Die Rückkehr der Kernkraft - Andreas Dripke - E-Book

Die Rückkehr der Kernkraft E-Book

Andreas Dripke

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Beschreibung

Die friedliche Nutzung der Kernenergie steht weltweit vor einer Renaissance, auch wenn sie in Deutschland am Ende ist. Hierfür gibt es zahlreiche Gründe: eine neue Generation sicherer Kompaktkraftwerke, Fortschritte bei Fusionsreaktoren, den wachsenden Energiebedarf und die Einstufung der Kernkraft als saubere Energiequelle. Der Sachbuchautor Andreas Dripke, die UNO-Beraterin Hang Nguyen und der Kernphysiker Marc Ruberg haben auf über 200 Seiten sorgfältig recherchierte Fakten verbunden mit einer klugen Analyse zu einem spannenden Buch zusammengefasst. Dabei weisen sie auch deutlich auf die Gefahren etwa durch Unfälle oder die Vermischung von ziviler und militärischer Nutzung der Atomenergie hin. Das Fazit: Unabhängig vom Alleingang Deutschlands wird sich die friedliche Nutzung die Kernkraft weltweit als saubere und sichere Energiequelle durchsetzen. Das birgt Chancen für den Klima- und Umweltschutz, aber auch unübersehbare Gefahren durch Radioaktivität.

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Inhalt

Einführung

Die Sonne auf Erden

Atomkraftwerke wie am Fließband

Alle Energieprobleme der Menschheit lösen

Klimarettung als Geschäft

Von der Entdeckung bis heute

Erste Experimente zur Radioaktivität

Begriffe im Wandel

Erste zivile Verwendung der Kernenergie

Kernkraft in Deutschland seit 1957

Unfälle und Katastrophen führen zum Ausstieg

Die deutsche Kernkraft und der Krieg in der Ukraine

Atombomben und ihre Kontrolle

Little Boy und Fat Man töten Hunderttausende

Zar-Bombe: die stärkste jemals gezündete Kernwaffe

Kubakrise – die Welt am Abgrund

Angst vor der Apokalypse

Ausstieg aus der Abrüstung

Die Vernichtung der Erde

Die Vereinten Nationen sind machtlos

Die Ohnmacht internationaler Organisationen

China schließt atomaren Erstschlag nicht mehr aus

Das arabische Atom

Rüder Ton statt ständiger Beschwichtigung

Ist Nuklearterrorismus denkbar?

Atomkraft – nein danke!

Sonnenenergie als Alternative zur Atomkraft

Von der APO zur grünen Partei

Organisierter Widerstand gegen die Kernkraft

Brokdorf und Gorleben als Symbole des Widerstands

Unser Planet nähert sich dem Ende

Unsere Erde wird immer wärmer

29 Grad für 3,5 Milliarden Menschen

Das Eis und der Permafrost schmelzen

Zählt die Kernkraft zu den erneuerbaren Energien?

Der Green Deal Europas

Überwindung der Untätigkeit

Planvolles Vorgehen der Europäischen Union

Wie die EU Atomstrom grün machen will

Deutschland versus Frankreich

Angst vor der Versorgungslücke

Das deutsche Klimaproblemjahr 2021

Die friedliche Nutzung der Kernkraft

Vom Atomminister zum Atomausstiegsgesetz

Über 400 Atomreaktoren in 32 Ländern

Atomweltmeister USA

Atomexporteur Russland

China: Mehr Erneuerbare Energien statt Atomkraft

Frankreich setzt auf die Atomwirtschaft

Wie ein Kernkraftwerk funktioniert

Reaktortypen im Überblick

Rückschläge, immer wieder Rückschläge

Wohin mit dem Atommüll?

Mülltrennung für eine halbe Ewigkeit

Sicher unter der Erde für eine Million Jahre

Jodtabletten gegen Radioaktivität

Die wohl aussichtslose Suche nach dem Endlager

Die Bundesgesellschaft für Endlagerung

Symbole für die Ewigkeit

Neue Generationen: Minikraftwerke

Mini-Atomkraftwerke

TerraPower

Der Rolls-Royce unter den Atomkraftwerken

Atom-Startups NuScale und Okli

Kompaktreaktoren mit mehr oder weniger Risiko

Der jüngste Schrei: Thorium

Schwimmende Atomkraftwerke

Heiß wie die Sonne: Fusionsreaktoren

1917 fing die Kernfusion an

USA, Frankreich, Südkorea und China

ITER – das global-europäische Projekt

Das Tokamak-Prinzip

China lässt die „Künstliche Sonne“ scheinen

Gates und Google investieren in Kernfusion

Hochtemperatur-Supraleiter als Schlüssel

Das Prinzip der Wasserstoffbombe friedlich nutzen

Deutscher Versuchsreaktor Wendelstein 7-X

Atomkraft im Weltraum

Kernkraft auf dem Mond

Wettrüsten im Weltraum

Risikomanagement und Katastrophen

Die Katastrophe von Tschernobyl

WANO und INES für mehr Sicherheit

Die Katastrophe von Fukushima

Verstrahlte Ozeane

Wieviel Strahlung verträgt der Mensch?

Folgenabschwächung statt Totalvermeidung

Ausblick

Trugschlüsse der Vergangenheit

Schwarze Schwäne voraus

Das Undenkbare kann Realität werden

Über die Autoren

Andreas Dripke

Hang Nguyen

Marc Ruberg

Bücher im DC Verlag

Über das Diplomatic Council

Quellenangaben und Anmerkungen

Einführung

Atom – einst Symbol des wissenschaftlichen Fortschritts, dann Schreckgespenst des Krieges, anschließend zögerlich vermeintlicher Garant einer zuverlässigen Energieversorgung, dabei Auslöser des erbitterten Widerstands gegen die parlamentarische Demokratie, nach mehreren Schreckensszenarien von Harrisburg über Tschernobyl bis Fukushima Einordnung als gestrige Technologie mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Kernkraft und auf einmal wieder Symbol der Verheißung einer nachhaltigen und langfristigen Energieversorgung der Menschheit.

Sehr vieles deutet auf eine verstärkte friedliche Nutzung der Kernenergie in den 2020er und vor allem ab den 2030er Jahren hin. Sie wäre allem Risiko zum Trotz und natürlich nur, solange keine gravierenden atomaren Unfälle auftreten, eine Antwort auf die zunehmende Umweltbelastung durch die fossile Energiegewinnung. Neue Technologien deuten auf eine Renaissance der zivilen Atomenergienutzung hin. Das Spektrum reicht von großindustriellen Kernfusionsreaktoren bis hin zu Mini-Atomkraftwerken aus der Massenproduktion.

Die Sonne auf Erden

2021 gelang es in China und 2022 in den USA, in einem Kernfusionsreaktor die Fusion sekundenlang aufrecht zu erhalten.1 Dieser Vorgang, der bisher nur sehr selten glückte, könnte durchaus die Zukunft der Energieerzeugung verändern. Kernfusion ist der Prozess, der unserer Sonne und anderen Sternen ihre unbändige Energie verleiht. Dabei verschmelzen zwei gleich geladene, leichte Atomkerne zu einem größeren Atom – ein Prozess, bei dem extrem viel Energie freigesetzt wird. Um die Fusion zu bewerkstelligen, muss jedoch zunächst sehr viel Energie aufgewendet werden. Denn ähnlich wie zwei Magnete, bei denen sich die beiden gleichen Pole einander abstoßen, stoßen sich auch gleich geladene Atomkerne gegenseitig ab. Um sie fusionieren zu lassen, machen Sterne sich ihre massive Größe zunutze, die einen immensen Druck im Kern der Sterne erzeugt.2

In den 2020/30er Jahren könnten erstmals Technologien auf der Erde verfügbar werden, um diesen immensen Druck zu erzielen, der für Kernfusionsreaktoren benötigt wird. Man muss dazu extreme Temperaturen in der Größenordnung von 100 Millionen Grad Celsius erzeugen. Genau dies war China 2021 mit dem Fusionsreaktor EAST (Experimental Advanced Superconducting Tokamak) gelungen, der eine Kernfusion für zehn Sekunden aufrecht erhalten konnte. Bis zu einer industriellen Nutzung werden noch Jahre der Forschung notwendig sein. Doch wenn es gelingt, eine Möglichkeit zur Erzeugung einer stabilen Kernfusion zu finden, wären unsere Energieprobleme wahrscheinlich gelöst. Wichtiger Vorteil dabei: Bei dem Vorgang entsteht kein radioaktiver oder anderweitig gefährlicher Abfall. Noch dazu kann ein solcher Fusionsreaktor mit Meerwasser betrieben werden – eine erneuerbare, nachhaltige Ressource.3

Auch in Europa wird die friedliche Nutzung der Kernenergie durch Fusionsreaktoren schon seit längerem vorangetrieben.4 Bereits 1985 wurde die Idee für den Bau des Fusionsreaktors ITER im südfranzösischen Kernforschungszentrum Cadarache geboren. ITER wird als gemeinsames Forschungsprojekt der EU, der Schweiz, der USA, Chinas, Japans, Russlands und Indiens entwickelt.5 2007 wurde der Baubeginn angekündigt und seit Anfang der 2020er ist er in vollem Gange. Die Fertigstellung von ITER ist bei Drucklegung dieses Buches für das Jahr 2025 vorgesehen, wobei weitere Verzögerungen als wahrscheinlich gelten; die erste Fusion soll frühestens 2036 stattfinden.6

Atomkraftwerke wie am Fließband

Parallel zu diesen Großprojekten scheint sich für die 2020er und vor allem die 2030er und danach die Verbreitung kleiner modularer Atomkraftwerke, die wie am Fließband produziert werden, anzubahnen. Die Mini-AKWs brauchen nur wenige Hektar Fläche und produzieren zwischen 30 und 450 Megawatt. Anfang der 2020er waren zwei atomare Kleinkraftwerke bereits in Betrieb. Sie befanden sich an Bord des Schiffs „Akademik Lomossow“ und versorgten die sibirische Stadt Pevec und ihre 100.000 Einwohner mit Wärme und mit Strom. Auch die USA und Kanada setzen auf diese neue Generation der „Smart Modular Reactors“, die ab 2025 Strom liefern sollen. China verfolgt ebenfalls entsprechende Pläne.7

In den USA machte 2020 sogar ein Startup auf sich aufmerksam, das unter dem Projektnamen „Aurora“ kleine Atomreaktoren entwickelt, die mit Atommüll betrieben werden sollen. „Aurora“ ist gerade mal so groß wie ein Einfamilienhaus und soll Strom für bis zu 1.000 Haushalte liefern.8 Zahlreiche weitere Entwicklungsansätze zur friedlichen Nutzung der Kernenergie stehen für die 2020/30er Jahre bereit. Beispielhaft hierfür ist etwa die Firma TerraPower, mit der der Milliardär und Visionär Bill Gates Atomkraftwerke nach dem Prinzip der „schnellen Brüter“ auf den Markt bringen will.9

Alle Energieprobleme der Menschheit lösen

Die friedliche Nutzung der Kernenergie birgt das Versprechen, die Energieprobleme der Menschheit zu lösen und die durch das Verbrennen fossiler Energieträger mitverursachte Erwärmung der Erde und die dadurch drohende Klimakatastrophe abzuwenden oder jedenfalls abzumildern. Ob dieser Durchbruch bei der Kernenergie tatsächlich gelingt, bleibt ungewiss. Auf sehr lange Sicht betrachtet scheint jedoch sogar die Etablierung eines Fusionskraftwerks im Weltraum nicht ausgeschlossen.

Es wäre zu begrüßen, wenn die Menschheit die bei allen nationalen Alleingängen weitgehende Geschlossenheit, die sie bei der Bekämpfung der Pandemie an den Tag gelegt hat, danach beibehält, um die nächste Katastrophe – die Umwelt- und Klimakatastrophe – zu verhindern. Denn genau wie das Virus stellt das Umkippen unseres Planeten eine Bedrohung dar, die alle Menschen betrifft, alle Länder und alle Regierungen. Ein gemeinsames Handeln aller Regierungen wäre wohl die einzige Maßnahme, dieser nächsten Katastrophe entgegenzuwirken.

Klimarettung als Geschäft

Ein erheblicher Druck dazu dürfte in den 2020er und 2030er Jahren von Finanzinvestoren und Großkonzernen kommen, die sich aus klimaschädlichen Investments zurückziehen und bei ihren Beteiligungen auf Klimaschutz drängen, um letztlich ihre eigenen Profite langfristig zu sichern. Man mag das Motiv nicht mögen, aber der geretteten Umwelt ist das egal.

Die politische Diskussion um die Kernenergie wird neu aufflammen. Zu groß sind einerseits die Versprechungen der modernen Atomenergie, um sie links liegen zu lassen. Andererseits sind die Risiken zu unübersehbar groß, um nicht dagegen zu protestieren. So könnte die zivile Nutzung der Atomenergie als ein nächster großer politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Streitpunkt an die Wand geschrieben sein.

Andreas Dripke, Hang Nguyen, Marc Ruberg

Von der Entdeckung bis heute

In diesem Kapitel wird eine tour d’horizon gegeben, um das Thema einzuleiten und die heutige und künftige Diskussion in ihren geschichtlichen Kontext zu stellen.

Erste Experimente zur Radioaktivität

Um das Jahr 1890 wurden erste Experimente zur Radioaktivität durchgeführt. Antoine Henri Becquerel, Marie und Pierre Curie waren die ersten Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung von Kernreaktionen befassten. Das Ehepaar Curie prägte den zuvor unbekannten Begriff Radioaktivität. Es bezeichnet die Eigenschaft instabiler Atomkerne, ionisierende Strahlung auszusenden. Der Atomkern wandelt sich dabei unter Aussendung von Teilchen in einen anderen Kern um oder ändert unter Energieabgabe seinen Zustand, wobei eine radioaktive Strahlung entsteht. Dabei kann es sich um Alpha- (Heliumkerne), Beta- (Elektronen) oder die besonders durchdringenden Gammastrahlen (elektromagnetische Strahlung) handeln.10

Atomsorten mit instabilen Kernen nennt man Radionuklide. Diese kommen völlig unabhängig vom Menschen in der Natur vor; radioaktive Substanzen finden zahlreiche Anwendungen, etwa in der Nuklearmedizin oder in der Archäologie zur Altersbestimmung mit der Radiokarbonmethode.

Uran (benannt nach dem Planeten Uranus) ist der häufigste Rohstoff für den Betrieb von Kernkraftwerken. Es handelt sich dabei um ein Schwermetall, das „von Natur aus“ radioaktiv ist und es zerfällt vorwiegend unter Aussendung von Alphastrahlen. Für den Menschen ist Uran übrigens nicht aufgrund seiner relativ geringen Strahlung gefährlich, sondern aufgrund seiner chemischen Giftigkeit: In einer hohen Dosis über einen längeren Zeitraum aufgenommen, kann es Blut, Knochen und Nieren dauerhaft schädigen. Uran kommt nicht nur überall in der Erdkruste, sondern auch in den Ozeanen in riesigen Mengen vor.

Erwähnenswert ist die Halbwertzeit, also der Zeitraum, in dem sich die radioaktive Abstrahlung halbiert, denn dieser Faktor hat entscheidenden Einfluss auf die Risikoabschätzung. So beträgt die Halbwertzeit des Uranisotops 234 beispielsweise 245.000 Jahre. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, wenn die deutsche Gesetzgebung für radioaktiven Abfall eine sichere Lagerung über eine Million Jahre (!) fordert.11

Kurzer Ausflug in die Chemie: Als Isotope bezeichnet man Atomarten, deren Kerne gleich viele Protonen, aber unterschiedlich viele Neutronen enthalten. Sie stellen daher das gleiche chemische Element dar, sind aber unterschiedlich schwer. Natürlich auftretendes Uran besteht zu etwa 99,3 Prozent aus dem Isotop Uran-238 und zu 0,7 Prozent aus Uran-235. Letzteres ist nicht nur durch thermische Neutronen spaltbar, sondern es ist zudem neben dem äußerst seltenen Plutonium-239 das einzige bekannte natürlich vorkommende Nuklid, das zu einer Kernspaltungs-Kettenreaktion fähig ist. Deshalb wird es in Kernkraftwerken und Kernwaffen als Primärenergieträger genutzt (wobei in Waffen auch Plutonium-239 zum Einsatz kommt).12 Sämtliche Uran-Isotope sind radioaktiv.

Die Weltproduktion von Uran betrug im Jahr 2019 etwa 53.656 Tonnen. Große Förderländer sind Australien, Kanada, Russland, Niger, Namibia, Kasachstan, Usbekistan, Südafrika und die USA. Der Verbrauch wird von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) durch den Neubau von Kernkraftwerken für das Jahr 2030 auf 93.775 bis 121.955 Tonnen geschätzt. 13 Schätzungen der IAEO, der Umweltorganisation Greenpeace und der Atomwirtschaft darüber, wie lange die bestehenden Uran-Vorkommen für die Energieerzeugung reichen werden, liegen zwischen 20 und 200 Jahren.14

Um Uran zur Energiegewinnung für den Menschen zu nutzen, genügt indes nicht die bloße Lagerung, sondern es bedarf einer Kernspaltung, bei der ein Atomkern unter Energiefreisetzung in zwei oder mehr kleinere Kerne zerlegt wird. Diese Kernspaltung kann auch als Kernfission bezeichnet werden (im Unterschied zur Kernfusion, bei der mehrere kleinere Atomkerne zu einem größeren Atomkern zusammengebracht werden).15

Im Jahr 1938 entdeckten Otto Hahn und Fritz Straßmann die sogenannte induzierte Kernspaltung von Uran, die 1939 von Lise Meitner und Otto Frisch theoretisch erklärt wurde. Damals wurde klar, dass eine sogenannte Kettenreaktion möglich ist, weil bei jeder durch ein Neutron ausgelösten Kernspaltung mehrere weitere Neutronen freigesetzt werden.16

Zuerst wurden diese Erkenntnisse für die militärische Forschung während des Zweiten Weltkrieges genutzt. Im Rahmen des Manhattan-Projekts gelang Enrico Fermi am 2. Dezember 1942 die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion in einem Kernreaktor in Chicago (Chicago Pile One). Während das Ziel des von Robert Oppenheimer geleiteten Manhattan-Projekts mit der ersten erfolgreich gezündeten Atombombe am 16. Juli 1945 (Trinity-Test) erreicht wurde, gelang es einer deutschen Forschungsgruppe unter Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker bis zum Kriegsende nicht, einen funktionierenden Kernreaktor zu entwickeln.17 Wäre diese damals unter den Namen „Uranprojekt“ erfolgte Entwicklung im Dritten Reich erfolgreich gewesen, stünde die Welt heute möglicherweise unter deutscher Herrschaft.

Begriffe im Wandel

Als einer der ersten prägte der Physiker Hans Geitel 1899 den Begriff Atomenergie für die im Zusammenhang mit radioaktiven Zerfallsprozessen auftretenden Phänomene. Später kamen die Synonyme Atomkernenergie, Atomkraft, Kernkraft und Kernenergie hinzu.

Die Verwendung dieser Begriffe hat eine politisch-ideologisch motivierte Verschiebung erfahren. In den 1950er-Jahren war Franz Josef Strauß Bundesminister für Atomfragen. Eine 1955 in Genf abgehaltene Konferenz mit hochrangigen Wissenschaftlern trug den Titel International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy und wurde in deutschen Medien als Atomkonferenz bekannt. In der Folge dieser Konferenz wurde 1957 die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) gegründet. Der Lobbyverband der an der Technik interessierten deutschen Unternehmen wurde 1959 als Deutsches Atomforum ins Leben gerufen. In den folgenden Jahrzehnten distanzierten sich die Befürworter der Technik von der Vorsilbe Atom und verwendeten in Deutschland ausschließlich Kern. Parallel dazu geschah im englischen Sprachraum eine Verschiebung von atomic zu nuclear. Als Grund gilt die unerwünschte Assoziation mit dem zunehmend negativ besetzten Begriff der Atombombe; die technisch-physikalische Rechtfertigung betont, dass die relevanten Prozesse im Kern ablaufen, und nicht im gesamten Atom, dessen chemische Eigenschaften von der Atomhülle bestimmt werden. Kritiker behielten dagegen die Vorsilbe Atom sowohl in der Eigenbezeichnung Atomkraftgegner als auch in Slogans wie etwa „Atomkraft? Nein danke!“ bei. Sie sprachen weiterhin von Atomenergie und Atomkraftwerken mit der Abkürzung AKW.18

Das Synonym Atomkernenergie wurde in der ersten Zeit der technischen Nutzung verwendet19 (Namensänderung des Atom- ministerium in Bundesministerium für Atomkernenergie 1961) und findet bis heute als atomrechtlicher Begriff etwa beim Länderausschuss für Atomkernenergie Anwendung.20

Erste zivile Verwendung der Kernenergie

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die militärische Forschung fortgesetzt und parallel dazu die zivile Verwendung der Kernenergie entwickelt. Ende 1951 erzeugte der Versuchsreaktor EBR-I (Experimental Breeder Reactor) im US-Bundesstaat Idaho erstmals elektrischen Strom aus Kernenergie.21 Das erste Kraftwerk zur großtechnischen Erzeugung von elektrischer Energie wurde 1954 mit dem Kernkraftwerk Obninsk bei Moskau in Betrieb genommen. Es war das weltweit erste wirtschaftlich genutzte Kernkraftwerk.22

Am 17. Oktober 1955 eröffnete die britische Königin Queen Elizabeth II. an der englischen Nordwestküste das Kernkraftwerk Calder Hall, das als erstes kommerzielles Atomkraftwerk gilt. Die Queen deklamierte: „Mit Stolz eröffnen Wir Calder Hall, Englands erstes Atomkraftwerk, das uns alle benötigte Elektrizität liefert, ohne Kohle oder Öl dafür nutzen zu müssen.“ Tatsächlich produzierte die Anlage jedoch nicht vorrangig Strom, sondern Plutonium für den in direkter Nachbarschaft gelegenen Reaktor Windscale, in dem schon seit 1950 Plutonium zum Atombombenbau gewonnen wurde. Das moralische Dilemma der „Dual Use“, der Möglichkeit, eine Technologie für friedliche und militärische Zwecke zu verwenden, spielte also von Anfang an eine maßgebliche Rolle bei der Kernkraft und ist bis heute für ein zwiespältiges Verhältnis vieler Menschen zu dieser je nach Anschauung Zukunfts- oder Teufelstechnologie verantwortlich. Unter den Ehrengästen in Calder Hall war übrigens auch der deutsche Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, ein Verfechter der atomaren Bewaffnung der kurz zuvor neu gegründeten Bundesrepublik Deutchland.23

Kernkraft in Deutschland seit 1957

In Deutschland wurde 1957 in Garching bei München der erste Forschungsreaktor in Betrieb genommen. Als erstes bundesdeutsches Kernkraftwerk speiste 1961 das AKW Kahl immerhin 15 Megawatt Strom ins westdeutsche Versorgungsnetz ein. 24 1966 nahm in der damaligen DDR das Kernkraftwerk Rheinsberg seinen Betrieb auf.25

Der Ausbau der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte zu dieser Zeit nicht etwa, weil eine Energieknappheit herrschte, sondern war primär auf das Engagement staatlicher Instanzen zurückzuführen. Hingegen fungierten die Energieversorgungsunternehmen lange Jahre als der bremsende Faktor bei der Durchsetzung der Kernenergie“.26 Das auffallend starke staatliche Interesse lässt sich damit erklären, dass in den Anfangsjahren der entscheidende Antrieb für das deutsche Kernenergieprogramm darin bestand, damit die Option auf eine Nuklearbewaffnung zu schaffen. Während die deutsche Atompolitik in Fortsetzung des Atomprojekts während der Nazizeit zunächst auf den Schwerwasserreaktor setzte, übernahm man in den 1960er Jahren das günstigere amerikanische Konzept des Leichtwasserreaktors, was damals als ein „Sieg der Ökonomen über die Techniker“ interpretiert wurde.27

Mit dieser Nachahmung der Amerikaner ergaben sich für Deutschland allerdings einige Probleme: So waren die zivilen amerikanischen Reaktoren in Anbetracht des Status der USA als Atommacht derart gewählt, dass sie von den militärischen Uran- und Plutoniumanlagen profitierten, womit eine fließende Grenze zur Militärtechnik eine Grundvoraussetzung der dortigen Reaktorentwicklung war. Deshalb war die Eignung der amerikanischen Reaktortechnik für Deutschland insoweit fraglich, zumindest für den Fall, dass sich Deutschland für alle Zeiten als Nichtatommacht begriffen hätte.

In den 1960er Jahren wurden zahlreiche weitere Kernkraftwerke mit deutlich höherer Leistung gebaut. So hatte das 1966 in Betrieb gehende Kernkraftwerk Gundremmingen eine Leistung von 250 Megawatt. In den 1970er Jahren wurde insbesondere nach der ersten Ölkrise 1973 der Bau von Kernkraftwerken forciert. Diese Reaktoren wie beispielsweise der Block B des Kernkraftwerks Biblis, leisteten etwa 1,3 Gigawatt. Im Zuge der Proteste der Anti-Atomkraft-Bewegung gegen den Bau des Kernkraftwerks Wyhl 1975 in Deutschland entstand eine größere Opposition gegen die zivile Nutzung der Kernenergie. Gegen den Bau der Kernkraftwerke Brokdorf und Grohnde in den 1970er und 1980er Jahren gab es ebenfalls heftige Proteste.

Unfälle und Katastrophen führen zum Ausstieg

Die Kritik an der Kernkraft verstärkte und verschärfte sich insbesondere durch das schwere Reaktorunglück im Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (USA) am 28. März 1979, bei dem es erstmals zu einer partiellen Kernschmelze kam.28

Am 26. April 1986 ereignete sich die Katastrophe von Tschernobyl, bei der nach einer Kernschmelze auch in Westeuropa große Mengen von Radioaktivität niedergingen. In der Folge nahm insbesondere in Europa die Kritik an der Nutzung der Kernenergie deutlich zu. Im Jahr 2000 wurde in Deutschland auf Druck der Bundesregierung mit dem „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ der Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie bis etwa 2020 beschlossen.29

Zwar wurden in Folge dessen bis 2005 zwei Kernkraftwerke vom Netz genommen. Aber 2010 beschloss die Bundesregierung eine Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre. Dieser Beschluss war von Anfang an politisch und gesellschaftlich stark umstritten, wobei sich der Widerstand nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Japan seit März 2011 verstärkte. Der schwere Unfall in Fukushima hatte gezeigt, dass der weltweit verbreitete Leichtwasserreaktor den Ansprüchen an Sicherheit nicht in jedem Fall genügt. Als Reaktion darauf verkündete die Bundesregierung im März 2011 zunächst ein dreimonatiges Atom-Moratorium; schließlich wurde im Atomkonsens der Ausstieg bis zum Jahr 2022 beschlossen, die acht ältesten Kernkraftwerke wurden sofort stillgelegt.30

Die deutsche Kernkraft und der Krieg in der Ukraine

Zum Jahreswechsel 2021/22 gingen drei weitere deutsche Atomkraftwerke vom Netz, nämlich die Meiler in Gundremmingen an der Donau, Grohnde an der Weser und Brokdorf an der Elbe. Für die dreiverbliebenen deutschen Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 steht laut Planung beim Erscheinen dieses Buch das Betriebsende 2022 fest.31 Grohnde hatte seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 1984 mehr als 400 Terrawattstunden Strom produziert – ein Weltrekord, der 2021 sein Ende fand.32

Die Energiekonzerne RWE, Vattenfall, Eon/PreussenElektra und Enbw, die jahrzehntelang in deutsche Kernkraftwerke investiert hatten, wurden mit einer Entschädigungssumme von 2,43 Milliarden Euro abgefunden.33

Denn das Ende der Probleme beim Abschalten eines Kernkraftwerks ist mit der Stilllegung keineswegs erreicht, wie der Rückbau des bereits 2011 vom Netz genommenen Atommeilers in Biblis zeigte. Mehr als zehn Jahre danach, 2022, wurde immer noch nach einer Deponie für den Restmüll gesucht, insgesamt rund 340.000 Tonnen Abfall. Einen besonders problematischen Teil stellte der sogenannte „freigemessene Abfall“ dar, bei Biblis etwa 10.000 Tonnen. Der Begriff bedeutet, dass Messungen ergeben haben, dass die von diesem Teil ausgehende radioaktive Strahlung so minimal ist, dass kein Gesundheitsrisiko besteht. Aber es war praktisch unmöglich, eine Gemeinde mit einer Mülldeponie zu finden, die diesen Messergebnissen vertraute und sich bereiterklärte, den vermeintlich „sauberen“ Atomschrott aufzunehmen.34

Nach der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 kam indes die Diskussion auf, ob es wirklich angeraten sei, die zu dieser Zeit verbliebenen Atomkraftwerke am Ende des Jahres tatsächlich endgültig abzuschalten. Schließlich schien die Gasversorgung aus Russland mit dem Krieg auf der Kippe zu stehen. Wirtschaftsverbände forderten die Bundesregierung zu einem Energiemoratorium auf: „Im Klartext heißt das, der staatlich forcierte Ausstieg aus der Kohle muss unverzüglich ausgesetzt werden, und die verbliebenen Kernkraftwerke müssen über das Jahresende hinaus am Netz bleiben. Andernfalls besteht die reale Gefahr eines flächendeckenden Blackouts. Eine hochindustrialisierte Volkswirtschaft wie Deutschland braucht eine verlässliche Energieversorgung mit einem Höchstmaß an Unabhängigkeit.“