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»Exzellent! Dagegen ist ›Game of Thrones‹ das reinste Kaffeekränzchen.« Antony Beevor Die prunkvolle und blutige Geschichte der sagenumwobenen Dynastie der Romanows, die Russland jahrhundertelang bescherrschte und bis heute prägt. Wie kein anderes Adelsgeschlecht sind die Romanows der Inbegriff von schillerndem Prunk, Macht, Dekadenz und Grausamkeit. Über 300 Jahre dominierten sie das russische Reich, mehr als 20 Zaren und Zarinnen gingen aus dem Geschlecht hervor, allesamt getrieben von unbändigem Machthunger und rücksichtslosem Willen zu herrschen – einige dem Wahnsinn näher als dem Genie. Simon Sebag Montefiore erzählt die Saga dieser unglaublichen Familie, in der Rivalität, Giftmorde und sexuelle Exzesse regelrecht auf der Tagesordnung standen. Basierend auf neuester Forschung und unbekanntem Archivmaterial zeichnet er die Schicksale und politischen Verwicklungen nach. Weder zuvor noch danach gab es ein so gewaltiges Reich, in dem sich Glanz und Grausamkeit auf unheilvolle Weise verbündeten. Mit zahlreichen Abbildungen, prächtige Ausstattung. »Eine außergewöhnliche und packende Geschichte, voll von schmutzigen Machtkämpfen, Gewalt und Brutalität, großartigen Monstern, bedauernswerten Opfern und grotesken Heiligen … entsetzlich, urkomisch und bewegend, aber auch unendlich tragisch.« Adam Zamoyski, Autor der Bestseller ›1812‹ und ›1815‹
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Seitenzahl: 1617
Simon Sebag Montefiore
Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613-1918
Wie kein anderes Adelsgeschlecht sind die Romanows der Inbegriff von schillerndem Prunk, Macht, Dekadenz und Grausamkeit. Über 300 Jahre dominierten sie das russische Reich, mehr als 20 Zaren und Zarinnen gingen aus dem Geschlecht hervor, allesamt getrieben von unbändigem Machthunger und rücksichtslosem Willen zu herrschen – einige dem Wahnsinn näher als dem Genie. Der Bestsellerautor und Historiker Simon Sebag Montefiore erzählt die Saga dieser unglaublichen Familie, in der Rivalität, Giftmorde und sexuelle Exzesse regelrecht auf der Tagesordnung standen. Basierend auf neuester Forschung und unbekanntem Archivmaterial zeichnet er die Schicksale und politischen Verwicklungen nach. Weder zuvor noch danach gab es ein so gewaltiges Reich, in dem sich Glanz und Grausamkeit auf so unheilvolle Weise verbündeten.
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Simon Montefiores Vorfahren flüchteten Anfang des zwanzigsten Jahrhundert aus dem zaristischen Russland. Daher rührt das lebenslange Interesse des Autors an dem Land. Geboren 1965, studierte er Geschichte an der Universität Cambridge. Seine Sachbücher erschienen unter dem Namen Simon Sebag Montefiore und wurden auf der Stelle zu Bestsellern. Bei FISCHER Taschenbuch sind folgende Titel lieferbar: ›Katharina die Große und Fürst Potemkin: Eine kaiserliche Affäre‹ (Band 18275), ›Stalin – Am Hof des Roten Zaren‹ (Band 17251), ›Der junge Stalin‹ (Band 17390) und ›Jerusalem. Die Biographie‹ (Band 17631). Simon Montefiore erhielt zahlreiche renommierte Preise und Auszeichnungen. ›Saschenka‹ ist sein erster Roman. Seine Bücher wurden in über fünfunddreißig Sprachen übersetzt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature und lebt mit seiner Frau, der Romanautorin Santa Montefiore, und ihren beiden Kindern in London.
Widmung
Karte des russischen Reiches
Stammbaum
Einführung
Prolog Zwei Jungen in schwierigen Zeiten
Akt I Der Aufstieg
Szene 1 Brautschauen
Mitwirkende
Michael hatte es nicht [...]
Szene 2 Der junge Mönch
Mitwirkende
Szene 3 Die Strelizen
Mitwirkende
Szene 4 Die trunkene Synode
Mitwirkende
Akt II Der Höhepunkt
Szene 1 Der Kaiser
Mitwirkende
Szene 2 Die Kaiserinnen
Mitwirkende
Szene 3 Die russische Venus
Mitwirkende
Szene 4 Das Goldene Zeitalter
Mitwirkende
Szene 5 Die Verschwörung
Mitwirkende
Szene 6 Das Duell
Mitwirkende
Akt III Der Untergang
Szene 1 Jupiter
Mitwirkende
Szene 2 Befreier
Mitwirkende
Szene 3 Der Koloss
Mitwirkende
Szene 4 Herr des Landes
Mitwirkende
Szene 5 Die Katastrophe
Mitwirkende
Szene 6 Kaiser Michael II.
Mitwirkende
Szene 7 Im Jenseits
Mitwirkende
Epilog Rote Zaren / Weiße Zaren
Bildteil
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Abbildungsnachweis
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Dank
Anmerkungen
Bibliographie
Archive
Zeitschriften
Artikel
Unveröffentlicht
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Für meinen Schatz, meine Tochter Lily Bathsheba
IN MEMORIAM
Stephen Sebag-Montefiore
1926–2014
Isabel de Madariaga
1919–2014
Schwer lastest du, o Krone Monomachs!
ALEXANDER PUSCHKIN, Boris Godunow
Die Herrschaft über sich selbst ist die höchste Form der Herrschaft.
SENECA, Briefe an Lucilius, 113. Brief
In Russland ist nichts gefährlicher, als Schwäche zu zeigen.
PETER STOLYPIN
Es war schwer, Zar zu sein. Russland lässt sich nicht leicht regieren. In einem Zeitraum von 304 Jahren, von 1613 bis zur Abschaffung des Zarentums durch die Revolution 1917, stellte die Romanow-Dynastie 20 Herrscher. Ihr Aufstieg begann mit Iwan dem Schrecklichen und endete in der Zeit Rasputins. Romantisch angehauchte Chronisten der Tragödie des letzten Zaren machten häufig Andeutungen, es habe ein Fluch auf der Familie gelegen, aber die Romanows waren beim Aufbau ihres Imperiums so erfolgreich wie keine anderen Herrscher seit den Mongolen. Durchschnittlich wuchs das Russische Reich nach der Thronbesteigung des ersten Romanows täglich um 142 oder jährlich um 51800 Quadratkilometer an. Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten sie ein Sechstel der Erdoberfläche – und dehnten dies immer noch aus. Der Aufbau eines Imperiums lag den Romanows im Blut.
In gewisser Hinsicht ist dieses Buch eine Charakterstudie und eine Untersuchung der zerstörerischen Wirkung absoluter Macht auf die Persönlichkeit. Zum Teil ist es auch eine Familiengeschichte, in der es um Liebe, Heirat, Ehebruch und Kinder geht, unterscheidet sich aber von ähnlichen Darstellungen – königliche Familien sind stets außergewöhnlich, weil Macht die traditionelle Familienchemie sowohl versüßt als auch vergiftet: Die Verführungskraft der Macht und ihr verderblicher Einfluss siegen oft über Loyalität und verwandtschaftliche Bindung. Dieses Buch ist eine Geschichte der Monarchen, ihrer Familien und ihres Gefolges, aber auch des russischen Absolutismus – und all dessen, was Russland ausmacht, seine Kultur, seine Seele, sein Wesen, ein einzigartiges Gebilde, das eine einzige Familie bestrebt war zu repräsentieren. Die Romanows sind zum Inbegriff nicht nur von Dynastie und Pracht geworden, sondern auch von Despotismus, zur Parabel für den Irrsinn und die Arroganz absoluter Macht. Abgesehen von den Cäsaren nahmen keine anderen Herrscher so viel Raum in der Vorstellungswelt des Volkes und der Kultur ein, und beide liefern uns allgemeingültige Kenntnisse darüber, wie persönliche Macht funktioniert – damals wie heute. Es ist kein Zufall, dass der Titel »Zar« von dem römischen Kaisertitel Cäsar abgeleitet ist, so wie auch das russische Wort für Kaiser schlicht und einfach das römische »Imperator« ist.
Die Romanows lebten in einer Welt von Familienrivalitäten, von imperialen Ambitionen, grellem Glanz, sexuellen Exzessen und lasterhaftem Sadismus; in einer Welt, in der seltsame Fremde plötzlich behaupteten, wiederauferstandene Monarchen zu sein, Bräute vergiftet wurden, Väter ihre Söhne zu Tode folterten, Söhne ihre Väter töteten, Ehefrauen ihre Männer umbrachten, ein heiliger Mann, der vergiftet und erschossen wurde, von den Toten auferstanden zu sein schien, Barbiere und Bauern in höchste Positionen gelangten, Riesen und Missgebildete gesammelt und Kleinwüchsige in die Luft geschleudert, abgeschlagene Köpfe geküsst, Zungen herausgerissen, Fleisch aus Leichen geschnitten, Därme durchspießt und Kinder abgeschlachtet wurden; man begegnet modesüchtigen nymphomanischen Zarinnen, lesbischen ménages à trois und einem Herrscher, der die erotischsten Briefe schrieb, die je von einem Staatsoberhaupt verfasst wurden. Doch es ist auch ein Reich, das von eiskalten Eroberern und brillanten Staatsmännern aufgebaut wurde, das Sibirien und die Ukraine an sich riss, Berlin und Paris einnahm und Männer wie Puschkin, Tolstoi, Tschaikowsky und Dostojewski hervorbrachte; es war eine Zivilisation mit überragender Kultur und von erlesener Schönheit.
Lässt man den Kontext außer Acht, erscheinen diese Exzesse so bombastisch und befremdlich, dass weltferne Historiker die Wahrheit verschämt abmildern. Schließlich aber sind die um die Romanows gewobenen Legenden – Stoff für Hollywoodfilme und Fernsehserien – genauso wirkmächtig wie die Fakten. Deshalb muss sich der Erzähler dieser Geschichte vor Melodramen, Mythologien und Teleologien hüten – Gefahren, die stets bei historischen Beschreibungen lauern – und mit Bedacht seine Methode wählen. Skepsis ist angebracht: Wissenschaft verlangt ständige Überprüfung und Analyse. Einer der Vorteile der narrativen Geschichtsschreibung besteht aber gerade darin, jede Regierungszeit so in einen Kontext zu stellen, dass ein Porträt der Entwicklung Russlands, seiner Autokratie und seiner Seele entsteht. Und in diesen überlebensgroßen, durch die Alleinherrschaft deformierten Persönlichkeiten scheint ein Zerrspiegel auf und zeigt uns ein vollständiges Bild des menschlichen Charakters.
Die Aufgabe, Russland zu regieren, war vielleicht immer mit Angst besetzt, und die Rolle des Autokraten konnte nur von einem Genie wirklich ausgefüllt werden – davon gibt es aber in den meisten Familien nur sehr wenige. Der Preis für das Scheitern war der Tod. »Russland ist eine Autokratie, die durch Strangulierung gemäßigt wird«, scherzte die französische Literatin Madame de Staël. Es war ein gefährlicher Posten. Sechs der letzten zwölf Zaren starben eines gewaltsamen Todes – zwei durch Erdrosselung, einer durch den Dolch, einer durch Sprengstoff, zwei durch Kugeln. Bei der letzten Katastrophe 1918 wurden 18 Romanows massakriert. Kaum ein Kelch war so reichhaltig und so voller Gift.
Ich widme meine Aufmerksamkeit vor allem den Umständen der Herrscherwechsel, weil sich daran am besten die Stabilität eines Regimes ablesen lässt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass heute, zwei Jahrhunderte, nachdem die Romanows endlich ein Erbfolgegesetz erließen, russische Präsidenten praktisch immer noch ihre Nachfolger bestimmen wie einst Peter der Große. Ob reibungslose Übergabe oder erbitterter Kampf um die Nachfolge, diese Augenblicke extremer Spannung – in denen der Fortbestand der Dynastie davon abhängt, dass äußerste Raffinesse aufgeboten, jede Intrige erwogen wird – offenbaren die Fundamente der Macht.
Das Hauptelement des Zarentums war die Zurschaustellung von Erhabenheit und Stärke. Doch musste noch hinzukommen, was Otto von Bismarck, Rivale und Verbündeter der Romanows, »die Kunst des Möglichen, des Erreichbaren, die Kunst, das nächstbeste Ziel zu erreichen«, nannte. Für die Romanows beruhte die Kunst des Überlebens auf dem Jonglieren mit den Adelsfamilien, den Interessen und Persönlichkeiten eines kleinen Hofs und eines riesigen Reichs. Die Zaren mussten sich die Unterstützung ihrer Armee, des Adels und des Beamtenapparats sichern. Wenn sie diese verloren, drohte die Gefahr, vom Thron gestoßen zu werden – und in einer Autokratie bedeutete dies in der Regel den Tod. Alleinherrscher mussten nicht nur das tödliche Spiel der Politik beherrschen, sondern instinktiv, beinahe animalisch ihre Autorität ausüben. Ein erfolgreicher Zar konnte es sich leisten, hart zu sein, vorausgesetzt, er war es immer. Herrscher werden häufig nicht wegen ihrer Brutalität getötet, sondern wegen mangelnder Konsequenz. Zaren mussten Vertrauen und Respekt unter ihren Höflingen wecken, bei den Bauern hingegen – sie machten 90 Prozent ihrer Untertanen aus und nannten die Herrscher »Kleine Väter« – tiefe, geradezu religiöse Verehrung. Man erwartete, dass ein Zar streng mit seinen Beamten umging, jedoch gütig mit seinen Bauern, seinen »Kindern«: »Der Zar ist gut«, sagten sie, »die Adeligen sind böse.«
Macht ist immer persönlich. Jede Betrachtung eines heutigen westlich-demokratischen Staatsführers zeigt, dass selbst in einem transparenten System mit kurzen Amtszeiten Persönlichkeiten die Regierungen prägen. Demokratische Führer regieren häufig mittels ihrer vertrauten dienstbaren Geister statt mit den ernannten Ministern. An jedem Hof ist die Macht so unbeständig wie die menschliche Persönlichkeit. Sie fließt in einem Kreislauf von der Quelle ausgehend und wieder zurück, aber ihre Strömungen verändern sich unablässig; ihr Fluss kann umgeleitet, ja sogar in die entgegengesetzte Richtung gelenkt werden. In einer Autokratie ist die Macht veränderlich wie die persönlichen und politischen Stimmungen, Beziehungen und Umstände eines Herrschers und seines ausgedehnten, kaum überschaubaren Reiches. Das trifft auf alle Höfe zu. Die neuen Autokratien des 21. Jahrhunderts in Russland und China haben viel mit dem Absolutismus der Zaren gemeinsam: Sie werden von kleinen, undurchlässigen Cliquen getragen, häufen unermesslichen Reichtum an, sind durch hierarchische, klientelistische Beziehungen miteinander verflochten und bei alledem auf Gedeih und Verderb den Launen des Herrschers ausgeliefert. Ich möchte in diesem Buch der unsichtbaren, rätselhaften Alchemie der Macht auf die Spur kommen, um die Kernfrage aller Politik zu beantworten, die der Meister des Machtspiels, Lenin, lakonisch so formulierte: Kto kogo? – Wer kontrolliert wen?
In einer Autokratie erscheinen die Charakterzüge eines Menschen wie unter dem Brennglas, alles Persönliche ist politisch, und die Nähe zum Herrscher wird in Macht verwandelt und in den goldenen Faden eingewebt, der von der Krone zu jedem verläuft, den sie berührt. Es gab zuverlässige Methoden, das Vertrauen eines Zaren zu gewinnen. Die erste bestand darin, am Hof, in der Armee oder der Regierung zu dienen, vor allem aber darin, militärische Siege zu erringen; die zweite war, Sicherheit zu garantieren – jeder Herrscher, nicht nur in Russland, benötigt einen Vertrauten, der seine Feinde aus dem Weg räumt; die dritte war mystischer Natur – den Zugang der Herrscherseele zu Gott zu erleichtern; und das vierte und älteste Mittel betraf die Liebe oder die Sexualität, insbesondere bei Zarinnen. Im Gegenzug überschütteten die Zaren diese Diener ihrer Macht mit Geld, Leibeigenen und Titeln. Zaren, die die Mittlerdienste des Hofs nicht in Anspruch nahmen oder gegen die Wünsche ihrer Potentaten, insbesondere der Generäle, dramatische Kehrtwenden in der Außenpolitik vollzogen, starben meist eines unnatürlichen Todes – ein Mord stellte in einer Autokratie eines der wenigen Instrumente der Elite dar, Protest zu erheben. (Die Möglichkeiten des Volkes bestanden in städtischem Aufruhr und Bauernaufständen, aber für den Zaren waren die Höflinge in seiner Nähe weitaus gefährlicher als die fern vom Hof lebenden Bauern – und nur einer, Nikolaus II., wurde durch einen Volksaufstand gestürzt.)
Ein kluger Zar wusste, dass sein öffentliches Leben nicht von seinem privaten Dasein zu trennen war. Die Politik griff unausweichlich auf sein Privatleben, das sich am Hof abspielte, über. »Es ist Euer Schicksal«, schrieb der römische Historiker Cassius Dio über Augustus, »wie in einem Theater zu leben, in dem das Publikum die ganze Welt ist.« Doch selbst auf solch einer Bühne wurden die realen Entscheidungen im Undurchsichtigen, im Verborgenen getroffen und hingen von den persönlichen Launen des Herrschers ab (wie auch heute noch im Kreml). Man kann Peter den Großen nicht verstehen, wenn man seine nackten Zwerge und Dildos schwingenden Scheinpäpste nicht ebenso betrachtet wie seine Reformen und seine Außenpolitik. Doch so exzentrisch das System war, es funktionierte und entwickelte seine Potentiale bis zur Höchstform. Es mag überraschen, dass zwei der fähigsten Minister der Dynastie, Schuwalow und Potemkin, ihre Laufbahn als Liebhaber begannen. Der türkische Barbier Pauls I., Kutaisow, wurde so einflussreich wie ein geborener Fürst. Der Historiker, der sich mit den Romanows befasst, muss daher nicht nur offizielle Erlasse und Statistiken über die Stahlproduktion studieren, sondern sich auch mit den Rendezvous Katharinas der Großen und der mystischen Wollust Rasputins befassen. Je einflussreicher die Minister wurden, desto mehr sicherten die Autokraten ihre Macht, indem sie den Ministerrat umgingen und sich persönlicher Gefolgsleute bedienten. So waren die Taten begabter Herrscher mysteriös, verblüffend oder furchterregend, waren die Herrscher hingegen inkompetent, gingen die Regierungsgeschäfte gründlich schief.
Der Erfolg einer Autokratie hängt vor allem vom Können des Einzelnen ab. »Das Geheimnis des Adels«, schrieb Karl Marx, »ist die Zoologie« – mit anderen Worten die Fortpflanzung. Im 17. Jahrhundert veranstalteten die Romanows Brautschauen – Schönheitswettbewerbe –, um ihre russischen Bräute auszuwählen, doch Anfang des 19. Jahrhunderts (teils auch schon im 18. Jahrhundert) suchten sie sich Ehefrauen im »Gestüt Europas« – in den deutschen Fürstenhäusern – und verbanden sich so mit der großen Familie des europäischen Adels. Aber Politiker zu zeugen ist keine Wissenschaft. Wie viele Familien bringen einen herausragenden Führer hervor, der die Begabung zum Autokraten besitzt, ganz zu schweigen 20 Generationen von Monarchen, die meisten durch biologische Lotterie und die Kunst der Palastintrige auf den Thron gehoben? Nur sehr wenige Persönlichkeiten, die eine politische Laufbahn einschlagen, können die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen und dem Druck eines hohen Amtes standhalten, das in einer Monarchie ganz willkürlich besetzt wird. Doch ein Zar musste Diktator und Generalissimus, Hohepriester und »Kleiner Vater« in einem sein, und um dies zustande zu bringen, benötigte er all die Eigenschaften, die der Soziologe Max Weber aufgelistet hat: die »persönliche Gabe der Gnade« (Charisma), die »Kraft der Legalität« und die »Autorität des Ewiggestrigen«, mit anderen Worten Anziehungskraft, Legitimität und Tradition. Darüber hinaus musste er auch noch erfolgreich und klug sein. Auch furchterregender Respekt war ein wesentlicher Faktor: In der Politik ist Lächerlichkeit fast so gefährlich wie eine Niederlage.
Die Dynastie der Romanows brachte zwei politische Genies hervor – die »Großen« Peter und Katharina – und einige Persönlichkeiten mit Talent und Anziehungskraft. Nach der brutalen Ermordung Zar Pauls im Jahr 1801 waren alle Monarchen pflichtbewusst und arbeiteten hart, und die meisten waren charismatisch, klug und fähig, aber das Amt war für einen Normalsterblichen beängstigend, so dass niemand mehr den Thron anstrebte: Er war eine Last, die kein Vergnügen bereitete. »Wie soll es einem einzelnen Manne gelingen, [Russland] zu regieren und seine Missstände zu korrigieren?«, fragte der angehende Alexander I. »Das wäre nicht nur einem Manne von gewöhnlichen Fähigkeiten wie mir unmöglich, sondern sogar einem Genie …« Er träumte davon, fortzulaufen und auf einem Gutshof am Rhein zu leben. Bei seinen Nachfolgern löste die Krone Angst und Schrecken aus, und sie mieden sie, wenn sie konnten; und wenn ihnen die Regentschaft dennoch übertragen wurde, mussten sie um ihr Leben kämpfen.
Peter der Große begriff, dass die Autokratie unermüdliches Kontrollieren und Drohen erforderte. Die mit der Herrschaft über dieses unermessliche Reich und der Aufrechterhaltung eines persönlichen Despotismus ohne klare Regeln oder Grenzen verbundenen Gefahren waren solcher Art, dass es in vielen Fällen nicht gerechtfertigt erscheint, russische Herrscher der Paranoia zu bezichtigen: Äußerste Wachsamkeit und der überraschende Einsatz von Gewalt waren und sind ihr natürlicher und unerlässlicher Zustand. Sie leiden unter einem Phänomen, das Kaiser Domitian (kurz bevor er selbst ermordet wurde) mit den geistreichen Worten beklagte: »Das Los der Fürsten ist höchst unglücklich, denn wenn sie eine Verschwörung aufdecken, so glaubt man ihnen erst, wenn sie ihr zum Opfer gefallen sind.« Aber die Furcht allein reichte nicht: Auch nach der Ermordung von Millionen Menschen beschwerte sich Stalin, dass immer noch niemand seine Befehle befolge. Autokratie »ist nicht so leicht, wie man glaubt«, meinte einmal die höchst intelligente Katharina: »Unbegrenzte Macht« sei eine Schimäre.
Die Entscheidungen Einzelner lenkten Russland oft in eine andere Richtung, wenn auch meist nicht in die beabsichtigte. So ließe sich die Äußerung des preußischen Feldmarschalls Helmuth von Moltke, »Pläne überleben selten den ersten Kontakt mit dem Feind«, auch auf die Politik anwenden. Zufälle, Spannungen, Persönlichkeiten und Glück, während unablässig die Entscheidung zwischen Kanonen und Butter zu treffen war, bilden die eigentliche Landschaft der Politik. So sinnierte der größte Minister der Romanows, Potemkin, einmal, ein Politiker, egal welchen Landes, müsse nicht nur auf Zufälle angemessen reagieren, sondern »aus den Ereignissen das Beste machen«. Und Bismarck meinte: »Der Staatsmann … kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorzuspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen, das ist alles.« Die letzten Romanows standen oft auf verlorenem Posten und versuchten hartnäckig, sich dem Gang der Geschichte zu widersetzen.
Die Verfechter der russischen Autokratie waren überzeugt, dass nur ein allmächtiger, von Gott gesegneter Einzelner die leuchtende Größe ausstrahlen könne, die notwendig sei, um das Vielvölkerreich zu lenken und im Zaum zu halten und die komplexen Interessen eines so ausgedehnten Landes miteinander zu vereinbaren. Gleichzeitig musste der Souverän die heilige Mission des orthodoxen Christentums verkörpern und der Sonderstellung der russischen Nation in der Weltgeschichte gerecht werden. Weil kein Mann und keine Frau solche Pflichten allein erfüllen konnte, war es eine wesentliche Voraussetzung, die Kunst des Delegierens zu beherrschen. Der tyrannischste Romanow, Peter der Große, war herausragend darin, geeignete Gefolgsleute aus ganz Europa ungeachtet von Klasse und Rasse zu finden und Titel zu verleihen, und es ist kein Zufall, dass Katharina die Große nicht nur Potemkin förderte, sondern auch Suworow, den überragenden Militärbefehlshaber der Romanow-Zeit. Stalin, der sich ebenfalls darauf verstand, die richtigen Handlanger auszusuchen, meinte einmal, dies sei Katharinas größtes Talent gewesen. Die Zaren wählten sich Minister, die Regierungsgeschick besaßen, und doch erwartete man vom Autokraten, selbst zu regieren: Ein Romanow durfte niemals einen herrischen Richelieu oder Bismarck ernennen. Die Zaren mussten über der Politik stehen – und zugleich scharfsinnige Politiker sein. Wenn die Macht klug delegiert wurde und Ratschläge von allen Seiten bedacht wurden, konnte auch ein mäßig begabter Herrscher viel erreichen, allerdings verlangte die moderne Autokratie einen ebenso geschickten Umgang mit komplexen Fragen wie die Politik in einer heutigen Demokratie.
Der Vertrag des Zaren mit dem Volk entsprach dem urwüchsigen Russland von Bauern und Adeligen, wird aber vom Kreml des 21. Jahrhunderts in gewissem Sinne fortgesetzt – Ruhm im Ausland und Sicherheit im Inneren als Gegenleistung für die Herrschaft eines Mannes und seines Hofs und ihre fast grenzenlose Bereicherung. Der Vertrag bestand aus vier Elementen – dem religiösen, dem kaiserlichen, dem nationalen und dem militärischen. Selbst im 20. Jahrhundert betrachtete sich der letzte Zar noch als der patrimoniale Herrscher über ein persönliches Besitztum – gesegnet durch die Hand Gottes. Dazu war es folgendermaßen gekommen: Im Lauf des 17. Jahrhunderts waren die Patriarchen der orthodoxen Kirche noch in der Lage, die Vorrangstellung der Zaren zu bedrohen. Nachdem Peter der Große das Patriarchat abgeschafft hatte, konnte sich die Dynastie beinahe als eine Theokratie darstellen. Die Autokratie wurde im Augenblick der Weihe bei den Krönungen geheiligt und die Zaren als transzendentes Bindeglied zwischen Gott und den Menschen präsentiert. Nur in Russland wurde der Staat, bestehend aus farblosen, unbedeutenden Beamten, fast selbst ein sakrales Gebilde. Aber auch das entwickelte sich erst im Lauf der Zeit. Obwohl viel über das Erbe byzantinischer Kaiser und mongolischer Khane geredet wird, hatte der Status der Zaren im 16. Jahrhundert nichts Besonderes an sich; ihre Strahlkraft bezogen sie aus der mittelalterlichen königlichen Christologie ganz ähnlich wie andere europäische Monarchen auch. Doch im Gegensatz zum Rest Europas entwickelten sich in Russland keine unabhängigen Vereinigungen und bürgerlichen Institutionen, so dass es länger in seinem mittelalterlichen Status verharrte – bis ins 20. Jahrhundert hinein, als das Zarentum selbst im Vergleich zum Hof der deutschen Kaiser seltsam veraltet erschien. Diese mystische Mission, mit der die Romanows ihre Herrschaft bis 1917 rechtfertigten, erklärt weitgehend die unnachgiebigen Überzeugungen des letzten Zaren Nikolaus und seiner Frau Alexandra.
Die Autokratie wurde durch ihr sich stets erweiterndes, multireligiöses, multiethnisches Reich legitimiert, aber die späteren Zaren betrachteten sich als die Führer nicht nur der russischen Nation, sondern auch der gesamten slawischen Gemeinschaft. Je mehr sie dem russischen Nationalismus zuneigten, desto mehr schlossen sie große nichtrussische Bevölkerungsgruppen wie Polen, Georgier, Finnen und insbesondere Juden aus (und verfolgten sie sogar häufig). So scherzt der jüdische Milchmann in Tewje, der Milchmann: »Gott erhalte uns den Zaren und halte ihn weit von uns entfernt.« Dieser Widerspruch zwischen Reich und Nation brachte viele Schwierigkeiten mit sich. Der Hof der Romanows war eine Mischung aus Vermögensverwaltungsfirma, orthodoxem Kreuzritterorden und militärischem Hauptquartier – Merkmale, die teilweise den Eifer und die Aggression der auf die Romanows folgenden Regime, der Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation, erklären.
Selbst im vorindustriellen Zeitalter war der Terminkalender des Zaren mit religiösen Zeremonien und Truppenschauen gut gefüllt, ganz abgesehen von den Streitigkeiten der verschiedenen Interessengruppen und familiären Auseinandersetzungen, so dass herzlich wenig Zeit blieb, um gründlich über die Lösung komplexer Probleme nachzudenken. Das bereitet schon einem geborenen Politiker mit einer fünfjährigen Amtszeit Mühe, umso mehr jemandem, der sein Leben lang Verantwortung trägt – und viele Zaren regierten über 25 Jahre lang. Bedenkt man, dass die meisten gewählten Politiker in unseren Demokratien nach nicht einmal zehn Jahren dem Wahnsinn nahe sind, überrascht es kaum, dass Zaren nach mehreren Jahrzehnten des Regierens erschöpft und verwirrt waren. Außerdem konnte ein Zar nur dann die richtigen Entscheidungen treffen, wenn er von seinen Höflingen mit den richtigen Informationen versorgt wurde: Alle Monarchen behaupteten, in einem Netz aus Lügen gefangen zu sein, doch je länger sie regierten, desto eher glaubten sie, was sie hören wollten. »Hüte dich, dass du nicht ein tyrannischer Kaiser wirst! Nimm einen solchen Anstrich nicht an«, warnte Marc Aurel, aber das war leichter gesagt als getan. Die Anforderungen nahmen im Lauf der Jahrhunderte zu. Es war schwerer, Regisseur eines Reichs mit Zügen, Telefonen und Schlachtschiffen zu sein als eines Imperiums mit Pferden, Kanonen und Donnerbüchsen. Obwohl dies eine Studie über persönliche Macht ist, würde eine zu starke Betonung des Persönlichen den Einfluss historischer Strömungen, die Kraft von Ideen und die Auswirkungen von Stahl, Dynamit und Dampfkraft verschleiern. Der technische Fortschritt stellte für eine mittelalterliche Autokratie eine wachsende Herausforderung dar.
Wenn der Historiker (und der Leser dieses Buches) von den chaotischen Tendenzen und der kapriziösen Dekadenz der schwachen Zaren Ende des 17. Jahrhunderts erfährt, drängt sich die Frage auf: Wie konnte Russland so erfolgreich sein, wenn es doch anscheinend von grotesken Gestalten ziemlich schlecht regiert wurde? Doch selbst wenn ein Kind oder ein Idiot auf dem Thron saß, funktionierte die Autokratie auch weiterhin. »Gott ist im Himmel, und der Zar ist weit weg«, sagten die Bauern, die sich in ihren abgelegenen Dörfern wenig um das kümmerten, was in St. Petersburg geschah, und noch weniger darüber wussten – solange das Zentrum standhielt. Und es hielt stand, weil die Romanow-Dynastie Drehpunkt und Fassade eines politischen Systems war, das auf Familienbindungen und persönlichen Beziehungen beruhte und dessen Protagonisten manchmal gegeneinander rivalisierten, oft aber zusammenarbeiteten, um das Reich als Juniorpartner des Throns zu regieren. Das System war flexibel. Sobald ein Zar heiratete, trat die Familie der Braut in den Zirkel der Macht ein, und die Zaren förderten talentierte Günstlinge, siegreiche Generäle und fähige Ausländer, insbesondere tatarische Duodezfürsten, baltische Deutsche und schottische Jakobiter, die dieses Allerheiligste der Beziehungen auffrischten und die soziale Grundlage dafür lieferten, dass Russland zu einem so erfolgreichen vormodernen Reich wurde.
Dessen Kern war das Bündnis zwischen den Romanows und dem Adel, der die Unterstützung des Monarchen benötigte, um seinen Grundbesitz zu kontrollieren. Leibeigenschaft war das Fundament dieser Partnerschaft. Das Ideal der Autokratie war in der Praxis ein Deal, durch den die Romanows absolute Macht genossen und imperialen Ruhm garantierten, während der Adel unbehelligt über seine Güter herrschen konnte. Die Krone war der größte Landbesitzer, so dass die Monarchie nicht zum Spielball des Adels wurde wie in England und Frankreich. Die miteinander verwandten adeligen Familien dienten in der Regierung, am Hof und vor allem in der klassischen dynastisch-aristokratischen Armee – die nur selten eine Bedrohung für die Zaren darstellte und stattdessen zu einer effektiven Maschinerie imperialer Ausdehnung und staatlichen Zusammenhalts wurde. So wurden Adelige und Bauern unter der wirkmächtigen Ideologie von Zar, Gott und Nation zusammengebunden. Da die Romanows in einem erbittert geführten Bürgerkrieg, der Zeit der Wirren (1603–1613), an die Macht kamen, stand das Regime von Beginn an auf einer militärischen Grundlage. Wegen der ständigen Kriege gegen Polen, Schweden, Osmanen, Briten, Franzosen und Deutsche entwickelte sich die Autokratie zu einer Kommandozentrale, die ihren Adel mobilisierte und immer wieder westliche Technologie einsetzte. Krone und Adel pressten die Leibeigenen aus, die Steuern bezahlten, Getreide lieferten und als Soldaten zu einem viel billigeren Preis in die Schlacht geführt werden konnten als die Armeen in anderen Teilen Europas. Der Erfolg der Romanows bei der Vereinigung des Landes und die tiefsitzende Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg führten dazu, dass auch im Fall der Liquidierung eines einzelnen Zaren die Monarchie grundsätzlich gesichert war und stets von ihrem Adel gestützt wurde – mit den seltenen Ausnahmen der Jahre 1730, 1825 und 1916/1917. Die meiste Zeit ihrer Herrschaft konnten die Romanows und ihre Gefolgsleute im Rahmen des geheiligten, glanzvollen und profitablen Unternehmens, Aggressoren aus dem Ausland zurückzudrängen und ein Imperium aufzubauen, zusammenarbeiten. Daher ist dieses Buch nicht nur eine Geschichte der Romanows, sondern auch anderer Familien wie die der Golizyns, der Tolstois und der Orlows.
Das verbindende Element dieser Allianz war der Hof, ein Umschlagplatz für Belohnungen, ein glamouröser Klub der Erhabenheit, wo sich gerade vermeintlich leichtgewichtige Zarinnen wie Anna und Elisabeth als besonders geschickt darin erwiesen, die Beziehungen zu ihren prahlerischen Magnaten zu festigen. Diese Partnerschaft war bis zum Krimkrieg in den 1850er Jahren erfolgreich, als das alte Regime in einen lebensfähigen modernen Staat verwandelt werden musste. Die Konflikte außerhalb seiner Grenzen verwickelten das Romanow-Reich in einen unerbittlichen geopolitischen Machtkampf mit Großbritannien, Deutschland, Japan und Amerika, Länder, die wohlhabender und weiter entwickelt waren als Russland. Russlands Potential ließ sich nur durch eine Landreform, eine halsbrecherische Industrialisierung mit Hilfe westlicher Kredite, die Erweiterung der politischen Teilhabe und die Demontage der korrupten, repressiven Autokratie erschließen, und zu alledem waren die beiden letzten Romanows, Alexander III. und Nikolaus II., aus ideologischen Gründen nicht in der Lage. Sie standen vor der schwierigen Frage, wie sie ihre riesigen Gebiete erhalten und vor dem Hintergrund einer rückständigen Gesellschaft eine Macht behaupten konnten, die ihren imperialen Ambitionen entsprach. Wenn sie äußeren Feinden unterlagen, verloren sie ihre Legitimation im Inneren. Je mehr sie im Inneren scheiterten, desto weniger konnten sie es sich leisten, jenseits ihrer Grenzen als Imperium aufzutreten. Wenn sie blufften und entlarvt wurden, mussten sie den beschämenden Rückzug antreten oder kämpfen und einen revolutionären Umsturz riskieren.
Wahrscheinlich hätten nicht einmal Peter oder Katharina das Problem der drohenden Revolution und des Ersten Weltkriegs lösen können, vor dem Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts stand, aber bedauerlicherweise erwies sich der Romanow, der vor der schwersten Krise der Dynastie stand, als gleichermaßen unfähig wie engstirnig und glücklos. Nikolaus fehlte es sowohl an Menschenkenntnis als auch an der Bereitschaft zu delegieren. Obwohl er die Rolle des Autokraten nicht ausfüllen konnte, nutzte er seine Macht, um dafür zu sorgen, dass es auch kein anderer tat.
Gerade der Erfolg der alten Methoden bis zu den 1850er Jahren erwies sich als Hindernis für Veränderungen. So wie die radikale und mörderische Vorgehensweise der Sowjetunion nur durch die marxistisch-leninistisch-stalinistische Ideologie verständlich wird, lässt sich auch das oft bizarre, törichte und unsinnige Handeln der letzten Romanows nur anhand ihrer Weltanschauung erklären: der heiligen Autokratie. Sie deformierte letztlich die Monarchie, sie wurde zum Selbstzweck, zu einem Hindernis auf dem Weg hin zu einem modernen Staat: Das unlösbare Dilemma bestand darin, fähige Politiker zu gewinnen und die Teilhabe am Regime auszuweiten, ohne dessen angestaubte Säulen zu verlieren, den Adel und die Kirche – die Trotzki als Welt der »Ikonen und Kakerlaken« bezeichnete.
Schließlich zeigen die großen Diktatoren der 1920er und 1930er Jahre und die neuen Autokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass Modernität und Autoritarismus nicht unvereinbar sind – nicht einmal in den Zeiten von Internet und Berichterstattung rund um die Uhr. Es war der besondere Charakter der zaristischen Monarchie und der russischen Gesellschaft, der dazu führte, dass diese Autokratie nicht länger funktionieren konnte. Die Lösungen waren nicht so einfach, wie sie heute aus der Rückschau und im Licht der vermeintlichen Überlegenheit des Westens erscheinen. Wie der Reformer Alexander II. erfahren musste, ist es, mit den Worten Marc Aurels, »das Los eines Königs, Gutes zu tun und verdammt zu sein«. Westliche Historiker werfen den letzten beiden Zaren vor, nicht sofort die Demokratie installiert zu haben. Aber darin könnten sie sich täuschen: Eine solch radikale Operation hätte den Patienten vielleicht noch viel früher sterben lassen.
Das Schicksal der Familie Romanow war unerträglich grausam und wird häufig als unausweichlich dargestellt. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass die Monarchie derartig stark war, dass Nikolaus II. 22 Jahre lang regierte – und in den ersten zehn Jahren sogar einigermaßen erfolgreich – und dabei Niederlagen, revolutionäre Unruhen und drei Jahre Weltkrieg überstand. Die Februarrevolution von 1917 zerstörte die Monarchie, aber die Familie war erst dem Tod geweiht, als sie im Oktober, sieben Monate nach der Abdankung, in die Hände der Bolschewiken fiel. Und selbst dann noch erwog Lenin verschiedene Szenarien, bevor er den Befehl zu jenem grausamen Verbrechen erteilte: dem Massaker an Eltern und unschuldigen Kindern. In der Geschichte ist nichts unausweichlich.
Das Massaker markiert das Ende der Dynastie und unserer Erzählung, aber noch nicht das Ende der ganzen Geschichte. Heute ist in Russland immer noch der Nachhall der Vergangenheit zu vernehmen. Allein die Gebeine der Romanows sind Gegenstand heftiger politischer und religiöser Auseinandersetzungen, während die imperialen Interessen – in der Ukraine und den baltischen Staaten, im Kaukasus und auf der Krim, in Syrien und Jerusalem bis hin zum Fernen Osten – immer noch Russland und die Welt, wie wir sie kennen, charakterisieren. Blutbefleckt, mit Gold überzogen und mit Diamanten besetzt, draufgängerisch, alle Verführungskünste aufbietend und unter einem schlechten Stern stehend – Aufstieg und Fall der Romanows sind bis heute ein ebenso faszinierendes wie bedeutendes, ein menschliches wie strategisches Kapitel der Geschichte, eine Chronik von Vätern und Söhnen, Megalomanen, Ungeheuern und Heiligen.[1]
Zwei halbwüchsige Jungen, beide zerbrechlich, unschuldig und kränklich, stehen am Anfang beziehungsweise Ende der Geschichte dieser Dynastie. Beide waren Erben einer politischen Familie, die dazu bestimmt war, Russland autokratisch zu regieren, beide wuchsen in einer Zeit der Revolution, der Kriege und Gemetzel auf. Beide wurden von anderen dazu auserwählt, eine ehrwürdige, aber beängstigende Aufgabe zu übernehmen, der sie nicht gewachsen waren. Zwischen ihnen lagen 305 Jahre, und ihr Schicksal traf sie unter außergewöhnlichen, schreckenerregenden Umständen fernab von Moskau in Gebäuden, die beide den Namen Ipatjew trugen.
Am 17. Juli 1918 um ein Uhr dreißig in der Nacht wurden der dreizehnjährige, an der Bluterkrankheit leidende Alexei, Sohn des abgedankten Zaren Nikolaus II., seine Eltern, seine vier Schwestern, drei Bedienstete und drei Hunde im Ipatjew-Haus in Jekaterinburg, einer Stadt im Ural fast 1300 Kilometer von Moskau entfernt, aus dem Schlaf gerissen und aufgefordert, sich für den Umzug an einen sichereren Ort bereit zu machen.
In der Nacht auf den 13. März 1613 wurden der sechzehnjährige, unter einer Schwäche in den Beinen und einem zuckenden Augenlid leidende Michael Romanow, der einzige Überlebende der fünf Söhne seiner Eltern, und seine Mutter im Ipatjew-Kloster am Rand der teils in Ruinen liegenden Kleinstadt Kostroma an der Wolga, 350 Kilometer nordöstlich von Moskau, aufgeweckt. Man teilte ihnen mit, es sei eine Delegation eingetroffen. Der junge Mann müsse eiligst mit ihr in die Hauptstadt zurückkehren.
Beide Jungen waren völlig unvorbereitet auf die außergewöhnliche Situation, die ihnen nun bevorstand. Ihre Eltern hatten ihnen die Krone zugedacht – jedoch zugleich gehofft, sie vor den damit verbundenen Gefahren bewahren zu können. Sie zu schützen erwies sich aber als unmöglich, weil sich ihre Familien wohl oder übel an dem grausamen Spiel um die Erbfolge in Russland beteiligt hatten, und nun waren die Jungen auserwählt, die furchtbare Last der Herrschaft auf ihren schwachen Schultern zu tragen. Doch ungeachtet der Parallelen zwischen diesen historischen Augenblicken im Leben von Alexei und Michael bewegten sie sich, wie wir sehen werden, in völlig unterschiedliche Richtungen – auf einen Anfang zu der eine und zu einem Ende hin der andere.
Alexei, ein Gefangener der Bolschewiken in einem von Bürgerkrieg und ausländischen Invasoren erschütterten Russland, wurde zusammen mit seinen Eltern und Schwestern angekleidet. In ihre Garderobe waren die berühmten Juwelen der Dynastie für eine künftige Flucht in eine neue Freiheit eingenäht. Der Junge und sein Vater, der ehemalige Zar Nikolaus II., trugen beide schlichte Militärhemden, Reithosen und Schirmmützen, die Ex-Zarin Alexandra und ihre jugendlichen Töchter weiße Blusen und schwarze Röcke und weder Jacken noch Hüte. Man erklärte ihnen, sie dürften nur ein paar Habseligkeiten mitnehmen, aber natürlich versuchten sie, ungewiss, ob sie zurückkehren würden, und ohne jede Ahnung, wohin man sie bringen würde, Kissen, Taschen und Erinnerungsstücke zusammenzuraffen. Die Eltern wussten, dass sie selbst diesen Albtraum wahrscheinlich nicht überleben würden, doch dass unschuldigen Kindern Leid zugefügt würde, schien selbst in diesen eiskalten Zeiten undenkbar. Vorerst aber, überwältigt von Müdigkeit und erschöpft von einem Leben in Verzweiflung und Unsicherheit, ahnten sie nichts Böses.[1]
Michael Romanow und seine Mutter, die Nonne Marfa, waren kurz zuvor noch Gefangene gewesen, nun aber mehr oder weniger Flüchtlinge, die sich möglichst unauffällig verhielten und Unterschlupf in einem Kloster inmitten eines Landes gefunden hatten, das – dem Russland von 1918 nicht unähnlich – ebenfalls von einem Bürgerkrieg und einer Invasion erschüttert wurde. Auch diese beiden waren an ein Dasein unter Lebensgefahr gewöhnt. Und ihre Angst war berechtigt, denn der Junge wurde von Häschern verfolgt.
Die Nonne Marfa, Mutter des Jungen, war Mitte fünfzig und hatte in der brutalen Zeit der Wirren viel gelitten; ihre Familie war von Glanz und Macht in Gefangenschaft und Tod gestürzt und wieder erhoben worden: Der Vater des Jungen, Filaret, wurde nach wie vor in Polen festgehalten, mehrere Onkel waren ermordet worden. Michael konnte kaum lesen und schreiben, besaß keinerlei Herrscherqualitäten und war chronisch krank. Er und seine Mutter hofften nur noch zu überleben, bis sein Vater zurückkehrte. Doch würde es je dazu kommen?
Mutter und Sohn, hin und her gerissen zwischen Furcht und Erwartung, ließen die Grandendelegation aus Moskau wissen, der Junge sei am Morgen vor dem Ipatjew-Kloster anzutreffen. Sie ahnten nicht, was der nächste Tag bringen würde.[2]
Die Wachen im Ipatjew-Haus von Jekaterinburg beobachteten, wie die Romanows die Treppe herunterkamen und sich bekreuzigten, als sie auf dem Treppenabsatz an einer ausgestopften Bärin mit zwei Jungen vorbeikamen. Nikolaus trug seinen kränkelnden Sohn.
Der Kommandant, ein bolschewikischer Kommissar namens Jakow Jurowski, führte die Familie über einen Hof in einen Keller, der nur durch eine einzige Glühbirne beleuchtet wurde. Alexandra bat um einen Stuhl, und Jurowski ließ zwei Sitzgelegenheiten für die beiden schwächsten Familienmitglieder bringen – die ehemalige Zarin und Alexei. Nikolaus setzte seinen Sohn auf den Stuhl und stellte sich vor ihn. Die vier Großfürstinnen Olga, Tatjana, Maria und Anastasia, denen man das Akronym OTMA als Spitznamen gegeben hatte, standen hinter Alexandra. Jurowski stürzte aus dem Raum. Er hatte vieles zu regeln. Tagelang waren verschlüsselte Telegramme, die Zukunft der kaiserlichen Familie betreffend, zwischen Jekaterinburg und Moskau hin und her gegangen, während antibolschewistische Kräfte, die sogenannten Weißen, auf Jekaterinburg vorrückten. Die Zeit wurde knapp. Im Raum nebenan wartete eine Todesschwadron, manche Männer betrunken, alle schwerbewaffnet. Die Familie, ruhig und still, mit noch ungekämmten Haaren und vom Schlaf wie benommen, hoffte womöglich, irgendwie auf verschlungenen Wegen in die Hände der rettenden Weißen zu gelangen, die so nahe waren. Alle blickten ruhig und voller Anspannung auf die Tür, als warteten sie darauf, dass ein Gruppenfoto von ihnen gemacht würde.
Als Michael in der Morgendämmerung des 14. März – in einer pelzbesetzten Zarenrobe, auf dem Kopf eine mit Zobel gesäumte Mütze – in Begleitung seiner Mutter aus dem Haus trat, sah er eine von Moskowiter Potentaten, sogenannten Bojaren, und dem orthodoxen Bischof, dem Metropoliten, angeführte Prozession auf sich zukommen. Es war bitter kalt. Die Bojaren waren mit Kaftanen und Pelzmänteln bekleidet, der Metropolit trug die wundertätige Ikone der Mariä-Entschlafens-Kirche, die Michael sofort erkennen würde, weil er erst kurz zuvor im Kreml gefangen gehalten worden war. Als weitere Legitimation hielten die Delegierten die von den Romanows verehrte Ikone der Fjodorowskaja-Gottesmutter hoch – die Beschützerin der Familie.
Als sie vor Michael und seiner Mutter standen, machten die Delegierten eine tiefe Verbeugung, und schon ihre ersten Worte verrieten ihre erstaunliche Botschaft: »Höchster Herr, Herrscher von Wladimir und Moskau, Zar und Großfürst Großrusslands«, begann der Anführer der Delegation, der Metropolit Fjodorit von Rjasan. »Moskowien kann ohne einen Souverän nicht überleben … und Moskowien liegt in Ruinen.« Daher habe eine Landesversammlung ihn zu ihrem Herrscher erkoren, der »für das russische Zarentum scheinen [werde] wie die Sonne«. Dann baten sie ihn, »ihnen seine Gunst zu erweisen, ihre flehentlichen Bitten zu erhören« und »sich herabzulassen, so schnell wie möglich nach Moskau zu kommen«. Michael und seine Mutter waren darüber nicht erfreut. »Sie sagten«, berichteten die Delegierten »mit großem Zorn und unter Tränen, Er wünsche nicht, Herrscher zu sein, und Sie würde ihm als Herrscher auch nicht ihren Segen geben, dann wandten sie sich ab und traten in die Kirche.« Man hört fast den ungeheuren Ärger der Mutter und das verwirrte Schluchzen des Jungen. Im Jahr 1613 war die russische Krone keine verlockende Position.
Um zwei Uhr fünfzehn warteten Alexei und seine Familie immer noch in schlaftrunkenem Schweigen, als Genosse Jurowski und zehn bewaffnete Schergen den Raum betraten. Einem von ihnen fiel auf, dass Alexei, »kränklich und von wächserner Gesichtsfarbe … mit weit aufgerissenen, neugierigen Augen« umherblickte. Jurowski befahl Alexei und seiner Mutter, aufzustehen, und erklärte zu Nikolaus gewandt: »In Anbetracht der Tatsache, dass Ihre Verwandten ihren Angriff auf Sowjetrussland fortsetzen, hat das Präsidium des Regionalrats Ural beschlossen, Sie zum Tode zu verurteilen.«
»O Herr, mein Gott!«, entfuhr es dem der Ex-Zaren. »O mein Gott, was ist das denn?« Eins der Mädchen rief: »O mein Gott, nein!« Nikolaus erwiderte: »Ich verstehe Sie nicht. Lesen Sie es noch einmal vor, bitte.«
Die Moskauer Magnaten ließen sich durch Michaels Weigerung nicht entmutigen. Die Landesversammlung hatte genau aufgeschrieben, welche Antworten die Delegierten auf Michaels Einwände geben sollten. Nach langem Beten »flehten« die Granden Michael geradezu an. Sie küssten das Kreuz und fragten den Jungen, den sie mit »unser Herrscher« ansprachen, erneut »demütig«, ob er Zar sein wolle. Die Romanows aber waren nach Jahren der Verfolgung und Entwürdigung traumatisiert und schätzten sich glücklich, überhaupt noch am Leben zu sein. Michael »weigerte sich mit einem wütenden Klageschrei«.
Jurowski las das Todesurteil noch einmal vor, und jetzt bekreuzigten sich Alexei und die anderen, während Nikolaus immer wieder sagte: »Was? Was?«
»DAS!«, brüllte Jurowski und feuerte auf den Ex-Zaren. Das Hinrichtungskommando hob die Gewehre und schoss in einem ohrenbetäubenden Pandämonium aus »Schreien und Klagen der Frauen«, laut herausgebellten Befehlen Jurowskis, Panik und Rauch wild auf die Familie. »Niemand verstand noch etwas«, erinnerte sich Jurowski. Doch als die Gewehre verstummten, bemerkten sie, dass Zarewitsch Alexei und die Frauen nahezu unversehrt waren. Mit weit aufgerissenen Augen, voller Schrecken, entsetzt und immer noch auf seinem Stuhl sitzend, blickte Alexei sie durch die Wolke aus Schießpulver und Gipsstaub an, die das Lampenlicht fast völlig verdunkelte. Um ihn eine diabolische Szene aus umgekippten Stühlen, zuckenden Beinen, Blut und »Stöhnen, Schreien, leisem Schluchzen …«
Nach sechsstündigem Hin und Her knieten in Kostroma die Granden nieder, weinten und flehten, wenn Michael die Krone nicht annehme, werde Gott Russland in Schutt und Asche legen. Schließlich gab der Junge nach, küsste das Kreuz und nahm den Zarenstab mit der Eisenspitze entgegen. Die Granden bekreuzigten sich, warfen sich zu Boden und küssten ihrem neuen Zaren die Füße. Am Ende des gefährlichen Weges nach Moskau erwarteten ihn eine zerstörte Hauptstadt, ein zersplittertes Reich und ein verzweifeltes Volk.
Die letzten Rurikiden-Zaren
IWAN DER SCHRECKLICHE, Zar 1547–1584
Anastasia Romanowna Sacharina-Jurjewa, seine erste Zarin
Iwan Iwanowitsch, ihr ältester Sohn und Erbe, vom Vater ermordet
FJODOR I., ihr zweiter Sohn, Zar 1584–1598
Dimitri Iwanowitsch, der letzte Sohn Iwans des Schrecklichen, unter ungeklärten Umständen ermordet. Seine Identität wurde von drei Schwindlern, den Falschen Dimitris, übernommen.
Zeit der Wirren: Zaren und Prätendenten
BORIS GODUNOW, Zar 1598–1605
DER FALSCHE DIMITRI, Zar 1605–1606
WASSILI SCHUISKI, Zar 1606–1610
Der zweite Falsche Dimitri, bekannt als »Dieb von Tuschino«
Iwan Dimitrijewitsch, »Kleiner Dieb«, Zarewitsch
Marina Mnischek, Tochter eines polnischen Adligen, Gemahlin des ersten Falschen Dimitri, des zweiten Falschen Dimitri und Iwan Saruzkis, Mutter des »Kleinen Diebs«, des Zarewitsch, auch bekannt als »Marinka die Hexe«.
Kriegsherren
Dimitri Poscharski, Fürst, Held des Widerstands
Kusma Minin, Händler in Nischni Nowgorod, Widerstandsführer
Dimitri Trubezkoi, Fürst und Kosakenführer
Invasoren aus dem Ausland
Sigismund III., König von Polen
Władisław von Polen, Fürst, später König
Gustav II. Adolf, König von Schweden
Die ersten Romanows
Nikita Romanowitsch Sacharin-Jurjew, Bruder Anastasias, der ersten Frau Iwans des Schrecklichen
Fjodor Nikititsch Romanow, sein Sohn, später Priester Filaret
Xenia Schestowa, Fjodors Frau, später Nonne unter dem Namen Marfa
MICHAEL I., deren Sohn, erster Romanow-Zar, 1613–1645
Iwan Romanow, Fjodors Bruder, Michaels Onkel, Bojar
Maria Chlopowa, Michaels erste Verlobte
Maria Dolgorukaja, seine erste Gemahlin
Jewdokia Streschnewa, seine zweite Gemahlin
Irina, Zarewna, Tochter von Michael und Jewdokia
ALEXEI I., Sohn und Erbe von Michael und Jewdokia, Zar 1645–1676
Höflinge, Minister usw.
Fjodor Scheremetew, eingeheirateter Romanow, Bojar
Michail Saltykow, eingeheirateter Romanow, Königlicher Mundschenk und Waffenträger
Iwan Tscherkasski, Fürst, eingeheirateter Romanow tscherkessischer Herkunft, Bojar
Dimitri Tscherkasski, Fürst, eingeheirateter Romanow tscherkessischer Herkunft, Bojar
Michael hatte es nicht eilig, nach Moskau zu kommen, Moskau hingegen wartete verzweifelt auf ihn. Im Bürgerkrieg hatten sich die beteiligten Parteien – Magnaten, Könige anderer Länder, Kosakenführer, Hochstapler und Abenteurer –, begierig, die Krone an sich zu reißen, bis nach Moskau vorgearbeitet. Michael Romanow und die Nonne Marfa hingegen zeigten kein Interesse. Nie gab es eine erbärmlichere, wehleidigere und traurigere Prozession zum Thron. Aber Anfang 1613 befand sich Russland in einer furchtbaren Notlage und war bis ins Mark traumatisiert. Im Gebiet zwischen Kostroma und Moskau lauerten vielerlei Gefahren; Michael kam durch Dörfer, in denen Leichen auf den Wegen lagen. Russland war damals weitaus kleiner als die heutige Russische Föderation. Die Grenze zu Schweden im Norden lag in der Nähe von Nowgorod, die zu Polen-Litauen gleich hinter Smolensk, weite Gebiete Sibiriens im Osten waren noch nicht erobert, der Süden größtenteils noch Territorium des Tataren-Khanats. Dennoch war Russland – etwa im Vergleich zu England und seiner Bevölkerung von etwa 4 Millionen – mit ungefähr 14 Millionen Bewohnern ein Riesenreich. Ein Riesenreich allerdings, das im Innern kurz vor der Auflösung stand; Hungersnot und Krieg hatten die Bevölkerung dezimiert; die Polen waren hinter dem halbwüchsigen Zaren her; schwedische und polnisch-litauische Armeen sammelten sich, um in Russland einzumarschieren; unter den kasachischen Kriegsherren, die weite Landstriche im Süden beherrschten, erhoben einige Anspruch auf den Thron; es fehlte an Geld, die Kronjuwelen waren geraubt worden, die Kremlpaläste zerstört.
Michael stand vor einer gewaltigen Aufgabe: Der Zarenhof musste, Höfling für Höfling, Silberlöffel für Silberlöffel, Diamant für Diamant, neu aufgebaut werden. Michael und seine Mutter fürchteten sich zweifellos vor dem, was sie in der Hauptstadt erwartete, und das aus gutem Grund. Denn diesem Halbwüchsigen aus einer adeligen Familie ohne Rechtsanspruch auf den Thron, dessen Vater außerdem noch in Feindesland im Gefängnis saß, war das höchste Amt aufgedrängt worden, das er vor allem dem ersten Schutzherrn der Familie zu verdanken hatte: Iwan dem Schrecklichen.[1]
30 Jahre nach seinem Tod lag immer noch der Schatten Iwans über Russland und dem jungen Michael. Iwan der Schreckliche hatte das russische Reich erweitert – und es von innen beinahe zerstört. Erst hatte er dem Land zu mehr Glanz verholfen, dann hatte er es vergiftet. Seine 50 Jahre währende Herrschaft war eine Zeit des Triumphs und des Wahnsinns gewesen. Aber seine erste Gemahlin, zugleich seine Lieblingsfrau, die Mutter seiner ältesten Söhne, war eine Romanow – und sie war es, die den Grundstein für das Schicksal der Familie legte.
Iwan selbst war der Spross einer königlichen Familie, die von Rurik abstammte, einem halb mythischen skandinavischen Prinzen, den Slawen und andere Stämme aus der Region im Jahr 862 zu ihrem Herrscher ernannt und damit zum Begründer der ersten russischen Dynastie gemacht hatten. Im Jahr 988 konvertierte Ruriks Nachkomme Wladimir, Großfürst der Rus, auf der Krim zum orthodoxen Glauben unter Führung des byzantinischen Kaisers und Patriarchen. Seine lose Konföderation von Fürstentümern, die Rus von Kiew, miteinander verbunden durch die rurikidische Dynastie, sollte sich am Ende seiner Regierungzeit beinahe von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer ausdehnen. Zwischen 1238 und 1240 wurde die Rus von der mongolischen Armee Dschingis Khans und seiner Familie aufgesplittert, die in ihrer zweihundertjährigen Herrschaft über Russland den rurikidischen Fürsten kleinere Gebiete als Vasallentum überließen. Die Auffassung der Mongolen, es gebe einen einzigen universellen Herrscher unter Gott, sowie ihre brutalen, willkürlichen Rechtsentscheidungen mögen auf russischer Seite zum Konzept der Autokratie beigetragen haben. Es kam vielfach zu Vermischungen und Ehen mit Mongolen; viele berühmte russische Familien stammten von ihnen ab. Nach und nach stellten die russischen Fürsten die mongolische Autorität jedoch in Frage: Iwan III., der Große, Großfürst von Moskau, der viele russische Gebiete, insbesondere aber die Republik Groß-Nowgorod im Norden und Rostow im Süden, unter der Moskauer Krone vereinigt hatte, stellte sich 1480 entschlossen den mongolischen Khanen entgegen. Nachdem Byzanz an die islamischen Osmanen gefallen war, beanspruchte er die Führungsrolle in der orthodoxen Kirche für sich. Er heiratete die Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, Sophia Palaiologina, so dass er sich als Nachfolger der Kaiser bezeichnen konnte, und stilisierte sich allmählich zum »Cäsar«, ein Titel, der dann zu »Zar« russifiziert wurde. Sein neuer Herrscherstatus ermöglichte es den Mönchen, die sich als seine Propagandisten betätigten, ihn als denjenigen darzustellen, der die Territorien der Rus zurückerobern würde.[1] Sein Sohn Wassili III. setzte sein Werk fort. Dessen Sohn, der spätere Iwan IV., war erst drei Jahre alt, als er die Thronfolge antrat. Zunächst übernahm seine Mutter die Regentschaft. Sie wurde möglicherweise vergiftet, und das Kind, traumatisiert durch die Rivalitäten bei Hof, die in Gewalt ausarteten, entwickelte sich zu einem ebenso unwiderstehlichen, dynamischen und phantasievollen wie schwankenden und unberechenbaren Menschen.
Im Jahr 1547 wurde Iwan, der inzwischen 16 Jahre alt war, als erster Großfürst zum Zaren gekrönt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der junge Autokrat bereits seine rituelle Suche nach einer Frau begonnen. Einer von beiden Vorläufern des Zarentums stammenden Tradition folgend – der mongolischen Khane und der byzantinischen Kaiser –, veranstaltete er eine Brautschau. Jede Wahl einer königlichen Kandidatin erhob neue Klans zur Macht, während andere ins Abseits gerieten. Die Brautschau war dazu gedacht, solche Turbulenzen durch die bewusste Wahl einer jungen Frau aus dem mittleren Adel so gering wie möglich zu halten. Aus dem ganzen Reich wurden 500 Jungfrauen für diesen Schönheitswettbewerb der Renaissance herbeizitiert, aus der die junge Anastasia Romanowna Sacharina-Jurjewa, die spätere Großtante des jungen Michael, als Siegerin hervorging.
Die Tochter des unbedeutenden Zweigs eines Klans, der bereits eine Rolle am Hof spielte, war die ideale Wahl, weil sie keine Verbindungen zu einflussreichen Potentaten hatte und Iwan bereits vertraut war. Er kannte sie, weil er bei ihrem Onkel aufgewachsen war. Anastasia war eine Nachfahrin von Andrei Kobyla, den der Großfürst 1346–1347 in den Rang eines Bojaren erhoben hatte,[2] doch ihr Familienzweig stammte von dessen viertem Sohn ab, dem Bojaren Fjodor, der koschka – die Katze – genannt wurde. Die verschiedenen Generationen trugen jeweils den männlichen Namen der vorherigen, somit hießen die Kinder der Katze Koschkin, sehr passend angesichts der katzenhaften Überlebenskunst der Familie Romanow. Anastasias Urgroßvater Sachar und ihr Großvater Juri waren Bojaren, ihr Vater Roman starb bereits in jungen Jahren. Doch er übertrug seinen Namen auf die Romanowitschi, die sich später Romanows nennen sollten.[2]
Kurz nach der Krönung am 2. Februar 1547 heiratete Iwan Anastasia. Die Ehe war sehr fruchtbar: Anastasia gebar Iwan sechs Kinder, von denen zwei männliche Erben, Iwan und Fjodor, überlebten. Zudem besaß sie die Gabe, sein manisches Temperament zu zügeln. Dennoch brachte er sie mit seinen unvorhersehbaren Ausbrüchen und ständigen Reisen an den Rand der Erschöpfung. In der Anfangszeit errang er große Siege: Im Südosten führte er einen christlich-orthodoxen Kreuzzug zur Unterwerfung der muslimischen Tataren, der Nachkommen Dschingis Khans, die inzwischen in kleinere Khanate aufgesplittert waren. Zunächst eroberte er die Khanate Kasan und Astrachan – Triumphe, die er mit dem Bau der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz feierte; er schickte Abenteuer suchende Händler und kosakische Freibeuter aus, um die Eroberung des unendlich weiten und reichen Sibirien einzuleiten; er holte europäische Fachkräfte und Kaufleute ins Land, um den Moskauer Staat zu modernisieren, und bekämpfte den polnisch-litauischen Staatenbund, um die Kontrolle über die reichen Städte des Baltikums zu gewinnen. Aber es sollte ein langer Krieg werden, der die geistige Gesundheit des Zaren und die Loyalität seiner übermächtigen Granden untergrub, von denen viele Verbindungen zu den Polen unterhielten. Gleichzeitig befand er sich häufig im Krieg mit der zweiten Regionalmacht, dem Khanat der Krimtataren[3] im Süden.[3]
Doch dann, im Jahr 1553, erkrankte Iwan. Der Bruder seiner Frau, Nikita Romanowitsch, wollte die Höflinge zum Treueschwur auf den Sohn des Zaren, der noch ein Säugling war, überreden, doch sie weigerten sich, weil sie den erwachsenen Cousin des Kleinen, Fürst Wladimir von Stariza, bevorzugten. Der Zar erholte sich wieder, war nun aber völlig fixiert auf den Verrat seiner Adeligen und die eigenständigen Bündnisse des Fürsten Wladimir mit den anderen Magnaten. Als 1560 auch noch Anastasia im Alter von nur 29 Jahren starb, war Iwan außer sich und überzeugt, feindlich gesonnene Granden hätten sie vergiftet.[4] Dies ist zwar nicht ausgeschlossen, jedoch kann sie ebenso gut an einer Krankheit oder der wohlgemeinten Verabreichung eines Medikaments gestorben sein. Jedenfalls geriet Iwan durch den Treuebruch und die Intrigen seiner eigenen Magnaten in eine Spirale der Gewalt: Unerwartet zog er sich aus Moskau auf eine Feste in der Provinz zurück und teilte das Reich auf in sein privates Territorium, die opritschnina – das »ausgesonderte Land« –, und den Rest des Landes. Außerdem stellte er eine schreckenerregende Truppe schwarzgekleideter Parvenüs zusammen, die opritschniki, die – auf schwarzen Pferden reitend und als Zeichen ihrer Unbestechlichkeit und glühenden Treue Besen und Hundeköpfe mit sich führend – ein Terrorregime ausübten. Iwan taumelte zwischen Mordlust, Gebeten und Unzucht hin und her, und niemand konnte sich mehr sicher fühlen. Seine Labilität nahm mit der Fragilität seiner Dynastie noch zu: Allem Anschein nach würde nur sein Sohn Iwan das Erwachsenenalter erreichen, denn der jüngste, Fjodor, war von schwacher Konstitution. Iwan musste unbedingt wieder heiraten – ein Thema, das wie bei seinem Zeitgenossen Heinrich VIII. zur Obsession wurde. Während er sich um Bräute aus dem Ausland bemühte – eine Fürstin aus der in Schweden und Polen herrschenden Dynastie, weil er hoffte, mit ihr den polnischen Thron besteigen zu können, und eine Engländerin, möglicherweise Elisabeth I. –, verschliss Iwan acht Ehefrauen, von denen drei möglicherweise vergiftet und einige auf seinen Befehl hin umgebracht wurden. Als seine zweite Gemahlin, eine tatarische Fürstin, 1569 starb – auch sie könnte einer Vergiftung zum Opfer gefallen sein –, lief er Amok, wütete unter seinen Ministern, schnitt Verdächtigen Nasen und Genitalien ab und führte eine Schar opritschniki mit Hundeköpfen nach Twer und Nowgorod, wo sie praktisch die gesamte Bevölkerung niedermetzelten, Menschen erst mit kochendem, dann mit eiskaltem Wasser übergossen, sie an Haken aufhängten, die durch ihre Rippen gebohrt waren, Frauen und Kinder aneinanderfesselten und unter das Eis von Gewässern stießen. Iwans Wahnanfälle nutzend, nahm der Tataren-Khan Moskau ein und brannte es nieder.
Nachdem die opritschniki ihren Auftrag erledigt hatten, vereinte Iwan das Reich wieder, dankte dann jedoch ab, ernannte den zum Christentum konvertierten Sohn des Tataren-Khans zum Großfürsten Russlands und bestieg erneut den Thron. Iwans Wahnsinn hatte Methode: Seine Grausamkeiten brachen die Macht territorialer Magnaten – wobei sie oft in den Genuss seines teuflischen Sadismus kamen. Anastasias Bruder Nikita Romanowitsch war zwar der Onkel der Thronerben, aber die Romanows waren vor dem Zaren genauso wenig sicher wie alle anderen auch. Im Jahr 1575 wurde mindestens ein Romanow getötet und Nikitas Land verwüstet.
Bei einer Brautschau im September 1580 nahm sich Iwan eine neue Frau, Maria Nagaja, die ihm den Sohn schenkte, den er sich so sehnlichst wünschte und der den Namen Dimitri erhielt. Doch 1581 tötete er in einem Wutanfall seinen ältesten Sohn Iwan, das Kind seiner verstorbenen Frau Anastasia, indem er ihm seinen mit einer Eisenspitze versehenen Stab in den Kopf bohrte – der schreckliche Höhepunkt seiner Herrschaft. Er hatte Russland bereits in den Staub gestoßen, doch jetzt richtete er auch noch ein vollständiges Chaos an, denn als Thronerben kamen nun nur noch sein anderer Sohn aus der Ehe mit Anastasia, der schwache und einfältige Fjodor, und der Säugling Dimitri in Frage.
Nach dem Tod Iwans des Schrecklichen 1584 sorgte Nikita Romanowitsch dafür, dass sein Neffe Fjodor die Nachfolge antrat, doch Nikita starb kurz darauf, so dass nun Nikitas Sohn Fjodor Nikititsch Romanow, der zukünftige Vater Michaels, der mächtigste Mann im Lande war.
Zar Fjodor überließ das Regieren seinem fähigen Minister Boris Godunow, der als einer von Iwans opritschniki aufgestiegen war und 1587 seine Macht festigte, indem er seine Schwester mit dem Zaren verheiratete. Der letzte Rurikiden-Erbe war Iwans jüngster Sohn, der mittlerweile achtjährige Dimitri, der jetzt von der Bühne verschwand. Offiziellen Verlautbarungen zufolge war er durch eine Schnittwunde am Hals zu Tode gekommen, die er sich bei einem epileptischen Anfall selbst zugefügt hatte. Eine solche Tragödie mag sich vielleicht wirklich zugetragen haben, aber viele glaubten natürlich, er sei entweder von Godunow ermordet worden oder man habe ihn an einen sicheren Ort verbracht.
Als Zar Fjodor 1598 kinderlos starb, war die Moskowiter Linie der rurikidischen Dynastie ausgelöscht.[4]
Nun gab es zwei Kandidaten für den Thron – Fjodors Minister und Schwager Boris Godunow und Fjodor Romanow, ältester Neffe der verstorbenen Zarin Anastasia, Sohn von Nikita Romanowitsch und nach Meinung vieler der bestgekleidete Bojar am Hofe. Fjodor Romanow heiratete Xenia Schestowa, doch von ihren sechs Kindern, darunter vier Söhne, überlebten nur eine Tochter und ein Sohn: Der zukünftige Zar Michael wurde 1596 geboren und wuchs vermutlich in einem Haus an der Wawarka-Straße in der Nähe des Roten Platzes auf.[5] Er wurde mit Geschenken überhäuft, aber seine Kindheit blieb nicht lange sorglos.
Godunow wurde von einer Landesversammlung zum Zaren ausgerufen und war nach dem Aussterben der rechtmäßigen Dynastie fast so etwas wie ein legitimer Herrscher. Auch stützte Fjodor Romanow ihn anfangs. Godunow war begabt, aber das Glück spielt in der Politik eine entscheidende Rolle, und es war nicht auf seiner Seite. Anhaltende Erfolge hatte er an den östlichen Grenzen, wo es seinen nach Abenteuern gierenden Kosaken gelang, das Khanat Sibir zu erobern und damit den Weg in die Weite Sibiriens zu öffnen. Russland selbst aber litt unter Hunger und Krankheit, und Boris’ schlechter Gesundheitszustand war seiner ohnehin schwachen Autorität nicht gerade zuträglich.
Fjodor Romanow, der mit seinen Intrigen und Eskapaden dieselbe Geschicklichkeit an den Tag legte wie seine katzenhaften Vorfahren, trug mit dazu bei, das fatale Gerücht zu verbreiten, Dimitri, der Sohn Iwans des Schrecklichen, sei geflohen und lebe noch. Eine Machtprobe kündigte sich an, und die Romanows holten militärische Gefolgsleute nach Moskau. Als Michael Romanow gerade einmal fünf Jahre alt war, lag seine Welt in Scherben.
Im Jahr 1600 nahm Godunow Fjodor und seine vier Brüder ins Visier und beschuldigte sie des Verrats und der Hexerei; unter Folter bezeugten ihre Bediensteten die Hexerei und die Existenz von Verstecken mit »giftigen Kräutern«. Zar Boris brannte einen ihrer Paläste nieder, beschlagnahmte ihre Güter und verbannte sie in den hohen Norden. Um sicherzugehen, dass Fjodor Romanow niemals Zar werden konnte, wurde er gezwungen, sich zum Priester weihen zu lassen. Er nahm den Priesternamen Filaret an, seine Frau wurde zur Nonne Marfa. Michael schickte man in das abgelegene Dorf Belosersk zu seiner Tante, der Frau seines Onkels Alexander Romanow. Dort verbrachte er 15 angstvolle Monate, bis er und seine Tante auf ein Romanow-Gut etwa 80 Kilometer von Moskau entfernt umziehen durften. Drei der fünf Romanow-Brüder wurden liquidiert oder starben unter mysteriösen Umständen. »Zar Boris entledigte sich unser aller«, erinnerte sich Filaret später. »Er verpasste mir eine Tonsur und tötete drei meiner Brüder, indem er sie erdrosseln ließ. Jetzt hatte ich nur noch meinen Bruder Iwan.« Godunow konnte nicht alle Romanows umbringen, die jeweils besondere Beziehungen zu den rurikidischen Zaren unterhalten hatten – nicht nach dem rätselhaften Tod von Zarewitsch Dimitri. Denn das Verschwindenlassen von Kindern aus Königsfamilien durch machthungrige Verwandte führt nicht selten dazu, dass ebenjene Macht zerstört wird, die sie anstreben.
Per Flüsterpropaganda verbreitete sich das Gerücht nach und nach im ganzen Land und brachte viele zu der Überzeugung, dass der echte rurikidische Erbe, Zarewitsch Dimitri, in Polen aufgewachsen und inzwischen alt genug sei, Anspruch auf den Thron zu erheben; damit begann eine Epoche des Chaos, die als Zeit der Wirren bezeichnet wird.
Der erste Prätendent war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der echte Dimitri, doch bis heute ist seine wahre Identität ungeklärt, und er wird gewöhnlich als der Falsche Dimitri bezeichnet. Vielleicht war er ein abtrünniger Mönch, der im Kreml gelebt und dort das höfische Leben kennengelernt hatte. Womöglich war er in der Überzeugung aufgewachsen, er sei der wahre Fürst, und glaubte unerschütterlich an seine Bestimmung. Im Oktober 1604, zu einem Zeitpunkt, als Godunow die Macht entglitt, marschierte der Falsche Dimitri, unterstützt von den Polen und mit einer durch kosakische Abenteurer aufgeblähten Armee,[6] nach Moskau. Angesichts der glühenden Verehrung des Volks für die geheiligten Monarchen Russlands erschien die Wiederauferstehung oder das Überleben des rechtmäßigen Zaren als ein an Christus erinnerndes Wunder. Nachdem Godunow an einer Gehirnblutung gestorben war, folgte ihm sein Sohn Fjodor II. auf den Zarenthron. Doch dem jungen Mann wurde die Kehle aufgeschlitzt, bevor der rätselhafte Prätendent die Stadt einnahm.[5]
Am 20. Juli 1605 marschierte der Falsche Dimitri in einem Triumphzug in Moskau ein. Die letzte Frau Iwans des Schrecklichen, Mutter des echten Dimitri, betrachtete ihn als ihren lang vermissten Sohn. Der höchstwahrscheinlich dreiste Schwindler wurde zum Zaren gekrönt, doch es erwies sich als schwierig, seine verschiedenen Unterstützer – Polen und Russen, Orthodoxe und Katholiken, Bojaren und Kosaken – miteinander zu versöhnen, und so holte er die Romanow-Brüder zurück und ernannte Filaret zum Metropoliten von Rostow, womit er von Moskau ferngehalten wurde. Der inzwischen zehnjährige Michael und seine Mutter zogen mit ihm nach Rostow.
Dann verliebte sich der Zar in Marina Mnischek, die Tochter seines polnischen Unterstützers, heiratete sie und krönte sie in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale. Dass sie eine katholische Polin war, entzauberte den Zaren, und seine Frau wurde bald als »Marinka die Hexe« beschimpft. Neun Tage nach der Hochzeit läuteten um vier Uhr morgens die Bojaren am Palast und sperrten ihn ab. Dimitri sprang aus einem Fenster, brach sich dabei ein Bein, man schoss auf ihn und stach mindestens einundzwanzigmal auf ihn ein. In der Frage, wer der nächste Zar sein sollte, erwogen die Bojaren die Ansprüche der Romanows wegen ihrer Verbindungen zur rechtmäßigen Dynastie. Der eine, Iwan, war unbeliebt, der andere, Filaret, ein Mönch, also blieb nur Filarets Sohn Michael. Aber er war noch zu jung. Schließlich wurde der Anführer des Staatsstreichs, Wassili Schuiski, ein Verschwörer, der einem anderen Zweig der Rurikiden-Dynastie angehörte, zum Zaren Wassili IV. gekrönt.
Unterdessen wurde die ausgeweidete, nackte Leichnam des Falschen Dimitri ausgestellt: »Sein Schädel hatte ein Loch, und sein Gehirn lag neben ihm«, der Dudelsack eines Sängers steckte in seinem Mund, womit suggeriert wurde, er spiele des Teufels Melodie, und seine Genitalien lagen bei seinen Eingeweiden. Filaret Romanow schmiedete ein Komplott gegen Wassili IV., wurde dann aber zu seinem Metropolitensitz nach Rostow zurückgeschickt.
Von nun an wanderte der Geist des untoten Zarewitsch Dimitri durch das Land. Das Reservoir des Volksglaubens an die ausgestorbene Dynastie Iwans des Schrecklichen war schier unerschöpflich: Über zehn verschiedene Abenteurer scharten Armeen um sich und behaupteten, Söhne oder Enkel Iwans des Schrecklichen zu sein. Einer dieser Betrüger, ein zweiter Falscher Dimitri, eine noch rätselhaftere Figur als der erste, wurde jedoch zu einer echten Bedrohung.