Katharina die Große und Fürst Potemkin - Simon Sebag Montefiore - E-Book
SONDERANGEBOT

Katharina die Große und Fürst Potemkin E-Book

Simon Sebag Montefiore

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die vielleicht größte Romanze der Geschichte Katharina die Große war eine Frau von berüchtigter Leidenschaft, politischer Brillanz und faszinierendem Charme. Fürst Potemkin – ein gut aussehender Lebemann und äußerst gewandter Politiker - war die Liebe ihres Lebens, heimlicher Gemahl und Mitherrscher. Kein anderer nahm so großen Einfluss auf ihre politischen Entscheidungen wie er. Obgleich es nicht an Differenzen zwischen Katharina und Potemkin mangelte, er Affären mit seinen hübschen Nichten hatte und sie mit ihren Günstlingen, hörten sie nie auf, einander zu lieben. Simon Sebag Montefiore hat Zugang zu bisher unbekannten und unveröffentlichten Dokumenten gefunden, er hat die intimen Briefe der Kaiserin und des Fürsten gelesen. Nur so konnte er diese faszinierende Geschichte von Liebe und Macht in all ihren Dimensionen ans Licht bringen und Potemkin den zentralen Platz in der russischen Geschichte zuweisen, der ihm zusteht. Eine wundervolle Biographie voller Details und literarischem Flair.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1278

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Simon Sebag Montefiore

Katharina die Grosse und Fürst Potemkin

Eine kaiserliche Affäre

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter und Sabine Baumann

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungAnmerkungProlog Tod in der SteppeTeil Eins Potemkin und Katharina1 Der Junge aus der Provinz2 Der Gardist und die Grossfürstin: Katharinas Staatsstreich3 Erste Begegnung: Der waghalsige Verehrer der KaiserinTeil Zwei Näher4 Der Zyklop5 Der Kriegsheld6 Der Glücklichste Mann auf ErdenTeil Drei Zusammen7 Liebe8 Macht9 Eheschliessung: Madame Potemkina10 Kummer und EinvernehmenTeil Vier Die leidenschaftliche Partnerschaft11 Ihre Günstlinge12 Seine Nichten13 Herzoginnen, Diplomaten und ScharlartaneTeil Fünf Der Koloss14 Byzanz15 Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches16 Drei Hochzeiten und eine Krone17 Potemkins Paradies: Die KrimTeil Sechs Der Mitregent18 Kaiser des Südens19 Britische Mohren und Tschetschenische Krieger20 Anglomanie: Die Benthams in Russland und der Kaiser der Gärten21 Der Weisse Neger22 Ein Tag im Leben des Grigori AlexandrowitschTeil Sieben Der Höhepunkt23 Das Zaubertheater24 Kleopatra25 Die Amazonen26 Jüdische Kosaken und Amerikanische Admiräle: Potemkins Krieg27 Mann gegen Mann: Der Sturm auf Otschakow28 Meine Erfolge sind Eure29 Der Köstliche und der Grausame: Sardanapal30 Das Blutbad: IsmailTeil Acht Der Letzte Tanz31 Die schöne Griechin32 Karneval und Krise33 Der letzte AusrittEpilog Leben nach dem TodBildergalerieAnhangHandelnde PersonenKartenPotemkins ReichRussland und OsteuropaStammbäumeZaren und HerrscherFürst Potemkins erweiterte FamilieFürst Potemkins engere FamilieAbbildungsverzeichnisQuellen und AuswahlbibliographieArchive, Zeitschriften sowie in Anmerkungen und Bibliographie benutzte AbkürzungenPrimärquellenSekundärquellenDanksagungPersonenregister

Für Santa

Anmerkung

daten werden anhand des in Russland gebräuchlichen Julianischen Kalenders alten Stils angegeben, der dem im Westen benutzten Gregorianischen Kalender neuen Stils damals um elf Tage hinterherhinkte. In manchen Fällen werden beide Daten genannt.

geld: 1 Rubel enthielt 100 Kopeken. Vier Rubel entsprachen in den achtziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ungefähr £ 1 Sterling oder 24 französischen Livre. Damals konnte ein englischer Gentleman von £ 300 und ein russischer Offizier von 1000 Rubel jährlich leben.

namen: Ich habe die geläufigste Form der meisten Namen benutzt, was bedeutet, dass absolute Einheitlichkeit ausgeschlossen ist. Deshalb entschuldige ich mich im Voraus bei allen, die sich durch meine Entscheidungen gekränkt fühlen. Der Held dieses Buches ist »Potemkin«, obwohl die Aussprache im Russischen »Patjomkin« näher kommt. Ich habe die russischen Namensformen verwendet, es sei denn, der Name ist in seiner übersetzten Gestalt bereits gut bekannt. Zum Beispiel nenne ich den Zarewitsch Pawel Petrowitsch gewöhnlich Großfürst Paul; die Zarin ist Katharina, nicht Jekaterina. Ich benutze russische weibliche Namensformen wie Daschkowa statt Daschkow. Bei polnischen Namen wie Branicki habe ich diese Form übernommen. Entsprechend verwende ich auch die russische weibliche Endung für Namen wie Skawronskaja, doch die polnische für Branicka. Wenn jemand ein Namens-Suffix oder einen Titel erhalten hat, führe ich diese an. A.G. Orlow wird also zu Orlow-Tschesmenski, nachdem er seinen Beinamen erwarb.

PrologTod in der Steppe

»Fürst der Fürsten«

Jeremy Bentham über Fürst Potemkin

Wessen Bett – die Erde; wessen Dach – die Himmelsbläue

Wessen Säle die Wildnis ringsum?

Bist du nicht des Ruhms und des Vergnügens Sprössling

Oh, herrlicher Fürst der Krim?

Bist du nicht von den Höhen der Ehre

Jäh in leere Steppen herniedergestürzt?

Gawriil Dershawin, Der Wasserfall

Kurz vor Mittag am 5. Oktober 1791 hielt der langsame Kutschenzug, der von livrierten Dienern und einer Kosakenschwadron in den Uniformen des Schwarzmeer-Heeres begleitet wurde, mitten auf einem Feldweg an einem einsamen Hügel in der bessarabischen Steppe. Es war ein seltsamer Ort für die Unterbrechung der Reise eines bedeutenden Mannes. Kein Gasthaus war in Sicht, nicht einmal eine Bauernhütte. Die große Schlafkutsche, die von acht Pferden gezogen wurde, blieb als erste stehen. Die anderen – wahrscheinlich waren es insgesamt vier – verringerten das Tempo und hielten ebenfalls auf dem Gras, wonach die Diener und die Soldaten des Kavalleriegefolges herauszufinden versuchten, was geschehen war. Die Passagiere stießen ihre Kutschentüren auf. Als sie die Verzweiflung in der Stimme ihres Gebieters hörten, eilten sie zu seinem Wagen.

»Das ist genug!«, sagte Fürst Potemkin. »Es ist sinnlos, jetzt noch weiterzureisen.« In der Schlafkutsche drängten sich drei abgespannte Ärzte und eine schlanke Gräfin mit hohen Wangenknochen und kastanienbraunem Haar um den Fürsten. Er schwitzte und stöhnte. Die Ärzte riefen die Kosaken herbei, um ihren massigen Patienten ins Freie tragen zu lassen. »Nehmt mich aus dem Wagen und legt mich auf den Boden«, befahl Potemkin. Alle beeilten sich, ihm zu gehorchen, denn er hatte seit langem praktisch alles in Russland befehligt. Kosaken und Generäle versammelten sich um die offene Tür und holten den kranken Riesen behutsam hervor.

Die Gräfin hielt seine Hand und wischte ihm den Schweiß von der heißen Stirn, während Tränen über ihr Gesicht mit der Stupsnase und den vollen Lippen strömten. Zwei moldauische Bauern, die Vieh in der Steppe hüteten, schlenderten herbei, um zuzuschauen. Potemkins nackte Füße kamen zuerst, dann seine Beine und sein halbgeöffneter Morgenrock. Dies war an sich nicht ungewöhnlich, denn Potemkin hatte sich den Ruf erworben, Kaiserinnen und Botschafter barfüßig und in einem offenen Morgenmantel zu begrüßen. Nun jedoch lagen die Dinge anders. Er besaß immer noch die löwenhafte slawische Stattlichkeit, den dichten Haarschopf, der einst als schönster des Reiches gegolten hatte, und das sinnliche, griechische Profil, das ihm als jungem Mann den Spitznamen »Alkibiades« eingebracht hatte. Aber sein Haar war nun graumeliert und hing ihm in die fiebrige Stirn. Er war immer noch von gigantischer Statur und Breite. Alles an ihm wirkte übertrieben, enorm und einzigartig, doch ein Leben des unbekümmerten Genusses und unerbittlichen Ehrgeizes hatte seinen Körper anschwellen und sein Gesicht altern lassen. Wie ein Zyklop hatte er nur ein gesundes Auge; das andere war blind, wodurch er wie ein Pirat aussah. Seine Brust war breit und behaart. Stets eine Naturgewalt, ähnelte er nun einem prächtigen Tier, das zu einem zuckenden, bebenden Fleischberg geworden war.

Die Erscheinung in der wilden Steppe war Seine Durchlaucht Fürst des Heiligen Römischen Reiches Grigori Alexandrowitsch Potemkin, wahrscheinlich der Ehemann Katharinas der Großen, der russischen Kaiserin, und unzweifelhaft die Liebe ihres Lebens, ihr bester Freund, der Mitregent ihres Imperiums und der Gefährte ihrer Träume. Er war Fürst von Taurien, Feldmarschall, Oberbefehlshaber der russischen Armee, Großhetman der Schwarzmeer- und Jekaterinoslaw-Kosaken, Großadmiral des Schwarzen und des Kaspischen Meeres, Vorsitzender des Kriegskollegiums, Vizekönig des Südens und möglicherweise der nächste König von Polen oder irgendeines von ihm selbst geschaffenen Staates.

Der Fürst – oder Serenissimus, wie man ihn überall im Russischen Reich nannte – hatte fast zwei Jahrzehnte lang mit Katharina II. geherrscht. Sie kannten einander seit dreißig Jahren und teilten ihr Leben seit annähernd zwei Jahrzehnten. Darüber hinaus widersetzte sich der Fürst – wie auch heute noch – jeglicher Kategorisierung. Katharina nahm ihn als witzigen jungen Mann zur Kenntnis und machte ihn in einer Zeit der Krise zu ihrem Liebhaber. Als die Affäre endete, blieb er ihr Freund, Partner und Minister und wurde ihr Mitregent. Katharina fürchtete, achtete und liebte ihn, doch die Beziehung war stürmisch. Sie nannte ihn ihren »Koloss«, ihren »Tiger«, ihren »Abgott«, ihren »Helden«, den »größten Exzentriker«. Er war das »Genie«, das ihr Reich erheblich vergrößerte, die russische Schwarzmeerflotte schuf, die Krim eroberte, den Sieg im zweiten Türkischen Krieg errang und berühmte Städte wie Sewastopol und Odessa gründete. Seit Peter dem Großen hatte Russland keinen imperialen Staatsmann besessen, der so erfolgreich in seinen Träumen wie in seinen Taten war.

Serenissimus betrieb seine eigene Politik – manchmal inspiriert, manchmal überspannt – und schuf seine eigene Welt. Zwar beruhte seine Macht auf seiner Partnerschaft mit Katharina, doch er dachte und handelte wie einer der Souveräne Europas. Potemkin blendete die Regierungen und Höfe des Kontinents durch seine gigantischen Leistungen, seine Bildung und seinen erlesenen Geschmack, wenngleich er sie auch durch seine Arroganz und Ausschweifung, seine Trägheit und Prasserei empörte. Doch sogar seine Feinde, die ihn wegen seiner Macht und Widersprüchlichkeit hassten, spendeten seiner Intelligenz und Kreativität Beifall.

Nun taumelte der barfüßige Fürst, gestützt von seinen Kosaken, über das Gras. Dies war ein ferner, landschaftlich spektakulärer Ort, der nicht einmal an der Hauptstraße zwischen Jassy im heutigen Rumänien und Kischinjow in der heutigen Republik Moldawien lag, sondern in dem von Potemkin eroberten Territorium des osmanischen Sultans. Noch heute ist das Gelände schwer zu finden, doch in über zweihundert Jahren hat es sich kaum verändert. Die Stelle, an der Potemkin niedergelegt wurde, bildete ein kleines Plateau neben einem steilen Steinpfad, von wo man weit in alle Richtungen blicken konnte. Die Landschaft zur Rechten war ein grünes Tal, das sich mit zahlreichen buschbewachsenen Hügeln in die Ferne erstreckte; sein hohes Steppengras ist inzwischen fast ganz verschwunden. Zur Linken verschwanden mit Wald bewachsene Anhöhen im Nebel. Genau vor sich muss Potemkins Gefolge den Weg gesehen haben, der in die Tiefe und dann einen von dunklen Bäumen und dichtem Strauchwerk bedeckten höheren Hügel hinaufführte, um dann mit dem Tal zu verschmelzen. Potemkin, der es liebte, nachts mit seiner Kutsche durch den Regen zu fahren, hatte befohlen, an einem Ort der wildesten und schönsten natürlichen Dramatik Halt zu machen.

Sein Gefolge dürfte die Dramatik noch erhöht haben. Die Mischung aus exotischen und kultivierten Elementen, die Potemkins Gefährten an jenem Tag kennzeichnete, reflektierte seine Widersprüche: »Fürst Potemkin ist das Emblem des ungeheuren Russischen Reiches«, schrieb der Fürst von Ligne, der ihn gut kannte, »denn auch er setzt sich aus Wüsten und Goldbergwerken zusammen.« Sein Hof – denn er war fast ein König, obwohl Katharina neckend von seinem »basse-cour«, seinem Scheunenhof, sprach – kam in der Steppe zusammen.

Viele seiner Begleiter weinten bereits. Die Gräfin, die einzige Frau unter den Anwesenden, trug eines der langärmeligen, wallenden russischen Gewänder, die ihre Freundin, die Zarin, bevorzugte, doch ihre Strümpfe und Schuhe, die Serenissimus selbst in Paris bestellt hatte, waren vom Feinsten der französischen Mode. Ihren Reiseschmuck bildeten kostbare Diamanten aus Potemkins unvergleichlicher Sammlung. In dem Gefolge waren auch Generäle und Grafen in Uniform und Frack mit Schärpen und Orden und Dreispitzen, die zu den Royal Horse Guards in London und zu jedem Hof des achtzehnten Jahrhunderts gepasst hätten. Außerdem waren Kosaken-Atamane, orientalische Kleinfürsten, moldauische Bojaren, abtrünnige osmanische Paschas, Bedienstete, Schreiber und einfache Soldaten vertreten – dazu die Bischöfe, Rabbis, Fakire und Mullahs, deren Gesellschaft Potemkin besonders genoss. Nichts war entspannender für ihn als eine Diskussion über byzantinische Theologie, über die Bräuche östlicher Stämme wie der Baschkiren oder über palladische Architektur, niederländische Malerei, italienische Musik, englische Gärten …

Die Bischöfe trugen die Roben der Orthodoxie, die Rabbis die Schläfenlocken des Judaismus, die osmanischen Renegaten die Turbane, Pluderhosen und Pantoffeln der Hohen Pforte. Die Moldawier, rechtgläubige Untertanen des osmanischen Sultans, stellten mit Edelsteinen geschmückte Kaftane und hohe Mützen zur Schau, die mit Fell gesäumt und von Rubinen bedeckt waren; die einfachen russischen Soldaten trugen die »Potemkin«-Mützen und -Mäntel, die weichen Stiefel und Hirschlederhosen, die der Fürst selbst für ihren Komfort entworfen hatte. Die Kosaken schließlich, überwiegend Saporoger von jenseits des Dnepr, hatten grimmige Schnurrbärte und geschorene Häupter, abgesehen von einem Haarbüschel, das auf dem Rücken in einen langen Pferdeschwanz überging, wodurch sie wie Gestalten aus dem (erst später veröffentlichten) Letzten Mohikaner aussahen. Sie trugen gebogene Kurzdolche, gravierte Pistolen und ihre speziellen langen Lanzen. Potemkin verehrte die Kosaken, und sie sahen traurig zu.

Die Frau war Potemkins kluge und hochmütige Nichte, die siebenunddreißigjährige Gräfin Alexandra Branicka, ebenfalls eine beeindruckende politische Gestalt. Potemkins Affären mit der Zarin und einer schamlosen Reihe von Aristokratinnen und Kurtisanen hatte sogar französische Höflinge schockiert, die sich an das Versailles von Ludwig XV. erinnert fühlten. Hatte er wirklich alle fünf seiner legendär schönen Nichten zu seinen Mätressen gemacht? Liebte er Gräfin Branicka mehr als alle anderen?

Die Gräfin ließ einen üppigen Perserteppich im Gras ausbreiten, auf den man Potemkin vorsichtig bettete. »Ich möchte auf dem Feld sterben«, sagte er. Er hatte die vergangenen fünfzehn Jahre damit verbracht, so schnell wie kein anderer Mann des achtzehnten Jahrhunderts durch die Weite Russlands zu reisen. »Eine Funkenspur markiert seine rasche Fahrt«, schrieb der Dichter Gawriil Dershawin in seiner Ode auf Potemkin, Der Wasserfall. Passend für einen Mann der ständigen Bewegung, ergänzte Serenissimus, der kaum je längere Zeit in einem seiner zahllosen Paläste wohnte, er wolle nicht in einer Kutsche sterben, sondern in der Steppe.

An jenem Morgen forderte Potemkin seine geliebten Kosaken auf, ihm aus Lanzen, Decken und Pelzen ein behelfsmäßiges Zelt zu bauen. Es war eine für Potemkin charakteristische Idee, als könne die Reinheit eines kleinen Kosakenlagers seine Qualen lindern.

Die besorgten Ärzte, ein Franzose und zwei Russen, umringten den liegenden Fürsten und die aufmerksame Gräfin, doch sie konnten wenig tun. Katharina und Potemkin dachten, dass Ärzte am Kartentisch nützlicher seien als am Krankenbett. Die Kaiserin scherzte manchmal, dass ihr schottischer Arzt dem Leben seiner meisten Patienten durch sein Allheilmittel ein Ende setze: durch eine schwächende Serie von Brechmitteln und Aderlässen. Die Ärzte fürchteten, dass man ihnen die Schuld am Tod des Fürsten geben werde, denn am russischen Hof wurde häufig über Vergiftungen geflüstert. Dabei war der exzentrische Potemkin ein äußerst schwieriger Patient gewesen. Er öffnete sämtliche Fenster, ließ sich Kölnischwasser auf den Kopf gießen, verzehrte ganze gesalzene Gänse aus Hamburg mit Unmengen Wein – und hatte nun diese mühselige Reise durch die Steppe angetreten.

Der Fürst trug einen seidenen, mit Pelz gefütterten Morgenrock, den ihm die Kaiserin Tage zuvor aus dem fast 2000 Werst entfernten St. Petersburg geschickt hatte. Die Innentasche war vollgestopft mit geheimen Briefen Katharinas, in denen sie ihren Partner um Rat bat, ihrem Freund Klatsch mitteilte und die Politik ihres Reiches festlegte. Sie vernichtete die meisten seiner Briefe, doch wir sind dankbar dafür, dass er viele der ihren romantisch in der Tasche an seinem Herzen verwahrte.

Diese sich über zwanzig Jahre erstreckende Korrespondenz lässt eine gleichberechtigte und erstaunlich erfolgreiche Partnerschaft zwischen zwei Politikern und sich Liebenden erkennen, die verblüffend in ihrer Modernität, rührend in ihrer alltäglichen Vertrautheit und beeindruckend in ihrer Staatskunst war. Ihr Liebesverhältnis und ihr politisches Bündnis hatten in der Geschichte weder bei Antonius und Kleopatra noch bei Ludwig XVI. und Marie Antoinette, noch bei Napoleon und Josephine ihresgleichen, denn ihre Beziehung war bemerkenswert nicht nur wegen ihrer Romantik, sondern auch wegen ihrer Leistungen, ihrer Menschlichkeit und ihrer Kraft. Wie alles, was mit Potemkin zu tun hatte, war auch sein Leben mit Katharina von Rätseln überlagert: Hatten sie heimlich geheiratet? Zeugten sie gemeinsam ein Kind? Teilten sie wirklich die Macht? Stimmt es, dass sie Gefährten blieben und sich gleichzeitig mit einer Reihe anderer Liebhaber und Geliebten vergnügten? Spielte Potemkin den Zuhälter für die Zarin, indem er ihr junge Günstlinge besorgte, und half sie ihm, seine Nichten zu verführen und den Zarenpalast zu seinem Familienharem zu machen?

Während seine Krankheit verschiedene Stadien durchlief, folgten ihm Katharinas fürsorgliche, ehefrauliche Briefe auf seinen Reisen. Sie schickte ihm Morgenröcke und Pelzmäntel, schalt ihn, weil er zu viel aß oder seine Medikamente nicht einnahm, flehte ihn an, sich auszuruhen, und betete zu Gott, ihr den Geliebten nicht wegzunehmen. Potemkin weinte bei der Lektüre.

In diesem Moment galoppierten die Kuriere der Zarin in zwei Richtungen durch Russland und wechselten ihre erschöpften Pferde an kaiserlichen Poststationen. Sie kamen aus St. Petersburg, um dem Fürsten Katharinas jüngsten Brief zu überbringen, und beförderten sein neuestes Schreiben aus der Moldau in die Hauptstadt. Das war seit langem der Fall, denn beide dürsteten stets nach den allerletzten Nachrichten übereinander. Aber mittlerweile waren die Briefe trauriger geworden.

»Mein lieber Freund, Fürst Grigori Alexandrowitsch«, schrieb sie am 3.Oktober, »ich habe Eure Briefe vom 25. und 27. heute vor ein paar Stunden erhalten, und … ich bete zu Gott, dass Er Euch bald Eure Gesundheit zurückgibt.« Gewöhnlich dauerte es zehn Tage, bis ein Brief die Hauptstadt aus dem Süden erreichte, obwohl es bei höchstem Tempo auch innerhalb einer Woche möglich war. Und zehn Tage vorher schien Potemkin sich erholt zu haben, was Katharinas Ruhe erklärt. Doch noch am 30. September, bevor seine Gesundheit sich zu verbessern schien, waren ihre Briefe geradezu hysterisch. »Meine Sorge über Eure Krankheit kennt keine Grenzen«, hatte sie geschrieben. »Nehmt um Himmels willen alles ein, was nach Meinung der Ärzte Euren Zustand lindern könnte. Ich flehe Gott an, Euch Eure Energie und Gesundheit so rasch wie möglich wiederzugeben. Auf Wiedersehen, mein Freund … Ich schicke Euch einen Pelzmantel …« Dies war nichts als leerer Schall, denn während der Mantel früher abgesandt worden war, gelangten die beiden Briefe nicht mehr rechtzeitig zu ihm.

Irgendwo auf den 2000 Werst, die die Kaiserin und den Fürsten trennten, müssen sich die beiden Kuriere getroffen haben. Katharina wäre nicht so optimistisch gewesen, hätte sie Potemkins am 4. Oktober bei seinem Aufbruch geschriebenen Brief gelesen. »Matuschka [Mütterchen], Barmherzigste Dame«, diktierte er seinem Sekretär, »ich habe keine Energie mehr, um meine Qualen zu ertragen. Es ist der einzige Ausweg, diese Stadt zu verlassen, und ich habe befohlen, mich nach Nikolajew zu bringen. Ich weiß nicht, was aus mir werden wird. Euer getreuester und dankbarster Untertan.« Dies war von Potemkins Sekretär geschrieben worden, doch herzergreifend hatte er selbst unten auf der Seite mit schwachen, eckigen und unsteten Buchstaben gekritzelt: »Der einzige Ausweg ist, diese Stadt zu verlassen.« Eine Unterschrift fehlte.

Die letzten Briefe Katharinas hatten ihn am Vortag durch seinen schnellsten Kurier, Brigadegeneral Bauer, erreicht. Diesen ergebenen Adjutanten schickte Potemkin häufig nach Paris, um Seidenstrümpfe zu besorgen, nach Astrachan, von wo er Sterletsuppe anlieferte, nach Petersburg, um Austern zu holen, nach Moskau, woher er mit einer Tänzerin oder einem Schachspieler zurückkam, oder nach Mailand, von wo er Notenblätter, einen Geigenvirtuosen oder eine Parfümladung mitbrachte. Bauer war, Potemkins Launen folgend, so weit gereist, dass er sich im Scherz folgende Grabinschrift erbat: »Cy git Bauer sous ce rocher, Fouette, cocher!«[1]

Während sich die Höflinge und Würdenträger in der Steppe um ihn versammelten, dürften sie über die Konsequenzen dieser Szene für Europa, ihre Kaiserin, für den unvollendeten Krieg mit den Türken, für mögliche Aktionen gegen das revolutionäre Frankreich und das aufsässige Polen nachgedacht haben. Potemkins Heere und Flotten hatten große Teile des osmanischen Territoriums um das Schwarze Meer und im heutigen Rumänien erobert, und der Großwesir des Sultans hoffte nun, einen Frieden mit ihm auszuhandeln. An den Höfen Europas achtete man sorgsam auf Potemkins Krankheit. Das galt ebenso für den von Portwein durchtränkten jungen Premierminister William Pitt in London, der Potemkins Krieg nicht hatte Einhalt gebieten können, wie für den hypochondrischen alten Kanzler Fürst Wenzel von Kaunitz in Wien.

Durch seine Pläne konnten die Grenzen des Kontinents neu gezogen werden. Er jonglierte mit Kronen wie ein Clown in einem Zirkus. Würde dieser unberechenbare Visionär sich selbst zum König machen? Oder war er mächtiger als Gemahl der Zarin des Russischen Reiches? Und wenn er sich krönen ließ, dann etwa als König von Dakien (im heutigen Rumänien) oder als König von Polen, wo er durch seine ausgedehnten Ländereien bereits die Rolle eines Feudaladligen spielte? Würde er Polen retten oder es teilen? Noch als er in der Steppe lag, kamen polnische Potentaten heimlich zusammen, um auf seine mysteriösen Befehle zu warten.

Diese Fragen würden durch den Ausgang seiner verzweifelten Reise aus der von Fieber heimgesuchten Stadt Jassy zu dem neuen Städtchen Nikolajew, vom Schwarzen Meer landeinwärts, beantwortet werden. Der Kranke wollte sich nach Nikolajew bringen lassen, denn dies war seine letzte Stadt. Er hatte viele gegründet, genau wie der Held, dem er nacheiferte: Peter der Große. Potemkin plante jede Stadt und behandelte sie liebevoll wie eine hochgeschätzte Mätresse oder ein kostbares Kunstwerk. Nikolajew (heute in der Ukraine) war ein Flotten- und Militärstützpunkt an den Ufern des Bug. Dort hatte er sich dicht am Fluss einen Palast in moldauisch-türkischem Stil gebaut, und die beständige Brise sollte sein Fieber lindern. Es war eine lange Reise für einen Sterbenden.

 

Der Konvoi hatte sich am Vortag in Bewegung gesetzt. Man verbrachte die Nacht en route in einem Dorf und fuhr um acht Uhr morgens weiter. Nach fünf Werst fühlte Potemkin sich so schlecht, dass er in die Schlafkutsche getragen wurde. Es gelang ihm immer noch, sich aufzurichten, doch nach fünf weiteren Werst hatte er hier den Befehl zum Halten gegeben.

Die Gräfin wiegte seinen Kopf. Sie wenigstens war bei ihm, denn die beiden besten Freunde seines Lebens waren Frauen: die eine seine Lieblingsnichte und die andere natürlich seine Kaiserin, die Tausende von Kilometern entfernt ungeduldig auf Neuigkeiten wartete. In der Steppe wurde der schwitzende und stöhnende Potemkin von Krämpfen gemartert. »Ich verbrenne«, sagte er. »Ich stehe in Flammen!« Gräfin Branicka, der Katharina und Potemkin den Kosenamen »Saschenka« gegeben hatten, mahnte ihn, ruhig zu bleiben, doch »er antwortete, dass das Licht in seinen Augen dunkel geworden sei; er könne nichts mehr sehen und nur noch Stimmen hören«. Blindheit ist ein bei Sterbenden häufiges Symptom des sinkenden Blutdrucks. Sein kräftiger Organismus versagte nach Jahren zwanghafter Überarbeitung, hektischer Reisen, nervöser Anspannung und zügelloser Genusssucht unter dem Einfluss von Malariafieber, wahrscheinlich auch von Leberinsuffizienz und Lungenentzündung. Der Fürst fragte die Ärzte: »Womit könnt ihr mich nun heilen?« Doktor Sanowski erwiderte, er sei nur noch fähig, seine Hoffnung in Gott zu legen. Mit diesen Worten reichte er Potemkin, der sowohl der mutwilligen Skepsis der französischen Aufklärung als auch der abergläubischen Frömmigkeit der russischen Bauernschaft anhing, eine Reise-Ikone. Der Fürst war noch in der Lage, sie entgegenzunehmen und zu küssen.

Ein alter Kosak merkte, dass sein Herr dem Tode nahe war, und fasste dies respektvoll und mit jener Sensibilität, wie man sie bei naturverbundenen Menschen findet, in Worte. Potemkin ließ die Ikone los, und Branicka hielt seine Hände. Dann umarmte sie ihn. Im allerletzten Moment dachte er an seine geliebte Katharina und flüsterte: »Vergebt mir, huldvolle Mutter-Gebieterin.« Dann starb Potemkin. Er war 52 Jahre alt.

Der Kreis um ihn herum erstarrte in jenem schockierten Schweigen, das stets den Tod von großen Menschen begleitet. Gräfin Saschenka legte seinen Kopf sanft auf ein Kissen, schlug dann die Hände vors Gesicht und sank in eine tiefe Ohnmacht. Einige weinten laut, andere knieten sich hin, um zu beten, und hoben die Hände zum Himmel, noch andere fielen sich in die Arme und trösteten einander, die Ärzte starrten den Patienten an, den sie nicht hatten retten können, manche betrachteten sein Gesicht mit dem einen offenen Auge. Zur Linken und zur Rechten saßen Gruppen moldauischer Bojaren und beobachteten die Szene, während ein Kosak versuchte, ein sich aufbäumendes Pferd zu beruhigen, das vielleicht spürte, wie »die Erdkugel durch dies unzeitige, plötzliche Dahinscheiden erschüttert wurde«. Die Soldaten und Kosaken, Veteranen von Potemkins Kriegen, schluchzten ausnahmslos. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, das Zelt ihres Herrn zu Ende zu bauen.

So starb einer der berühmtesten Staatsmänner Europas. Seine Zeitgenossen schätzten ihn hoch, auch wenn sie sich seiner Widersprüche und Exzentrizität bewusst waren. Sämtliche Besucher Russlands hatten diese Naturgewalt kennenlernen wollen. Er stand immer – durch die reine Kraft seiner Persönlichkeit – im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: »In seiner Abwesenheit war er allein das Thema der Unterhaltung; in seiner Anwesenheit zog er alle Blicke auf sich.« Niemand, der ihm begegnete, war enttäuscht. Jeremy Bentham, der englische Philosoph, der seine Güter besuchte, bezeichnete ihn als »Fürst der Fürsten«.

Der Fürst von Ligne, der alle Titanen seiner Zeit, von Friedrich dem Großen bis hin zu Napoleon, kannte, beschrieb Potemkin vielleicht am besten als »den ungewöhnlichsten Mann, dem ich je begegnete … stumpf inmitten des Vergnügens; unzufrieden damit, dass er zu viel Glück hatte; aller Dinge überdrüssig, sehr schnell angewidert, finster, wankelmütig, ein profunder Philosoph, ein fähiger Minister, ein erhabener Politiker oder wie ein Kind von zehn Jahren … Was ist das Geheimnis seines Zaubers? Genie, Genie und noch mal Genie; natürliche Fähigkeiten, ein vorzügliches Gedächtnis, eine große Erhöhung der Seele; Bosheit ohne die Absicht, weh zu tun, Kunstfertigkeit ohne Verstellung … das Vermögen, in seinen guten Momenten jedes Herz zu erobern … ein erlesener Geschmack – und ein umfassendes Wissen über die Menschheit.« Der Comte de Ségur, der Napoleon und George Washington kannte, erklärte: »Derjenige, der mich am stärksten beeindruckte und den ich unbedingt gut kennen wollte, war der berühmte Fürst Potemkin. Seine Persönlichkeit war höchst originell infolge einer unvorstellbaren Mischung aus Würde und Kleinlichkeit, Trägheit und Geschäftigkeit, Ehrgeiz und Unbekümmertheit. Ein solcher Mann wäre überall durch seine Einzigartigkeit aufgefallen.« Lewis Littlepage, ein amerikanischer Besucher, schrieb, der »erstaunliche« Serenissimus sei in Russland mächtiger, als Kardinal Wolsey, Grafherzog Olivares oder Kardinal Richelieu es in ihren eigenen Königreichen gewesen seien.

Alexander Puschkin, der acht Jahre nach diesem Tod in der bessarabischen Steppe geboren wurde, war von Potemkin fasziniert, befragte dessen alternde Nichten nach ihm und zeichnete ihre Geschichten auf. Oft sagte er, der Fürst sei »von der Hand der Geschichte angerührt« gewesen. Der Politiker und der Dichter ergänzten einander, was ihre Extravaganz und ihr durch und durch russisches Wesen anging. Zwanzig Jahre später äußerte sich auch Lord Byron immer noch über den Mann, den er »der Nacht verzognes Kind« nannte.

Die russische Tradition gebot, dass man die Augen des Toten schloss und Münzen auf sie legte, und zwar Goldmünzen, wenn es sich um eine bedeutende Person handelte. Potemkin war »reicher als manche Könige«, doch wie viele Vermögende trug er nie Geld bei sich. Auch die Magnaten in seinem Gefolge reisten ohne Geld. Es muss ein paar peinliche Momente gegeben haben, in denen man in Taschen kramte, Jacketts betastete und Diener herbeirief: Nichts. Also wandte sich jemand an die Soldaten.

Der grauhaarige Kosak, der Potemkins Todeskampf beobachtet hatte, holte ein Fünfkopekenstück hervor. Dies bedeutete, dass das Auge des Fürsten mit einer bescheidenen Kupfermünze geschlossen wurde. Die Inkongruenz des Todes wurde fast sofort zur Legende. Vielleicht war es derselbe alte Kosak, der nun zurücktrat und murmelte: »Er lebte auf Gold und starb auf Gras.«

Dieses Bonmot ging in die Mythologie von Fürstinnen und gemeinen Soldaten ein. Ein paar Jahre später befragte die Malerin Elisabeth Vigée Lebron eine knorrige Fürstin in St. Petersburg nach Potemkins Tod. »Leider, mein Liebling, starb dieser große Mann, dem so viele Diamanten und so viel Gold gehörten, auf dem Gras!«, erwiderte die Matrone, als hätte er den schlechten Geschmack gehabt, auf einem ihrer Rasen dahinzuscheiden. Während der Napoleonischen Kriege sang die russische Armee beim Marschieren Lieder über Potemkins Tod »in der Steppe, auf einem Regenmantel liegend«. Der Dichter Dershawin sah die Romantik im Tod dieses schrankenlosen Mannes darin, dass er in der Wildnis der Natur verging »wie Nebel auf einer Wegkreuzung«. Zwei Beobachter an unterschiedlichen Enden des Reiches – Graf Fjodor Rostoptschin (berühmt dafür, dass er Moskau 1812 nach dem Einmarsch der Franzosen niederbrannte) im nahe gelegenen Jassy und der schwedische Gesandte Graf Curt Stedingk im fernen Petersburg reagierten mit genau den gleichen Worten: »Sein Tod war so außergewöhnlich wie sein Leben.«

 

Die Kaiserin musste sofort unterrichtet werden. Saschenka Branicka hätte dies übernehmen können – schließlich führte sie bereits den Auftrag aus, Katharina Bericht über die Gesundheit des Fürsten zu erstatten –, aber sie war zu aufgelöst. Deshalb wurde ein Adjutant vorausgeschickt, der Potemkins treuen und unerschöpflichen Sekretär Wassili Popow informierte.

Es kam noch zu einem letzten, fast rituellen Moment. Während der Konvoi, von Melancholie umhüllt, nach Jassy zurückzukehren begann, wünschte offenbar jemand, die Todesstätte des Fürsten zu markieren, damit dort später ein Denkmal zu seinem Ruhm errichtet werden konnte. Es gab keine Steine, und Äste oder Zweige wären fortgeblasen worden. Daraufhin nahm der Ataman (Kosakengeneral) Pawel Golowaty, der Potemkin seit dreißig Jahren kannte, die Saporoger Lanze eines seiner Reiter an sich. Bevor er zur Nachhut des Zuges aufschloss, ritt er zu dem kleinen Plateau und bohrte die Lanze an der richtigen Stelle in den Boden. Eine Kosakenlanze zur Markierung von Potemkins Todesstätte war so charakteristisch wie der Pfeil, den Robin Hood benutzt haben soll, um sein Grab auszuwählen.

Nachdem Popow die Nachricht erhalten hatte, schrieb er sogleich an die Zarin: »Uns ist ein Schlag versetzt worden! Gnädigste Majestät, Seine Durchlaucht Fürst Grigori Alexandrowitsch weilt nicht mehr unter den Lebenden.« Popow übergab den Brief einem zuverlässigen jungen Offizier, der nicht ruhen sollte, bevor die schreckliche Botschaft überbracht war.

Sieben Tage später, am 12. Oktober um 18 Uhr, händigte der Kurier, in respektvolles Schwarz – und in Straßenstaub – gekleidet, Popows Schreiben im Winterpalais aus. Die Zarin verlor das Bewusstsein, und ihre Höflinge glaubten, sie habe einen Schlaganfall erlitten. Man rief ihre Ärzte, die sie zur Ader lassen sollten. »Tränen und Verzweiflung« waren die Worte, mit denen Alexander Chrapowizki, Katharinas Privatsekretär, ihren Schock beschrieb. »Um 20 Uhr ließ man sie zur Ader, um 22 Uhr ging sie ins Bett.« Die Zarin war einem Kollaps so nahe, dass nicht einmal ihre Enkel zu ihr gelassen wurden. »Sie trauerte nicht um den Liebhaber«, schrieb ein am Hof wirkender Schweizer Lehrer, der die Beziehung durchschaute, »sondern um den Freund.« Da sie nicht schlafen konnte, stand sie um zwei Uhr auf, um an ihren loyalen und wählerischen Vertrauten, den philosophe Friedrich Melchior von Grimm, zu schreiben: »Ein entsetzlicher Todesschlag hat mich getroffen. Um 18 Uhr überbrachte ein Bote die tragische Nachricht, dass mein Schüler, mein Freund, fast mein Abgott, Fürst Potemkin von Taurien, nach ungefähr einmonatiger Krankheit in der Moldau gestorben ist. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie gebrochen ich bin …«

In vieler Hinsicht erholte sich die Kaiserin nie wieder. Das Goldene Zeitalter ihrer Herrschaft starb mit Potemkin, und gleichzeitig ging seine Reputation unter. Katharina, die in jener tragischen schlaflosen Nacht bei Kerzenlicht in ihren Gemächern im Winterpalais zur Feder griff, teilte Grimm mit, dass Potemkins Leistungen die eifersüchtigen »Schwätzer« stets verwirrt hätten. Aber wenn seine Feinde ihn zu Lebzeiten nicht besiegen konnten, so gelang es ihnen nach seinem Tod. Er war kaum kalt, als sich bereits eine üble Legende, die seine Erfolge für zweihundert Jahre überschatten sollte, um diesen seltsamen Mann rankte.

Katharina wäre erstaunt und bestürzt, wenn sie wüsste, dass ihr »Abgott« und »Staatsmann« heutzutage vor allem wegen einer üblen Nachrede und eines Films bekannt ist. Man erinnert sich an die historische Verleumdung der »Potemkin’schen Dörfer«, obwohl er in Wirklichkeit Städte baute, und an den Film Panzerkreuzer Potemkin. Diese Geschichte der in Odessa meuternden Matrosen kündigte die Revolutionen an, die lange nach Potemkins Tod das von ihm geliebte Russland zerstören sollten. Die Potemkin-Legende wurde von den Feinden Russlands, von eifersüchtigen Höflingen und Katharinas labilem Nachfolger Paul I. geschaffen, der sich rächen wollte, indem er nicht nur den Ruf des Liebhabers seiner Mutter, sondern auch das Gedenken an ihn schädigte. Im neunzehnten Jahrhundert sonnten sich die Romanows, die mit ihrer eigenen viktorianischen Prüderie eine starre militaristische Bürokratie aufgebaut hatten, im Glanz Katharinas, wurden jedoch durch ihr Privatleben, besonders durch die Rolle des »Halbzaren« Potemkin, in Verlegenheit gesetzt. Ihre sowjetischen Nachfolger teilten diese Skrupel und blähten die Lügen noch weiter auf. Sogar die angesehensten westlichen Historiker behandeln Potemkin immer noch als verkommenen Clown und Sexualathleten statt als bedeutenden Staatsmann.[2] All diese Faktoren kommen zusammen und sorgen dafür, dass man dem Fürsten seinen rechtmäßigen Platz in der Geschichte vorenthält. Doch Katharina die Große, die nichts von den künftigen Verleumdungen ahnte, trauerte für den Rest ihres Lebens um ihren Freund, Liebhaber, Soldaten, Staatsmann und mutmaßlichen Gatten.

Am 12. Januar 1792 kehrte Wassili Popow, der Sekretär des Fürsten, mit einem Sonderauftrag nach St. Petersburg zurück. Er hatte Potemkins größte Schätze bei sich: Katharinas geheime Liebes- und Staatsbriefe. Sie blieben in Bündeln verschnürt. Einige waren – und sind es noch – von den Tränen des sterbenden Potemkin befleckt, der sie immer wieder las – mit dem Wissen, dass er Katharina nie mehr zu Gesicht bekommen würde.

Die Zarin empfing Popow, und er überreichte ihr die Briefe. Sie schickte alle anderen außer dem Sekretär hinaus und verschloss die Tür. Dann weinten die beiden gemeinsam. Fast dreißig Jahre waren vergangen, seit sie Potemkin an dem Tag zum ersten Mal begegnet war, als sie die Macht ergriff und Herrscherin Russlands wurde.

Teil EinsPotemkin und Katharina

1739–1762

1Der Junge aus der Provinz

Ich würde lieber hören, dass du gefallen bist, als dass du

Schande über dich gebracht hast.

(Worte eines Smolensker Adligen

an seinen Sohn bei dessen Eintritt in die Armee)

L. N. Engelhardt, Memoiren

»Wenn ich erwachsen bin«, soll der junge Potemkin geprahlt haben, »werde ich entweder Staatsmann oder Erzbischof.« Seine Schulfreunde machten sich wahrscheinlich über seine Träume lustig, denn er war in die Reihen des achtbaren Provinzadels ohne große Namen oder Vermögen hineingeboren worden. Sein Pate, der ihn besser verstand, murmelte häufig, dass der Junge entweder »zu großen Ehren aufsteigen oder den Kopf verlieren« werde. Die einzige Möglichkeit, im damaligen Russland rasch eine herausragende Stellung zu erreichen, bestand in der Begünstigung durch den Monarchen, und tatsächlich gelang es ihm bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, mit zwei herrschenden Kaiserinnen zusammenzutreffen.

Grigori Alexandrowitsch Potemkin wurde am 30. September 1739[3] in dem Dörfchen Tschishowo, nicht weit von der alten Festungsstadt Smolensk, geboren. Den Potemkins gehörte das bescheidene Gut mit 430 männlichen Leibeigenen. Die Familie war keineswegs reich, aber auch nicht arm. Allerdings machte sie ihren mittelmäßigen Status durch ein Verhalten wett, das sogar nach den Bräuchen, die in den wilden Grenzgebieten des Russischen Reiches herrschten, ungewöhnlich war. Diese vielköpfige Sippe polnischer Herkunft hatte sich, wie alle Adelsfamilien, eine zweifelhafte Genealogie ausgedacht. Je unbedeutender der Adel, desto grandioser war in der Regel die vorgebliche Herkunft. So behaupteten die Potemkins, von Telesin, dem Fürsten eines italienischen Stammes, der um 100 v.Chr. Rom bedrohte, und von Istok, einem dalmatinischen Fürsten des elften Jahrhunderts n. Chr., abzustammen. Nach Jahrhunderten unerklärter Vergessenheit seien diese königlichen Italodalmatiner plötzlich bei Smolensk mit dem alles andere als lateinischen Namen »Potemkin« oder dem polonisierten »Potempski« aufgetaucht.

Die Familie verstand sich darauf, zwischen den Zaren des Moskauer Staates und den Königen von Polen zu lavieren, denn sie erhielt von beiden Grundstücke in der Gegend von Smolensk. Der Familienpatriarch war Hans Tarassy (angeblich eine Version von Telesin) Potemkin. Er hatte zwei Söhne, Iwan und Illarion, von denen die beiden Zweige der Familie ausgingen. Grigori gehörte zu der Linie des jüngeren Illarion. Beide Seiten konnten Offiziere und Höflinge der mittleren Ränge vorweisen. Seit der Zeit von Potemkins Urgroßvater diente die Familie ausschließlich Moskau, das die traditionellen Kiewer Gebiete allmählich vom Staatenbund Polen-Litauen zurückeroberte.

Die Potemkins wurden Säulen des miteinander verschwägerten Adels von Smolensk, der eine eigene polnische Identität besaß. Während der russische Adel als dworjanstwo bezeichnet wurde, nannten die Smolensker Aristokraten sich immer noch szlachta wie ihre Angehörigen in Polen. Heutzutage scheint Smolensk tief in Russland eingebettet zu sein, doch zur Zeit von Potemkins Geburt war es noch ein Teil des Grenzlandes. Das Russische Reich erstreckte sich 1739 von Smolensk ostwärts über Sibirien bis hin zur chinesischen Grenze und von der Ostsee im Norden zu den Ausläufern des Kaukasus im Süden, aber es war erst 1654 von Zar Alexej, dem Vater Peters des Großen, erobert worden, und der Ortsadel blieb kulturell mit Polen verbunden. Deshalb bestätigte Zar Alexej die Adelsprivilegien, gestattete dem Smolensker Regiment, seine Offiziere selbst zu wählen (die ihre polnischen Verbindungen allerdings aufgeben mussten), und verfügte, dass die nächste Generation nicht polnische, sondern russische Frauen zu heiraten habe. Potemkins Vater könnte daheim die bauschige Hose und die lange Jacke der Einheimischen getragen und Polnisch gesprochen haben, doch außer Haus gab er der eher teutonischen Uniform des russischen Armeeoffiziers den Vorzug. Potemkin wurde also in einer halb polnischen Umgebung erzogen und ererbte viel engere Beziehungen zu Polen als die meisten russischen Adligen. Dies gewann später an Bedeutung, denn er erwarb die polnische Staatsbürgerschaft, spielte mit dem Gedanken, den dortigen Thron zu besteigen, und hielt sich anscheinend manchmal für einen Polen.

Potemkins einziger berühmter Ahne (wenn auch ein Nachfahre von Iwans Seite) war Pjotr Iwanowitsch Potemkin, ein begabter Militärbefehlshaber und späterer Gesandter von Zar Alexej und dessen Nachfolger Fjodor, dem Vater und Bruder Peters des Großen. Dieser frühere Potemkin könnte am besten als transeuropäische Ein-Mann-Katastrophe der Diplomatie bezeichnet werden.

1667 reiste der hochgestellte Höfling (im Rang eines okolnitschi) als erster Gesandter Russlands nach Spanien und Frankreich und später, im Jahre 1680, als Sonderbeauftragter in viele europäische Hauptstädte. Er scheute keine Mühe, dafür zu sorgen, dass das Prestige seines Gebieters in einer Welt geschützt wurde, in der man den Moskauer Herrscher noch als Barbaren betrachtete. Die Russen waren ihrerseits fremdenfeindlich und verachteten die nicht rechtgläubigen Westler, weil sie nicht besser als Türken seien. In einer Zeit, da alle Monarchen äußerst sensibel mit Titeln und Etikette umgingen, meinten die Russen, doppelt darauf achten zu müssen.

In Madrid forderte der bärtige, mit einer schweren Robe angetane Gesandte, dass der spanische König bei jeder Erwähnung des Zarennamens das Haupt entblößte. Als der König einmal seine Kopfbedeckung aufbehielt, verlangte Pjotr Potemkin eine Erklärung. Es kam zu Streitigkeiten, da die Spanier die Titel des Zaren in Frage stellten und sie sogar in der falschen Reihenfolge aufführten. Auf der Rückfahrt nach Paris wurde er wieder wegen der Titel in Auseinandersetzungen verwickelt, hätte fast eine Schlägerei mit einem Zollbeamten vom Zaun gebrochen, weigerte sich, Zoll für seine mit Juwelen besetzten Ikonen und seine mit Diamanten übersäten Moskauer Gewänder zu zahlen, behauptete, übervorteilt zu werden, und nannte seine Widersacher »dreckige Heiden« und »verfluchte Hunde«. Doch Ludwig XIV. lag daran, die neue europäische Macht zu beschwichtigen, weshalb er sich persönlich für die Missverständnisse entschuldigte.

Die zweite Pariser Mission des Gesandten war ebenfalls von seiner schlechten Laune geprägt, doch dann stieß er nach London in See, wo er von Karl II. empfangen wurde. Dies war offenbar die einzige Audienz in seiner Diplomatenkarriere, die nicht mit einer Farce endete. Als er Kopenhagen besuchte und den dänischen König krank im Bett vorfand, ließ Pjotr Potemkin eine Couch herbeibringen, damit er sich neben dem König hinlegen und gleichberechtigt mit ihm verhandeln konnte. Während seiner Abwesenheit aus Russland starb Zar Fjodor, und Potemkin wurde wegen seiner Übereifrigkeit heftig von der Regentin Sofia gemaßregelt.[4] Die Griesgrämigkeit schien übrigens beide Familienzweige zu kennzeichnen.

Grigori Potemkins Vater Alexander Wassiljewitsch war einer jener einfältigen Militärexzentriker, durch die das Leben in den Provinzgarnisonen des achtzehnten Jahrhunderts sowohl ermüdend als auch pittoresk geworden sein muss. Dieser frühe russische Erzkonservative war nahezu wahnsinnig, ständig empört und von unbekümmerter Impulsivität. Der junge Alexander diente während des gesamten Großen Nordischen Krieges im Heer Peters des Großen und kämpfte 1709 in der Entscheidungsschlacht von Poltawa, in der Peter den schwedischen Angreifer Karl XII. besiegte, wodurch er seine neue Stadt St. Petersburg sicherte und den Zugang Russlands zur Ostsee gewährleistete. Danach nahm Alexander an der Belagerung von Riga teil, half, vier schwedische Fregatten zu kapern, wurde ausgezeichnet und später an der linken Körperseite verwundet.

Nach dem Krieg musste der Veteran als Militärbürokrat dienen, das heißt, er führte lästige Volkszählungen in den fernen Provinzen Kasan und Astrachan durch und befehligte kleine Garnisonen. Nicht viele Details seines Charakters und seiner Karriere sind uns bekannt, aber wir wissen, dass er wegen der ihn quälenden Wunden den Antrag stellte, in den Ruhestand treten zu dürfen. Er wurde vor einen Ausschuss des Kriegskollegiums gerufen, und man wies ihn dem Brauch entsprechend an, seine Uniform auszuziehen und seine Narben vorzuzeigen. Da entdeckte er, dass eines der Ausschussmitglieder als Unteroffizier in einer seiner Einheiten gedient hatte. Sogleich knöpfte er seine Kleidung wieder zu und zeigte auf den Mann: »Was? ER soll MICH untersuchen? Das kann ich NICHT dulden. Dann bleibe ich lieber im Dienst, wie schlimm meine Verletzungen auch sein mögen!« Damit stürmte er hinaus und leistete zwei weitere langweilige Jahre ab. Schließlich trat er 1739, im Jahr der Geburt seines Sohnes, als kränklicher Oberstleutnant in den Ruhestand.

Der alte Alexander Potemkin hatte bereits einen Ruf als Haustyrann. Seine erste Frau lebte noch, als er Daria Skuratowa – wahrscheinlich auf dem Gut der Familie ihres Mannes bei Tschishowo – entdeckte. Als Daria Wassiljewna Kondyrewa geboren, war sie mit zwanzig Jahren bereits die Witwe des früheren Besitzers Skuratow. Oberstleutnant Potemkin heiratete sie vom Fleck weg. Keiner der beiden alternden Ehemänner war sehr anregend für eine junge Frau, doch Skuratows Familie dürfte froh darüber gewesen sein, dass sie ein neues Heim gefunden hatte.

Die junge Frau des Oberstleutnants erlitt später einen mitleiderregenden Schock. Erst als sie ein Kind erwartete, eine Tochter namens Jelena Marfa, stellte sie fest, dass Potemkin noch mit seiner ersten Frau, die im Dorf wohnte, verheiratet war. Vermutlich waren die meisten Bewohner über das Geheimnis des Oberstleutnants unterrichtet, und Daria muss das Gefühl gehabt haben, dass sie vor ihren Leibeigenen zum Narren gehalten wurde. Bigamie widersprach damals, genau wie heute, den Verordnungen der Kirche und des Staates, aber Orte wie Tschishowo waren so entlegen, die Verzeichnisse so chaotisch und die Männerherrschaft so gefestigt, dass Geschichten über bigamistische Provinzadlige häufig umliefen. Ungefähr zur selben Zeit schloss General Abram Hannibal, Puschkins abessinischer Großvater, eine bigamistische Ehe, wonach er seine erste Frau in einem Kerker folterte, bis sie sich bereit erklärte, in ein Kloster einzutreten; einer seiner Söhne tat es ihm nach.

In der Regel war die Folter unnötig, um russische Ehefrauen von den Vorzügen des Nonnendaseins zu überzeugen und ihren Gatten eine zweite Ehe zu ermöglichen. Daria besuchte die erste Frau und redete ihr tränenreich zu, die Weihe zu empfangen, damit ihre eigene Ehe legal würde.

Die vorliegenden Details lassen vermuten, dass sich die Ehe äußerst unglücklich gestaltete, zumal Alexander Potemkin dafür sorgte, dass seine Frau fast ständig schwanger war. Sie hatte fünf Töchter und einen Sohn – Grigori war ihr drittes Kind. Aber der unwirsche Zuchtmeister war auch rasend eifersüchtig. Da Eifersucht häufig das am meisten Gefürchtete herbeiführt, hatte die junge Ehefrau keinen Mangel an Bewunderern. Aus einer Quelle wird deutlich, dass Oberstleutnant Potemkin zur Zeit von Grigoris Geburt äußerst misstrauisch gegenüber seinem auf Besuch weilenden Cousin war. Dieser, der welterfahrene Grigori Matwejewitsch Kislowski, ein hoher Beamter aus Moskau, sollte der Pate des Jungen werden. Wahrscheinlich wurde er nach Kislowski benannt, doch war der Besucher sein leiblicher Vater? Wir wissen es nicht. Potemkin erbte manches von Alexanders manischem, oft finsterem Charakter, und er liebte Kislowski nach dem Tod des Oberstleutnants wie einen Vater. Man muss sich der nüchternen Tatsache stellen, dass Kinder sogar im ehebrecherischen achtzehnten Jahrhundert gelegentlich die Sprösslinge ihrer amtlichen Väter waren.

Wir wissen weit mehr über Potemkins Mutter als über seinen Vater, denn sie erlebte noch, wie Grigori die höchste Position des Reiches erklomm. Daria war hübsch, fähig und intelligent. Auf einem viel späteren Porträt sieht man eine alte Dame mit einer Haube; sie hat ein erschöpftes, aber scharfsinniges Gesicht, eine kühne Knollennase und ein spitzes Kinn. Ihre Züge sind gröber als die ihres Sohnes, obwohl er ihr angeblich ähnelte. Als sie 1739 herausfand, dass sie zum dritten Mal schwanger war, standen die Zeichen gut. Einheimische von Tschishowo behaupten immer noch, sie habe geträumt, dass sich die Sonne vom Himmel löste und auf ihren Bauch fiel – und an dieser Stelle sei sie aufgewacht. Agrafina, die örtliche Wahrsagerin, deutete dies als Hinweis auf einen Sohn. Trotzdem fand der Oberstleutnant einen Weg, ihr das Glück zu verderben. Als ihre Zeit kam, wollte Daria ihr Kind in der banja (Badehaus oder Dampfbad) des Dorfes zur Welt bringen (wahrscheinlich mit Hilfe ihrer leibeigenen Dienstmädchen). Laut einer Geschichte, die immer noch von den Einheimischen erzählt wird, blieb Alexander die ganze Nacht hindurch auf und trank kräftigen hausgemachten Wein. Auch die Leibeigenen warteten darauf, dass sie nach zwei Töchtern einen Erben gebar. Als Grigori erschien, läutete man die Kirchenglocken. Die Leibeigenen tanzten und tranken bis zum Morgen. Der Ort von Grigoris Geburt war angemessen, denn die banja im Winterpalais sollte eines Tages zur Stätte seiner häufigen Rendezvous mit Katharina der Großen werden.

Darias Kinder wuchsen in einem Haus auf, das von väterlicher Paranoia überschattet war. Ohnehin dürfte die Ehe auch die letzte Spur von Romantik verloren haben, als Daria von der Bigamie ihres Mannes erfuhr. Seine Vorwürfe der Untreue verschlimmerten die Situation. Er war so eifersüchtig, dass er, wenn ihre Töchter heirateten, den Schwiegersöhnen verbot, Darias Hand zu küssen, weil der Druck von männlichen Lippen auf weicher Haut unaufhaltsam zur Sünde führe. Nach der Geburt seines Erben empfing der Oberstleutnant nicht nur Gratulanten, sondern auch seinen Cousin Sergej Potemkin, der ihm mitteilte, Grigori sei nicht sein Sohn. Sergejs Motive waren keineswegs philanthropisch, denn er wollte, dass seine Familie die Güter erbte. Der alte Soldat geriet außer sich und beantragte, die Ehe für ungültig und Grigori zum unehelichen Kind erklären zu lassen. Daria, die befürchtete, dass sich die Klostertore bald auch hinter ihr schließen würden, rief den kundigen, besonnenen Paten Kislowski zu Hilfe. Er eilte aus Moskau herbei und überredete den halb senilen Ehemann, den Scheidungsantrag zurückzuziehen. Danach mussten sich Grigoris Mutter und Vater zusammenraufen.

 

In seinen ersten sechs oder sieben Lebensjahren beschränkte sich Grigori Potemkins Umwelt auf das Dorf seines Vaters. Tschishowo lag am Tschiwo, einem Fluss, der sich in einer steilen, schlammigen Rinne durch das breite Flachland zog. Es war mehrere Reisestunden von Smolensk entfernt; von dort musste man weitere 350 Werst zurücklegen, um Moskau, und 837 Werst, um St. Petersburg zu erreichen. Im Sommer konnte es hier siedend heiß sein, doch die Flachheit der Gegend hatte zur Folge, dass die Winter grausam und die Winde beißend kalt waren. Die Landschaft war schön, üppig und grün. Dies ist immer noch eine wilde, offene und aufregende Umgebung für Kinder.

Dieses Dorf war in mancher Hinsicht ein Mikrokosmos der russischen Gesellschaft. Damals hatte der russische Staat zwei wesentliche Eigenschaften: Die erste war der elementare Instinkt des Reiches, seine Grenzen in alle Richtungen auszuweiten, und Tschishowo befand sich im unruhigen westlichen Grenzbereich. Die zweite war die Teilung in Adel und Leibeigenschaft. Auch Potemkins Heimatdorf setzte sich aus diesen beiden Hälften zusammen, die man bis heute erkennen kann, obwohl das Dorf kaum noch existiert.

Potemkins erstes Zuhause, auf einer leichten Anhöhe über dem Fluss gelegen, war ein bescheidenes, einstöckiges hölzernes Herrenhaus mit einer ansehnlichen Fassade. Es hätte sich kaum stärker von den Gebäuden reicher Magnaten auf höheren Gesellschaftsstufen unterscheiden können. Zum Beispiel glich Graf Kirill Rasumowskis Gut, das im selben Jahrhundert weiter südlich in der Ukraine entstand, »eher einer Kleinstadt als einem Landhaus … mit vierzig oder fünfzig Nebengebäuden … seiner eigenen Garde, zahlreichen Gefolgsleuten und einem großen Musikorchester«. In Tschishowo war das einzige Nebengebäude vermutlich das Badehaus, in dem Grigori geboren wurde. Es muss direkt oberhalb des Flusses und des Brunnens gestanden haben. Diese banja war ein unerlässlicher Teil des russischen Lebens. Landbewohner schwitzten und wuschen sich dort gemeinsam,[5] was ein auf Besuch weilender französischer Schulmeister als empörend empfand, da »Personen jeden Alters und beider Geschlechter sie zusammen benutzen und die Gewohnheit, alles von einem frühen Alter an unverhüllt zu sehen, die Sinne abstumpfen lässt«. Doch für die Russen war die banja ein behaglicher, geselliger und erholsamer Bestandteil ihres Zuhauses.

Von den Eheproblemen seiner Eltern abgesehen, war dies wahrscheinlich eine glückliche, wenn auch schlichte Umgebung für den heranwachsenden Grigori. Wir verfügen über die Schilderung eines Jungen aus dem niederen Adel, der in der Provinz Smolensk aufwuchs. Dreißig Jahre später geboren, war Lew Nikolajewitsch Engelhardt Potemkins Verwandter, und er beschrieb das wohl unveränderte Leben in einem nahe gelegenen Dorf. Lew durfte barfüßig und in einem Bauernhemd herumlaufen: »In physischer Hinsicht ähnelte meine Erziehung dem von Rousseau skizzierten System des Edlen Wilden. Aber ich weiß, dass meine Großmutter jenes Werk nicht kannte, zumal sie eine stark schwankende Beziehung zur russischen Grammatik hatte.« Ein anderer Memoirenschreiber, der ebenfalls mit Potemkin verwandt war, erinnerte sich: »Der reichste örtliche Grundbesitzer besaß nur tausend Seelen« und »hatte … eine einzige silberne Löffelgarnitur, die er seinen bedeutenderen Gästen anbot, während die anderen mit Zinnlöffeln vorliebnehmen mussten«.

Grigori oder »Grischa« war der Erbe des Dorfes und neben seinem alten Vater der einzige Mann in einer Familie, zu der fünf Schwestern und seine Mutter gehörten. Er dürfte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden haben, und diese Familienatmosphäre könnte bestimmend für seinen Charakter gewesen sein, denn er zog für den Rest seines Lebens alle Augen auf sich. Während seiner gesamten Laufbahn beschrieb er sich selbst als »verwöhntes Glückskind«. Er musste stets eine dominierende Rolle spielen, und durch den Frauenhaushalt fühlte er sich in weiblicher Gesellschaft völlig entspannt. Auch als Erwachsener pflegte er seine engsten Freundschaften mit Frauen, und seine Karriere hing in hohem Maße von seinem Umgang mit einer von ihnen ab. Der primitive Potemkin-Haushalt, wenn auch belebt durch schwirrende Unterröcke, konnte nicht überdauern. Die meisten Schwestern schlossen bald achtbare Ehen innerhalb des mit ihnen verwandten Smolensker Adels (ausgenommen Nadeshda, die mit neunzehn Jahren starb). Vor allem die Verbindungen von Jelena Marfa mit Wassili Engelhardt und Maria mit Nikolai Samoilow sollten Nichten und Neffen hervorbringen, die eine wichtige Funktion in Potemkins Leben übernahmen.

Der Staatsdienst bot die einzige Berufsmöglichkeit für einen russischen Aristokraten. Als Sohn eines Offiziers, der für Peter den Großen bei Poltawa gekämpft hatte, muss Grischa gelernt haben, dass ein Junge nur im Dienst für das Reich seine Pflicht und seinen Weg zum Erfolg finden konnte. Die Taten seines Vaters bildeten gewiss den Hintergrund für die Vorstellungskraft des Jungen. Die Ehre, eine Uniform zu tragen, war in Russland ein hohes Ziel, besonders für den Provinzadel. Im Jahre 1721 hatte Peter der Große eine Rangtabelle eingeführt, um die Hierarchie innerhalb des Militärs, der Beamtenschaft und der Gerichte festzulegen. Jeder, der den vierzehnten Militär- oder den achten Beamtenrang erreichte, wurde automatisch in den Erbadel – dworjanstwo – erhoben, doch Peter erlegte allen Aristokraten einen lebenslangen Dienst auf. Zur Zeit von Potemkins Geburt hatte der Adel diese demütigende Verpflichtung reduzieren können, doch der Dienst blieb der Hauptpfad zum Erfolg. Potemkin zeigte allerdings auch Interesse am Priestertum. Er stammte von einem Archimandriten des siebzehnten Jahrhunderts ab, und sein Vater schickte ihn auf eine Kirchenschule in Smolensk. Aber er war von vornherein für das Militär bestimmt.

Unterhalb des Hauses und neben dem Fluss lag der Brunnen, der noch heute nach Katharina benannt ist. Die Legende besagt, dass Potemkin die Kaiserin hierherbrachte, um ihr seine Geburtsstätte zu zeigen. Wahrscheinlich holte er selbst als Kind Wasser aus dem Brunnen, denn das Leben des mittleren Adels war nicht viel besser als das seiner gutgestellten Leibeigenen. Potemkin wurde wahrscheinlich sofort nach seiner Geburt einer leibeigenen Amme im Dorf übergeben, wodurch dieser Prototyp des »Edlen Wilden« mit der Milch der russischen Landgebiete heranwuchs. Leibeigene Frauen dürften so viel zu seiner Erziehung beigetragen haben wie seine Mutter und seine Schwestern. Die Musik, die er hörte, war die der gefühlvollen Klagelieder, welche die Leibeigenen abends und bei Festlichkeiten sangen. Die Tänze, die er kannte, waren eher die temperamentvollen und anmutigen bäuerlichen Reigen als die Kotillons auf den Bällen der örtlichen Gutsbesitzer. Er muss die Dorfwahrsagerin genauso gut gekannt haben wie den Popen. Und er fühlte sich genauso heimisch an den warmen, muffigen Öfen der Bauernhütten – dunstig von kascha, dem Buchweizenbrei, schtschi, der würzigen Kohlsuppe, und kwass, dem gelben Sauerbier, das neben Wodka und Beerenwein getrunken wurde – wie im Herrenhaus. Die kleine orthodoxe Marienkirche von Tschishowo (die Ruine des ihr nachfolgenden Gebäudes ist noch vorhanden) stand auf der Dorfseite der Leibeigenen. Dort verbrachte Potemkin einen großen Teil seiner Zeit. Die Leibeigenen waren zutiefst fromm: Jeder »trägt außer dem geweihten Taufamulett am Hals das Figürchen eines … in Kupfer gestanzten Schutzheiligen bei sich. Soldaten und Bauern holen es oft aus der Tasche, spucken darauf und reiben es … legen es dann sich gegenüber hin und werfen sich plötzlich nieder …« Wenn ein Bauer ein Haus betrat, erkundigte er sich gewöhnlich, wo »der Gott« sei, und bekreuzigte sich dann vor der Ikone.

Potemkin, der in der Dorfkirche getauft wurde, wuchs mit einer bäuerlichen Mischung aus Frömmigkeit und Aberglauben heran. Viele Grundbesitzer konnten sich einen ausländischen Lehrer für ihre Kinder leisten, vorzugsweise einen Franzosen oder Deutschen – oder manchmal einen alten schwedischen Kriegsgefangenen aus dem Großen Nordischen Krieg wie die arme Grundbesitzerfamilie in Puschkins Novelle Die Hauptmannstochter. Das galt jedoch nicht für die Potemkins. Es heißt, dass der Dorfpfarrer Semjon Karsew und der Küster Timofej Krasnopewzew Grischa das Alphabet und Gebete beibrachten, was eine lebenslange Verzauberung durch die Religion bei ihm auslöste. Er lernte, zu singen und Musik zu lieben – ein weiteres Merkmal seines Erwachsenenlebens, denn Fürst Potemkin war nie ohne sein Orchester und einen Stapel neuer Orchesterpartituren. Einer Legende zufolge besuchte einer dieser Dorfweisen Jahrzehnte später St. Petersburg, wo er erfuhr, dass sein Schüler nun der bedeutendste Mann am Hofe sei. Er sprach bei dem Fürsten vor, der ihn herzlich empfing und ihm einen Posten als Bewacher des Ehernen Reiters, Falconets Statue von Peter dem Großen, besorgte.

Die 430 männlichen Leibeigenen und ihre Familien wohnten in der Umgebung der Kirche an der anderen Dorfseite. Leibeigene – oder »Seelen« – wurden nach der Zahl der Männer und Knaben bewertet, und man maß das Vermögen eines Adligen nicht an seinem Bargeld oder seiner Grundfläche, sondern an der Summe seiner Seelen. In einer Bevölkerung von 19 Millionen gab es ungefähr 50000 männliche Adlige und 7,8 Millionen Leibeigene. Die Hälfte der Letzteren bestand aus Gutsbauern, die individuellen Adligen oder der Zarenfamilie gehörten, während die andere Hälfte Eigentum des Staates war. Lediglich Aristokraten durften Leibeigene besitzen, doch nur ein Prozent von ihnen hatte mehr als tausend Seelen. Die Haushalte bedeutender Adliger, die Hunderttausende von Leibeigenen umfassen konnten, sollten während Katharinas Herrschaft einen verschwenderischen und malerischen Höhepunkt erreichen, denn damals waren die Aristokraten sogar im Besitz von Leibeigenenorchestern und leibeigenen Malern erlesener Ikonen und Porträts. Zum Beispiel verfügte Graf Scheremetjew, dem die meisten Seelen in Russland gehörten, über ein Leibeigenentheater mit einem Repertoire von vierzig Opern. Fürst Jussupows Ballett war mit Hunderten von leibeigenen Ballerinen besetzt. Graf Skawronski (ein Verwandter von Katharina I., der eine von Potemkins Nichten heiratete) war so musikbesessen, dass seine Leibeigenen nicht normal reden durften, sondern sich im Sprechgesang äußern mussten. Solche Fälle waren selten, denn 82 Prozent der Adligen hatten weniger als hundert Seelen und fühlten sich damit arm wie Kirchenmäuse. Die Potemkins zählten zu den mittleren 15 Prozent, die 101 bis 500 Leibeigene besaßen.

Die Seelen von Tschishowo waren das uneingeschränkte Eigentum von Oberstleutnant Potemkin. Zeitgenössische französische Autoren benutzten das Wort esclaves – Sklaven – zu ihrer Beschreibung, denn sie hatten vieles mit den schwarzen Sklaven der Neuen Welt gemeinsam, abgesehen davon, dass sie derselben Rasse wie ihre Besitzer angehörten. Die Situation barg eine gewisse Ironie in sich, denn obwohl die Leibeigenen in Russland zur Zeit von Potemkins Geburt bewegliches Gut am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie waren, repräsentierten sie gleichzeitig die Hauptquelle der Macht des Staates und der Adligen. Sie stellten die russische Infanterie, wenn der Staat durch Zwangsaushebung ein Heer rekrutierte. Grundbesitzer entsandten die ausgewählten Unglücklichen zum lebenslangen Militärdienst. Die Leibeigenen zahlten die Steuern, mit deren Hilfe die russischen Zaren ihre Armeen finanzierten, doch sie bildeten auch die Grundlage des Vermögens der Adligen. Kaiser und Aristokratie wetteiferten folglich darum, sie zu kontrollieren – und sie bis zum Letzten auszuquetschen.

Seelen wurden gewöhnlich ererbt, aber sie konnten auch von dankbaren Herrschern an Günstlinge verschenkt oder mit Hilfe von Zeitungsannoncen wie heutige Gebrauchtwagen erworben werden. Beispielsweise verkaufte Fürst Michail Schtscherbatow, später ein Kritiker von Potemkins Moral, im Jahre 1760 drei Mädchen für drei Rubel an einen anderen Adligen. Doch die Besitzer waren häufig stolz auf ihre paternalistische Fürsorge. »Allein die Tatsache, dass sie [die Leibeigenen] Eigentum sind, sichert ihnen die Milde ihrer Gebieter.« In Graf Kirill Rasumowskis Haushalt gab es über 300 Hausdiener, fast alle Leibeigene (mit Ausnahme des französischen Kochs und wahrscheinlich eines französischen oder deutschen Lehrers für seine Söhne); darunter waren ein Zeremonienmeister, ein Hauptkammerdiener, zwei Zwerge, vier Friseure, zwei Kaffeeservierer und so weiter. »Onkel«, sagte seine Nichte, »mir scheint, Ihr habt eine Menge Sklaven, auf die Ihr verzichten könntet.« »Ganz richtig«, erwiderte Rasumowski, »aber sie könnten nicht auf mich verzichten.«

Manchmal liebten die Leibeigenen ihren Herrn. Als der Großkämmerer Graf Schuwalow ein 300 Werst von Petersburg entferntes Gut verkaufen musste, wurde er eines Morgens durch einen Krawall im Hof seines Hauses in der Hauptstadt geweckt. Eine Schar Leibeigene, die aus der Provinz angereist war, hatte sich dort versammelt. »Wir waren sehr zufrieden unter Eurer Befehlsgewalt und möchten einen so guten Herrn nicht verlieren«, erklärten sie. »Deshalb zahlt jeder von uns ein Scherflein … und wir bringen Euch nun den Betrag, den Ihr benötigt, um das Gut zurückzukaufen.« Der Graf umarmte seine Leibeigenen wie Kinder. Wenn sich ihr Gebieter näherte, notierte ein Engländer, verneigten sich die Leibeigenen fast bis zum Boden, und als eine Kaiserin entlegene Gebiete besuchte, verzeichnete ein französischer Diplomat, dass sie der Monarchin auf Knien ihre Huldigung erwiesen. Die Leibeigenen eines Landbesitzers waren sein Arbeitspersonal, sein Bankguthaben, manchmal sein Harem und völlig seiner Verantwortung überlassen. Gleichwohl lebte er stets mit der Furcht, dass sie meutern und ihn in seinem Herrenhaus umbringen könnten, denn Bauernaufstände waren an der Tagesordnung.

Die meisten Eigentümer gingen relativ human mit ihren Seelen um, doch nur eine winzige Mehrheit konnte sich vorstellen, dass Sklaverei nicht der Naturzustand der Leibeigenen sei. Wenn sie flohen, durften sie gewaltsam zurückgeholt werden. Leibeigenenjäger verdienten sich Kopfgelder für diese düstere Aufgabe. Sogar die verständigsten Grundbesitzer bestraften ihre Leibeigenen regelmäßig, wobei sie häufig die Knute, die dicke russische Lederpeitsche, benutzten, aber sie waren nicht berechtigt, Exekutionen vorzunehmen. »Strafen sollten an Bauern, Dienern und allen anderen unter Berücksichtigung ihres Verstoßes mit der Peitsche vollzogen werden«, schrieb Fürst Schtscherbatow 1758 in den Anweisungen an seine Gutsverwalter. »Handelt umsichtig, um keinen Mord zu begehen und niemanden zu verstümmeln. Schlagt also nicht mit einem Knüppel auf Kopf oder Beine oder Arme. Aber wenn eine Strafe vollzogen werden muss, die nach einem Knüppel verlangt, dann befehlt dem Betreffenden, sich vorzubeugen, und schlagt ihm auf den Rücken oder, besser noch, peitscht ihm den Rücken oder die Stelle darunter, denn die Strafe wird schmerzhafter sein, ohne dass es zu Verstümmelungen kommt.«

Das System bot viel Spielraum für Misshandlungen. Katharina schrieb in ihren Memoiren, dass die meisten Haushalte in Moskau über »Eisenhalsbänder, Ketten und andere Folterinstrumente für diejenigen« verfügten, »welche den geringsten Verstoß begehen«. Zum Beispiel stand im Schlafzimmer einer alten Adligen »ein dunkler Käfig, in dem sie einen Sklaven hielt, der ihr Haar frisierte; das Hauptmotiv … der alten Vettel bestand darin, vor der Welt zu verbergen, dass sie falsches Haar trug …«

Die absolute Macht der Landbesitzer über ihre Leibeigenen diente zuweilen dazu, mörderische Foltern zu verheimlichen. Das schlimmste dieser Verbrechen wurde von einer Gutsbesitzerin verübt (allerdings hörte man vielleicht nur deshalb Klagen, weil sie eine Frau war). Die Behörden beschützten sie sehr lange, obwohl ihre Untaten nicht in irgendeiner Provinz, sondern in Moskau selbst stattfanden. Daria Nikolajewna Saltykowa, 25 Jahre alt und als »die Menschenfresserin« (ljudojedka) bekannt, war ein Ungeheuer. Sie bezog ein sadistisches Vergnügen daraus, Hunderte ihrer Leibeigenen mit Scheiten und Nudelhölzern zu schlagen, und sie ermordete 138 Frauen, wobei sie sich angeblich auf deren Genitalien konzentrierte. Als man sie am Anfang von Katharinas Herrschaft schließlich verhaftete, musste die Zarin, die von der Unterstützung durch die Adligen abhing, behutsam gegen Saltykowa vorgehen. Sie konnte nicht hingerichtet werden, da Zarin Elisabeth die Todesstrafe 1754 abgeschafft hatte (außer für Hochverrat). Deshalb wurde Saltykowa in Moskau eine Stunde lang ans Schafott gekettet, und man hängte ihr ein Plakat mit der Aufschrift »Folterin und Mörderin« um den Hals. Fast die ganze Stadtbevölkerung erschien, um sie zu betrachten, denn Serienmörder waren damals selten. Danach sperrte man die Menschenfresserin in ein unterirdisches Gefängniskloster. Ihre Grausamkeit war jedoch die Ausnahme, nicht die Regel.

Dies war Grischa Potemkins Welt und die Essenz des Lebens in den russischen Landgebieten. Er sollte die Bräuche von Tschishowo nie ablegen. Man kann sich ausmalen, wie er mit den Kindern von Leibeigenen durch von Heu übersäte Felder rannte und dabei an einer Rübe oder einem Rettich kaute – wie er es später in den Gemächern der Kaiserin tat. Es sollte nicht überraschen, dass man ihn am kultivierten, von Voltaire geprägten Hof in St. Petersburg stets als typisches Kind der russischen Scholle einstufte.

Im Jahre 1746 endete die Idylle, als sein Vater mit 74 Jahren starb. Der sechsjährige Grischa Potemkin erbte das Dorf und die Leibeigenen, doch es war ein kümmerliches Vermächtnis. Seine Mutter, mit 42 Jahren zum zweiten Mal verwitwet und verantwortlich für sechs Kinder, konnte sich in Tschishowo nicht durchschlagen. Als Erwachsener sollte Grigori mit der achtlosen Extravaganz derjenigen auftreten, die sich an finanzielle Zwangslagen erinnern, aber er lebte nie in bitterer Armut. Später überließ er das Dorf seiner Schwester Jelena und ihrem Ehemann Wassili Engelhardt. Die beiden bauten eine Villa auf der Stätte des Holzhauses und eine prächtige Kirche auf der Leibeigenenseite des Dorfes zum Ruhm des Serenissimus, des berühmtesten Sohnes der Familie.