Helden - Franco "Bifo" Berardi - E-Book

Helden E-Book

Franco »Bifo« Berardi

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Beschreibung

Von der Columbine High School bis zum Batman-Kino-Massaker in Aurora, Amokläufe sind in den letzen Jahren zu einer grausigen Routine geworden. Hinzu treten scheinbar ideologisch oder religiös motivierte Massenmorde wie die von Anders Breivik oder islamistischer Terrorkommandos. All diese Wahnsinnstaten faszinieren und verstören und lassen uns letztlich ratlos zurück. Franco "Bifo" Berardi nähert sich diesen Abgründen der Gegenwart mit detektivischer Akribie: Er erstellt Fallstudien, liest die Manifeste der Attentäter und analysiert die Gemeinsamkeiten im Drang zum zerstörerischen Selbstmord. Entgegen individueller Dämonisierungen gelingt es ihm, die Schreckenstaten als epidemisches Phänomen zu deuten. In ihrer Rache an der Gesellschaft treiben die Täter das gesellschaftliche Prinzip des ›Survival of the fittest‹ auf die Spitze: Man kann nur noch gewinnen, wenn man andere Leben zerstört. So beweisen sie sich zumindest einmal in ihrem Leben, die Geschicke der Welt zu lenken, Herr übers eigene Dasein, eben Helden zu sein.

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Franco ›Bifo‹ Berardi

Helden

Über Massenmord und Suizid

Aus dem Englischenvon Kevin Vennemann

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs

1.

Der Joker

2.

Menschlichkeit ist überbewertet

3.

Einen Moment lang Sieger sein

4.

Chos Psychosphäre

5.

Was ist ein Verbrechen?

6.

Der Automat

7.

Erinnerung

8.

Ihr werdet niemals sicher sein

9.

Selbstmordwelle

10.

Eine Reise nach Seoul

11.

Was sollen wir tun, wenn wir nichts tun können?

Anmerkungen

Bibliografie

Filmografie

Danksagung

Ich will einigen Freunden danken, die mir, mehr oder weniger wissentlich, dabei geholfen haben, dieses Buch zu schreiben.

Dank an Marco Magagnoli, auch bekannt als Mago, für seine telepathische Inspiration. Dank an Max Geraci, dafür, dass er mir die farbenfrohe Bedeutung der Dunkelheit nähergebracht hat. Dank an Federico Campagna für seine Freundschaft und seine unzähligen Anregungen.

Fehler und Hervorhebungen in den zitierten Stellen entsprechen den Fehlern und Hervorhebungen im Original.

Vorwort

Es scheint, als habe der junge Pilot Andreas Lubitz, der sich im März 2015 mit einem Flugzeug voller unschuldiger Menschen gegen einen Berg schleuderte, seinem Arbeitgeber, der Lufthansa-Tochter Germanwings, ein ärztliches Attest seiner depressiven Erkrankung verheimlicht. Das ist natürlich schrecklich, im Grunde jedoch vollkommen nachvollziehbar: Der Turbo-Kapitalismus kann Angestellte nicht leiden, die sich aus gesundheitlichen Gründen beurlauben lassen, und er kann es noch weniger leiden, wenn es sich bei solchen gesundheitlichen Problemen auch nur ansatzweise um eine Depression handelt.

Depressiv? Ich? Ich weiß gar nicht, wovon du redest. Ich fühle mich gut, bin effizient, glücklich, dynamisch, energisch und vor allem wettbewerbsfähig. Ich gehe jeden Morgen joggen und bin jederzeit zu Überstunden bereit. So hört sich doch die Philosophie der Billig-Fluglinien an, oder? Und genauso klingt die Philosophie einer vollkommen deregulierten Ökonomie, in der von allen verlangt wird, dass sie jederzeit nicht weniger als ihr Bestes geben, wenn sie denn überleben wollen.

Seit diesem Selbstmord sehen sich die Fluglinien gezwungen, die psychologische Verfassung aller ihrer Angestellten zu überprüfen. Piloten dürfen auf keinen Fall manisch sein, depressiv, melancholisch oder zur Panik neigen. Und was ist mit Busfahrern und Polizeibeamten, Stahlarbeitern und Lehrern? Sie alle werden sich psychologisch untersuchen lassen müssen, damit die Depressiven unter ihnen vom Arbeitsmarkt entfernt werden können.

Eine wirklich gute Idee. Nur, dass dann eigentlich schon längst die absolute Mehrheit der Bevölkerung hätte beurlaubt werden müssen. Wer einmal offiziell als Psychopath eingestuft wurde, lässt sich problemlos beseitigen, doch was ist mit all den Menschen, die schlicht daran leiden, dass sie unglücklich sind; die zwar ruhig zu bleiben versuchen, aber trotzdem bei jeder kleineren Gelegenheit sofort ausrasten? Zwischen einem Gefühl des Unglücklichseins und einer dauerhaften aggressiven Depression lässt sich nur schwer unterscheiden, und die Zahl der Menschen, die völlig mut- und hoffnungslos sind, wird größer und größer. In den vergangenen Jahrzehnten sind immer mehr Pathologien entstanden, und der Weltgesundheitsorganisation zufolge wächst die Selbstmordrate seit vier Jahrzehnten kontinuierlich. Vor allem unter Jugendlichen ist sie inzwischen gefährlich hoch.

Was hat die Menschen in den vergangenen 40 Jahren dazu getrieben, auf den schwarzen Hund zuzulaufen und ihn so willentlich zu umarmen? Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem so unglaublich häufigeren Drang zum Selbstmord und dem Triumph des neoliberalen Wettbewerbszwangs. Ebenso zwischen der so viel größeren Verbreitung psychischer Fragilität und der Einsamkeit einer Generation, die nur mehr über einen vernetzten Bildschirm noch neue Bekanntschaften macht. Für jeden Menschen, dem es gelingt, sich das Leben zu nehmen, gibt es 20 Menschen, die bereits Selbstmordversuche hinter sich haben. Wir müssen uns endlich eingestehen, dass auf unserem Planeten eine Art Selbstmordepidemie heraufzieht.

So lassen sich möglicherweise auch einige der besorgniserregenden Erscheinungen unserer Zeit genauer erklären, die wir so gerne rein politisch lesen, die sich jedoch allein durch die politische Linse betrachtet nicht ganz begreifen lassen. In erster Linie sollte der Terrorismus unserer Zeit als weit verbreitete Neigung zur Selbstknechtung interpretiert werden. Ich weiß, dass die Schuhada (islamistische Selbstmordattentäter) scheinbar politisch, ideologisch oder religiös motiviert sind. Doch diese Motivation ist nichts anderes als rhetorische Oberfläche. Der innerste Antrieb eines Selbstmörders ist immer die eigene Verzweiflung, Demütigung und Not. Wer beschließt, sein Leben aufzugeben, empfindet sein Leben als unerträgliche Last und den Tod als einzig möglichen Ausweg und den Mord als die einzig mögliche Rache an all denjenigen, von denen sie oder er im Leben hintergangen, gedemütigt und beleidigt wurde.

Die wahrscheinlichste Ursache für den so raschen Anstieg der Selbstmordrate und insbesondere der absoluten Zahl solcher Selbstmorde, die zugleich auch Morde sind, ist die Verwandlung des gesellschaftlichen Lebens in eine Fabrik des Unglücks, der sich scheinbar unmöglich entkommen lässt. Der Vergleich des Gebotes, unbedingt ein Gewinner sein zu müssen, mit der Gewissheit, dass man nie gewinnen wird, führt einem vor Augen, dass man nur noch dann gewinnen kann, wenn man zuerst das Leben anderer zerstört und dann das eigene.

Andreas Lubitz verschanzte sich in seinem mörderischen Cockpit, weil ihm seine Qualen unerträglich geworden waren und weil er seinen Arbeitskollegen, den Passagieren und allen anderen Menschen auf der Erde die Schuld daran gab, dass er so sehr litt. Er tat, was er tat, weil er das Unglück schlicht nicht abschütteln konnte, welches die Menschheit unserer Zeit verschlingt, seitdem die Werbung das gesellschaftliche Gehirn tagtäglich mit obligatorischer Fröhlichkeit bombardiert und seitdem die digitale Einsamkeit die aggressive Stimulation unserer Nerven um ein Vielfaches intensiviert hat, unsere Körper in den Käfigen unserer Bildschirme gefangen hält und der Finanzkapitalismus schlichtweg alle und jeden immer länger und noch länger für das erbärmliche Entgelt der Prekarität arbeiten lässt.

2. April 2015

Vier Anmerkungen in Gestalt eines Prologs

1

Im Juli 2012 beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte damals gerade von dem Attentat gelesen, das während der Premiere des jüngsten Batman-Films in einem Kino in Colorado verübt worden war. Von einer Mischung aus Widerwille und perverser Faszination hatte ich mich schon oft dazu verführen lassen, geradezu begierig über derartige Massenmorde zu lesen, wie sie heutzutage überall und andauernd stattzufinden scheinen – insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch erst als ich von James Holmes und dem Massaker in Aurora las, beschloss ich, über dieses Thema auch zu schreiben. Es war nicht etwa die Gewalt und Absurdität eines Landes, in dem einfach alle nach Belieben Schusswaffen erwerben können, ganz unabhängig davon, ob sie psychische Probleme haben oder nicht. Daran haben wir uns längst gewöhnt. Was mich am meisten faszinierte, war die metaphorische Dichte einer Tat, die die Trennung zwischen Spektakel und echtem Leben (oder echtem Sterben, was dasselbe ist) aufzuheben schien. James Holmes hatte vermutlich nie Guy Debord gelesen. Wir handeln oft, ohne die Texte zu unserem Handeln gelesen zu haben. Dennoch hatte Holmes’ Auftritt etwas Situationistisches. Die gesamte Geschichte der Avantgarde des 20. Jahrhunderts wurde hier auf einen einzigen Punkt zusammengeführt und auf schreckliche Weise neu inszeniert. »Weg mit der Kunst, weg mit dem Alltag, weg mit der Trennung zwischen Kunst und Alltag« forderten die Dadaisten. Holmes, so wurde mir plötzlich klar, wollte die Trennlinie zwischen Betrachter und Film aufheben. Er wollte Teil des Films sein.

Und so begann ich, wie getrieben über dieses Attentat zu lesen. Mein Interesse führte mich schon bald zu noch ganz anderen Geschichten ganz anderer Männer (weißer, schwarzer, alter, junger, reicher, armer Männer, ausschließlich jedoch zu den Geschichten anderer Männer, zu keiner einzigen Geschichte nur einer einzigen Frau – wer weiß schon, warum?), die wahllos Menschen erschossen hatten, und bald darauf begann ich, noch andere Massenmorde zu recherchieren, die viel früher stattgefunden hatten. Diese Nachforschungen brachten mich zu der Erkenntnis, dass sich das Werden unserer heutigen Welt sehr viel besser begreifen lässt, wenn man sich genauer mit derlei fürchterlichen Wahnsinnstaten auseinandersetzt, anstatt sich ausschließlich mit dem sehr beherrschten Wahnsinn unserer Ökonomen und Politiker zu beschäftigen. Ich betrachtete die Qualen des Kapitalismus und den langsamen Untergang der sozialen Zivilisation und betrachtete sie vor einem sehr speziellen Hintergrund: dem des Verbrechens und des Selbstmords.

Die ganze, nackte Wirklichkeit des Kapitalismus liegt heute offen vor uns. Und sie ist schrecklich.

2

Dieses Buch handelt jedoch nicht nur von Verbrechen und Selbstmorden, sondern ganz grundsätzlich von der Errichtung eines nihilistischen Königreiches und von dem suizidalen Trieb, der gemeinsam mit einer Phänomenologie der Panik, Aggression und folglich auch Gewalt die Kultur unserer Zeit durchdrungen hat. Dies ist die Prämisse, unter der ich das Phänomen Massenmord betrachte, wobei ich mich besonders auf die »spektakulären« Implikationen und auf die suizidale Dimension dieser Mordtaten konzentrieren werde.

Dabei interessiere ich mich nicht etwa für den gewöhnlichen Serienmörder, also jenen nur heimlich sadistischen Psychopathen, der sich für das Leid anderer begeistert und der es liebt, anderen beim Sterben zuzusehen. Ich interessiere mich für Menschen, die selbst leiden und aufgrund dieses Leidens zu Verbrechern werden, weil sie allein auf diese Weise ihrem psychopathischen Verlangen nach einer Öffentlichkeit Ausdruck verleihen können, um endlich aus der Hölle ihrer Existenz herauszufinden. Ich schreibe über junge Menschen wie Seung-Hui Cho, Eric Harris, Dylan Klebold und Pekka-Eric Auvinen, die sich das Leben nahmen, nachdem sie versucht hatten, mit der Ermordung unschuldiger Menschen die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Ich schreibe auch über James Holden, der gewissermaßen symbolisch Selbstmord beging, ohne sich im eigentlichen Sinne zu töten.

Ich schreibe über »spektakulär« mörderische Selbstmorde, weil diese Killer auf ganz besonders extreme Weise eine der Hauptentwicklungsrichtungen unserer Zeit verkörpern. Ich sehe sie als Helden eines nihilistischen Zeitalters von geradezu »spektakulärer« Dummheit: des Zeitalters des Finanzkapitalismus.

3

In ihrem Buch The Wretched of the Screen erinnert sich Hito Steyerl an die Veröffentlichung von David Bowies Single Heroes im Jahr 1977:

Pünktlich zum Beginn der neoliberalen Revolution und der digitalen Transformation der gesamten Welt singt Bowie von einer neuen Art Heros. Der Held ist tot – lang lebe der Held! Doch Bowies Held ist kein Subjekt mehr, sondern ein Objekt: ein Ding, ein Bild, ein prächtiger Fetisch – eine Massenware, getränkt von Begehren und aus dem Jenseits der Qualen seines eigenen Niedergangs auferstanden. Man muss sich nur das Video zu dem Lied aus dem Jahr 1977 anschauen, um zu verstehen: Im Clip sehen wir den vor sich hin singenden Bowie aus drei verschiedenen Perspektiven, während verschiedene Schichttechniken sein Bild verdreifachen. Bowies Held ist geklont worden und hat sich in ein Bild verwandelt, das beliebig reproduziert, multipliziert und kopiert werden kann so wie das Gitarrenriff des Songs, das sich mühelos durch Werbeclips für alles Mögliche zieht. Ein Fetisch, der Bowies glamourösen und durch nichts zu beeindruckenden Post-Gender-Look als Produkt verpackt. Bowies Held ist kein legendenhafter Mensch mehr, der exemplarische und begeisternde Großtaten vollbringt. Er ist nicht einmal mehr eine Ikone, sondern ein leuchtendes Produkt von posthumaner Schönheit: ein Bild und nichts als ein Bild. Die Unsterblichkeit dieses Helden geht nicht mehr auf die Stärke zurück, noch jede nur vorstellbare Tortur durchgestanden zu haben, sondern auf seine Fähigkeit, fotokopiert, recycelt und wiedergeboren zu werden. Die Form und Erscheinung dieser Unsterblichkeit mag verändert und gar zerstört werden, doch ihre Substanz wird ewig unberührt bleiben. Die Unsterblichkeit des Dings liegt in seiner Endlichkeit, nicht in seiner Ewigkeit.[1]

Kurz vor dieser Stelle schreibt Steyerl:

1977 liefert die Punkband The Stranglers eine eindeutige Analyse der Lage, als sie das Offensichtliche formuliert: Heldentum is over. Trotzki, Lenin und Shakespeare sind tot. In diesem Jahr 1977, in dem die Linke zum Begräbnis der RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe strömt, legt das Cover eines The Stranglers-Albums seinen eigenen riesigen Kranz aus roten Nelken nieder und verkündet: KEINE HELDEN MEHR. Nie wieder.[2]

In der klassischen Tradition gehörte der Held in das Reich der Epik, nicht in das der Tragödie oder Lyrik. Der Held war jemand, der sich die Natur zu Diensten machte und mit reiner Willenskraft und größtem Mut über die historischen Ereignisse herrschte. Er gründete Städte und schlug die dämonischen Mächte des Chaos zurück. Dieses Bild findet sich noch in der Renaissance, und so lässt sich auch Machiavellis Prinz als der Held des modernen politischen Narrativs lesen: als der Mensch, der den Nationalstaat errichtet, die industrielle Infrastruktur schafft und einer gemeinschaftlichen Identität Form verleiht.

Diese epische Gestalt des Heldentums verschwand gegen Ende der Moderne, als die Komplexität und das Tempo der menschlichen Entwicklungsgeschichte die reine Willenskraft überforderten. Als das Chaos überwog, wurde das epische Heldentum durch riesige Simulationsmaschinen ersetzt. Der Raum des epischen Diskurses wurde von Semio-Konzernen in Beschlag genommen und von Apparaten, die der Ausstrahlung weit verbreiteter Illusionen dienten. Diese Simulationsspiele nahmen häufig die Form kultureller Identitäten an, beispielsweise in populären Subkulturen wie Rock, Punk, der Netzkultur und so weiter. Hier nimmt die spätmoderne Form der Tragödie ihren Ursprung: nämlich an der Schwelle, an der wir die Illusion mit der Realität verwechseln und die Identität für eine wirklich authentische Form der Zugehörigkeit halten. Dieses Missverständnis wird oft von einem eklatanten Mangel an Ironie begleitet, insbesondere wenn der Mensch auf die ununterbrochene Deterritorialisierung unserer Zeit reagiert, indem er sein enormes Verlangen nach einer wirklichen Zugehörigkeit durch Morde, Selbstmorde, Fanatismus, verschiedenste Aggressionen und Kriege auslebt.

Ich glaube, dass der simulierte Held der Subkultur allein durch Ironie und ein bewusstes Verständnis dieser Simulation im Herzen des heroischen Spiels noch einmal eine Chance erhält, sich selbst zu retten.

4

Im Jahr 1977 gelangte die Geschichte der Menschheit an einen Wendepunkt. Die Helden starben oder, besser gesagt: Sie verschwanden. Dabei wurden sie nicht etwa von den Feinden des Heldentums getötet, sondern erreichten eine ganz andere Dimension: Sie lösten sich auf, verwandelten sich in Geister. Nachdem die Menschheit von Pseudohelden aus einer trügerischen elektromagnetischen Substanz getäuscht worden war, verlor sie nun ihren Glauben an die Wirklichkeit und an die Freuden des Lebens und glaubte von nun an nur noch an die unendliche Proliferation der Bilder. 1977 war das Jahr, in dem die Helden zu verblassen begannen und schließlich aus der Welt des physischen Lebens und der historischen Leidenschaften in die Welt der visuellen Simulation und sinnlichen Stimulation weiterzogen. Dieses Jahr 1977 markierte einen dramatischen Einschnitt: Aus dem Zeitalter der menschlichen Evolution trat die Welt in das Zeitalter der De-Evolution oder Dezivilisation über.

Was die menschliche Arbeit und die gesellschaftliche Solidarität in den modernen Jahrhunderten produziert hatten, fiel nach und nach dem räuberischen, vom Finanzwesen eingeleiteten Entrealisierungsprozess zum Opfer. Die konfliktreiche Allianz zwischen tüchtigen Bürgern einerseits und Industriearbeitern andererseits – die, als materielles Vermächtnis der Moderne, das öffentliche Schulwesen, das Gesundheits- und Transportwesen sowie das allgemeine Sozialwesen hinterlassen hatte – wurde den religiösen Dogmen des Markt-Gottes geopfert.

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nahm der postbürgerliche Niedergang die Gestalt eines finanziellen schwarzen Loches an. Dieses neue System verschlang von nun an all das, was mit enormem Fleiß und mit kollektiver Intelligenz in den beiden Jahrhunderten zuvor geschaffen worden war, und verwandelte die konkrete Realität der sozialen Zivilisation in Abstraktionen: Ziffernkolonnen, Algorithmen, mathematischen Ingrimm und die Akkumulation des Nichts in Geldform. Die verführerische Kraft der Simulation verwandelte physische Formen in verblassende Abbilder, unterwarf die bildende Kunst der Verbreitung von Spam und lieferte die Sprache der verlogenen Herrschaft der Werbung aus. Ganz am Ende dieses Prozesses verschwand das Leben im schwarzen Loch der finanziellen Akkumulation.

Nun ist die Frage, was eigentlich geblieben ist von der menschlichen Subjektivität, von unserem Empfindungsvermögen, von unserer Vorstellungsfähigkeit, von unserer Schaffens- und Erfindungsgabe. Werden die Menschen sich aus diesem schwarzen Loch wieder herausarbeiten können und ihre Energien in neue Formen der Solidarität und der gegenseitigen Unterstützung investieren? Die Sensibilität einer ganzen Generation, die mehr Worte von Maschinen als von ihren Eltern gelernt hat, scheint nicht länger in der Lage zu sein, solche Fähigkeiten wie Solidarität, Empathie und Autonomie zu entwickeln. Die Geschichte ist durch die endlos strömende Rekombination fragmentierter Bilder ersetzt worden. Beliebige Rekombinationen fieberhafter prekärer Aktivität haben das politische Bewusstsein und die politische Strategie verdrängt. Ich weiß wirklich nicht, ob es jenseits dieses schwarzen Lochs noch Hoffnung gibt; ob es jenseits der uns unmittelbar bevorstehenden Zukunft noch eine Zukunft gibt.

»Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch«[3], schrieb mit Hölderlin jener Dichter, den Heidegger am meisten liebte. Heidegger, der Philosoph, der die bevorstehende Zerstörung der Zukunft vorhersah. Heute stehen wir vor der Aufgabe, die Karte einer Ödnis zu entwerfen, in der alle gesellschaftliche Vorstellungskraft zum Versiegen gebracht und dem rekombinanten Imaginären der Konzerne unterworfen worden ist. Allein mit dieser Karte können wir nach einer ganz neuen Art des Handelns suchen, das, indem es die Kunst, die Politik und die Therapie durch die prozesshafte Reaktivierung des Empfindungsvermögens ersetzt, der Menschheit vielleicht dabei helfen kann, sich selbst wiederzuerkennen.

1

Der Joker

Sehr echt

20. Juli 2012: Der junge Mann kauft ein Ticket, betritt das Kino und setzt sich in die erste Reihe. Etwa 30 Minuten nachdem der Film begonnen hat, verlässt er das Gebäude durch einen Notausgang, die Tür lässt er offen stehen. Er geht zu seinem Wagen, zieht sich um, legt Schutzkleidung an und holt seine Waffen hervor. Um 0.30 Uhr betritt er das Kino erneut, diesmal durch die zuvor geöffnete Notausgangstür. Er trägt eine Gasmaske, einen Kampfhelm, kugelsichere Beinkleidung, einen Halsschutz und Kampfhandschuhe.

Einige Zuschauer sehen den maskierten Bewaffneten, halten ihn jedoch für einen der vielen begeisterten Batman-Fans, die sich extra für diesen Abend verkleidet haben. Ein Mann, der mit zwei Freunden ins Kino gekommen ist, wird später sagen, dass der Anschlag zunächst wie ein Werbegag zur Filmpremiere ausgesehen habe. Dann, so wird er hinzufügen, wurde die Show »sehr schnell sehr echt«.

Nach ungefähr 20 Minuten, um ungefähr halb eins, gab es im Film einen etwas stilleren und ernsteren Moment, und ein Benzinkanister oder so – ich dachte zuerst an Feuerwerkskörper – flog so quer über die Leinwand und landete irgendwie direkt vor mir und an der Seite des Saals. Die ersten Leute sprangen auf und liefen los. Und dann kam plötzlich von der unteren rechten Seite aus, also von da, wo ich sitze, also in der unteren rechten Seite des Saals, da waren plötzlich diese Funken aus der Mündung einer Waffe. Ich dachte immer noch, es handele sich um ein Feuerwerk. Und dann wurde ich hier getroffen [der Zeuge, Stephen Parton, weist auf seine linke Brust und Schulter, d. Ü.], und mir wurde klar, dass etwas sehr viel Ernsteres los war. Und die Leute begannen zu schreien. Es gab ein riesiges Chaos.[4]

Um 0.38 Uhr wirft der Schütze eine Rauchbombe. Während sich das Gas im Kinosaal ausbreitet, schießt er mit seinem Gewehr zunächst an die Decke, dann ins Publikum. Außerdem schießt er mit einem halbautomatischen Gewehr der Marke Smith & Wesson, namentlich mit einer M&P15, mit 100-Schuss-Magazin, sowie mit einer Glock-22-Handfeuerwaffe. Einige der Kugeln gehen geradewegs durch die Wand und treffen Menschen im Saal nebenan, wo der gleiche Film gezeigt wird. Ein anderer Zeuge:

Er muss 19 oder 20 Ladungen verschossen haben. Links und rechts von uns flüchteten die Menschen. Hinter uns war jemand verletzt, vielleicht jemand, der zu langsam war. Er sagte: »Ich bin getroffen.« [Der Schütze] sah aus wie der Terminator. Er sagte kein Wort. Er schoss einfach nur und schoss und schoss weiter. Die Menschen krochen die Treppen hinunter, versuchten dem Kugelhagel zu entkommen. Es war schlimm. Wirklich schlimm.[5]

Schon bald nach Beginn des Attentats setzt das Alarmsystem ein, und die Angestellten helfen den Menschen nach draußen. Einige Zeugen tweeten über das Attentat oder schreiben SMS, anstatt die Polizei zu rufen. Zwölf Menschen sterben, siebzig weitere werden verletzt. Um 0.45 Uhr wird der Schütze bei seinem Auto verhaftet. Er wehrt sich nicht.

Er hat rötlich-orange Haare, er scheint verwirrt und sich kaum dessen bewusst, was um ihn herum vor sich geht. Wenige Stunden später werden die Ermittler seinen Namen bekannt geben: James Holmes. Der Schütze scheint allein gehandelt zu haben und keiner größeren Gruppe oder gar terroristischen Vereinigung anzugehören. Einer seiner Kommilitonen wird später angeben, dass Holmes mehrmals gesagt habe, dass er töten wolle.

Später sagte ein Gefängnismitarbeiter in einem Interview mit der Tageszeitung Daily News, dass Holmes habe wissen wollen, wie der Film geendet sei. Immer wieder habe der Schütze gesagt, dass er nicht begreife, warum er hinter Gittern sitze. Einige andere Insassen, die ihm begegnet sind, glauben, dass er eine Amnesie vortäusche.[6]

Kunst und Leben

Schon nach wenigen Tagen steht auf eBay für 500 US-Dollar eine Gummimaske mit dem ausdruckslosen Gesicht und den orangen Haaren zum Verkauf, die auf James Holmes’ erstem erkennungsdienstlichen Foto zu sehen sind.

Halloween ist schon in einem Monat. SCHOCKE ALLE, DIE DU KENNST! Er wird »Der Joker« genannt, »Der Dark-Knight-Schütze«, »Der Llama«, »Der außerordentlich Begabte«, aber sein wirklicher Name ist James Holmes! Es gibt nichts Furchterregenderes als in James Holmes’ Hirn zu kriechen und sein Gesicht zu tragen. Seine Augen, die dir direkt in die Seele schauen, und das orangene Haar des Jokers machen diese Maske zu dem Verstörendsten, was du je besitzen wirst. Stell dir nur mal vor, wie es wäre, die Maske des wohl gefährlichsten Massenmörders der amerikanischen Geschichte zu besitzen. Diese hochqualitative Latex-Gummi-Maske wurde extra für einen privaten Sammler aus dem Ausland angefertigt. Ich habe diese Maske in Europa bei einem Pokerturnier mit sehr hohem Einsatz gewonnen. Ich garantire euch, dass diese Maske weltweit die einzige ihrer Art ist, und dass sie praktisch unbezahlbar ist, weil sie in der Produktion des umstreitetsten Dokumentarfilms benutzt wurde, der im Jahr 2013 erscheinen wird. Diese Maske wird so verkauft wie sie ist, und es gibt kein Umtauschrecht. Wenn du um die Maske bieten willst, aber hier bislang noch kein Feedback bekommen hast, musst du zuerst Kontakt mit mir aufnehmen. Ich werde die Maske sofort verschicken, sobald die Bezahlung bei mir eingetroffen ist. Viel Glück![7]

Doch schon bald nach Veröffentlichung der Anzeige entfernte eBay die Maske, die vom Benutzer »realface13« angeboten worden war. Gegenüber ABC News gab eBay an: »Die Anzeige wurde entfernt, weil sie unseren Nutzungsbedingungen bezüglich anstößiger Objekte nicht entsprach. Aus Respekt vor den Opfern von Gewalttaten gestattet eBay keine Anzeigen, die von menschlichen Tragödien und menschlichem Leid profitieren wollen.«[8]

Catwomans Herz ist gebrochen

Ich lese die Nachrichten: Ich kann einfach nicht aufhören. Ich verbringe die halbe Nacht damit, von einer Website zur nächsten zu surfen.

Holmes, der zwölf Menschen erschoss, u. a. die sechsjährige Veronica Moser-Sullivan, betrat das Gefängnis unter »Kindermörder«-Rufen. […] Nach dem Massaker in Aurora in Colorado sagte Holmes, 24, der Polizei als Erstes, dass er Batmans Erzfeind sei, der Joker […]. Sein merkwürdiges Verhalten setzte sich im Gefängnis fort, wo er die Wächter immer wieder anspuckte. Ein Gefängnis-Insider sagte über den Schützen, der sich wegen erhöhter Selbstmordgefahr in Einzelhaft und unter Beobachtung befindet: »Er hat bislang keinerlei Reue gezeigt. Er glaubt, dass er in einem Film mitspielt.« Seine Anrufbeantworteransage war ebenfalls vom Joker inspiriert. […] Häftling Wayne Medley, 24, der in der Strafanstalt war, als Holmes hereingebracht wurde, sagte: »Sämtliche Insassen sprachen davon, dass sie ihn umbringen wollten. Alle suchten nach einer Möglichkeit. Sie sprachen über gar nichts anderes mehr.«[9]

Im Anschluss an das Attentat sagte die Catwoman-Darstellerin Anne Hathaway: »Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, wie viele Leben diese unfassbare Tat genommen und so grundlegend verändert hat. Mir fehlen die Worte, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen. In meinen Gedanken und Gebeten bin ich bei den Opfern und ihren Familien.«[10]

Christopher Nolan, der Regisseur von The Dark Knight Rises, ließ eine Mitteilung veröffentlichen:

Ich spreche im Namen der Besetzung und der Crew von The Dark Knight Rises, wenn ich unserer großen Trauer über diese sinnlose Tragödie Ausdruck verleihen möchte, die über die gesamte Bevölkerung von Aurora hereingebrochen ist. Ich möchte mir nicht anmaßen, nur irgendetwas über die Opfer des Attentats zu wissen, außer dass sie letzte Nacht dort waren, um einen Film zu sehen. Ich glaube, dass das Kino eine der großen amerikanischen Kunstformen ist, und das gemeinsame Erlebnis, einer Geschichte dabei zuzusehen, wie sie sich auf der Leinwand entfaltet, ist eine wichtige und geradezu beglückende Beschäftigung. Der Kinosaal ist mein Zuhause, und die Vorstellung, dass jemand einen solch unschuldigen und hoffnungsvollen Ort auf derart unerträglich grausame Weise schänden könnte, bringt mich zur Verzweiflung. Nichts, das irgendjemand von uns sagen könnte, könnte auf angemessene Weise unsere Gefühle für die unschuldigen Opfer dieses entsetzlichen Verbrechens zum Ausdruck bringen. Doch unsere Gedanken sind bei ihnen und bei ihren Familien.[11]

Im Anschluss verschob DC Comics die Veröffentlichung des Bandes Batman Incorporated #3, in dem es eine Szene gibt, in der eine als Lehrerin verkleidete Agentin der Verbrechensorganisation Leviathan mit einer Handfeuerwaffe in einem Klassenzimmer voller Kinder herumfuchtelt. Außerdem zog Warner Bros. den Trailer für den Film Gangster Squad zurück, weil es darin eine Szene gibt, in der in einem Kino auf das Publikum geschossen wird.

Der Joker und Gott

Wer ist James Holmes? Wer ist der junge Mann, der in das Kino von Aurora eindrang und über die Mauer sprang, die die Kunst und das Leben voneinander trennt?

Der 24-jährige Joker ist verschiedentlich als jemand beschrieben worden, der »Probleme« habe, »instabil« sei oder »den Kontakt zur Realität verloren« habe. Es wurde behauptet, der junge Killer habe unter satanischem Einfluss gehandelt. Der Hauptpfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche von Rancho Peñasquitos, eines Vororts von San Diego, erinnerte sich an Holmes als einen schüchternen, intelligenten Jungen, der äußerst motiviert war, die Schule und später sein Studium erfolgreich abzuschließen. Der Pastor sagte, dass die Familie Holmes seit ungefähr zehn Jahren zur Kirche von San Diego gehöre und dass die Mutter des Schützen regelmäßig den Gottesdienst besucht habe und außerdem ehrenamtlich aktiv gewesen sei.

Benge Nsenduluka schreibt in der Christian Post, dass James ein »normaler christlicher Junge« gewesen sei, der »sich sehr in seiner presbyterianischen Kirchengemeinde engagiert«[12] habe.

In einem Artikel mit dem Titel »What Presbytarians Believe«, schrieb Reverend G. Aiken Taylor im Jahr 1960:

Presbyterianer glauben, dass alles, was geschieht, nach Gottes Wille geschieht und allein als Gottes Wille verstanden werden kann. Einem Menschen kann nichts geschehen, das Er nicht gemäß seiner Absichten und seiner Ehre zulässt. Er verwirft die Taten böser Menschen, und Er zerstört das Böse in ihnen. Er gestaltet nach einem Plan, »der alles so verwirklicht, wie Er es in Seinem Willen beschließt«[13], und Er verwandelt alles – sogar das offensichtlich Böse – in das größtmöglich Gute im Leben derjenigen, die Ihn lieben und zur Erfüllung Seiner Zwecke aufgefordert werden.[14]

Gleich nach dem Amoklauf gab der christliche Apologet Rick Warren der so »liberalen Art und Weise« die Schuld, auf die die öffentlichen Schulen die Evolutionstheorie unterrichteten und Gebete verböten. Auf Twitter schrieb er an seine Follower und Gläubigen: »Wenn wir unseren Schülern beibringen, dass sie kein bisschen anders als Tiere sind, dann handeln sie auch entsprechend.«[15] Bryan Fischer, Vorsitzender der Gruppe Issue Analysis for Government and Public Policy bei der American Family Association gab sich überzeugt, dass das Attentat unmittelbar mit denjenigen Linken in Verbindung stehe, die »sechzig Jahre lang zu Gott gesagt haben, dass er sich doch verziehen möge«[16]. In der Radiosendung Focal Point, zu Deutsch Brennpunkt, die von dem Rundfunkbetreiber American Family Radio über sein Netzwerk von insgesamt 125 lokalen Sendezentren ausgestrahlt wird, erklärte Fischer, dass Amerika allein deshalb existiere, weil Gott diese Nation erschaffen habe,

um zu zeigen, wie eine Nation aussehen kann, die der Heiligen Schrift folgt und die Gott folgt, wie er in der Heiligen Schrift erscheint. […] Um für die restliche Welt ein Modell einer Kultur zu schaffen, die von dem Geist des Herrn durchdrungen ist, von dem Geist Jesus Christus’, von dem Evangelium Jesus Christus’ und, zweitens, um dessen gute Botschaften überall in der Welt zu verkünden. […] Heutzutage können wir in öffentlichen Schulen nicht einmal mehr beten. 1963 haben wir die Bibel aus den öffentlichen Schulen verbannt. […] Dann haben wir uns 1980 der Zehn Gebote entledigt. Vergesst nicht das Gebot: »Du sollst nicht töten.« Was wäre heute, wenn [Holmes] in der Schule täglich mit einem solchen Gebot konfrontiert worden wäre? Was wäre, wenn die Zehn Gebote wieder in Kraft gesetzt würden: »Du sollst nicht töten.« Wer weiß, ob alles nicht ganz anders gekommen wäre. Aber wir haben die andere Richtung eingeschlagen. Seit 60 Jahren folgen wir nun bereits dem Weg der Linken. Und was haben wir davon? Wir haben Massenmorde in Aurora.[17]

Mike Huckabee, der 44. Gouverneur von Arkansas und 2008 einer der Kandidaten für die republikanische Präsidentschaftskandidatur, gab der Sünde und – was sonst? – einer auf geradezu mythische Weise heraufziehenden Säkularisierung die Schuld an dem Amoklauf von Colorado: »Letztlich haben wir es weder mit einem Problem der Kriminalität noch mit einem Waffenproblem zu tun, nicht einmal mit einem Gewaltproblem. Wir haben ein Sündenproblem.«[18]

Geächtet

Einige Wochen bevor James Holmes seinen schrecklichen Plan in die Tat umsetzte, versuchte er auf einer Online-Dating-Website eine emotionale Verbindung herzustellen. Es scheint, als sei er damals bereits von seiner unmittelbar bevorstehenden Verhaftung ausgegangen, denn in seinem Nutzerprofil fand sich die Zeile: »Wirst du mich im Gefängnis besuchen?« Einleitend schrieb er außerdem: »Suche nach einem Mädchen, das für ein Techtelmechtel oder für Gelegenheitssex offen ist. Bin ein netter Typ. Nun ja, so nett man halt ist, wenn man Blödsinn wie diesen hier macht.«[19]

Nachdem er am 5. Juli sein Nutzerprofil eröffnet hatte, nahm Holmes zu drei Frauen Kontakt auf, doch alle drei gaben ihm einen Korb. Eine von ihnen sagte später, dass Holmes in Wirklichkeit gar nicht an Sex interessiert war, sondern dass er »nur ein wenig plaudern, […] nichts Sexuelles wollte«.[20]

Der Neuropsychologe Dominic Carone meinte, dass es Holmes vermutlich schwergefallen sei, mit anderen auf einer emotionalen Ebene umzugehen. Außerdem vermutete er, dass Holmes in der Vergangenheit sozial geächtet und schikaniert worden sei und sich deshalb so sehr mit dem Joker identifiziert habe.[21]

Holmes fuhr die etwa acht Kilometer von seiner Wohnung bis zu dem Multiplexkino Century 16 in einem großen Einkaufszentrum in der Innenstadt von Aurora. Er war bereit. Er kaufte ein Ticket für die Mitternachtsvorstellung von The Dark Knight Rises, betrat den Saal gemeinsam mit den anderen vorfreudigen Kinogängern, nur um den Saal dann durch den Notausgang wieder in Richtung Parkplatz zu verlassen. Sein sehr echter Amoklauf begann, als er mit einem ganzen Arsenal an Munition in das Kino zurückkehrte.

Waffen

Dan Oates, der Polizeichef von Aurora, berichtete:

Holmes erwarb vier Schusswaffen in verschiedenen Waffengeschäften in der Stadt, und über das Internet kaufte er über 6000 Schuss Munition, mehr als 3000 Schuss Kleinkalibermunition für das Sturmgewehr, 3000 Schuss Kaliber 10 mm für seine zwei Glock-Pistolen und 300 Schuss für ein Gewehr mit dem Kaliber 12. Außerdem erwarb er im Internet mehrere Kleinkalibermagazine für das Sturmgewehr, darunter ein Trommelmagazin mit 100 Schuss, das am Tatort gefunden wurde. Einige Experten sagten mir, dass er, obwohl dieses Magazin nur ein halbautomatisches war, wohl etwa 50 bis 60 Schuss pro Minute abgefeuert hat. Soweit wir wissen, wurde in dem Kinosaal ziemlich schnell gefeuert.[22]

Außerdem hatte Holmes seine Wohnung äußerst geschickt und auf sehr komplizierte Weise mit einer großen Menge Sprengstoff vermint.

Einige Tage nach dem Amoklauf von Aurora veröffentlichte Gregory D. Lee auf dem Blog theintellub den Artikel: »Wer ist verrückter: James Holmes oder die Fürsprecher strengerer Waffenkontrollen?«:

Würden Waffengegner sich besser fühlen, wenn Holmes, anstatt auf Schusswaffen zurückzugreifen, Sprengstoff benutzt hätte, um 16 ausverkaufte Kinosäle in die Luft zu jagen und das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen? Was wäre, wenn er mit zwei Macheten auf seine hilflosen Opfer losgegangen wäre? Das Entscheidende ist doch, dass es letztlich egal ist, welche Waffen benutzt werden, wenn der Täter wild entschlossen ist, so viele Menschen umzubringen wie körperlich nur irgend möglich. Grundböse Menschen wie Holmes werden schon einen Weg finden.[23]

John Lott zufolge, Autor des Buches More Guns, Less Crime, sinke die Verbrechensrate sofort und kontinuierlich, wenn es gesetzlich erlaubt ist, immerhin eine nicht sichtbare Waffe zu tragen, weil nämlich Kriminelle von dem Risiko abgeschreckt würden, ein womöglich bewaffnetes Opfer anzugreifen.[24] Ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung scheint überzeugt davon, dass er sein Leben und – noch viel wichtiger – sein Eigentum viel besser schützen könne, wenn er in der Öffentlichkeit bewaffnet ist.

Und dennoch sind die Vereinigten Staaten neben Finnland das Land mit der weltweit höchsten Zahl von Amokläufen. Außerdem sind die USA mit 88 Waffen auf 100 Einwohner, inklusive Kindern, das Land mit der weltweit höchsten Waffenbesitzquote. Finnland liegt mit 32 Waffen auf 100 Einwohner auf dem achten Rang. Dazwischen finden wir Länder wie Irak und Jemen, wo Attentate aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen nahezu Alltag sind.

Auf der Website des Waffenverbandes Gun Owners of America (der einzigen Waffenlobby in Washington, die wirklich keinerlei Kompromisse eingeht) wird verkündet:

Schusswaffen retten sehr viel häufiger ein Leben als dass sie töten. Schusswaffen verhindern sehr viel mehr Verletzungen als sie verursachen. Gesetzestreue Bürger benutzen ihre Waffen 2,5 Millionen Mal jährlich, um sich gegen Kriminelle zu verteidigen – 6850 Mal pro Tag. Dies bedeutet, dass unsere Schusswaffen aufrichtigen Bürgern pro Jahr bis zu 80-mal häufiger das Leben retten, als dass sie ein Leben nehmen. 2,5 Millionen Mal jährlich verteidigen die Bürger Amerikas ihr Leben mit einer Schusswaffe, und die große Mehrheit muss ihre Waffe gar nur zücken oder lediglich einen Warnschuss abgeben, um ihre Angreifer abzuschrecken. In weniger als 8 % aller Fälle tötet oder verwundet ein Zivilist oder eine Zivilistin ihren oder seinen Angreifer. Pro Jahr benutzen nicht weniger als 200.000 Frauen eine Schusswaffe, um sich gegen ein Sexualverbrechen zu verteidigen. Bewaffnete Bürger töten mehr Gauner als die Polizei. Zivilisten erschießen jährlich mehr als doppelt so viele Kriminelle (1527 insgesamt) wie die Polizei (606).[25]

Wir sollten nicht vergessen, dass die Identität Amerikas durch die Ausrottung der Ureinwohner geschmiedet wurde, die das Land lange vor der Ankunft europäischer Puritaner bewohnten.

Was bedeutet der Begriff »Puritaner«? »Pur« wird so verstanden, dass allein das, was dem Wort Gottes entspricht, zu leben verdient. Die Kolonialisierung Südamerikas durch die »unreinen« (impure) Katholiken aus Spanien war genauso brutal wie jede andere Kolonialisierung auch. Doch die unreinen Katholiken arrangierten sich mit den Mythologien und mit der Lebensweise der Eingeborenen, und ein Rest der präkolumbianischen Zivilisationen Zentral- und Südamerikas hat überlebt. Heute lebt die Indio-Kultur wieder auf, und sogar die Nachfahren indigener Völker, wie beispielsweise Evo Morales, können inzwischen zu Staatsoberhäuptern werden.

Die puritanischen Killer jedoch, die nichts duldeten, was ihnen als »Unreinheit« galt, vernichteten mit dem umfassendsten Völkermord der Menschheitsgeschichte jede Spur und jeden Ursprung der eingeborenen Kulturen und Bevölkerungen. Dies ist die Wiege der Vereinigten Staaten von Amerika.

Der heutige Tag ist eine Schande

Am frühen Morgen des 28. September 2012 erschießt ein Mann einen maskierten Eindringling, der anscheinend versucht hatte, in das Haus der Schwester des Mannes in New Fairfield in Connecticut einzudringen. Der Mann erfährt später, dass es sich bei dem Einbrecher um seinen eigenen 15-jährigen Sohn handelt, Tyler Giuliano. Die Polizei gibt später an, dass die Schwester, die allein zuhause gewesen war, ihren Bruder angerufen habe, Tylers Vater, der gleich nebenan lebte. Der Mann sei mit einer geladenen Waffe hinübergeeilt und habe das Feuer auf die maskierte Person eröffnet, die ihm mit etwas in ihrer Hand entgegentrat, das, der Polizei zufolge, wie eine Waffe ausgesehen habe.

Es war unklar, warum sich der ganz in Schwarz gekleidete Teenager mit einer Skimaske über dem Kopf mitten in der Nacht vor dem Haus seiner Tante versteckt gehalten hatte. Stadtrat John Hodge sagte, Guiliano habe gegenüber der Polizei angegeben, dass die maskierte Person ihn angesprungen habe. Erst als die Polizei dem Jungen die Skimaske abnahm, stellte sich heraus, dass der ältere Giuliano, ein Lehrer im Ort, seinen eigenen Sohn erschossen hatte.

Sowohl Jeffrey Giuliano als auch sein Sohn, ein Zehntklässler an der New Fairfield High School, schienen glücklich und sehr beliebt zu sein. Eine Nachbarin, Lydia Gibbs, sagte, dass sie neun Schüsse gehört und gedacht habe, es handele sich um ein Feuerwerk.

»Die ganze Sache ist ein bisschen wie aus einem Hollywood-Drehbuch«[26], sagte Hodge.

Am 14. Dezember 2012 begeht ein 20-jähriger Mann, Adam Lanza, eines der entsetzlichsten Verbrechen der amerikanischen Geschichte: Nachdem er seine eigene Mutter erschossen hat, fährt er zur Sandy Hook-Grundschule und tötet sechs erwachsene Mitarbeiter und 20 Kinder. Als die Polizei eintrifft, nimmt sich der junge Killer mit einem Kopfschuss das Leben. Nach dem Virginia-Tech-Attentat von 2007 handelt es sich bei dem Attentat von Sandy Hook um den zweittödlichsten Amoklauf eines Einzeltäters in der amerikanischen Geschichte und nach dem Bombenattentat an der Bath School in Michigan 1927 um den zweittödlichsten Amoklauf an einer amerikanischen Grundschule.