. Fast hätte ich mich geweigert, dies anzunehmen, so ungern falle ich anderen zur Last, aber Mr Carlton will nichts davon hören, eine junge Dame allein den Widrigkeiten eines Bahnhofs auszusetzen.

»Es geht dabei nicht um die Sache an sich«, erklärt er besorgt. »Die Eisenbahn ist eine wunderbare Neuerung, aber auf einem Bahnhof tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, Miss Snow. Und gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch nie zuvor einen Zug benutzt haben? Wissen Sie, wie man sich zu verhalten hat?«

Ich habe es nicht und ich weiß es nicht. Mr Carlton beschreibt mir, wie ich mir in dem Haus, das sich neben dem Bahnhof befindet, eine Fahrkarte beschaffe, und was ich tun muss, wenn dessen Inhaber nicht daheim ist, wie wichtig es ist, den richtigen Waggon und den besten Platz zu wählen, wie man sich den Mitreisenden gegenüber verhält und wo ich meine Fahrkarte am sichersten verstauen kann.

»Für die Damen empfehle ich immer den linken Handschuh, Miss Snow. Etwas Besseres als den linken Handschuh gibt es nicht. Fahrkarten scheinen den Hang zu haben, sich selbständig zu machen, wissen Sie, und das führt zu großen Unannehmlichkeiten, denn die Schaffner werden Ihnen schlichtweg nicht glauben, dass Sie eine Fahrkarte gekauft und verloren haben. Sie werden behaupten oder Ihnen unterstellen, dass Sie die Eisenbahngesellschaft betrügen wollen, aber zu diesem Vorwurf braucht es nicht zu kommen, Miss Snow … deshalb der linke Handschuh.«

»Der linke Handschuh«, murmele ich und dabei schwirrt mir der Kopf. »Besten Dank, Mr Carlton, ich wüsste nicht, was ich ohne Ihren unschätzbaren Rat tun sollte. Wer hätte je gedacht, dass so viel bedacht werden muss?«

»In der Tat, in der Tat. Das ist nicht wie früher. Vielen meiner Gäste bereiten die Veränderungen Unbehagen, und so habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, so viele Informationen wie möglich weiterzugeben, um ihnen den Weg des Fortschritts zu ebnen. Ich habe auch schon überlegt, ein Buch zu schreiben: Hinweise und Ratschläge für den unerfahrenen Reisenden. Was meinen Sie, ob so ein Projekt in der Öffentlichkeit Anklang fände?«

»Das wäre sicherlich eine hervorragende Hilfe, Mr Carlton. Schreiben Sie es!«

»Danke, Miss Snow. Dann sollte ich das wohl tun. Die Verbreitung von Wissen ist eine menschliche Pflicht, man muss es teilen, damit alle daraus Nutzen ziehen können.«

»Genau das hat auch Miss Vennaway immer gesagt!« Ich lächele und verstumme dann.

Mr Carlton nickt. »Wie ich gehört habe, war sie eine bemerkenswerte junge Dame. Mein aufrichtiges Beileid, Miss Snow.«

SIEBEN

Als ich sechs Jahre alt war und Aurelia vierzehn, bestieg eine Königin den Thron. Ich erinnere mich noch, wie Aurelia strahlte und ihr Haar flog, als sie mich im Küchengarten im Kreis herumwirbelte, ihr Kleid ein Regenbogen. Es war Sommer, und die Luft war voller Schmetterlinge.

»Als du geboren wurdest, war unser Regent ein König«, erzählte sie mir atemlos, als wir zu Boden fielen, »aber jetzt steht eine Frau an der Spitze unserer Nation – eine junge Frau, nur vier Jahre älter als ich! O Amy, ich habe das Gefühl, als könnte nun alles möglich werden. Es heißt, sie habe sich ihrer neuen Verantwortung mit so viel Gleichmut gestellt, als würde sie einen Salon betreten, um den Tee einzunehmen. Sollte sie für diese Aufgabe zu jung und unerfahren und zu feminin sein, ist sie sich dessen eindeutig nicht bewusst!«

Ich erinnere mich an den Optimismus, der die ganze Welt erfasste, war aber zu jung, um die Tragweite dieser Morgendämmerung eines neuen Zeitalters zu erfassen. Für mich war die Königin ein Phantasiegebilde, wie die Prinzessin, die einen Frosch küsste, oder die Frau, die in den Märchenbüchern ihr Haar von einem Turm herabließ. Aurelia jedoch gefiel es, zwischen sich und der Monarchin eine echte Verbindung zu sehen. Sie waren beide Einzelkinder. Verfügten beide über mehr Ideen, als von Rechts wegen in einen hübschen, behüteten Kopf gehörten. Beide hatten geschworen, nur aus Liebe zu heiraten. Und so schien die Victoria unserer Vorstellung, über die Aurelia und ich uns so besitzergreifend unterhielten, schon bald ein drittes, gerade abwesendes Mitglied unseres kleinen, fröhlichen Kreises zu sein. Oft überlegten wir, was wir sie fragen würden, wenn sie zum Tee vorbeikäme.

Meine Probleme begannen erst, als ich etwas älter wurde, jedenfalls traten sie da zutage, wie das immer zu erwarten gewesen war. Mit sieben Jahren war ich in einem Alter, in dem man mich, wären meine Umstände andere gewesen, aus einem Armenhaus geholt hätte, um mich bei jemandem zu verdingen. Man hätte mich für eine spezielle Arbeit auserwählt und mich dafür angelernt.