Jerusalem - Simon Sebag Montefiore - E-Book

Jerusalem E-Book

Simon Sebag Montefiore

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Beschreibung

»Montefiore erzählt so lebendig, dass man wie bei einem Krimi das Buch nicht aus der Hand legen kann.« Deutschlandfunk Aktualisierte Ausgabe mit einem zusätzlichen Kapitel zum Palästina-Konflikt Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt. In seinem Weltbestseller erzählt Simon Sebag Montefiore die epische Geschichte von dreitausend Jahren Glauben, Fanatismus, Blutvergießen und Koexistenz: von König David bis zum 21. Jahrhundert, von der Geburt des Judentums, des Christentums und Islams bis zum Israel-Palästina-Konflikt.   »Dieses gewaltige und glanzvolle Portrait Jerusalems ist von Anfang bis zum Ende absolut überwältigend.« Sunday Times

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Seitenzahl: 1443

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Cover for EPUB

SIMON SEBAG MONTEFIORE

JERUSALEM

DIE BIOGRAFIE

Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Waltraud Götting und Norbert Juraschitz

KLETT-COTTA

IMPRESSUM

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die deutschsprachige Ausgabe in der Übersetzung von Ulrike Bischoff und Waltraud Götting ist erstmals 2011 im S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main erschienen.

Die vorliegende Ausgabe folgt der erweiterten und aktualisierten Neuausgabe des Originals, erschienen 2020 im Verlag Weidenfeld & Nicolson, London.

Norbert Juraschitz hat die Ergänzungen und das neu hinzugefügten Kapitel 54 übersetzt. Einige Stellen des Kapitels 54 wurden aus dem Epilog mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags übernommen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Jerusalem. The Biography« im Verlag Weidenfeld & Nicolson, The Orion Publishing Group, London 2011

© 2011, 2020 by Simon Sebag Montefiore

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

© der deutschen Übersetzung S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2011

© der deutschen Übersetzung der Aktualisierungen J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart, 2024

Cover: © Rothfos & Gabler, Hamburg

nach einem Entwurf von © by Społeczny Instytut Wydawniczy Znak Sp. z o.o., Kraków, Polska. Illustrationen: Eliza Luty

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98788-1

E-Book: ISBN 978-3-608-12286-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Meiner geliebten Tochter Lily Bathsheba

Die Sicht Jerusalems ist die Geschichte der Welt; es ist mehr, es ist die Geschichte des Himmels und der Erde.

Benjamin Disraeli, Tancred

Die Stadt wurde zerstört, aufgebaut, wieder zerstört und wieder aufgebaut … Jerusalem ist eine Nymphomanin, die einen Liebhaber nach dem anderen restlos ausquetscht, bevor sie ihn, breit gähnend, mit einem Achselzucken abschüttelt; eine Schwarze Witwe, die ihre Männchen auffrißt, während diese noch in ihr zu Gange sind.

Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

Das Land Israel ist der Mittelpunkt der Welt; Jerusalem ist das Zentrum des Landes; der Heilige Tempel ist das Zentrum Jerusalems; das Allerheiligste ist das Zentrum des Heiligen Tempels; die Heilige Bundeslade ist das Zentrum des Allerheiligsten, und vor der Heiligen Bundeslade befindet sich der Grundstein der Welt.

Midrasch Tanhuma, Kedoshim 10

Das Heiligtum der Erde ist Syrien; das Heiligtum Syriens ist Palästina; das Heiligtum Palästinas ist Jerusalem; das Heiligtum Jerusalems ist der Berg; das Heiligtum des Berges ist die Kultstätte; das Heiligtum der Kultstätte ist der Felsendom.

Thaur ibn Yazid, Fadail

Jerusalem ist die glanzvollste Stadt. Aber Jerusalem hat auch Nachteile. So heißt es: »Jerusalem ist ein goldener Kelch voller Skorpione«.

Muqaddasi, Description of Syria including Palestine

Inhalt

Vorwort

Anmerkung zu Namen, Transliteration und Titeln

Prolog

Teil I: Judentum

1 Die Welt Davids

2 Der Aufstieg Davids

3 Das Königreich und der Tempel

4 Die Könige von Juda

5 Die Hure Babylon

6 Die Perser

7 Die Makedonier

8 Die Makkabäer

9 Die Ankunft der Römer

10 Die Herodier

11 Jesus Christus

12 Die letzten Herodier

13 Die Jüdischen Kriege: Der Tod Jerusalems

TeilII: Paganismus

14 Aelia Capitolina

TeilIII: Christentum

15 Die Hochblüte des Byzantinischen Reiches

16 Byzantinische Dämmerung: Die Invasion der Perser

TeilIV: Islam

17 Die arabische Eroberung

18 Die Omaijaden: Die Wiederherstellung des Tempels

19 Die Abbasiden: ferne Herren

20 Die Fatimiden: Toleranz und Wahnsinn

Teil V: Kreuzzüge

21 Das Gemetzel

22 Der Aufstieg von Outremer

23 Das Goldene Zeitalter von Outremer

24 Patt

25 Der aussätzige König

26 Saladin

27 Der dritte Kreuzzug: Saladin und Richard

28 Die Dynastie Saladins

TeilVI: Mamelucken

29 Sklave des Sultans

30 Niedergang der Mamelucken

TeilVII: Osmanen

31 Die Pracht Süleymans

32 Mystiker und Messiasse

33 Die Familien

TeilVIII: Imperialismus

34 Napoleon im Heiligen Land

35 Die neuen Romantiker: Chateaubriand und Disraeli

36 Albanische Eroberung

37 Die Evangelikalen

38 Die neue Stadt

39 Die neue Religion

40 Stadt der Araber, Stadt der Imperialisten

41 Russen

TeilIX: Zionismus

42 Der Kaiser

43 Der Oud-Spieler von Jerusalem

44 Der Erste Weltkrieg

45 Araberaufstand und Balfour-Deklaration

46 Das Weihnachtsgeschenk

47 Die Sieger und ihre Beute

48 Die britische Mandatsregierung

49 Der arabische Aufstand

50 Der schmutzige Krieg

51 Jüdische Unabhängigkeit, arabische Katastrophe

52 Geteilte Stadt

53 Sechs Tage

54 Hauptstadt

Epilog

Stammbäume

Karten

Anmerkungen

Danksagung

Bibliographie

Register

VORWORT

Die Geschichte Jerusalems ist die Geschichte der Welt, zugleich aber auch die Chronik einer meist verarmten Provinzstadt im Bergland Judäas. Einst galt Jerusalem als Mittelpunkt der Welt – eine Einschätzung, die heute mehr denn je den Tatsachen entspricht: Die Stadt ist Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Abrahamitischen Religionen, das Heiligtum eines zunehmend populären christlichen, jüdischen und islamischen Fundamentalismus, strategisches Schlachtfeld eines Kampfes der Kulturen, Frontlinie zwischen Atheismus und religiösem Glauben, Anziehungspunkt säkularer Faszination, Gegenstand schwindelerregender Verschwörungstheorien und Internetmythen und grell beleuchtete Bühne für die Kameras der Welt in einem Zeitalter der Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensendungen. Religiöses, politisches und mediales Interesse schüren sich gegenseitig und sorgen dafür, dass Jerusalem stärker denn je im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Jerusalem ist die Heilige Stadt, war zugleich aber schon immer ein Hort des Aberglaubens, der Scharlatanerie und Bigotterie; sie war begehrtes Eroberungsziel von Weltreichen, aber ohne strategischen Wert; kosmopolitische Heimat vieler Sekten, die jeweils glauben, Jerusalem gehöre ihnen allein; eine Stadt mit vielen Namen – aber jede Tradition ist so sektiererisch, dass sie jede andere ausschließt. Dieser Ort ist von solcher Besonderheit, dass die jüdischen religiösen Schriften ihn durchgängig als weiblich beschreiben – immer als sinnliche, lebendige Frau, immer als Schönheit, zuweilen aber auch als schamlose Hure oder als verletzte Prinzessin, die von ihren Verehrern im Stich gelassen wurde. Jerusalem ist die Heimat des alleinigen Gottes, die Hauptstadt zweier Völker, das Heiligtum dreier Religionen und die einzige Stadt, die sowohl im Himmel als auch auf der Erde existiert: Die beispiellose Schönheit der irdischen Stadt ist nichts gegen die Herrlichkeit der himmlischen. Allein schon die Tatsache, dass Jerusalem zugleich irdisch und himmlisch ist, bedeutet, dass die Stadt überall sein kann: Auf der ganzen Welt wurden neue Jerusalems gegründet, und jeder hatte seine eigene Vision dieser Stadt. Propheten und Patriarchen, Abraham, David, Jesus und Mohammed sollen an diesem Ort gewandelt sein. Hier wurden die Abrahamitischen Religionen geboren, und hier wird die Welt am Tag des Jüngsten Gerichts enden. Jerusalem, das den Völkern der Bibel heilig war, ist die Stadt der Bibel: In mancherlei Hinsicht ist die Bibel Jerusalems ureigene Chronik, und von den Juden und Frühchristen über die muslimischen Eroberer und die Kreuzritter bis hin zu den heutigen amerikanischen Evangelisten haben ihre Leser wiederholt in die Geschichte der Stadt eingegriffen, um biblische Prophezeiungen in Erfüllung gehen zu lassen.

Als die Bibel ins Griechische und später ins Lateinische und in andere Sprachen übersetzt wurde, entwickelte sie sich zum Universalbuch und machte Jerusalem zur Universalstadt. Jeder große König wurde zu einem David, jedes besondere Volk sah sich als die neuen Israeliten, und jede Hochkultur galt als neues Jerusalem, jene Stadt, die niemandem gehört, aber in der Phantasie eines jeden ihre eigene Existenz führt. Eben das macht sowohl die Tragödie als auch die Magie Jerusalems aus: Jeder, der von Jerusalem träumt, jeder, der im Laufe der Zeiten hierher gekommen ist – von den Aposteln Jesu über die Soldaten Saladins und die viktorianischen Pilger bis hin zu den heutigen Touristen und Journalisten –, bringt seine Vision des authentischen Jerusalem mit und ist bitter enttäuscht über das, was er vorfindet: eine sich ständig wandelnde Stadt, die viele Male erblüht und wieder verwelkt ist, wieder aufgebaut und erneut zerstört wurde. Aber da es Jerusalem ist, das allen gehört, ist nur das Bild richtig, das sie alle sich gemacht haben; die mangelhafte, synthetische Wirklichkeit muss verändert werden; alle haben das Recht, dieser Stadt ihr eigenes »Jerusalem« aufzuzwingen – und oft haben sie es mit Schwert und Feuer getan.

Der Historiker Ibn Khaldun, der im 14. Jahrhundert manche der in diesem Buch geschilderten Ereignisse selbst erlebte und uns als Quelle dient, stellte fest, dass Geschichte eifrig gefragt ist: »Die Menschen auf der Straße wollen sie kennen, Könige und Führer wetteifern um sie«. Das gilt besonders für Jerusalem. Es ist unmöglich, eine Geschichte dieser Stadt zu schreiben, ohne anzuerkennen, dass Jerusalem ein Thema, ein Dreh- und Angelpunkt, ja sogar eine tragende Säule der Weltgeschichte ist. In einer Zeit, in der die Macht der Internetmythologie bedeutet, dass sowohl die Hightech-Maus als auch das Krummschwert zu den Waffen desselben fundamentalistischen Arsenals gehören können, ist die Suche nach historischen Tatsachen noch wichtiger, als sie für Ibn Khaldun war.

Eine Geschichte Jerusalems muss sich mit dem Merkmal der Heiligkeit auseinandersetzen. Die Wendung »Heilige Stadt« wird durchgängig verwendet, um die Ehrfurcht vor ihren heiligen Stätten auszudrücken, in Wirklichkeit bedeutet sie jedoch, dass Jerusalem zum zentralen, irdischen Ort für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch geworden ist.

Außerdem gilt es die Frage zu beantworten: Warum Jerusalem? Der Ort lag abseits der Handelsrouten der Mittelmeerküste, litt unter Wasserknappheit, sengender Sommersonne und kalten Winterwinden und war von unwirtlichen, zerklüfteten Bergen umgeben. Aber die Wahl Jerusalems als Tempelstadt beruhte teils auf einer persönlichen Entscheidung, teils auf einer organischen Entwicklung: Die Heiligkeit des Ortes nahm immer mehr zu, weil er schon so lange als heilig galt. Heiligkeit erfordert nicht nur Spiritualität und Glauben, sondern auch Legitimität und Tradition. Ein radikaler Prophet, der eine neue Vision präsentiert, muss die vorhergehenden Jahrhunderte erklären und seine Offenbarung in der akzeptierten Sprache und Geographie der Heiligkeit – den Prophezeiungen früherer Offenbarungen und den seit langem verehrten heiligen Stätten – rechtfertigen. Nichts macht eine Stätte heiliger als die Konkurrenz mit einer anderen Religion.

Viele atheistische Besucher fühlen sich von dieser Heiligkeit abgestoßen, weil sie darin den ansteckenden Aberglauben einer Stadt sehen, die von selbstgerechter Bigotterie verseucht ist. Diese Einstellung leugnet jedoch das profunde menschliche Bedürfnis nach Religion, ohne das Jerusalem nicht zu verstehen ist. Religionen müssen vergängliche Freuden und ewige Ängste erklären, die den Menschen vor Rätsel stellen und ihn quälen: Wir müssen eine stärkere Kraft als uns selbst spüren. Wir respektieren den Tod und sehnen uns danach, in ihm einen Sinn zu sehen. Als Begegnungsstätte von Gott und Mensch ist Jerusalem der Ort, an dem diese Fragen in der Apokalypse geklärt werden: am Ende aller Tage, an dem es einen Krieg, einen Kampf zwischen Christ und Antichrist geben wird; an dem die Kaaba von Mekka nach Jerusalem kommen wird; an dem das Jüngste Gericht stattfinden wird, die Toten auferstehen und die Herrschaft des Messias und des himmlischen Königreichs, des Neuen Jerusalem, beginnen wird. Alle drei Abrahamitischen Religionen glauben an die Apokalypse, die Details variieren jedoch je nach Religion und Sekte. Säkularisten mögen das alles für antiquiertes Gerede halten, solche Ideen sind jedoch nur allzu aktuell. In dieser Zeit jüdischen, christlichen und muslimischen Fundamentalismus ist die Apokalypse eine dynamische Triebkraft in der fieberhaften Weltpolitik.

Der Tod ist unser ständiger Begleiter: Seit langem kommen Pilger nach Jerusalem, um hier zu sterben und in der Nähe des Tempelbergs begraben zu werden, damit sie bereit sind zur Auferstehung in der Apokalypse. Die Stadt ist von Friedhöfen umgeben und auf Grabstätten erbaut. Die Menschen verehren mumifizierte Körperteile Heiliger wie die abgetrennte, geschwärzte rechte Hand Maria Magdalenas, die im Raum des griechisch-orthodoxen Patriarchen in der Grabeskirche ausgestellt ist. Viele Heiligtümer und sogar viele Privathäuser sind um Grabstätten gebaut. Die Finsternis dieser Totenstadt rührt nicht nur von einer Art Nekrophilie her, sondern auch von Nekromantie: Die Toten sind hier nahezu lebendig, während sie auf ihre Auferstehung warten. Der endlose Kampf Jerusalems – Massaker, Chaos, Kriege, Terrorismus, Belagerungen und Katastrophen – hat diesen Ort zu einem Schlachtfeld gemacht. Aldous Huxley bezeichnete die Stadt als Schlachthaus der Religionen, Flaubert als Beinhaus, Melville als Schädel, belagert von Heerscharen von Toten, und Edward Said wusste, dass sein Vater Jerusalem hasste, weil es ihn an Tod erinnerte.

Die Entwicklung, die dieses Heiligtum des Himmels und der Erde nahm, war nicht immer vom Schicksal bestimmt. Der Funke einer Offenbarung, die ein charismatischer Prophet wie Moses, Jesus oder Mohammed hatte, ließ Religionen entstehen. Tatkraft und Glück eines Kriegsherrn schufen Imperien und eroberten Städte. Die Entscheidungen Einzelner, angefangen bei König David, machten Jerusalem zu Jerusalem.

Davids kleine Zitadelle, die Hauptstadt eines unbedeutenden Königreichs, hatte sicher nur geringe Aussichten, zu einem wichtigen Anziehungspunkt der Welt zu werden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar eine tragende Stütze für die Heiligkeit der Stadt schuf, weil diese Katastrophe die Juden veranlasste, die Herrlichkeit Zions zu schildern und zu preisen. Gewöhnlich führten solche Katastrophen zum Untergang von Völkern. Aber das Überleben der Juden, ihr hartnäckiges Festhalten an ihrem Gott und vor allem die schriftliche Niederlegung ihrer Geschichtsversion in der Bibel schufen die Grundlagen für den Ruhm und die Heiligkeit Jerusalems. Die Bibel trat anstelle des jüdischen Staates und des Tempels und wurde zum »portativen Vaterland«, wie Heinrich Heine es in seinen Geständnissen nannte. Keine andere Stadt hat ihr ureigenes Buch, und kein anderes Buch hat das Schicksal einer Stadt so stark geprägt.

Die Heiligkeit der Stadt erwuchs aus der Besonderheit der Juden als auserwähltes Volk. Jerusalem wurde zur auserwählten Stadt, Palästina zum auserwählten Land, und Christen und Muslime erbten und übernahmen diese herausgehobene Stellung. Die große Heiligkeit Jerusalems und Israels spiegelte sich in der wachsenden religiösen Besessenheit von der Wiederansiedlung der Juden in Israel und in der westlichen Begeisterung für den Zionismus als deren säkulares Äquivalent wider, die von der Reformation im 16. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre herrschten. Seitdem hat die tragische Geschichte der Palästinenser und Jerusalems als ihrer verlorenen Heiligen Stadt die Wahrnehmung Israels verändert. Die westliche Fixierung, dieses Gefühl eines universellen Besitzanspruchs, kann also auf zwei Arten wirken – als Fluch und Segen, als zweischneidiges Schwert. Gegenwärtig äußert es sich darin, dass Jerusalem und der israelisch-palästinensische Konflikt besonders intensiv und emotional betrachtet werden.

Aber nichts ist so einfach, wie es scheint. Häufig wird die Geschichte als Abfolge radikaler Veränderungen und gewaltsamer Umbrüche dargestellt. Ich möchte jedoch zeigen, dass Jerusalem eine Stadt der Kontinuität und Koexistenz war, eine gemischte Metropole mit gemischten Bauten und gemischten Menschen, die einer Einordnung in die engen Kategorien trotzen, die erst mit den separaten religiösen Legenden und nationalistischen Darstellungen späterer Zeiten entstanden. Aus diesem Grund zeichne ich die Geschichte, wo immer möglich, anhand von Familien nach – von den Davidern, Makkabäern, Herodiern, Omaijaden und den Dynastien Balduins und Saladins bis hin zu den Husseinis, Khalidis, Spaffords, Rothschilds und Montefiores. Denn sie offenbaren die organischen Muster des Lebens, das sich den abrupten Ereignissen und sektiererischen Darstellungen der konventionellen Geschichtsschreibung entzieht. In Jerusalem gibt es nicht nur zwei Seiten, sondern viele miteinander verflochtene, sich überschneidende Kulturen und vielschichtige Loyalitäten – ein facettenreiches, wandelbares Kaleidoskop aus arabisch-orthodoxen Christen, arabischen Muslimen, sephardischen Juden, aschkenasischen Juden, Haredi-Juden verschiedener Richtungen, säkularen Juden, armenisch-orthodoxen Christen, Georgiern, Serben, Russen, Kopten, Protestanten, Äthiopiern, Lateinern und so weiter. Jeder Einzelne besaß oft verschiedene Loyalitätspflichten gegenüber den unterschiedlichen Aspekten seiner Identität, das menschliche Äquivalent zu Jerusalems diversen Schichten aus Stein und Staub.

Die Bedeutung der Stadt nahm zu und ab, stand niemals still, war in ständigem Wandel wie eine Pflanze, die Form, Größe und sogar Farbe ändert, aber immer am selben Platz verwurzelt bleibt. Die neueste, oberflächliche Manifestation – Jerusalem als mediale »Heilige Stadt dreier Religionen« und als Dauerthema der Nachrichten – ist relativ neu. Es gab Jahrhunderte, in denen Jerusalems religiöse und politische Bedeutung zu schwinden schien. Häufig war es politische Notwendigkeit, nicht göttliche Offenbarung, die eine religiöse Hingabe erneut schürte und motivierte.

Wenn Jerusalem nahezu in Vergessenheit geraten war und an Bedeutung verloren hatte, projizierten Menschen in fernen Ländern – sei es in Mekka, Moskau oder Massachusetts – durch ihre Bibelverehrung und das hingebungsvolle Studium biblischer Wahrheit häufig ihren Glauben wieder auf diesen Ort. Alle Städte sind Fenster zu fremden Denkweisen, aber Jerusalem ist wie ein durchsichtiger Spiegel, der das Innenleben preisgibt und zugleich die Außenwelt reflektiert. Jede Epoche, ob sie nun von unbedingtem Glauben, selbstgerechtem Aufbau von Imperien, evangelikalen Offenbarungen oder säkularem Nationalismus geprägt war, machte Jerusalem zu ihrem Symbol und ihrem Preis. Aber wie in einem Spiegelkabinett ist auch hier das Spiegelbild immer verzerrt und häufig entstellt.

Jerusalem hat die Angewohnheit, Eroberer wie auch Besucher zu enttäuschen und zu quälen. Der Gegensatz zwischen der realen und der himmlischen Stadt ist so schmerzlich, dass die psychiatrische Klinik der Stadt alljährlich gut hundert Patienten aufnimmt, die an dem sogenannten Jerusalem-Syndrom leiden: einer Geistesstörung, die sich aus Erwartung, Enttäuschung und Wahn speist. Das Jerusalem-Syndrom gibt es aber auch auf politischer Ebene: Jerusalem trotzt gesundem Menschenverstand, praktischer Politik und Strategie und existiert im Reich heißer Leidenschaften und unbesiegbarer Emotionen, die der Vernunft nicht zugänglich sind.

Selbst ein Sieg in diesem Kampf um Dominanz und Wahrheit macht die Stadt für andere nur umso heiliger. Je gieriger der jeweilige Besitzer, umso heftiger tobt der Wettbewerb und umso emotionaler ist die Reaktion. Hier herrscht das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen.

Kein anderer Ort weckt einen so ausgeprägten Wunsch nach Alleinbesitz. Doch dieses eifersüchtige Streben entbehrt nicht der Ironie, da die meisten Heiligtümer Jerusalems und die mit ihnen verbundenen Legenden entlehnt oder gestohlen wurden und zuvor anderen Religionen gehörten. Die Vergangenheit der Stadt ist in weiten Teilen imaginär. Praktisch jeder Stein stand einst in dem längst vergessenen Tempel einer anderen Glaubensgemeinschaft, in dem Triumphbogen eines anderen Imperiums. Die meisten, wenn auch nicht alle Eroberungen gingen mit dem Drang einher, den Makel anderer Glaubensrichtungen auszulöschen und sich ihrer Traditionen, Geschichten und Stätten zu bemächtigen. Es gab viel Zerstörung, aber weit öfter zerstörten die Eroberer das Vorhergegangene nicht, sondern führten es einer anderen Verwendung zu und bauten es aus. Wichtige Stätten wie der Tempelberg, die Zitadelle, die Davidsstadt, der Berg Zion und die Grabeskirche weisen keine klar unterscheidbare historische Schichtung auf, sondern ähneln eher einem Palimpsest oder einer Stickerei, deren Seidenfäden so miteinander verflochten sind, dass man sie nicht mehr voneinander trennen kann.

Die rivalisierenden Besitzansprüche auf die ansteckende Heiligkeit anderer führte dazu, dass manche Heiligtümer nacheinander und schließlich gleichzeitig allen drei Religionen heilig waren; Könige erließen Dekrete dazu, Menschen starben dafür, und dennoch sind sie heute nahezu in Vergessenheit geraten: So war der Berg Zion Ziel fanatischer Verehrung von Juden, Muslimen und Christen, zieht aber heute kaum noch muslimische oder jüdische Pilger an und ist wieder überwiegend ein christliches Heiligtum.

In Jerusalem spielt die Wahrheit häufig eine geringere Rolle als der Mythos. »Man sollte mich in Jerusalem nicht nach geschichtlichen Fakten fragen«, erklärte der bedeutende palästinensische Historiker Dr. Nazmi al-Jubeh. »Zieht man die Fiktion ab, bleibt nichts übrig.« Die Geschichte ist hier so durchdringend mächtig, dass sie immer wieder entstellt wird: Die Archäologie wird zu einem historischen Machtfaktor, und zuweilen üben Archäologen ebenso viel Macht aus wie Soldaten, die dazu rekrutiert sind, die Vergangenheit der Gegenwart anzupassen. Eine Disziplin, die objektiv und wissenschaftlich sein will, lässt sich dazu nutzen, religiös-ethnische Vorurteile zu rationalisieren und imperiale Ambitionen zu rechtfertigen. Israelis, Palästinensern und den evangelikalen Imperialisten des 19. Jahrhunderts kann man durchweg vorwerfen, sich derselben Ereignisse bemächtigt und ihnen widersprüchliche Deutungen und Fakten zugeschrieben zu haben. Eine Geschichte Jerusalems muss daher sowohl Wahrheit als auch Legenden schildern. Es gibt jedoch Tatsachen, und dieses Buch ist bestrebt, sie zu schildern, so wenig sie der einen oder anderen Seite auch schmecken mögen.

In diesem Buch möchte ich die Geschichte Jerusalems in ihrem weitesten Sinne für ein breites Publikum beschreiben, für Atheisten und Gläubige, Christen, Muslime und Juden, und selbst angesichts der heutigen Auseinandersetzungen möchte ich dies ohne politische Agenda tun.

In meiner Darstellung gehe ich chronologisch vor und schildere die Geschichte anhand des Lebens von Männern und Frauen, Soldaten und Propheten, Dichtern und Königen, Bauern und Musikern und der Familien, die Jerusalem gemacht haben. Das halte ich für den besten Weg, um die Stadt zum Leben zu erwecken und zu zeigen, dass ihre komplexen, überraschenden Wahrheiten Folge dieser Geschichte sind. Nur in der chronologischen Schilderung entgeht man der Versuchung, die Vergangenheit durch die Brille heutiger Obsessionen zu sehen. Ich habe mich bemüht, Teleologie zu vermeiden, also Geschichte zu beschreiben, als sei jedes Ereignis unvermeidlich. Da jeder Wandel eine Reaktion auf eine vorhergehende Veränderung ist, ist die chronologische Darstellung der beste Weg, diese Evolution zu begreifen, die Frage »Warum Jerusalem?« zu beantworten und zu zeigen, warum Menschen so gehandelt haben, wie sie es getan haben. Ich hoffe, es ist auch der unterhaltsamste Weg, Geschichte zu schildern. Denn wer bin ich, dass ich eine Geschichte ruiniere, die zu den größten gehört, die je erzählt wurden – um ein in diesem Fall verdientes Hollywood-Klischee zu benutzen. Unter den unzähligen Büchern über Jerusalem gibt es nur wenige, die sich der Stadtgeschichte erzählend widmen. Vier Epochen – David, Jesus, die Kreuzfahrer und der arabisch-israelische Konflikt – sind vielen durch die Bibel, Filme, Romane und Nachrichten vertraut, werden aber häufig noch immer missverstanden. Was die übrigen Epochen angeht, möchte ich neuen Lesern viel vergessene Geschichte nahebringen.

Dieses Buch behandelt die Geschichte Jerusalems als die des Zentrums der Weltgeschichte, will aber weder eine Enzyklopädie noch ein Handbuch sein, die jeden Aspekt der Stadt oder jeden Winkel, jedes Kapitell und jeden Bogen sämtlicher Bauten beschreiben. Es liefert keine minutiösen historischen Abrisse der Orthodoxen, Lateiner oder Armenier, der islamischen Hanafi- oder Schafii-Rechtsschule oder der chassidischen oder karäischen Juden, und vertritt keinen bestimmten Standpunkt. Das Leben der muslimischen Stadt von den Mamelucken bis zur Mandatszeit wurde bisher vernachlässigt. Die Jerusalemer Familien wurden zwar von Wissenschaftlern untersucht, die sich mit palästinensischer Geschichte befassten, tauchten aber in populärwissenschaftlichen Geschichtswerken kaum auf. Aber ihre Geschichte war und ist von immenser Bedeutung: Manche wichtigen Quellen sind bislang nicht in andere Sprachen übersetzt, aber ich habe sie mir übersetzen lassen und Mitglieder aller dieser Clans interviewt, um ihre Geschichten zu erfahren. Sie machen aber nur einen Teil dieses Mosaiks aus. Hier geht es weder um eine Geschichte des Judentums, Christentums oder Islams noch um eine Untersuchung über das Wesen Gottes in Jerusalem: Alle diese Aspekte wurden bereits von anderen hervorragend behandelt – erst jüngst in Karen Armstrongs exzellentem Buch Jerusalem – die Heilige Stadt. Es geht auch nicht um eine eingehende Geschichte des israelischpalästinensischen Konflikts: Kein Thema wird heute so obsessiv untersucht. Vielmehr stelle ich mich der großen Herausforderung, alle diese Aspekte hoffentlich angemessen zu behandeln.

Meine Aufgabe ist, die Fakten zu schildern, nicht über die Mysterien verschiedener Religionen zu urteilen. Gewiss erhebe ich nicht den Anspruch, mich zum Richter aufzuschwingen, ob die göttlichen Wunder und heiligen Schriften der drei großen Abrahamitischen Religionen »wahr« sind. Jeder, der sich mit der Bibel oder mit Jerusalem befasst, muss zugeben, dass die Wahrheit vielschichtig ist. Die Überzeugungen anderer Religionen und anderer Epochen erscheinen uns immer seltsam, während wir die vertrauten Gebräuche unserer Zeit und Weltregion durchaus vernünftig finden. Selbst das 21. Jahrhundert, das viele offenbar für den Gipfel an säkularer Vernunft und gesundem Menschenverstand halten, hat seine ganz eigenen konventionellen Weisheiten und quasi religiösen Orthodoxien, die unseren Ururenkeln unbegreiflich absurd vorkommen werden. Aber die Auswirkungen der Religionen und ihrer Wunder auf die Geschichte Jerusalems sind unbestreitbar real, und ohne einen gewissen Respekt vor der Religion ist Jerusalem nicht zu verstehen.

In Jerusalems Geschichte gibt es Jahrhunderte, über die wenig bekannt ist und in denen alles Bekannte umstritten ist. Da es um Jerusalem geht, verlaufen die akademischen und archäologischen Debatten immer gehässig, manchmal führen sie gar zur Gewalt. Die Ereignisse des letzten halben Jahrhunderts sind so umstritten, dass es viele Versionen von ihnen gibt.

Die wenigen verfügbaren Quellen zur Frühzeit haben sowohl Historiker und Archäologen als auch einige Spinner so lange ausgequetscht, umgemodelt und manipuliert, bis sie in alle erdenklichen Theorien passten, die sie dann mit dem Selbstvertrauen absoluter Gewissheit vertraten. In allen Fällen habe ich die Originalquellen und die zahlreichen Theorien geprüft und meine Schlüsse gezogen. Wenn ich mich in jedem Einzelfall umfassend absichern wollte, wären die häufigsten Worte in diesem Buch »vielleicht«, »vermutlich«, »möglicherweise« und »es könnte sein«. Daher wiederhole ich diese Einschränkung nicht überall, wo sie angebracht wäre, sondern mache an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass hinter jedem Satz eine umfangreiche, ständig sich ändernde Literatur steht. Jeder Teil dieses Buches wurde von einem akademischen Fachmann geprüft. Dabei halfen mir zu meinem Glück einige der renommiertesten Professoren der heutigen Zeit.

Die am stärksten belastete Kontroverse betrifft König David, weil sie solch befrachtete und aktuelle politische Auswirkungen hat. Selbst in ihrer wissenschaftlichsten Form wurde diese Debatte dramatischer und schärfer geführt als jede andere zu irgendeinem Thema, außer vielleicht der zum Wesen Christi und Mohammeds. Die Quelle für die Geschichte Davids ist die Bibel. Lange ging man selbstverständlich davon aus, dass er eine historische Gestalt war. Im 19. Jahrhundert sorgten imperialistisch-christliche Interessen für die archäologische Suche nach Davids Jerusalem. Die christliche Ausrichtung dieser Suche änderte sich, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Nun erhielt sie aufgrund des Stellenwerts, den David als Gründer des jüdischen Jerusalem hatte, eine leidenschaftlich religiös-politische Bedeutung. Da es kaum Zeugnisse aus dem 10. Jahrhundert vor Christus gab, nahmen revisionistische israelische Historiker an, dass Davids Stadt kleiner war als bis dahin vermutet. Manche bezweifelten sogar, ob er überhaupt eine historische Gestalt war, was jüdische Traditionalisten empörte und palästinensische Politiker freute, weil es den jüdischen Anspruch untergrub. Die Entdeckung der Tel-Dan-Stele 1993 bewies jedoch, dass König David tatsächlich existiert hatte. Die Bibel wurde zwar nicht primär als Geschichtswerk verfasst, ist aber dennoch eine historische Quelle, die ich bei meiner Darstellung benutze. Die Ausmaße der Davidsstadt und die Zuverlässigkeit der Bibel sind im Text behandelt, mit dem aktuellen Konflikt über die Davidsstadt befasst sich der Epilog.

Über eine wesentlich spätere Epoche, das 19. Jahrhundert, kann man unmöglich schreiben, ohne den Schatten Edward Saids und seines Werkes Orientalismus zu spüren. Said, ein palästinensischer Christ, kam in Jerusalem zur Welt, war Literaturprofessor an der Columbia University in New York und eine originelle Stimme in der Welt des palästinensischen Nationalismus. Nach seiner Ansicht setzten die subtilen und hartnäckigen eurozentristischen Vorurteile gegen arabisch-islamische Völker und ihre Kultur, die vor allem bei Reisenden im 19. Jahrhundert wie Chateaubriand, Melville und Twain festzustellen seien, die arabische Kultur herab und rechtfertigten den Imperialismus. Saids eigene Arbeit veranlasste allerdings manche seiner Jünger zu dem Versuch, diese westlichen Eindringlinge aus der Geschichte zu tilgen: Das ist absurd. Es ist indes eine Tatsache, dass diese Besucher wenig vom wirklichen Leben der Araber und Juden in Jerusalem sahen und verstanden, daher habe ich mich sehr bemüht, das tatsächliche Leben der einheimischen Bevölkerung zu zeigen. Aber da das vorliegende Buch keine Polemik ist, muss der Historiker Jerusalems den dominanten Einfluss romantisch-imperialer Kultur des Westens auf die Stadt aufzeigen, weil er erklärt, warum der Nahe Osten den Großmächten so wichtig war.

Ebenso habe ich die fortschreitende Entwicklung des säkularen wie evangelikalen Pro-Zionismus in Großbritannien von Palmerston und Shaftesbury bis hin zu Lloyd George, Balfour, Churchill und ihrem Freund Weizmann aus dem einfachen Grund nachgezeichnet, weil er im 19. und 20. Jahrhundert der wichtigste Einzelfaktor war, der das Schicksal Jerusalems und Palästinas beeinflusste.

Der letzte Abschnitt des Buches widmet sich der Stadt im Sechs-Tage-Krieg und reicht bis ins 21. Jahrhundert. Die Machtspiele und Akteure wechseln unablässig, doch aufgrund der seltsamen Bedeutung von Jerusalem hängen Krieg und Frieden in der Zukunft nicht nur von Führern, Armeen und Milizen in der Region ab, sondern auch von großen Machthabern und fundamentalistischen Anhängern der drei Konfessionen an fernen Orten, etwa in Washington, Moskau und Teheran. Ereignisse im 21. Jahrhundert haben den Einfluss der Vereinigten Staaten im Nahen Osten verringert und den Russlands und Chinas erhöht, aber sie haben zumindest eines bestätigt: Jerusalem bleibt eine heilige und strategisch wichtige Stadt, deren Bedeutung weit über ihre Größe oder Lage hinausreicht, und ist weiterhin sowohl der Kern – als auch das Haupthindernis – für jeden Friedensplan. Der Epilog erzählt einen typischen Morgen in Jerusalem.

Das vorliegende Buch ist eine Synthese aus der umfassenden Lektüre alter und moderner Primärquellen, aus persönlichen Gesprächen mit Fachleuten, Professoren, Archäologen, Familien und Politikern sowie aus unzähligen Besuchen in Jerusalem, den dortigen Heiligtümern und Ausgrabungsstätten. Ich hatte das Glück, einige neue oder selten verwendete Quellen zu entdecken. Meine Recherchen brachten mir drei besonders erfreuliche Erfahrungen: Ich verbrachte viel Zeit in Jerusalem; ich konnte die wunderbaren Werke von Schriftstellern wie Usamah bin Munqidh, Ibn Khaldun, Evliya Celebi und Wasif Jawhariyyeh bis hin zu Wilhelm von Tyros, Flavius Josephus und T. E. Lawrence lesen; und ich fand inmitten heftiger politischer Krisen vertrauensvolle, großzügige Freundschaft und Unterstützung von Jerusalemern aller Glaubensrichtungen: von Palästinensern, Israelis, Armeniern, Muslims, Juden und Christen.

Ich habe den Eindruck, dass ich mich mein Leben lang darauf vorbereitet habe, dieses Buch zu schreiben. Seit meiner Kindheit bin ich durch Jerusalem gestreift. Dank meiner familiären Verbindungen zu dieser Stadt, auf die ich an anderer Stelle in diesem Buch näher eingehe, lautet mein Familienmotto: »Jerusalem«. Doch ganz abgesehen von meinen persönlichen Verbindungen möchte ich erzählen, was in der Geschichte dieser Stadt passierte und was die Menschen glaubten. Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es gab immer zwei Jerusalems, ein irdisches und ein himmlisches, und beide wurden stärker vom Glauben und von Gefühlen regiert als von Vernunft und Fakten. Und Jerusalem bleibt der Nabel der Welt.

Meine Herangehensweise wird nicht allen gefallen – schließlich geht es hier um Jerusalem. Aber bei der Arbeit an diesem Buch dachte ich immer an den Rat, den Lloyd George seinem Gouverneur von Jerusalem, Sir Ronald Storrs, gab, der von Juden und Arabern gleichermaßen heftig kritisiert wurde: »Sobald eine Seite aufhört, sich zu beschweren, werden Sie entlassen.«

ANMERKUNG ZU NAMEN, TRANSLITERATION UND TITELN

Dieses Buch enthält zwangsläufig eine Fülle von Namen aus verschiedenen Sprachen mit diversen Möglichkeiten der Transliteration. Da es sich an ein breites Publikum richtet, verwende ich die gebräuchlichsten und zugänglichsten Namen. Bei Puristen, die an diesem Vorgehen Anstoß nehmen, möchte ich mich an dieser Stelle entschuldigen.

Für die judäische Zeit verwende ich bei den Hasmonäerkönigen – wie Aristobulos – in der Regel die griechischen Namen, nicht die lateinischen oder hebräischen. Bei weniger bekannten Personen wie Herodes’ Schwiegersohn benutze ich den hebräischen Namen Jonathan, nicht den griechischen, Aristobulos, um Verwechslungen mit den zahlreichen anderen Personen gleichen Namens zu vermeiden. Bei bekannten Persönlichkeiten verwende ich die gebräuchliche Form des Namens – etwa Tamerlan, Saladin. Das gilt auch für persische Namen, soweit sie wie Kyrus gut eingeführt sind. Die Makkabäer herrschten als Dynastie der Hasmonäer, aus Gründen der Klarheit bezeichne ich sie jedoch durchgängig als Makkabäer.

In Hinblick auf die arabische Periode stellen sich größere Herausforderungen. Ich kann nicht behaupten, eine einheitliche Lösung gefunden zu haben. Im Allgemeinen verwende ich die im Westen gebräuchlichen Namen – also Damaskus statt Dimashq. Den arabischen Artikel »al-« vor Personen- und Ortsnamen führe ich bei der ersten Nennung im Text und in den Fußnoten an, lasse ihn aber im Folgenden außer in zusammengesetzten Namen weg. Die meisten Abbasiden- und Fatimidenkalifen und Ajjubudensultane legten sich einen Thronnamen zu wie al-Mansur. Um das Lesen zu erleichtern, verzichte ich weitgehend auf den bestimmten Artikel »al-«. Bei Namen wie Abu Sufyan verwende ich ebenfalls aus Gründen der Lesbarkeit nicht die arabische Genitivform (die beispielsweise Muawiya ibn Abi Sufyan lauten würde). Die Ajjubiden bezeichne ich meist als »Haus Saladins«.

In der westlichen Geschichtsschreibung gibt es keinen einheitlichen Umgang mit arabischen Namen, so kennt man etwa die Abbasiden mit ihren Thronnamen, nicht aber Harun al-Rashid, der durch die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht bekannt ist. Alle Historiker bezeichnen den Sultan des 12. Jahrhunderts als Saladin, seinen Bruder aber als Abu Bakr ibn Ajjub. Beide nahmen die Ehrennahmen Salah al-Din beziehungsweise Saif al-Din an und beide legten sich später Thronnamen zu: Saladins war al-Nasir (der Sieger), der seines Bruders lautete al-Adil (der Gerechte). Der Einfachheit halber verwende ich durchgängig Saladin und Safedin, teils um Verwechslungen mit den Ajjubiden al-Adil, al-Aziz und al-Afdal zu vermeiden, teils um die Verbindung zu Saladin zu unterstreichen.

Bei den meisten Mameluckenherrschern benutzen Historiker die Thronnamen, eine Ausnahme ist Baibars, dessen Thronname al-Zahir war, und al-Nasir Muhammad, bei dem beide Namen gebräuchlich sind. Ich folge hier dieser uneinheitlichen Tradition.

Bei weniger bekannten Herrschern der osmanischen Zeit bemühe ich mich, statt der arabischen die türkische Schreibweise zu verwenden, und entscheide mich dabei jeweils für die am einfachsten erkennbare Version: Djemal Pascha wird im Türkischen Çemal und in der Umschrift oft Dschemal geschrieben. Muhammad Ali nenne ich durchgängig Mehmet Ali.

In moderner Zeit nenne ich Hussein ibn Ali den Scherif von Mekka oder König Hussein des Hejaz und seine Söhne (bis sie selbst Könige wurden) Prinz oder Emir Faisal und Abdullah statt Faisal und Abdullah ibn Hussein. In der frühen Phase bezeichne ich sie als Scherifen, später als Haschemiten. Den ersten König von Saudi-Arabien nenne ich Abdul Aziz al-Saud, verwende aber meist die westliche Version Ibn Saud. Bertha Spafford heiratete Frederick Vester, um Verwirrung zu vermeiden nenne ich sie aber durchgängig Spafford.

Kanaan, Juda, Judäa, Israel, Palästina, Bilad al-Shams, Großsyrien, Coele-Syrien, Heiliges Land sind nur einige der Namen für dasselbe Gebiet in unterschiedlichen Grenzen. Für Jerusalem gibt es angeblich siebzig Namen. Auch innerhalb der Stadt haben viele Stätten mehrere Namen: Der jüdische Tempel wird auch Haus Gottes, Heiliges Haus oder schlicht der Tempel genannt. Der Felsendom ist Qubbet al-Sakhra, der Tempel des Herrn oder Templum Domini. Der Tempelberg heißt auf Hebräisch HaBayit, auf Arabisch Haram al-Sharif oder Edles Heiligtum, zuweilen auch nur Tempelplattform oder heilige Esplanade; die zwei Heiligtümer für Muslime beziehen sich auf Jerusalem und auf ein weiteres herodianisches Bauwerk in Hebron: das Grab Abrahams und der Patriarchen. Die Grabeskirche heißt auch Anastasis oder Deir Sultan. Der Felsen auf dem Tempelberg wird im Arabischen Sakhra genannt; der Grundstein des Tempels im Hebräischen Even HaShtiyah; das Allerheiligste ist Kodesh haKodeshim. Die heilige Stätte des Judentums ist die Westmauer, Klagemauer, Kotel oder al-Buraq-Mauer. Zitadelle und Davidsturm beziehen sich auf die herodianische Festung in der Nähe des Jaffatores. Das Grab der Jungfrau Maria und die Marienkirche von Jehoshaphat bezeichnen denselben Ort. Das Tal Jehoshaphat ist das Kidrontal. Die heilige Stätte auf dem Berg Zion wird als Davids Grab, Nabi Daoud, Coenaculum oder Abendmahlssaal bezeichnet. Die verschiedenen Namen für die Tore Jerusalems wechselten so häufig, dass es zwecklos ist, sie hier alle anzuführen. Jede Straße in Jerusalem hat mindestens drei Namen: Die Hauptstraße in der Altstadt heißt auf Arabisch El Wad, auf Hebräisch Ha-Gai und in Englisch schlicht The Valley.

Konstantinopel und Byzanz beziehen sich auf das Oströmische Reich; ab 1453 bezeichne ich die Stadt als Istanbul. In diesem Buch verwende ich die Bezeichnung Katholiken und Lateiner ebenso austauschbar wie Orthodoxe und Griechen. Das gleiche gilt für Iran und Persien. Mesopotamien bezeichne ich der Einfachheit halber als Irak.

Zu Titeln: Die römischen Herrscher hießen auf Latein zunächst princeps, später imperator; byzantinische Kaiser wurden später mit dem griechischen Begriff als basileos bezeichnet. Im Frühislam trug Mohammeds Nachfolger entweder den Titel Oberhaupt der Gläubigen oder Kalif. Osmanische Herrscher nannten sich Sultan, Padischa und Kalif. [In der deutschen Ausgabe orientiert sich die Schreibweise von Namen und Orten in der biblischen Epoche an der Lutherübersetzung der Bibel in der Fassung von 1984. Bei bekannten Persönlichkeiten und Orten richtet sich die Schreibung weitgehend nach dem Duden (24. Auflage). Für die moderne Zeit übernimmt die deutsche Fassung weitgehend die internationale (englische) Transliteration. (Anmerkung d. Übers.)]

PROLOG

Am 8. Tag des jüdischen Monats Ab, also Ende Juli des Jahres 70 n. Chr., befahl Titus, der Sohn des römischen Kaisers Vespasian und Feldherr über die viermonatige Belagerung Jerusalems, seinem gesamten Heer, die Erstürmung des Tempels im Morgengrauen vorzubereiten. Zufällig jährte sich am folgenden Tag die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier, die mehr als 500 Jahre zurücklag. Titus befehligte vier Legionen mit insgesamt 60 000 römischen Legionären und heimischen Hilfstruppen, die darauf brannten, der trotzenden, aber gebrochenen Stadt den letzten Stoß zu versetzen. Innerhalb der Stadtmauern lebten etwa eine halbe Million hungernder Juden unter verheerenden Bedingungen: Manche waren fanatische Eiferer, andere Freibeuter und Banditen, aber bei den meisten handelte es sich um harmlose Familien, die dieser Todesfalle nicht entkommen konnten. Da viele Juden außerhalb von Judäa lebten – sie waren im gesamten Mittelmeerraum und Nahen Osten zu finden –, sollte dieser letzte verzweifelte Kampf nicht nur über das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner entscheiden, sondern auch über die Zukunft des Judentums und jenes kleinen jüdischen Kults, des Christentums – und wenn man sechs Jahrhunderte weiter schaut, sogar über die Gestalt des Islam.

Die Römer hatten Rampen an die Außenmauern des Tempels gebaut. Aber ihre Sturmangriffe waren gescheitert. An diesem Tag erklärte Titus seinen Generälen, der Versuch, diesen »fremden Tempel« zu erhalten, koste ihn zu viele Soldaten, und so befahl er, die Tempeltore in Brand zu setzen. Das Silber der Tore schmolz, das Feuer griff auf die hölzernen Tor- und Fensterrahmen über und breitete sich über die Holzverkleidungen in den Gängen des Tempels aus. Titus befahl, das Feuer zu löschen. Die Römer sollten »ihre Rache nicht an leblosen Dingen statt an Menschen auslassen«, wie er erklärte. Anschließend zog er sich für die Nacht in sein Hauptquartier im halb zerstörten Turm der Burg Antonia zurück, die oberhalb des prachtvollen Tempelkomplexes lag.

Rund um die Tempelmauern bot sich ein Bild des Grauens, das der Hölle auf Erden geähnelt haben muss. Tausende Leichen verwesten in der Sonne. Es herrschte ein unerträglicher Gestank. Horden von Hunden und Schakalen weideten sich an menschlichem Fleisch. In den vorangegangenen Monaten hatte Titus alle Gefangenen und Überläufer kreuzigen lassen. Tagtäglich hatte man fünfhundert Juden ans Kreuz geschlagen. Auf dem Ölberg und den zerklüfteten Bergen rund um die Stadt standen die Kreuze so dicht, dass es kaum noch Platz für weitere, und schon gar keine Bäume mehr gab, um sie herzustellen.1 Titus’ Soldaten machten sich einen Spaß daraus, ihre Opfer in grotesken Verrenkungen mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen ans Kreuz zu nageln. Viele Jerusalemer waren so verzweifelt, dass sie unbedingt aus der Stadt entkommen wollten und ihre Reichtümer versteckten, indem sie die Münzen schluckten; sie hofften, dass das Geld wieder zum Vorschein kommen würde, sobald sie sich vor den Römern in Sicherheit gebracht hätten. Vor Hunger »aufgedunsen und wie wassersüchtig« kamen sie heraus, aber sobald sie gierig gegessen hatten, »zerbarsten sie«. Als die Soldaten im übel riechenden Gedärm der geplatzten Bäuche Gold fanden, gingen sie dazu über, alle Gefangenen aufzuschlitzen, bei lebendigem Leib auszuweiden und ihre Eingeweide zu durchsuchen. Entsetzt versuchte Titus, die Plünderung der Körper zu unterbinden. Aber vergebens: Titus’ syrische Hilfstruppen, die den Juden mit dem erbitterten Hass von Nachbarn begegneten und von ihnen ebenso gehasst wurden, schwelgten in diesen Gräueltaten.2 Die Grausamkeiten der Römer und der Rebellen innerhalb der Stadtmauern sind mit einigen der schlimmsten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts vergleichbar.

Der Krieg war ausgebrochen, als die Unfähigkeit und Gier der römischen Statthalter selbst die judäische Oberschicht, eigentlich Roms jüdische Verbündete, dazu getrieben hatte, sich einem religiösen Volksaufstand anzuschließen. Die Rebellen waren eine Mischung aus religiösen Juden und opportunistischen Banditen, die den Niedergang des Kaisers Nero und das nach seinem Selbstmord ausbrechende Chaos genutzt hatten, um die Römer zu vertreiben und einen unabhängigen jüdischen Staat rund um den Tempel auszurufen. Aber sofort hatte sich die jüdische Revolution in blutigen Säuberungsaktionen und Bandenkriegen zerfleischt.

Nach Nero hatten sich drei römische Kaiser in rascher, chaotischer Folge abgelöst. Als Vespasian aus diesen Wirren als Kaiser hervorging und Titus aussandte, um Jerusalem zu erobern, war die Stadt unter drei Kriegsherren aufgeteilt, die sich gegenseitig bekämpften. Die jüdischen Warlords führten zunächst heftige Gefechte in den Höfen des Tempels, die von Blut überströmt waren, und plünderten anschließend die Stadt. Ihre Trupps durchforsteten die reicheren Viertel, plünderten Häuser, töteten »zur Kurzweil« die Männer und missbrauchten die Frauen. Berauscht von ihrer Macht, ihrem Jagdfieber und vermutlich dem erbeuteten Wein, schwelgten sie in »weibischem Gebaren, indem sie sich das Haar frisierten, Weiberkleider anzogen, sich mit wohlriechendem Öl salbten und sich zur Zierde die Augen bemalten«. Diese provinziellen Mörder stolzierten in »fein gefärbten Oberkleidern« herum und töteten jeden, der ihnen über den Weg lief. In ihrer einfallsreichen Verdorbenheit verfielen sie auf »widernatürliche Lüste« und machten Jerusalem mit ihren »Werken der Unzucht« zu einem »Bordell« und zur Folterkammer, und dennoch blieb die Stadt ein Heiligtum.3

Der Tempel setzte seinen Betrieb irgendwie fort. Im April, kurz bevor die Römer die Stadt eingeschlossen hatten, waren noch Pilger zum Passahfest gekommen. Gewöhnlich lag die Einwohnerzahl Jerusalems im hohen Zehntausenderbereich, aber da nun Pilger und viele Kriegsflüchtlinge durch die römische Belagerung in der Falle saßen, befanden sich Hunderttausende in der Stadt. Erst als Titus die Stadt einkesselte, stellten die Führer der Aufständischen ihre internen Auseinandersetzungen ein, um sich mit ihren 21 000 Kämpfern gemeinsam den Römern entgegenzustellen.

Jerusalem, das Titus zum ersten Mal vom Berg Skopus – benannt nach dem griechischen skopeo, »Aussicht« – sah, war, laut Plinius, die bei weitem berühmteste Stadt des Ostens, eine opulente, blühende Metropole, rund um einen der größten Tempel der antiken Welt erbaut, der ein erlesenes Kunstwerk von immensen Ausmaßen war. Der Ort war bereits seit tausend Jahren besiedelt, aber diese mit vielen Mauern und Türmen umgebene Stadt, die sich über zwei Berge inmitten des unfruchtbaren Berglands Judäas erstreckte, war nie so bevölkert und imposant wie im ersten Jahrhundert n. Chr.: Ähnlich groß und großartig sollte Jerusalem erst wieder im 20. Jahrhundert werden. Das war die Leistung Herodes’ des Großen, jenes brillanten, psychotischen Königs von Judäa, dessen Paläste und Burgen so monumental und luxuriös ausgestattet waren, dass der jüdische Geschichtsschreiber Josephus es für unmöglich hielt, diesen Prunk »in allen seinen Einzelheiten gebührend zu schildern«.

Der Tempel stellte in seinem numinosen Glanz alles andere in den Schatten. »Auf allen Seiten mit goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang in hellstem Feuerglanz und blendete das Auge.« Wenn Fremde – wie Titus und seine Legionäre – diesen Tempel zum ersten Mal sahen, wirkte er »wie ein schneebedeckter Hügel«. Fromme Juden wussten, dass sich im Zentrum der Höfe in dieser Art Stadt in der Stadt auf dem Berg Moriah eine kleine Kammer von höchster Heiligkeit befand, die praktisch nichts enthielt. Dieser Raum war das Zentrum jüdischer Heiligkeit: das Allerheiligste, der Wohnort Gottes.

Herodes’ Tempel war ein Heiligtum, aber auch eine nahezu uneinnehmbare Festung innerhalb der befestigten Stadt. Ermutigt durch die römische Schwäche im Vierkaiserjahr, Jerusalems Steilhänge, Befestigungen und den labyrinthartigen Tempel hatten die Juden sich Titus mit maßlosem Selbstvertrauen entgegengestellt. Schließlich trotzten sie Rom bereits seit fünf Jahren. Aber Titus besaß die Autorität, den Ehrgeiz, die Mittel und das nötige Talent für diese Aufgabe. Mit systematischer Effizienz und überwältigender Durchschlagskraft machte er sich daran, Jerusalem zu bezwingen. In den Tunneln an der Westmauer des Tempels fand man Ballistasteine, die vermutlich von Titus abgeschossen wurden und von der Intensität der römischen Bombardierung zeugen. Um jeden Zentimeter kämpften die Juden mit nahezu selbstmörderischer Hingabe. Dennoch überwand Titus die erste Stadtmauer innerhalb von 15 Tagen, da er über das gesamte Arsenal von Belagerungsgerät, Katapulte und die Findigkeit römischer Ingenieure verfügte. Er zog mit tausend Legionären durch das Gewirr Jerusalemer Märkte und stürmte die zweite Mauer. Aber die Juden eroberten sie in einem Ausfall zurück. So musste die Mauer erneut erstürmt werden. Als nächstes versuchte Titus die Stadtbevölkerung mit einer Militärparade einzuschüchtern – Rüstungen, Helme, blanke Schwerter, wehende Standarten, glitzernde Adler, kriegerisch aufgezäumte Pferde. Tausende Jerusalemer sammelten sich auf den Mauern, um sich dieses Spektakel anzusehen und »die Schönheit der Waffen, die vortreffliche Ordnung unter den Soldaten« zu bewundern. Aber die Juden blieben hartnäckig oder hatten zu viel Angst vor ihren Kriegsherren, um sich ihren Befehlen zu widersetzen: Sie kapitulierten nicht.

Letztlich beschloss Titus, die ganze Stadt einzukesseln und mit einem Belagerungswall zu umgeben. Ende Juni stürmten die Römer die trutzige Burg Antonia oberhalb des Tempels und machten sie dem Erdboden gleich – bis auf einen Turm, in dem Titus sein Hauptquartier einrichtete.

Im Hochsommer wuchsen auf den zerklüfteten, zerschundenen Bergen ganze Wälder aus Kreuzen mit fliegenumschwärmten Leichen, während in der Stadt Untergangsstimmung, unversöhnlicher Fanatismus, willkürlicher Sadismus und quälender Hunger herrschten. Bewaffnete Banden suchten nach Nahrung. Eltern und Kinder rissen sich gegenseitig die Bissen aus den Händen. Wo verschlossene Türen auf verborgene Vorräte hindeuteten, ließen die Kriegsherren sie aufbrechen und ihren Opfern Stöcke in das Hinterteil treiben, damit sie ihre Getreideverstecke preisgaben. Wenn sie nichts fanden, quälten sie den Betreffenden noch grausamer, »als wären sie ihres Rechtes verlustig gegangen«. Obwohl die Kämpfer selbst noch zu essen hatten, töteten und folterten sie, nur »um ihre Wut zu sättigen«. Immer wieder kam es in Jerusalem zu einer wahren Hexenjagd, bei der die Menschen sich gegenseitig bezichtigten, Vorräte zu horten oder Verräter zu sein. Der Augenzeuge Josephus berichtet: »Keine Stadt hat je Ähnliches auszustehen gehabt, und kein Geschlecht, solange die Welt steht, war erfinderischer in Werken der Bosheit.«4

»Knaben und Jünglinge, krankhaft angeschwollen, wankten wie Gespenster über die öffentlichen Plätze und sanken zu Boden, wo einen die Hungerseuche ergriff.« Menschen starben bei dem Versuch, ihre Angehörigen zu beerdigen, andere begrub man, obwohl sie noch atmeten. Hunger raffte ganze Familien in ihren Häusern dahin. »Mit trockenen Augen und weit geöffnetem Munde« sahen Jerusalemer ihre Lieben sterben. »Tiefes Schweigen, wie eine bange Todesnacht, lag über der Stadt« – aber die »Sterbenden blickten starren Auges zum Tempel hinauf«. Auf den Straßen häuften sich die Leichen. Trotz der jüdischen Gesetze wurde bald niemand mehr in diesem großen Beinhaus begraben. Vielleicht hatte Jesus Christus das vorhergesehen, als er die bevorstehende Apokalypse vorhersagte und erklärte: »Lass die Toten ihre Toten begraben.« Manchmal warfen die Aufständischen die Leichen einfach über die Stadtmauer. Dort ließen die Römer sie in faulenden Haufen verwesen. Aber die Rebellen kämpften weiter.

Selbst Titus, ein abgehärteter römischer Soldat, der in seinem ersten Gefecht zwölf Juden mit seinem Bogen getötet hatte, war entsetzt und verwundert: Er konnte nur seufzend die Götter als Zeugen anrufen, dass dies nicht sein Werk sei. Er war »der Liebling und das Entzücken des Menschengeschlechts« und für seine Großzügigkeit bekannt. »Freunde, ich habe einen Tag verloren«, erklärte er, wenn er keine Zeit gefunden hatte, seine Kameraden zu beschenken. Er war kräftig, rau, aber herzlich, hatte ein Grübchen im Kinn, einen großen Mund und ein rundliches Gesicht und erwies sich als begnadeter Feldherr und beliebter Sohn des neuen Kaisers Vespasian: Von Titus’ Sieg über die jüdischen Rebellen hing ihre noch unbewährte Dynastie ab.

Zu Titus’ Entourage gehörten zahlreiche abtrünnige Juden, darunter drei Jerusalemer – ein Geschichtsschreiber, ein König und (offenbar) eine zweifache Königin, die das Bett des Cäsaren teilte. Der Geschichtsschreiber war Titus’ Berater Flavius Josephus, ein Kommandeur der rebellischen Juden, der zu den Römern übergelaufen war und die einzige Quelle dieser Schilderung des Krieges ist. Der König war Herodes Agrippa II., ein überaus römischer Jude, der am Hof des Kaisers Claudius aufgewachsen war. Er war Oberaufseher des jüdischen Tempels, den sein Urgroßvater, Herodes der Große, erbaut hatte, und wohnte oft in seinem Palast in Jerusalem, obwohl er über verschiedene Gebiete im Norden des heutigen Israel, Syrien und Libanon regierte.

Nahezu mit Sicherheit begleitete den König seine Schwester Berenike, die Tochter eines jüdischen Monarchen und durch Heirat zweifache Königin, die seit kurzem Titus’ Geliebte war. Ihre römischen Feinde beschimpften sie später als »jüdische Kleopatra«. Sie war um die vierzig Jahre alt, aber laut Tacitus in ihren besten Jahren und auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit. Zu Beginn des Aufstandes hatten sie und ihr Bruder, mit dem sie gemeinsam (wie ihre Feinde behaupteten, in einer inzestuösen Beziehung) lebte, die Rebellen mit einem letzten Appell an die Vernunft niederzuringen versucht. Nun mussten diese drei Juden hilflos dem Todeskampf einer berühmten Stadt zuschauen – Berenike tat dies vom Bett ihres Zerstörers aus.

Gefangene und Überläufer brachten Neuigkeiten aus der Stadt, die für Josephus besonders beunruhigend waren, weil seine Eltern in ihr festsaßen. Da selbst den Kämpfern allmählich die Nahrung ausging, durchsuchten sie Lebende und Tote nach Gold und Essen, selbst nach wenigen Krümeln, wankend und schwankend »wie tolle Hunde«. Sie aßen Kuhdung, Leder, Gürtel, Schuhe und altes Heu. Eine reiche Frau namens Maria, die schon ihr Geld und sämtliche Nahrungsvorräte verloren hatte, wurde so weit um den Verstand gebracht, dass sie ihren eigenen Sohn tötete, briet, zur Hälfte aß und den Rest für später aufhob. Der köstliche Bratenduft wehte durch die Stadt. Als die Rebellen ihn rochen, stöberten sie die Herkunft auf und stürmten in das Haus. Aber selbst diese abgebrühten Mörder schlichen sich zitternd davon, als sie den halb verzehrten Leichnam sahen.5

Verfolgungswahn und Spionageangst herrschten in Jerusalem, der Heiligen – wie die jüdischen Münzen sie nannten. Phantasierende Scharlatane und predigende Oberpriester geisterten durch die Straßen und verhießen Erlösung. Jerusalem begann »wie ein tollwütiges Tier in Ermangelung der Nahrung von außen bereits gegen das eigene Fleisch zu wüten«, schrieb Josephus.

Als Titus sich am Abend des 8. Ab zurückgezogen hatte, versuchten seine Legionäre auf seinen Befehl, das Feuer zu löschen, das sich durch das geschmolzene Silber ausgebreitet hatte. Aber die Rebellen griffen die Söldner an, die den Brand bekämpften. Die Römer schlugen zurück und drängten die Juden bis in das Tempelhaus. Ein Legionär nahm »wie auf höheren Antrieb« ein brennendes Stück Holz, ließ sich von einem Kameraden hochheben und setzte Vorhänge und Rahmen an einem »goldenen Fenster« in Brand, das in die inneren Tempelhallen führte. Bis zum Morgen breitete sich das Feuer bis in das Herz des Heiligtums aus. Als die Juden sahen, dass die Flammen das Allerheiligste zu zerstören drohten, rannten sie schreiend hin, »um dem Feuer zu wehren«. Aber es war zu spät. Sie verbarrikadierten sich im Innenhof und schauten in entsetztem Schweigen zu.

Nicht weit entfernt wachte Titus in den Ruinen der Burg Antonia auf, sprang auf und lief zum »Tempel hin, um dem Brande Einhalt zu tun«. Ihm folgten seine Entourage mit Josephus und vermutlich auch König Agrippa und Berenike, sowie »die durch den Wirrwarr erschreckten Legionen«. Es kam zu erbitterten Kämpfen. Josephus behauptet, Titus habe erneut befohlen, das Feuer zu löschen, als römischer Kollaborateur hatte er jedoch allen Grund, seinen Schutzherrn zu entlasten. Es herrschte Geschrei, das Feuer toste, und den römischen Soldaten war klar, dass eine Stadt, die so hartnäckig Widerstand geleistet hatte, nach den Gesetzen des Krieges damit rechnen musste, in Schutt und Asche gelegt zu werden.

Sie taten, als hätten sie Titus nicht gehört, und riefen ihren Kameraden sogar zu, sie sollten noch mehr Brandfackeln werfen. Die Legionäre waren so ungestüm, dass viele im wilden Sturm ihres Blutrauschs und ihrer Goldgier zerquetscht wurden oder verbrannten; sie plünderten so viel, dass der Goldpreis bald im ganzen Osten fallen sollte. Da Titus das Feuer nicht eindämmen konnte und sicher auch über die Aussicht eines endgültigen Sieges erleichtert war, drang er im brennenden Tempel bis zum Allerheiligsten vor, das selbst der Hohepriester nur einmal im Jahr betreten durfte. Seit der römische Feldherr und Staatsman Pompeius 63 v. Chr. dort eingedrungen war, hatte kein Fremder die Reinheit dieses Ortes entweiht. Aber Titus schaute hinein: »Alles fand er weit erhaben über den Ruf, den es bei den Fremden genoss, und ganz entsprechend der fast prahlerisch hohen Meinung, welche die Einheimischen davon hatten«, wie Josephus schreibt. Er befahl dem Centurio, die Brandstifter mit Schlägen zurückzudrängen, aber »die allgemeine Kampfwut erwies sich als stärker«. Während rund um das Allerheiligste ein Inferno ausbrach, brachten die Offiziere Titus in Sicherheit, und »niemand gab sich mehr die Mühe, die außen um das Heiligtum streifenden Soldaten von weiterer Brandlegung abzuhalten«.

Inmitten der Flammen tobten die Kämpfe weiter: Benommene, ausgehungerte Jerusalemer irrten verzweifelt durch die brennenden Portale. Tausende Zivilisten und Rebellen sammelten sich auf den Stufen des Altars, bereit bis zum Letzten zu kämpfen oder ohne Hoffnung zu sterben. Sie alle metzelten die berauschten Römer nieder, als brächten sie massenhaft Menschenopfer: »Besonders um den Altar türmten sich die Toten in Masse auf«, und das Blut floss über die Stufen. Zehntausende Juden starben im brennenden Tempel.

Das Bersten riesiger Steine und Holzbalken krachte wie Donner. Josephus beobachtete den Untergang des Tempels:

Mit dem Prasseln der allenthalben hervorbrechenden Flammen mischte sich das Stöhnen der zu Boden Geschmetterten. Wenn man die Höhe des Hügels und die Größe des brennenden Riesenbaues in Betracht zog, hätte man glauben können, die ganze Stadt stehe in Flammen; grausiger aber und gellender lässt sich nichts denken als das Geschrei, das über dem Ganzen tobte. Denn während die römischen Legionen, die in geschlossenem Zuge vordrangen, ihre Jubelrufe anstimmten, erscholl gleichzeitig das Geheul der von Feuer und Schwert umringten Empörer, und von oben tönte darein die Wehklage des verlassenen Volkes, das sich in der Angst zu den Feinden flüchtete und sein Geschick bejammerte … und zu alledem der Widerhall von Peraea und den umliegenden Bergen, der das Getöse noch entsetzlicher machte … Der Tempelberg schien von Grund aus zu glühen, da er rings in Feuer gehüllt war.

Moriah, einer der beiden Berge Jerusalems, auf den König David die Bundeslade gestellt und sein Sohn Salomon den ersten Tempel gebaut hatte, war in eine Feuersglut getaucht, und Leichen bedeckten den Boden des Tempels. In ihrem Triumph trampelten die Soldaten über die leblosen Körper weg. Die Priester kämpften, und manche warfen sich in das Feuer. Als die wütenden Römer sahen, dass der innere Tempel zerstört war, schnappten sie sich das Gold und andere Schätze, bevor sie auch den Rest des Tempelkomplexes in Brand setzten.6

Als der innere Hof brannte, brachen die überlebenden Rebellen bei Tagesanbruch durch die römischen Linien aus in das Gewirr von Außenhöfen, und manche entkamen in die Stadt. Die römischen Reiter unternahmen einen Gegenangriff, töteten die Aufständischen und brannten die Schatzkammern des Tempels nieder, die mit Reichtümern von den Tempelsteuern aller Juden von Alexandria bis Babylon gefüllt waren. In einer Halle entdeckten sie 6000 Frauen und Kinder, die in apokalyptischer Erwartung zusammenkauerten. Ein »falscher Prophet« hatte zuvor behauptet, im Tempel könnten sie »die Zeichen ihrer Rettung schauen«. Die Legionäre setzten die Gänge in Brand und ließen diese Menschen bei lebendigem Leib verbrennen.

Die Römer trugen ihre Adler auf den Heiligen Berg, brachten ihren Göttern Opfer dar und huldigten Titus als ihrem Imperator. Noch immer versteckten sich Priester in der Nähe des Allerheiligsten. Zwei stürzten sich in die Flammen, und einem gelang es, die Schätze aus dem Tempel zu bringen: die Gewänder des Hohepriesters, die beiden goldenen Armleuchter und eine Menge Zimt und Kassie, Gewürze, die jeden Tag im Heiligtum verbrannt wurden. Als die übrigen sich ergaben, ließ Titus sie mit der Begründung hinrichten, »so zieme es ihnen als Priestern, mit dem Tempel unterzugehen«.

Jerusalem war – und ist – eine Stadt der Tunnel. Auf diesem Weg verschwanden die Rebellen nun im Untergrund und behielten die Kontrolle über die Zitadelle und die westliche Oberstadt. Titus brauchte einen weiteren Monat, den Rest Jerusalems einzunehmen. Schließlich fielen auch diese Viertel unter dem Ansturm der Römer und ihrer syrischen und griechischen Hilfstruppen. »Mit gezücktem Schwert strömten sie nun in die Gassen, stießen jeden nieder, der ihnen in den Weg kam, und verbrannten die Häuser, in welche sich Juden geflüchtet hatten, samt allem, was darin war«. Als das Gemetzel am Abend vorüber war, griff das Feuer immer weiter um sich.

Titus verhandelte mit den beiden jüdischen Kriegsherren über die Brücke hinweg, die das Tal zwischen Tempel und Stadt überspannte, und bot an, ihnen das Leben zu schenken, wenn sie kapitulierten. Aber sie lehnten ab. Daraufhin befahl er, die Unterstadt zu plündern und niederzubrennen, in der praktisch jedes Haus voller Leichen war. Als die Jerusalemer Kriegsherren sich in den Herodes-Palast und die Zitadelle zurückzogen, baute Titus Wälle, um ihre Moral zu untergraben. Am 7. Elul, Mitte August, stürmten die Römer die Festungen. Die Aufständischen kämpften weiter in den Tunneln, bis einer ihrer Führer, Johannes von Gischala, sich ergab (er wurde begnadigt, sah aber einer lebenslangen Haft entgegen). Der andere Anführer, Simon ben Giora, kam in weißem Gewand aus einem Tunnel unter dem Tempel und sollte eine herausragende Rolle in Titus’ Triumphzug in Rom spielen.

In dem anschließenden Wirrwarr und der systematischen Zerstörung ging eine Welt unter, die nur wenige Zeugnisse als Momentaufnahmen hinterließ. Die Römer metzelten Alte und Kranke nieder: Die skelettierte Hand einer Frau, die man auf der Schwelle ihres verbrannten Hauses fand, zeugt von Panik und Schrecken; die Asche der Villen im jüdischen Viertel erzählt von einem Inferno. In einer Werkstatt an der Straße, die unter der Freitreppe in den Tempel verlief, entdeckte man zweihundert Bronzemünzen, ein geheimer Vorrat, der vermutlich in den letzten Stunden vor dem Fall der Stadt versteckt wurde. Schon bald waren selbst die Römer das Gemetzel leid. Sie trieben die Jerusalemer in den Frauenvorhof des Tempels und sortierten sie: Kämpfer wurden getötet; kräftige Gefangene schickte man in die ägyptischen Bergwerke; junge, gutaussehende Gefangene wurden als Sklaven verkauft, zum Kampf gegen Löwen in den Zirkus geschickt oder beim Triumphzug zur Schau gestellt.

Josephus fand unter den armen Gefangenen im Tempelvorhof seinen Bruder und fünfzig Freunde, die er mit Titus’ Erlaubnis befreite. Seine Eltern waren vermutlich gestorben. Unter den Gekreuzigten fand er drei seiner Freunde. »Mit tiefem Schmerz und unter Tränen begab ich mich zu Titus und erzählte es ihm.« Er ließ sie abnehmen und ärztlich versorgen. Aber nur einer überlebte.

Titus beschloss wie Nebukadnezar, Jerusalem dem Erdboden gleichzumachen, eine Entscheidung, die Josephus den Rebellen anlastete: »wie der Bürgerkrieg der Stadt, so machten die Römer dem Bürgerkrieg ein Ende«. Den Tempel, das imposanteste Monument Herodes’ des Großen, zu schleifen, muss eine technische Herausforderung dargestellt haben. Die gigantischen Steinquader des Königsportals krachten auf das neue Pflaster und wurden dort 2000 Jahre später unter dem Schutt von Jahrhunderten als riesiger Haufen so gefunden, wie sie heruntergefallen waren. Die Trümmer warf man neben dem Tempel ins Tal, wo sie die heute kaum noch erkennbare Schlucht zwischen Tempelberg und Oberstadt füllten. Aber die Stützmauern des Tempelbergs blieben erhalten, einschließlich der heutigen Westmauer. Überall in Jerusalem sind die Spolien, die herabgefallenen Steine von Herodes’ Tempel und Stadt, zu finden, die sämtliche Eroberer und Erbauer der Stadt von den Römern bis zu den Arabern, von den Kreuzfahrern bis zu den Osmanen noch über tausend Jahre später mehrfach wiederverwendeten.

Niemand weiß, wie viele Menschen in Jerusalem starben. Die Zahlenangaben antiker Geschichtsschreiber sind immer gewagt. Laut Tacitus befanden sich in der belagerten Stadt 600 000 Menschen, laut Josephus über eine Million. Ganz gleich, welche Zahl den Tatsachen entspricht, sie war jedenfalls sehr hoch, und alle diese Menschen verhungerten, wurden getötet oder in die Sklaverei verkauft.

Titus machte sich auf eine makabre Siegestour. Er war zu Gast bei seiner Mätresse Berenike und ihrem Bruder, König Herodes Agrippa II., in ihrer Residenz in Caesarea Philippi in den heutigen Golanhöhen. Dort schaute er zu, wie Tausende jüdischer Gefangener bis auf den Tod miteinander oder mit wilden Tieren kämpften. Einige Tage später schaute er sich die tödlichen Kämpfe von 2500 Gefangenen im Circus von Caesarea Maritima an und wohnte dem Gemetzel weiterer bei Spielen in Beirut bei, bevor er nach Rom zurückkehrte, um seinen Triumph zu feiern.

Die Legionen schleiften den Rest der Stadt vollständig und rissen die Stadtmauern ein. Nur die Türme von Herodes’ Zitadelle ließ Titus als »Denkmale seines Glücks« stehen. Dort richtete die zehnte Legion ihr Hauptquartier ein. »Ein so trauriges Ende nahm die prächtige, weltberühmte Stadt Jerusalem«, schrieb Josephus.

Bereits sechshundert Jahre zuvor hatte der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem vollständig zerstört. Nach dieser ersten Zerstörung waren die Juden innerhalb von fünfzig Jahren zurückgekehrt und hatten den Tempel wiederhergestellt. Aber dieses Mal, nach 70 n. Chr., wurde der Tempel nicht wiederaufgebaut – und bis auf einige kurze Intermezzi gelangte Jerusalem nahezu 2000 Jahre lang nicht wieder unter jüdische Herrschaft. Aber die Asche dieser Katastrophe barg die Saat nicht nur des modernen Judentums, sondern auch der Heiligkeit Jerusalems für das Christentum und den Islam.

Nach einer wesentlich späteren rabbinischen Legende hatte Yohanan ben Zakkai, ein geachteter Rabbiner, bereits in der Frühphase der Belagerung seine Schüler angewiesen, ihn in einem Sarg aus der dem Untergang geweihten Stadt zu tragen, eine Metapher für die Grundlegung eines neuen Judentums, das nicht mehr auf dem Opferkult im Tempel beruhte.

Die Juden, die in ländlichen Gebieten Judäas und Galiläas und überall im Römischen und persischen Reich in großen Gemeinden lebten, beklagten den Verlust Jerusalems und verehrten die Stadt weiterhin. Anstelle des Tempels traten die Bibel und die mündliche Überlieferung, aber es heißt, Gott habe noch dreieinhalb Jahre auf dem Ölberg gewartet, ob der Tempel wiederaufgebaut werde, bevor er in den Himmel aufgestiegen sei. Die Zerstörung hatte auch für die Christen entscheidende Bedeutung.