Die Seele bei der Arbeit - Franco "Bifo" Berardi - E-Book

Die Seele bei der Arbeit E-Book

Franco »Bifo« Berardi

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Beschreibung

War das Zeitalter der Industrie noch durch körperliche Arbeit bedingt, greift der Kapitalismus der digitalen Welt auf Sprache, Kreativität und Emotionen, kurz: die Seele, zu. Doch wie lassen sich emanzipatorische Theorie und Praxis auf der Höhe der Zeit denken, wenn sich die Voraussetzungen derart verschoben haben? In seiner bahnbrechenden Grundlagenanalyse unserer Gesellschaft kehrt Franco "Bifo" Berardi zu den Klassikern kritischer Theorie zurück und sucht sie nach neuen Interpretationszugängen für die Herrschaft des 21. Jahrhunderts ab. Aus den so gewonnenen Neuansätzen lässt sich ein radikaler Weg aus der Sklaverei der Schulden und der allseitigen, einsamen Konkurrenz beschreiben, der jenseits der rastlosen Selbstverbesserung eine neue Form des Zusammenlebens anvisiert.

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Franco ›Bifo‹ Berardi

Die Seele bei der Arbeit

Von der Entfremdung zur Autonomie

Aus dem Englischenvon Kevin Vennemann

Vorbemerkung des Übersetzers

Die von Franco »Bifo« Beradi im Folgenden unterschiedenen Begriffe »Entäußerung« und »Entfremdung« wurden in der marxistischen Tradition zumeist deckungsgleich verwendet und in der Regel unter der geläufigeren Bezeichnung »Entfremdung« zusammengefasst. Dies ist auch in den politischen, theoretischen Diskussionen und Schriften des 20. Jahrhunderts der Fall, die in diesem Buch zitiert werden. Es wurde in unserer Ausgabe der Originaltreue zuliebe darauf verzichtet, solche Zitate und Referenzen zu modifizieren, selbst wenn konzeptuell im Sinne Berardis »Entäußerung« gemeint ist, da der Kontext und die Erklärung Berardis die Bedeutung klar werden lassen. Ansonsten wurde die terminologische Unterscheidung Berardis konsequent beibehalten und der Begriff »Entäußerung« eingesetzt, auch dort, wo im allgemeinen politischen Diskurs oftmals von »Entfremdung« die Rede war.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

1.Arbeit und Entäußerung in der Philosophie der 1960er-Jahre

2.Die Seele bei der Arbeit

3.Die vergiftete Seele

4.Die prekäre Seele

Fazit

Anmerkungen

Literatur- und Filmverzeichnis

Einführung

»Also reden, die da sagen, die Seele sei unkörperlich, eitles Zeug. Denn wäre sie das, so wäre sie nicht fähig zu tun und zu leiden. Nun aber zerlegen offensichtlich doch gerade diese beiden Eigenschaften die Seele in ihre wesentlichsten Bestandteile.«1

Die Seele, von der ich hier sprechen will, hat nicht sehr viel mit dem Geist zu tun. Vielmehr ist sie der lebenswichtige Atem, der biologische Materie in einen lebendigen Körper verwandelt.

Ich will als Materialist von der Seele sprechen. Was der Körper zu tun vermag, das ist seine Seele, wie Spinoza gesagt hat.

Um die Unterwerfungsprozesse zu beschreiben, die mit der Herausbildung der Industriegesellschaften aufkamen, erzählt Michel Foucault die Geschichte der Moderne als Geschichte der Disziplinierung des Körpers und als Geschichte derjenigen Institutionen und Instrumente, die – mittels der Maschinen der gesellschaftlichen Produktion – den Körper unter ihre Kontrolle bringen. Die industrielle Ausbeutung hat es auf den Körper abgesehen, auf Muskeln und auf Arme. Dieser Körper wäre ohne jeden Wert, wäre er nicht lebendig, mobil, intelligent, reaktiv. Die postfordistischen Produktionsformen, die ich im Folgenden als Semiokapitalismus bezeichnen werde, verwenden den Geist, vor allem die Sprache und die Kreativität, als Werkzeuge der Wertproduktion. In der digitalen Produktion wird vor allem der semiotische Strom ausgebeutet, der das Ergebnis der Zeit darstellt, die der Mensch bei der Arbeit verbringt.

In diesem Sinne sprechen wir auch von »immaterieller Produktion«. Sprache und Geld sind alles andere als Metaphern, und dennoch sind sie immateriell. Sie sind nichts und können doch alles: Sie bewegen, verdrängen, vermehren, zerstören. Sie sind die Seele des Semiokapitals.

Wenn wir Michel Foucaults genealogische Arbeit fortsetzen wollen, so müssen wir den Fokus unserer theoretischen Aufmerksamkeit auf die Automatismen der geistigen Reaktivität, Sprache und Imagination verlagern und deshalb auf die neuen Formen der Entäußerung und Prekarität jener geistigen Arbeit, die im Netz geleistet wird.

In diesem Buch werde ich die Sprache des Marxismus, die in den 1960er-Jahren so dominant war, ganz neu untersuchen, um sie auch unter Berücksichtigung der Sprachen des Poststrukturalismus, der Schizoanalyse und Cyberkultur wieder zum Leben zu erwecken.

Obwohl die Sprache jener Zeit den Begriff »Seele« zwar nicht verwendet, will ich hier auf ihn zurückgreifen – metaphorisch und sogar ein wenig ironisch –, um eine Reihe von Fragestellungen noch einmal gründlich zu durchdenken, die sich mit dem Problem der Entäußerung auseinandersetzen. Aus hegelianischer Sicht definiert sich dieses Problem über die Beziehung zwischen menschlichem Wesen und menschlichem Handeln, während die materialistische Sichtweise des italienischen Operaismus die Entäußerung als Beziehung zwischen menschlicher Zeit und kapitalistischem Wert definiert, das heißt als Verdinglichung sowohl des Körpers als auch der Seele. In der hegelianisch-marxistischen Tradition des 20. Jahrhunderts bezieht sich der Begriff »Entäußerung« ausdrücklich auf die Beziehung, die zwischen der Körperlichkeit und dem menschlichen Wesen besteht. Für Hegel bezieht sich das Wort »Entäußerung« auf das Selbst, das zu einem Anderen wird, auf die historische und weltliche Trennung des Seins vom Existierenden.

Bei Marx bezeichnet der Begriff »Entäußerung« die Spaltung zwischen Leben und Arbeit, die Spaltung zwischen der physischen Aktivität der Arbeiter und deren Menschlichkeit, ihrem menschlichen Wesen. Der junge Marx, Autor der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 und späterer Hauptbezugspunkt für die radikale Philosophie der 1960er-Jahre, schreibt dem Konzept der »Entäußerung« eine Schlüsselrolle zu.

Marx zufolge (ähnlich äußerte sich vor ihm aber auch Hegel) sind »Entäußerung« und »Entfremdung« zwei Begriffe, die ein und denselben Vorgang aus zwei verschiedenen Blickwinkeln bezeichnen. Der erste beschreibt das Verlustgefühl, das das Bewusstsein überkommt, wenn es sich vor dem Hintergrund der Kapitalherrschaft einem Objekt gegenübersieht. Der zweite Begriff bezieht sich auf die Konfrontation zwischen dem Bewusstsein und dem Ort der Exteriorität sowie auf die Schöpfung eines autonomen Bewusstseins, das durch die Weigerung entsteht, sich mit seiner Abhängigkeit von der Arbeit abzufinden.

Das Denken des italienischen Operaismus überwand die marxistische Sichtweise, die in jenen Jahren so sehr dominierte: Die Arbeiterklasse wird nun nicht mehr als passives Objekt der Entäußerung verstanden, sondern als das aktive Subjekt einer Verweigerung, das in der Lage ist, eine Gemeinschaft zu formen, die wiederum auf ihrer Entfremdung von den Interessen der kapitalistischen Gesellschaft gründet.

Die Entäußerung gilt also eben nicht als der Verlust menschlicher Authentizität, sondern als die Entfremdung vom kapitalistischen Interesse. In einem Raum, der allen Arbeitsverhältnissen entfremdet und ihnen feindlich gesonnen ist, gilt sie deshalb als notwendige Bedingung für die Entstehung einer jeden endlich wahrhaft menschlichen Beziehung.

Ähnlich deutete sich auch im Kontext des französischen Poststrukturalismus eine Abkehr vom traditionellen Verständnis der klinischen Entäußerung an: Die Schizophrenie – von der Psychiatrie lediglich als Abspaltung und Verlust des Selbstbewusstseins betrachtet – wird von Félix Guattari unter ganz neuen Voraussetzungen gedacht. Die Schizophrenie ist nicht die rein passive Folge einer Bewusstseinsspaltung, sondern eine selbständige Form des Bewusstseins, multipel, wuchernd, nomadisch.

In diesem Buch will ich das begriffliche Gerüst der 1960er, das auf den hegelianischen Begriffen Entäußerung und Totalisierung aufbaut, mit dem begrifflichen Gerüst unserer Gegenwart vergleichen, das auf der Biopolitik und den Psychopathologien des Begehrens ruht.

Im ersten Teil des Buches will ich die Beziehung zwischen der Philosophie der 1960er und den damaligen Theorien der Arbeit darlegen. Im Zuge der Renaissance Hegels und der Entstehung der Kritischen Theorie begann die Industriearbeit unter dem Aspekt der Entäußerung betrachtet zu werden, und die Rebellion der Industriearbeiter gegen ihre Ausbeutung galt als Beginn eines Ent-Entäußerungsprozesses.

Im zweiten Teil des Buches werde ich die graduelle Vergeistigung der Arbeitsabläufe erklären sowie die daraus resultierende Versklavung der Seele. Die Seele zur Arbeit anzutreiben: Dies ist die neue Form der Entäußerung. Unsere begehrende Energie ist in die Falle des Ich-Unternehmens getappt, unsere libidinösen Investitionen werden nach ökonomischen Gesetzen reguliert, unsere Aufmerksamkeit ist in der Prekarität virtueller Netzwerke gefangen: Jedes einzelne Fragment geistiger Aktivität muss in Kapital verwandelt werden. Ich werde beschreiben, wie das Begehren im Verwertungsprozess gelenkt wird, und ich werde zudem auf die psychopathologischen Implikationen der Unterjochung der Seele durch verschiedenste Arbeitsprozesse zu sprechen kommen.

Im dritten Teil werde ich die Evolution mehrerer radikaler Theorien nachzeichnen, vom idealistischen Begriff der Entäußerung bis hin zum analytischen Begriff der Psychopathologie. Ich werde außerdem die Philosophie des Begehrens (Deleuze und Guattari) mit der Philosophie der Simulation (Baudrillard) vergleichen, um die Unterschiede zwischen beiden, aber auch ihre Komplementarität hervorzuheben.

Im vierten Teil des Buches will ich beschreiben, welche Folgen die Prekarisierung der Arbeit, insbesondere die der kognitiven Arbeit nach sich zieht, und außerdem möchte ich die Folgen der biopolitischen Unterjochung der Sprache und Affektionen darstellen.

In meinem Fazit werde ich mich zu dem bevorstehenden Zusammenbruch des psychomaschinistischen Organismus der Weltwirtschaft äußern. Dieser Zusammenbruch, der auf den jüngsten Niedergang des Finanzwesens folgen wird, könnte der Seele ein ganz neues Zeitalter eröffnen: ein Zeitalter der Autonomie und Emanzipation.

1

Arbeit und Entäußerung in der Philosophie der 1960er-Jahre

Arbeiter und Studenten, vereint im Kampf

In den 1960er-Jahren kreisten die verschiedensten Denkrichtungen rund um den Marxismus, der Strukturalismus beispielsweise, die Phänomenologie sowie der Neohegelianismus – und die große internationale Explosion des Jahres 1968 lässt sich als Endpunkt einer theoretischen Arbeit betrachten, die sich auf vielen verschiedenen begrifflichen Ebenen entfaltet hatte, als Schnittstelle verschiedenster Projekte.

Im Jahr 1968 können wir sehen, wie riesige Menschenmengen – Arbeiter und Studenten – mit einer in der Geschichte bis dahin beispiellosen Synchronizität weltweit gegen den kapitalistischen Moloch und die autoritären Systeme der sozialistischen Welt ankämpften.

So betrachtet, bedeutete die 1968er-Bewegung einen ersten bewussten Ausdruck der Globalisierung. In erster Linie existierte der Internationalismus im Bewusstsein seiner Handelnden. In Berkeley setzte man sich für Vietnam ein, während es in Shanghai Solidaritätsbekundungen mit den Pariser Studenten gab. In Prag kämpften Studenten gegen den sowjetischen Autoritarismus, während in Mailand der kapitalistische Staat der Feind war – doch die positive Bedeutung, die von diesen so verschiedenen Bewegungen ausging, war überall dieselbe.

Die Bedeutung dieser Bewegungen lag in dem Entstehen einer neuen historischen Allianz – einer Allianz zwischen der intellektuellen Massenarbeit und der Arbeitsverweigerung der Industriearbeiter.

Obwohl das Jahr 1968 tief in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist, und obwohl es von verschiedenen Denkrichtungen ideologisch zum Leben erweckt wurde, die alle ein fester Teil des 20. Jahrhunderts waren, markiert es den Anfang vom Ende der Industriegesellschaften und den Beginn eines Prozesses, der zur Entkörperlichung des modernen Nationalstaats führte.

Arbeiter und Studenten: Dieses Binom steht für eine ganz neue Zusammensetzung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit und deutet für das 20. Jahrhundert eine ganz neue Form innovativer Potenzialitäten an.

Das Aufkommen der intellektuellen, technologischen und wissenschaftlichen Arbeit war eines der Merkmale des Jahrzehnts. Die politische Macht der 68er-Bewegungen rührte daher, dass die Studenten zu einer Masse wurden. Sie waren Teil der allgemeingesellschaftlichen Arbeitskraft geworden, die global von großer Homogenität geprägt war.

In eben diesen 1960er-Jahren zeigte die Industriearbeiterklasse eine wachsende Entfremdung von der Organisation der Arbeit, bis diese Entfremdung zur offenen Aufsässigkeit und organisierten Revolte wurde.

In einigen Produktionsbereichen, wie zum Beispiel in der Autoproduktion, nahm die Arbeit einen massenhaft entpersonalisierten Charakter an: In diesen Bereichen breitete sich die Arbeitsverweigerung sehr viel rascher und folgenschwerer aus. In mehreren Wellen wurde der europäische Autoproduktionskreislauf gegen Mitte der 1970er-Jahre von Arbeiterkämpfen, Sabotage und Absentismus überschwemmt, bis eine technologische Reorganisation, die auf die Rückeroberung der kapitalistischen Herrschaft abzielte, die Macht der Arbeiter bezwang. Diese technologische Restrukturierung bedeutete, dass die menschliche Arbeitskraft nun durch Maschinen ausgetauscht wurde, sie bedeutete die Automatisierung ganzer Produktionskreisläufe und die Knechtung aller geistigen Aktivität.

»Arbeiter und Studenten, vereint im Kampf« ist vielleicht der bedeutendste Slogan der sogenannten italienischen Biennio rosso, der Zwei Roten Jahre. 1968 und 1969 wurden diese Worte bei Tausenden von Kundgebungen, Versammlungen, Streiks und Demonstrationen gerufen: Sie standen für viel mehr als lediglich für eine politische und ideologische Allianz oder eine nur oberflächliche Form der Solidarität. Sie waren das Zeichen der organischen Integration der Arbeit und des Geistes, sie bedeuteten die bewusste Konstitution des general intellect, den Marx in seinen Grundrissen verhandelt hatte.

Die theoretischen Fragestellungen, die soziologische Imagination und die philosophische Kritik, die in diesen Jahren zur Sprache gebracht wurden, offenbarten sich in den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Studentenbewegung genauso wie in deren kultureller und produktiver Verschmelzung mit einer Bewegung, die von der Verweigerung der Industriearbeit ausging.

Der italienische Neomarxismus, der oftmals auch als »Operaismus« bezeichnet wird, ist eine Denkrichtung, die sich auf die Beziehung zwischen den Kämpfen der Arbeiterklasse einerseits und den intellektuellen und technologischen Transformationen andererseits konzentriert.

Die modernen Intellektuellen

Das Wort »intellektuell« hat heute einen Großteil der Bedeutung verloren, die es im 20. Jahrhundert noch besaß, als sich rund um diesen Begriff nicht nur Fragen des gesellschaftlichen Wissens scharten, sondern auch solche der Ethik und Politik. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachdem die intellektuelle Arbeit nach und nach in den Bereich der wirtschaftlichen Produktion aufgegangen war, veränderte sich ihr Wesen von Grund auf. Als es die digitalen Technologien dann ermöglichten, die einzelnen Fragmente der kognitiven Arbeit miteinander zu verknüpfen, verleibte sich der Wertschöpfungskreislauf die parzellierte intellektuelle Arbeit endgültig ein. Die ideologische und politische Gestalt der Linken seitdem, ein Vermächtnis der vorangegangenen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wurde unter diesen neuen Bedingungen ineffizient.

Unter den Bedingungen der vergangenen bürgerlichen Gesellschaft, also während der modernen Aufklärung, wurde der oder die Intellektuelle jedoch nicht über seine oder ihre soziale Stellung definiert, sondern galt als repräsentativ für ein System allgemeingültiger Werte. Die Rolle, die die Aufklärung den Intellektuellen zuschrieb, bestand darin, die Achtung der Menschenrechte und der Gleichheit sowie die Allgemeingültigkeit des Rechts zu gewährleisten und durchzusetzen – und zwar mittels der Vernunft.

Die moderne Figur des Intellektuellen findet ihre philosophische Rechtfertigung in Kants Denken. Hier tritt der Intellektuelle als eine Figur in Erscheinung, die vollkommen unabhängig ist von aller gesellschaftlichen Erfahrung oder zumindest in seinen oder ihren ethischen und kognitiven Entscheidungen nicht gesellschaftlich beeinflusst wird. Als Träger einer allgemeinmenschlichen Rationalität können wir den aufgeklärten Intellektuellen als gesellschaftliche Verkörperung von Kants »Ich denke« bezeichnen. Der Intellektuelle ist Gewährsperson eines Denkens, das von allen Einschränkungen befreit worden ist und eine allgemeinmenschliche Vernunft verkörpert. In diesem Sinne ist er oder sie die Gewährsperson für die Demokratie. Die Demokratie kann nicht etwa einer kulturellen Wurzel oder Zugehörigkeit entwachsen, sondern allein einem grenzenlosen Horizont aus Möglichkeiten und Optionen – besonders aus der sich allen bietenden Möglichkeit, Einlass zu finden und Bürgerrechte zu erhalten, und zwar als semiotisch Handelnde und als Subjekte, die untereinander Zeichen mit anderen austauschen, um Zugang zur allgemeinen Vernunft zu erhalten. In diesem Sinne befindet sich die Figur des Intellektuellen in Opposition zu der romantischen Vorstellung des Volkes, oder vielmehr ist es so, dass sie vor einer solchen Vorstellung flüchtet. Das allgemeine Denken, aus dem das moderne Abenteuer der Demokratie hervorgegangen ist, bedeutet in der Tat eine Flucht von der Historizität und der Territorialität der Kultur. Niemals kann die Demokratie von nur einer Kultur geprägt sein, von nur einem Volk, nur einer Tradition: Sie muss ein völlig unbegründetes Spiel sein, eine Neuerung und Konvention, und nicht lediglich die Behauptung einer Zugehörigkeit.

Sowohl der historische als auch der dialektische Materialismus machen noch eine ganz andere Perspektive geltend: Der Intellektuelle wird zum Vermittler einer ganz bestimmten historischen Botschaft und muss aus der Geschichte des Denkens in die Geschichte der sozialen Klassen herabsteigen. In der elften seiner Thesen über Feuerbach schrieb Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«2

Marxistische Intellektuelle sehen sich als Instrumente eines geschichtlichen Prozesses, der darauf abzielt, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Das kommunistische Projekt verwandelt die Theorie in eine materielle Kraft und das Wissen in ein Instrument zur Veränderung der Welt. Nur insofern sie am Kampf für die Abschaffung der Klassen und der Lohnarbeit tatsächlich teilnehmen, handeln die Intellektuellen in universaler Mission.

In der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts kommt den Intellektuellen große Bedeutung zu, insbesondere was das revolutionäre Denken des Kommunismus betrifft, das mit Lenin beginnt. In seinem Werk Was tun? schreibt Lenin den Intellektuellen die Verantwortung zu, den historischen Prozess im Interesse der Arbeiterklasse anzuführen. Der Intellektuelle handelt als freier Geist, und zwar nicht im Auftrag existierender gesellschaftlicher Interessen, sondern er dient solchen Anliegen, die erst noch im Entstehen begriffen sind. Er oder sie identifiziert sich mit der Partei, die der höchste kollektive Intellektuelle ist. Für Lenin sind die Intellektuellen keine gesellschaftliche Klasse, sie haben kein spezifisches Interesse daran, jemand Bestimmten zu unterstützen. Sie können zu Handelnden werden und zu Organisatoren eines revolutionären Bewusstseins, das vom philosophischen Denken herrührt. Andererseits können die Arbeiter, obwohl sie im Interesse der Gesellschaft handeln, durch die politische Struktur der Partei, die das philosophische Erbe verkörpert und vermittelt, von einer rein ökonomischen Phase (Hegels Selbstbewusstsein des sozialen Wesens) zur bewussten politischen Phase (Selbstbewusstsein an sich) übergehen.

Mit Gramsci wird das Nachdenken über die Intellektuellen spezifischer und konkreter, trotz der Tatsache, dass auch Gramsci dabei noch an eine Figur denkt, die mit dem humanistischen Intellektuellen verknüpft und die jeder Produktionsdynamik entfremdet ist. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt die Gestalt des Intellektuellen ihr Wesen zu verändern, weil ihre Funktion durch die Technologisierung immer mehr in den Produktionsprozess eingebunden wird.

In Sartres Werk, das von außerordentlicher Bedeutung für das Entstehen der kulturellen Stimmung im Vorfeld des Jahres 1968 ist, knüpft sich die Vorstellung des Intellektuellen noch an die Perspektive des Bewusstseins, und nicht etwa an eine produktive und gesellschaftliche Perspektive:

[D]er Intellektuelle ist jemand, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen, und der vorgibt, die Gesamtheit der gegebenen Wahrheiten und der sich daraus ableitenden Verhaltensweisen anzufechten im Namen einer globalen Auffassung von Mensch und Gesellschaft […].

[Ich] sage […], daß man Wissenschaftler, die an der Kernspaltung arbeiten, um die Waffen des Atomkriegs zu perfektionieren, nicht als »Intellektuelle« bezeichnen wird: das sind ganz einfach Forscher. Wenn sich aber dieselben Forscher, weil sie über die zerstörerische Macht der Waffen, deren Herstellung sie ermöglichen, entsetzt sind, zusammenschließen und ein Manifest unterzeichnen, um die Öffentlichkeit vor der Anwendung der Atombombe zu warnen, werden sie zu Intellektuellen. Denn 1. überschreiten sie ihre Kompetenzen: eine Bombe herzustellen ist eines, über deren Anwendung zu urteilen etwas anderes; 2. mißbrauchen sie ihren Ruhm oder die ihnen zuerkannte Kompetenz, um die Öffentlichkeit zu manipulieren, und verbergen damit die unüberbrückbare Kluft, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse von der politischen Einschätzung trennt, die sie ausgehend von anderen Prinzipien über die von ihnen hergestellten Waffen haben; 3. verurteilen sie in der Tat die Anwendung der Bombe nicht deshalb, weil sie technische Mängel festgestellt hätten, sondern im Namen eines höchst fragwürdigen Wertsystems, dessen höchste Norm das menschliche Leben ist.3

Für Sartre ist ein Intellektueller, wer beschließt, sich für universale Anliegen zu engagieren, ohne jedoch gesellschaftlich für dieses Engagement prädestiniert zu sein. Doch sobald die intellektuelle Arbeit zu einer unmittelbar produktiven Funktion wird, sobald Wissenschaftler zu Arbeitern werden, die der kognitiven Produktionsmaschine zugewiesen sind, und sobald Dichter sich in Arbeiter verwandeln, die von nun an die Werbung, also die imaginative Produktionsmaschine zu verantworten haben – sobald all dies gilt, gibt es keinerlei allgemeine Funktion mehr zu erfüllen. Die intellektuelle Arbeit wird zu einem Teil des autonomen Prozesses des Kapitals.

Im Jahr 1968 deutete sich diese Veränderung in der Fragestellung bereits an, auch wenn sich dieses Wandels nur ein winziger Teil der Bewegung bewusst war.

Der Massenzugang zu Bildung sowie die technologische und wissenschaftliche Veränderung der Produktion haben zu einer neuen Definition der Intellektuellen geführt: Sie sind nun keine Klasse mehr, die von der Produktion unabhängig ist, noch sind sie freie Individuen, denen die Aufgabe einer rein ethischen und freien kognitiven Entscheidungsfindung zukäme. Vielmehr stellen sie ein gesellschaftliches Massensubjekt dar, das kurz davor ist, zu einem wesentlichen Bestandteil des allgemeinen Produktionsprozesses zu werden. Paolo Virno schreibt von der »Massenintellektualität«4, um die soziale Subjektivität zu begreifen, die der Vermassung der intellektuellen Kompetenzen in einer entwickelten Industriegesellschaft entspricht. In den 1960er-Jahren war das Aufkommen der Studentenbewegungen ein Zeichen dieses gesellschaftlichen Wandels, aus dem die neue Figur des Intellektuellen hervorging.

Die italienische »operaistische« Perspektive

Wie gesagt, analysiert der italienische Operaismus (Mario Tronti, Raniero Panzieri, Toni Negri, Romano Alquati, Sergio Bologna) den Perspektivwechsel, der bis zum Ende der 1960er-Jahre heranreift, auf sehr originelle Weise. Ich möchte diese Denkrichtung als »Kompositionismus« bezeichnen, weil ihr wesentlicher Beitrag in der Neuformulierung der Frage nach der gesellschaftlichen Zusammensetzung (composizione) der politischen Organisation besteht.

Der Kompositionismus nimmt eine Neudefinition der leninistischen Vorstellung von der Partei als einem kollektiven Individuum vor, gibt dabei sogar den Begriff des Intellektuellen auf und regt zugleich eine ganz neue Lesart der marxistischen Vorstellung vom general intellect an. In einer Passage seiner Grundrisse, die auch als das »Maschinenfragment« bekannt ist, hatte Marx über den general intellect geschrieben:

Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.5

Zur Zeit der kommunistischen Revolutionen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ignorierte die marxistisch-leninistische Tradition den Begriff des general intellect und begriff deshalb die intellektuelle Funktion als reine Äußerlichkeit sowie als politische Richtung, die innerhalb des rein Spirituellen der Philosophie bestimmt sei. Doch im Zuge der postindustriellen Veränderung der Produktion trat der general intellect als zentrale Produktivkraft in Erscheinung. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts dann, aufgrund der digitalen Technologien und der Errichtung des globalen telematischen Netzwerks, wird die allgemeine Entwicklungsrichtung als general intellect umdefiniert und die leninistische Vorstellung von der Partei für immer aufgegeben. Auch Gramscis Begriff des »organischen Intellektuellen« verliert seinen konkreten Bezug, da er auf der Überzeugung beruht, dass der Intellektuelle einer Ideologie anhänge. Heutzutage ist jedoch allein die Schöpfung einer neuen gesellschaftlichen Sphäre von Bedeutung, die wir als »Kognitariat« bezeichnen können, welches wiederum die gesellschaftliche Subjektivität des general intellect repräsentiert.

Wenn wir den entscheidenden Punkt der Mutationen unserer Zeit festhalten wollen, so müssen wir uns auf die gesellschaftliche Funktion der kognitiven Arbeit konzentrieren. Die intellektuelle Arbeit ist nicht mehr nur eine gesellschaftliche Funktion, die getrennt von der allgemeinen Arbeit existiert, sondern sie wird zu einer transversalen Funktion innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Sie wird zur Schöpfung technischer und linguistischer Schnittstellen, die die Fluidität sowohl des Produktionsprozesses als auch der gesellschaftlichen Kommunikation gewährleistet.

Subjektivität und Entäußerung

In den 1960er-Jahren ließ sich das marxistische Denken in drei verschiedene Richtungen einteilen:

Die erste hob das Denken des jungen Marx hervor, dessen humanistische Neigungen sowie das Problem der Subjektivität: Sie knüpfte an das Werk Hegels an, vor allem an dessen Phänomenologie des Geistes.

Die zweite Tendenz konzentrierte sich auf das Kapital und auf Marx’ Arbeiten, die auf seinen epistemologischen Bruch mit dem Hegelianismus folgten: Diese Tendenz lässt sich mit dem Strukturalismus in Verbindung bringen.

Die dritte Richtung entdeckte und betonte die enorme Bedeutung der Grundrisse und deshalb die Begriffe Komposition und general intellect, während sie begriffliche Anknüpfungen an die Phänomenologie aufrecht erhielt.

Die Institutionen, die damit beauftragt worden waren, Marx’ Werk in akademischer und dogmatischer Hinsicht zu pflegen (also vor allem das Institut für Marxismus-Leninismus der KPdSU), begannen erst sehr spät damit, seine frühe Arbeiten zu veröffentlichen und in Umlauf zu bringen. Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 erschienen erst im Jahr 1957 in einem der Bände der Marx-Engels-Werkausgabe, die der Berliner Dietz Verlag herausgab. Die Grundrisse galten als Skandal, weil sie nun einen Blick ermöglichten auf einen ganz anderen Marx, der sich von dem so strengen Autor des Kapitals unterschied. Hier wurde der ökonomische Materialismus verdünnt, weil nämlich die Manuskripte die Subjektivität der Arbeiter berücksichtigten und deshalb nicht recht in die so geometrische Struktur von Marx’ Hauptwerken passen wollten.

Die allgemeine Atmosphäre infolge des 20. Kongresses der KPdSU im Jahr 1956 bereitete den Weg zu einer Neubewertung verschiedener Strömungen wie beispielsweise des kritischen Marxismus, des radikalen Hegelianismus und des sogenannten humanistischen Marxismus.

Seit den 1950er-Jahren hatte Sartre einen kritischen Kampf gegen den Dogmatismus und Determinismus innerhalb der marxistischen Forschung geführt und auf diese Weise einem humanistischen Ansatz genauso den Weg bereitet wie der Aufwertung der Subjektivität gegenüber dem dialektischen Reduktionismus. Doch Sartres philosophischer Ausgangspunkt war ein radikal antihegelianischer Existentialismus.

Sogar im hegelianischen Flügel hatte es vereinzelte Stimmen gegeben, die sich zugunsten einer Neubewertung der Subjektivität aussprachen. Das neue Interesse an Hegels Denken, das zuerst in den 1920er-Jahren aufkam, sich dann in den Arbeiten der Frankfurter Schule und schließlich bis hin zur Hegel-Renaissance der 1960er-Jahre fortsetzte, führte dazu, dass die Frage nach der Subjektivität und nach dem spezifisch Menschlichen des historischen Prozesses gestellt wurde.

Um das allmähliche Aufkommen der Subjektivität als Thema marxistischen Denkens aufzugreifen, können wir damit beginnen, Marx’ frühes Werk noch einmal zu lesen, das in den 1960er-Jahren nicht nur für die Marx-Forschung wichtig war, sondern auch für die kritische Kultur insgesamt.

Im Zentrum des Denkens des jungen Marx – und bezeichnenderweise auch im Zentrum aller politischen und philosophischen Fragestellungen der 1960er-Jahre – steht die Idee der »Entäußerung«. Wir wollen versuchen, die Bedeutung dieses Wortes zu verstehen:

Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. […] In der Bestimmung, daß der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar: Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innre Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen.6

Marx’ Aufmerksamkeit richtet sich auf die anthropologischen Konsequenzen der Arbeitsbedingungen innerhalb der kapitalistischen Produktion. Was geschieht mit einem Menschen, der in einem Lohnarbeits-Produktionsverhältnis gefangen ist? Im Grunde geschieht dies: Je mehr Energie der Lohnarbeiter in eine Produktionstätigkeit investiert, desto mehr stärkt der Arbeiter oder die Arbeiterin die Macht des Feindes, des Kapitals, und ein umso geringerer Teil dieser Energie bleibt ihm oder ihr noch selbst. Um überleben und einen Lohn erhalten zu können, müssen die Arbeiter ihrer Menschlichkeit ebenso abschwören wie einer menschlichen Investition ihrer Zeit und Energien.

Der Begriff der Entäußerung entstammt Marx’ langem Grübeln über die Religionsfrage und über das Denken Ludwig Feuerbachs:

Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. […] Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer also dieses Produkt, je weniger ist er selbst. Die Entäußrung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußern Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt.7

Die sozialökonomische Ausgangslage der 1960er-Jahre war folgende: Die Industriegesellschaften waren voll entwickelt, der Spätkapitalismus produzierte Waren in immer größeren Mengen, brachte seinen Konsumenten Wohlstand, und hielt sein Versprechen, allen ein glücklicheres ökonomisches Leben zu ermöglichen. Doch diese Befriedigung rein ökonomischer Bedürfnisse wurde von dem allmählichen Verlust des Lebens begleitet, des Vergnügens, der Zeit für einen selbst. Millionen von Menschen mussten diese Erfahrung machen: Je mächtiger die ökonomische Maschine war, desto erbärmlicher wurde das Leben der Arbeiter. Dieses Bewusstsein verbreitete sich vor allem in dieser Zeit, und Marx’ frühe Schriften vermochten es zu interpretieren. Der Begriff der Entäußerung definiert dieses thematische Feld. Marx hatte ihn dem hegelianischen Begriffsfeld entnommen und auf diese Weise eine hegelianische Lesart des gesamten Diskurses legitimiert.

Die thematische Landschaft, die sich hinter den Manuskripten von 1844 ausmachen lässt, ist die des hegelianischen Idealismus. Und tatsächlich wurde die Entdeckung der Manuskripte in den 1960er-Jahren von der raschen und weiten Verbreitung der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und eines Humanismus idealistischen Ursprungs begleitet.

Die begriffliche Form der Entäußerung ist insofern idealistisch, als dass sie eine menschliche Authentizität voraussetzt, ein Wesen, das verloren gegangen ist, negiert, weggenommen, aufgehoben wurde. Deshalb denkt der junge Marx den Kommunismus als Wiederherstellung eines authentisch menschlichen Wesens, das von den Verhältnissen der kapitalistischen Produktion negiert worden war. Anders gesagt: Der kommunistisch-revolutionäre Prozess wird als Wiederherstellung einer ursprünglichen Identität wahrgenommen, deren Perversion und vorübergehende Vernichtung – deren »Entäußerung« – von der gegenwärtigen Bedingtheit der Arbeiterschaft repräsentiert wird.

Der ideologische Mangel dieses Ansatzes besteht ausschließlich darin, dass er ein generisches menschliches Wesen voraussetzt, dessen Negation sich in der konkret historischen Bedingtheit der Arbeiterklasse ausdrückt. Doch wo genau befindet sich die Grundlage dieser Voraussetzung, wenn nicht in der idealistischen Hypostase des menschlichen Wesens? Hier offenbart Marx’ Sprache ihre begriffliche Anknüpfung an diejenige Hegels und an deren fortgesetzter Existenz innerhalb der idealistischen Fragestellung.

Um die idealistische Funktion des Entäußerungsbegriffs besser und die vernetzte idealistische Maschinerie überhaupt verstehen zu können, die sich rund um die Vorstellung des generischen menschlichen Wesens – und der historischen Subjektivität – dreht, müssen wir uns Hegels Werk zuwenden, vor allem der Dynamik seiner Sprache:

Dem Ich, als abstractem Fürsichseyn steht ebenso seine unorganische Natur als seyend gegenüber; es verhält sich negativ dagegen, und hebt [als] Einheit beyder diß auf; aber so daß er es zuerst formirt, es als ein Selbst, die eigne Form anschaut, sich selbst also ebenso verzehrt. Das Daseyn, der Umfang der natürlichen Bedürfnisse, ist im Elemente des Seyns überhaupt eine Menge von Bedürfnissen; die Dinge die zu ihrer Befriedigung dienen, werden verarbeitet; ihre allgemeine innre Möglichkeit, als aüssre, als Form gesetzt. Diß Verarbeiten aber ist selbst in Vielfaches; es ist das sich zum Dinge machen des Bewußtseyns. Aber im Elemente der Allgemeinheit ist es so, daß es ein abstractes Arbeiten wird. – Die Bedürfnisse sind viele. Diese Vielheit in Ich aufnehmen, arbeiten, ist die Abstraction der allgemeinen Bilder; aber ein sich bewegendes Bilden.9

Der entäußerte Charakter der Arbeit wird hier ausdrücklich (wenn auch nur in der sehr dunklen, sehr typischen Sprache Hegels) mit dem Werden des Geistes verknüpft und mit der Dialektik des Für-sich-Seins und des Für-andere-Seins. Diese Art des Denkens absorbiert die gesamte (konkrete, historische) Dialektik der Arbeit und der kapitalistischen Enteignung innerhalb der idealistischen Dialektik des Subjekts und der Substanz. In Hegels Phänomenologie des Geistes lesen wir:

Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sich-selbst-setzens, oder die Vermittlung des Sichanders-werdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, […] nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.10

Trotz seiner Kritik der idealistischen Philosophie bleibt Marx in seinen Manuskripten von 1844 in Hegels Begriffssystem gefangen, wenn er vorschlägt, den Kommunismus als »die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen«11 zu denken, und dem Kommunismus auf diese Weise einen transzendenten und eschatologischen Charakter zuweist, als gäbe es ein radikales Jenseits: eine Wahrheit, die abseits aller Widersprüche des Existierenden verwirklicht werden müsse. Diese theologische Vision des Kommunismus bleibt in der Geschichte der Arbeiterbewegungen nicht ohne Konsequenzen.

Entäußerung zwischen Geschichte und Ontologie

Den großen Erfolg der Kritischen Theorie, deren Fundamente sich auf den Seiten solcher Autoren wie Horkheimer, Adorno und Marcuse finden lassen, können wir im Lichte dieser idealistischen Renaissance begreifen.

Das Problem der Entäußerung befindet sich im Zentrum des kritischen Denkens der Frankfurter Schule und ebenso – wenn auch in vollkommen anderem Tonfall und unter anderen Gesichtspunkten betrachtet – im Zentrum der Reflexionen der Existentialisten, insbesondere bei Jean-Paul Sartre. Als die beiden bedeutendsten Beispiele für den Existentialismus und die Kritische Theorie befinden sich Sartres und Marcuses Standpunkte – obwohl sie sich radikal voneinander unterscheiden – auf demselben Terrain: auf den humanistischen Fundamenten der allmählichen Befreiung vom Kapitalismus. Die Untersuchung dieser beiden so weit auseinandergehenden Positionen wird es uns ermöglichen, ins Herz der Angelegenheit vorzudringen, das für uns so wichtig ist: zur Vitalität des philosophischen Begriffs »Entäußerung« und seiner Erschöpfung während der politischen Kämpfe in den 1960er-Jahren. Den existentialistischen Ansätzen gilt die Entäußerung als unvermeidbares, gar konstitutives Element der menschlichen Bedingtheit, da sowohl die Andersheit (die Bedingtheit der sozialen Beziehung) als auch die Verdinglichung (die Bedingtheit der produktiven Beziehung) einen Verlust des Selbst bedeuten. In der sozialen Beziehung, in der Gegenwart der Andersheit, ist eine gewisse Form der Entäußerung, des Unbehagens implizit. »Die Hölle, das sind die anderen«12, verkündet der Existentialismus. Die anderen sind die Hölle der Entäußerung, ganz unabhängig von den Zuständen, in denen wir leben.

Hegel, Marx und die Frankfurter Schule wiederum teilen die Überzeugung, dass die Entäußerung ontologisch nicht mit der Andersheit und der Verdinglichung gleichzusetzen ist, sondern stattdessen eine historisch determinierte Form darstellt, weshalb es möglich ist, sie auch historisch zu überwinden.

In diesem Zusammenhang schreibt Martin Jay in seinem Buch über die Frankfurter Schule:

Marcuse zufolge hatte Sartre Absurdität fälschlich zu einem ontologischen statt zu einem historischen Umstand gemacht. Die Folge, so Marcuse, sei, daß Sartre auf eine idealistische Internalisierung von Freiheit zurückfallen müsse, eine Freiheit, die sich im Gegensatz zur äußeren, heteronomen Welt befinde. Trotz seiner erklärten revolutionären Intentionen stünden Politik und Philosophie bei ihm in krassem Gegensatz zueinander. Indem er Freiheit in das pour-soi (das Hegelsche für sich) verlege und bestreite, daß das pour-soi zum en-soi (an sich) werden könne, trenne Sartre Subjektivität von Objektivität in einer Weise, die Versöhnung selbst als utopische Möglichkeit leugne. Und indem er die Freiheit des Subjekts überbetone und die Zwänge mißachte, die durch die historischen Umstände produziert würden, werde Sartre gegen seinen Willen zum Apologeten des status quo. Wie Sartre zu behaupten, die Menschen wählten sich ihr Schicksal selbst, und sei es auch ein grausiges, sei einfach absurd[.] […] Für Marcuse war das gesamte Projekt einer »existentialistischen« Philosophie ohne eine apriorische Idee vom Sein einfach unmöglich.13

In Vernunft und Revolution, einem von Herbert Marcuses wichtigsten Texten, lesen wir:

Der seinem Produkt entfremdete Arbeiter ist zugleich sich selbst entfremdet. Seine Arbeit selbst wird nicht länger zu seiner eigenen. Die Tatsache, daß sie zum Eigentum eines anderen wird, verrät eine Enteignung, die ans innere Wesen des Menschen rührt. In ihrer wahren Form ist die Arbeit ein Medium wahrer Selbsterfüllung des Menschen, der vollen Entwicklung seiner Anlagen[.]14

Hier verknüpft Marcuse zwei sehr verschiedene Themen miteinander, als seien sie ein und dasselbe: die Entwicklung der »Anlagen« oder Potentialitäten (die in der sozialen und technischen Geschichte des Konfliktes zwischen Arbeitern und Kapital eindeutig determiniert sind) sowie die menschliche Selbstverwirklichung.

Das erste Thema stellt ein materielles und klar umrissenes Problem dar, während das letztere ein vollkommen idealistisches, essentialistisches ist.

Dem zufolge, was Sartre in seiner Kritik der dialektischen Vernunft behauptet, ist die Entäußerung nichts anderes als die intrinsische Modalität der Alterität, die wiederum die konstitutive Form der sozialen Beziehung und der menschlichen Bedingtheit darstellt.

Während Marcuse die Entäußerung als historische Form betrachtet, die sich letztlich überwinden lassen wird, will Sartre gerade diese historische Bedingtheit an sich anthropologisch fundieren: Er verortet die anthropologischen Wurzeln der Geschichte im Mangel und in der Alterität.

Sartre situiert sich selbst außerhalb des Hegelianischen Feldes, indem er die Entäußerung nicht für eine historische Trennlinie zwischen Existenz und Wesen hält. Deshalb arbeitet er auch nicht an einem Ausweg aus den anthropologischen Dimensionen des Mangels und der Alterität. Er lehnt die theologische Vision des Kommunismus ab, die der dialektische Materialismus geschaffen hatte. Der Mangel, so insistiert Sartre, ist anthropologisch konstitutiv für das geschichtliche Verhältnis.

Entfremdung versus Entäußerung