Die Stadt der Freiheit - Silvia Hildebrandt - E-Book

Die Stadt der Freiheit E-Book

Silvia Hildebrandt

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Beschreibung

Drei Freunde trotzen den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit. Der Ungar Attila schwärmt heimlich für seinen Lehrer. Sein bester Freund Tiberiu, Sohn des Chefs der rumänischen Geheimpolizei, möchte sich in der Armee beweisen, sympathisiert aber mit einer Revoluzzergruppe. Und die Roma Victoria wird zur Hochzeit mit einem gewalttätigen Mann gezwungen. Als ein politischer Skandal die drei auseinanderreißt, müssen sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie kämpfen wollen. Für oder gegen den Diktator Ceausescu. Für oder gegen das eigene Glück. Eine Geschichte über Verschwörung und Revolution, Liebe und Hass und wie Freundschaft tiefe Gräben überwinden kann.

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DIE STADT DER FREIHEIT

SILVIA HILDEBRANDT

1. Auflage 2020

ISBN 978-3-947706-12-9 (Taschenbuch) ISBN 978-3-947706-13-6 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Luise Deckert - Magdeburg Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler unter Verwendung eines Fotos von Craig Whitehead via Unsplash Layout: LoreDana Arts - ErftstadtKonvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Silvia Hildebrandt

Die Stadt der Freiheit

Zum Buch

Drei Freunde trotzen den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit.

Der Ungar Attila schwärmt heimlich für seinen Lehrer. Sein bester Freund Tiberiu, Sohn des Chefs der rumänischen Geheimpolizei, möchte sich in der Armee beweisen, sympathisiert aber mit einer Revoluzzergruppe. Und die Roma Victoria wird zur Hochzeit mit einem gewalttätigen Mann gezwungen.

Als ein politischer Skandal die drei auseinanderreißt, müssen sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie kämpfen wollen.

Für oder gegen den Diktator Ceausescu. Für oder gegen das eigene Glück.

Eine Geschichte über Verschwörung und Revolution, Liebe und Hass und wie Freundschaft tiefe Gräben überwinden kann.

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Dear Comrade Novák«.

Timișoara, 1. Dezember 1989

Sie nennen ihn Attila den Hunnen, Steppenfalke, Schwuchteljäger. Tatsächlich ist sein Name Attila. Als er jung war, gaben ihm seine Eltern, seine Freunde, das ganze Dorf den Spitznamen Attikó. Jetzt wagt es keiner mehr, ihn so zu nennen. Jeder weiß um seine erstaunliche Karriere bei der Geheimpolizei.

Seine Verhöre dauern fünfzehn Minuten; die Zeit, die es braucht, um Maurice Ravels Bolero zu spielen. Attila benutzt diese Platte jedes Mal, wenn er an einem Subjekt arbeitet. Mit den Jahren verwandelte er seine Verhöre in eine epische Vorstellung. Jeder Augenblick ist perfekt inszeniert. Mit sanfter Stimme spricht er über das Wetter. Wie schön die Sonne doch heute scheint, nicht? Er gibt vor, ein Freund zu sein, nur um die Information, die er braucht, in den letzten dreißig Sekunden herauszuquetschen. Er sprengt und zerstört die menschliche Seele, wie die Musik es ihm vorgibt.

Niemand bricht Menschen schneller in den Kellerräumen der Securitate.

An diesem Tag im Dezember wird er zu seinem härtesten Auftrag gerufen. Nur Attila der Hunne, der Spezialist, kann diese Aufgabe knacken. Nur er kann die Intrigen aus dem inneren Zirkel des Militärs aufdecken. Nur er kann einen befreundeten Genossen aus der renommierten Garnison von Timișoara verhören.

Attila liebt die Routine. Auch an diesem Tag im Jahr 1989 weicht er nicht von ihr ab. Er verlässt sein Büro, schnappt sich seine mit Blut besprenkelten Lederhandschuhe und marschiert exakt fünf Schritte durch den Korridor. Er zieht die Handschuhe an, bevor er den Türgriff berührt, bevor der fensterlose, schalldichte Raum ihn verschluckt.

Er sieht sein Opfer nicht an, wenn er den Raum betritt. Sie müssen zu ihm aufblicken. Keine Worte werden gesprochen, als er die Nadel auf die Platte loslässt und der Klarinettist sie in der falschen Hoffnung wiegt, dies könnte ein fröhliches und angenehmes Treffen werden, nur eine Formalität. Dann setzt er sich auf den Stuhl in der Mitte des dunklen Raums. Nachdem er sich räuspert und die Tischlampe anknipst, schaut er sein Gegenüber zum ersten Mal an.

Aber an diesem Tag, zum allerersten Mal in seiner Karriere, muss er heftig schlucken. Er ist nervös. Er weiß ganz genau, wer da sitzt. Sein bester Freund aus Kindergartentagen. Rette ihn, will sein Herz sagen. Mach ihn schnell fertig, rät ihm sein Überlebensinstinkt.

Attila holt tief Luft. »Nicolescu Tiberiu.«

»Tag, Atti.«

Attila spielt mit einem Stück Papier, seine Arme schützend vor seinem Körper verschränkt. Er kann dem Mann nicht in die Augen sehen. Er wird versagen, diese Mission kann er nicht vollenden. Das ist das Ende. Er kann seinen besten Freund nicht zerstören.

»Geile Karriere. Oberinspektor von Timișoara. Wer hätte das gedacht, hm?«, sagt Tiberiu, Ex-Căpitan der rumänischen Volksarmee, verurteilt wegen der Planung eines Mordanschlags auf Präsident Ceaușescu.

»Ich bin derjenige, der hier die Fragen stellt«, poltert Attila, zusammen mit Ravels Trommel.

»Uh, jetzt hab ich aber Angst. Okay, wie du willst. Du kannst mich alles fragen. Du beginnst deinen Auftritt immer mit belanglosem Geplapper über das Wetter, nicht?«

Attilas Zunge ist wie gelähmt. Er kann sich nicht mehr bewegen. Wut gräbt ihre Klauen in seine Eingeweide.

»Also es ist viel zu warm für Dezember. Zehn Grad, Nieselregen, kein Schnee. Der Wind kommt aus Nordwest.« Nicolescus Augen hypnotisieren ihn, nehmen in gefangen. »Zumindest hab ich mir das sagen lassen, in meiner fensterlosen Zelle.«

»Du kannst von Glück sprechen, dass wir dich nicht nach Bukarest schicken.«

»Ja, ja. Ich bin dankbar dafür. Wette, die spielen dort keine Musik, während sie dir die Knochen brechen. Nette Platte. Ist das nicht dieselbe, die ich dir zum Fünfzehnten geschenkt habe?«

Oh, das läuft nicht wie geplant. Attila spürt, wie ihn sein Selbstvertrauen mit jeder Sekunde, jeder Minute, in der die Musik lauter wird, verlässt. Trotzdem fragt er mit fester Stimme: »Was hast du am zwanzigsten Oktober gemacht?«

»Oktober? Weiß nich’ mehr. Sag du’s mir doch.«

»Kommt dir der Name Weißer Winter bekannt vor?«

»Nö. Sollte er?« Attila öffnet den Mund, aber Nicolescu spricht weiter: »Natürlich kommt er mir bekannt vor. Wer weiß nicht, was Weißer Winter ist? Die Leute lieben doch Klatsch und Tratsch. Das ist die Gruppe, die Ceaușescus Tod plant. Wette, die machen bald ’ne Telenovela draus. Ist doch in der Regenbogenpresse schon so bekannt.«

»Sie hatten ein Treffen am zwanzigsten Oktober.«

»Oh.« Tiberius Augen weiten sich. »Woher wissen Sie das, General-Maior? Was für Neuigkeiten! Warum melden Sie das nicht Ihrem Mareşal? Oder … hm … haben Sie selbst an diesem Treffen teilgenommen? Ah, natürlich, jetzt erinnere ich mich. Sie waren einst ein sehr engagiertes Mitglied unserer Gruppe. Wir vermissen Sie schon seit einigen Jahren. Was hält Sie auf? Familie? Ihre Arbeit? Haben sie dir im Departament doch tatsächlich noch das Gehirn gewaschen?« Jetzt ist nicht mehr der Zeitpunkt, um Höflichkeiten auszutauschen.

»Du wurdest an ihrem Treffpunkt am zwanzigsten Oktober gesehen. Und die Woche davor. Wir beobachten dich seit einem halben Jahr.«

»Findest du das nicht spannend? Vielleicht bin ich ein Undercover-Agent.«

»Du bist nicht unser Agent. Niemand gab dir den Auftrag dazu. Du warst dort aus eigenem Antrieb.«

Tiberiu zischt. »Es gibt Pläne beim Militär, von denen sogar du keine Ahnung hast. Warum glaubst du, nur du könntest alle ausspionieren?«

»Weil ich es kann.«

Tiberiu tut so, als ob er Kaugummi kaut. »Oh, du weißt also alles über jeden in der Sozialistischen Republik? Aber sag mir, weiß dein Chef von deinem kleinen schmutzigen Geheimnis?«

Attila schluckt heftig. Seine Hände ballen sich zu Fäusten. »Sie wissen alles.«

»Ich verwette mein ganzes Geld auf das Gegenteil. Sonst wärst du jetzt nicht hier.«

»Leg dich nicht mit mir an.«

»Ja, okay. Aber kam es ihnen nicht verdächtig vor, dass du nicht aufhören konntest, nach den Dokumenten über Herrn Károlys Tod zu fragen? Unseren Chemielehrer, 1979 in Timișoara. Du weißt doch; der, der damals wegen so ’ner Arschficker-Sache getötet wurde. Wissen die, dass du ihn so gut kanntest?«

»Er war unser Lehrer und er wurde zu Recht wegen seiner Neigung getötet.«

»Und wissen die auch, warum du so untröstlich warst, als du gesehen hast, wie er von dem Auto überfahren wurde? Und bist du nicht nervös, weil dein Chef das Foto in deiner Brieftasche gesehen hat? Du weißt doch welches. Das, was deinen Liebhaber zeigt? Was hast du zu deinem Chef gesagt? Oh, das ist mein Cousin. Cousin am Arsch.« Nicolescu gähnt. »Übrigens, die Platte ist zu Ende. Willst du nicht zur B-Seite wechseln? Es ist so ruhig hier ohne Musik.«

Die fünfzehn Minuten sind vorüber. Und beide Genossen Novák und Nicolescu stecken tief in ihren Schützengräben. »Keine Musik mehr.«

»Also gibt es nur noch dich und mich. Showdown um zwölf Uhr mittags.« Tiberiu zwinkert ihm zu. »Ja, das mag ich. Hast du Star Wars gesehen? Erinnert mich an den letzten Film. Die haben ihn legal gezeigt, weißt du.«

»Ich werd dich noch dafür kriegen, dass du dich über mich lustig machst.«

»Oh nein, das wirst du nicht, Darth Vader. Ich kenne die Information über dich, die mich hier rausbringen wird, keine Sorge. Also …« Tiberiu streckt sich, als ob er erst vor ein paar Minuten aufgewacht wäre, so gut es ihm möglich ist, während er an seinen Stuhl gefesselt ist. »Wann wird’s wohl schneien, was meinst du? Kein echter Winter ohne Schlittenfahrt, hm?«

Attila steht auf, richtet seinen Handschuh, der ihm beinahe von seinem linken Handstummel geglitten wäre, und wendet sich der Tür zu. »Ich bin noch nicht fertig mit dir.«

»Ich freu mich schon auf unser nächstes Treffen, Schatzi.« Nicolescu wirft ihm Luftküsse zu. »Buzi, buzi, eins zu eins im großen Finale. Wer wird gewinnen? Wer wird den ersten Fehler machen? Mann, bin ich gespannt. Das erste Mal, dass ein Feind mir ebenbürtig ist.«

Attila verlässt den Verhörraum, doch schließt die Tür hinter sich nicht. Während er zu seinem Büro zurückkehrt und verzweifelt versucht, Selbstsicherheit auszustrahlen, hört er noch immer Tiberius Lachen.

»Tor! Tor für Nicolescu! Und Novák geht in die Defensive. Jetzt gibt’s einen Einwurf, jeder weiß, was für ein guter Schütze er ist. Aber er ist überrascht von Nicolescus Abwehr. Wird er durchkommen? Es ist erst Halbzeit und wir sind gespannt auf die zweite Runde. Es kann nur einen Gewinner geben. Und einen Verlierer.«

TEIL I.

Kapitel 1

Jahrgang 1979

Chemie; die letzte Stunde am Freitag, Attilas schlechtestes Fach. Erst drei Wochen sind seit den großen Sommerferien vergangen, doch sie schreiben bereits einen Test. Und er hat nicht den blassesten Schimmer. Das Arbeitsblatt ist vollgesudelt mit Tintenflecken, nicht einmal zur Hälfte ausgefüllt. Überall hingekritzelte Notizen ohne Sinn oder Zusammenhang, nur einzelne Worte, geraten. Er kaut an seinem Fingernagel, bis zur Haut hinunter.

Nach der Hälfte der Stunde fängt es an zu bluten und der metallische Geschmack lässt ihn würgen. Wie einer, der im Treibsand gefangen ist, suchen seine Augen nach dem älteren Herrn im grauen Anzug – Professor Károly, sein Lehrer, sein Erzieher, sein heimlicher Liebhaber.

Károly hat die Angewohnheit, den mittleren Gang wie ein Löwe auf- und abzumarschieren, Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen stets auf seine Schüler gerichtet. Hier und da grunzt er missmutig. Vor und zurück, vor und zurück, vom Lehrerpult zum anderen Ende des Klassenzimmers, wo die Periodentabelle neben dem Ausgang hängt.

Attila wartet, bis Károly an ihm vorbei ist, faltet dann einen Zettel mit der Notiz »Brauche 1c), 2a) b) e), 3, 4, 5« zusammen und knufft seinen Freund Nicolescu Tiberiu, der eine Reihe vor ihm sitzt, in den Rücken.

Tiberiu dreht sich schnell um, nimmt das zusammengeknüllte Papier mit der versteckten Notiz, wendet sich wieder nach vorn; alles im Bruchteil einer Sekunde, bevor Professor Károly sie erwischen kann.

Und Attila wartet, tut so, als ob er rechnen würde. Aber stattdessen malt er die Zwischenräume der Zahlen und Buchstaben aus.

»Noch zehn Minuten«, kündigt Károly an.

Attila setzt ein selbstbewusstes Lächeln auf, als er Tiberius Rückantwort entfaltet. Alle Lösungen sind da, zusammen mit der Bemerkung »Mann! Du bist wirklich ein dummer Idiot!«

Wie von einer Wespe gestochen fügt Attila Tiberius Antworten in sein Aufgabenblatt ein. Als die Glocke läutet, ist er nicht mal halb fertig, aber das muss genügen. Es sind ja auch nur eine Handvoll gut in Chemie; die wirklich Talentierten, die Streber und die speziellen Leute, deren Eltern Mitglieder der kommunistischen Partei sind.

Nicolescu Tiberiu gehört beiden Gruppen an.

Hier, im ungarischen Gymnasium, ist er jedoch der einzige Rumäne, in einer Gesellschaft, deren Ethnien strikt separiert sind. Jede Volkszugehörigkeit hat ihre eigenen Lehrbetriebe: Rumänen gehen in die rumänischen Schulen, Ungarn in ihre und die Deutschen werden in einer komplett germanischen Umgebung unterrichtet. Aber wenn man der Sohn eines erfolgreichen Securitate-Agenten ist, bringt das gewisse Rechte und Pflichten mit sich. Und niemand wagt es, Tiberius Anwesenheit zu hinterfragen oder sich darüber lustig zu machen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er vom Direktorat für Innere Sicherheit dazu beauftragt wurde, ein wachsames Auge auf die Streiche der anderen Schüler zu haben.

Als die Stunde zu Ende ist, schultert Attila seinen Schulranzen, eilt zum Lehrerpult und gibt den Test ab, das Gesicht von Professor Károly abgewandt, er ist unfähig, ihm in die Augen zu blicken. Im Flur wartet er nicht auf Tiberiu, sondern flieht aus dem Gebäude, in die Herbstsonne von Timișoara. Der Zug, den er in sein Heimatdorf nehmen will, fährt erst am Abend. Er hat jede Menge Zeit und er möchte keine einzige Sekunde davon verschwenden.

Jeden Freitagnachmittag läuft er dieselbe Strecke durch die Straßen. Erst an der Piața Operei vorbei, anschließend schaut er kurz in den Plattenladen hinein, stöbert durch LPs, von denen er weiß, dass er sie sich nie leisten kann. Er hört sie sich genau eine Seite an. Er liebt den kleinen Laden mit den holzvertäfelten Wänden und dem beißenden Geruch der grün lackierten Tür. Dann die Brücke über den Fluss Bega entlang, an der Kathedrale vorbei. Er betritt das Iosefin-Quartier und das Wasser läuft ihm im Mund zusammen, wenn er an die Eclairs und Savarins aus dem Café Opera denkt, die er sich auch nie wird selber leisten können.

Schließlich erreicht er den Wohnkomplex auf dem Bulevard Mihai Viteazul, versteckt hinter verwilderten Buchen. Tausende von Telefonkabeln überspannen die Straße wie Spinnweben und an einem Ende der Leitungen hat jemand rote Farbe auf die verrosteten Masten und Zäune gekleckst.

Die Türklingel brummt wie ein kaputter Fernseher. Attila weiß nicht einmal, ob jemand zu Hause ist – er war heute schnell –, aber nach einer Weile öffnet sich die Metalltür. Das Treppenhaus ist dunkel; niemand putzt die Fenster und so lassen sie nicht genug Licht herein.

Im zweiten Stock betritt er die Wohnung und schließt die Tür rasch hinter sich, als ob ihm jemand auf den Fersen wäre.

»Ich bin erst vor zehn Minuten nach Hause gekommen.« Die Stimme weht vom Balkon herein.

»Ich hab’s nicht mehr allein ausgehalten«, antwortet Attila und lässt seine Schultasche von der Schulter gleiten.

Eine Sekunde danach taucht Professor Károly Viktor auf, seidenglatt in seinem grauen Anzug und der bordeauxroten Krawatte, die er auch im Unterricht anhatte. Obwohl sein schütteres Haar ein wenig zerzaust ist, ist er elegant wie eh und je. Mit großen Schritten durchschreitet er den Flur, an den Gemälden vorbei, als ob sie seine Nachmittagsschüler wären. Vor Attila bleibt er stehen, zögert nicht, dessen Gesicht in seine Hände zu nehmen und ihn zu küssen. »Wie war dein siebzehnter Geburtstag?«, fragt Viktor Attila.

»Langweilig. Zu viel Kuchen und nervende Eltern, Tanten und Onkel.« Viktors Berührungen gehen ihm durch Mark und Bein.

Die Sommerferien waren viel zu lang. Er hat diese Freitagnachmittagstreffen vermisst. Hat es vermisst, geküsst zu werden. Hier gibt es Kaffee aus Deutschland und die erlesensten Kuchen, die auf ihn im Esszimmer warten. Regalmeter voll mit Büchern und Schallplatten, wie eine schützende Mauer um eine verbotene Liebe gebaut. Er liebt es, in Viktors Armen zu liegen. Er liebt sein weltmännisches Parfum, dessen Geruch ihn über die Grenze bringt, zu Städten, von denen er nur träumen kann: Paris, Rom, London. Städte, von denen er noch immer denkt, sie würden nur in Geschichten existieren.

»Ich hab den Test heute so was von vermasselt.« Ein kribbelndes Gefühl breitet sich auf seinem Kopf aus, da, wo Viktor ihn küsst.

»Ich geb dir eine sieben. Ich bin mir sicher, dein Freund Tiberiu hatte ein paar richtige Antworten.«

Viktor schmunzelt, als Attila scharf die Luft einzieht und ihn anstarrt.

»Glaub nicht, ich merke nicht, wie ihr zwei mich hintergeht«, antwortet Viktor mit einem Grinsen und Attila lehnt sich zu ihm, um noch einen Kuss zu erhaschen, ausgehungert wie die aufgebrochene Erde nach einem langen, regenlosen Sommer in der Puszta. »Würdest du kurz hier warten? Ich muss mich umziehen.«

»Sicher.« Attila lockert seine rote Krawatte und genießt die Atmosphäre ihres Liebesnests. Wie immer ist er beeindruckt von den Titeln auf den Buchrücken.

Einmal nahm er ein Buch heraus, blätterte es durch, ohne nachzudenken. Da regte sich Viktor zum ersten Mal über ihn auf. »Du kannst doch nicht ein Buch so behandeln! Du machst die Seiten schmutzig und brichst den Buchrücken.«

»Was? Aber die sind doch zum Lesen da und nicht nur zur Dekoration«, antwortete Attila mit einem unsicheren Lächeln.

»Ich mag’s nicht, wenn sie wie Ramsch aussehen.«

Da er nun weiß, wie pedantisch Viktor sein kann, kommt Attila das Buch auf dem Tisch verdächtig vor. Es liegt offen da, der Wind von draußen weht durch die Seiten, als wären sie lange Grashalme in der Steppe. Er nimmt es in die Hand, schließt es. Der Einband ist in einfachem Weiß gehalten. Ein roter Schriftzug prangt auf dem unspektakulären Grund: »Weißer Winter.«

»Hast du einen neuen Roman angefangen?«, fragt er Viktor, nachdem dieser zurückgekommen ist.

Ohne eine Erwiderung nimmt er Attila das Buch aus der Hand und stellt es an seinen Platz im Regal zurück. Als hätte Attila nichts gesagt. Er drückt Attila mit solcher Dringlichkeit einen Kuss auf die Lippen, dass dieser verwundert ist, warum Viktor ihn so bestürmt.

»Morgen ist dein großer Tag. Du wirst endlich ein ganzer Mann werden, was?«, sagt Viktor mit einem merkwürdig scheuen Lächeln. Hat er überhaupt bemerkt, wie grob er sich benahm?

Attila rollt mit den Augen. »Oh nein, nicht du auch noch! Jeder nervt mich mit diesem Mist. Es ist doch nur ’ne ganz normale Schweineschlachtung.«

»Aber dieses Mal wirst du das Schwert schwingen, nicht dein Vater. Du wirst zum Ritter geschlagen, du mächtiger Krieger der Puszta«, lacht Viktor.

»Ha, ha. Et tu, Brute?« Attila seufzt. »Nein, wirklich. Meine Eltern sind so verdammt stolz und quatschen das halbe Dorf voll, was für Kuchen und Scheiß sie für meinen großen Tag backen. Die machen mehr Geschrei als an meinem Geburtstag. Aber sie bemerken nicht, dass mir das Ganze so was von egal ist.«

»Armer Junge. Niemand versteht dich.«

Als der Direktor letztes Schuljahr den Namen ihres neuen Chemielehrers verkündete, dachte Attila an einen senilen, militaristischen Autokraten. Die ersten Stunden waren tatsächlich hart. Dieser Professor Károly Viktor stellte sich als ein sehr gebildeter, strenger und fordernder Lehrer heraus.

Doch etwas änderte sich plötzlich in den Winterferien, als Attila nicht mehr aufhören konnte, an die Schule zu denken, an ein Fach, das er normalerweise hasste. Er lag die ganze Nacht lang wach, rief sich ins Gedächtnis, wie Viktor die Erlenmeyerkolben arrangierte, an die Tafel schrieb, vortrug, milde lächelte. Diese starken, großen Hände und diese charakteristischen Gesten, die Kultiviertheit, Lebenserfahrung, Sanftheit ausstrahlten. Attila traf sich in der Pause nicht mehr mit Tiberiu, um sich dessen endlose Frauengeschichten anzuhören. Stattdessen lungerte er vor dem Chemielehrerzimmer herum. Vielleicht könnte er einen Blick auf Viktor erhaschen? Vielleicht könnte er ihm eine Frage zu den Hausaufgaben stellen? Er könnte sich doch hinter dieser Säule verstecken und Viktor einfach beobachten?

Bereits nach kurzer Zeit schien Professor Károly zu bemerken, dass Attila sich immer in seiner Nähe aufhielt. »Brauchst du Nachhilfestunden in Chemie, Genosse?«, fragte er ihn eines Tages im letzten Frühling.

Attila bejahte mit einem stummen Nicken, seine Fingernägel kauend.

Er kann sich nicht mehr erinnern, wann sie sich das erste Mal außerhalb der Schule trafen. Károly kaufte die kleine Wohnung auf dem Bulevard Mihai Viteazul, in der er fortan unter der Woche lebte. Und in der er Attila Nachhilfe gab.

Attila machte den ersten Schritt; er ließ seinen Füller los, legte seine Hand auf Viktors, eine Sekunde zu lang, aber dieser stieß ihn nicht von sich. Und nach einer Weile bedeckte Viktors Hand Attilas. Aus den simplen Nachhilfestunden wurde mehr.

Im Frühjahr 1979 wurde diese Wohnung zu ihrem zeitlich begrenzten Zuhause für die Freitagnachmittage.

Während sie nun dem Klassikkanal im Radio lauschen, tischt Viktor Eclairs aus dem Café Opera auf, nach denen sich Attila so sehr gesehnt hat.

»Erzähl mir noch mal von Paris, von den Sehenswürdigkeiten. Notre Dame, Arc de Triomphe, der Louvre. Ich kann davon nicht genug kriegen«, fleht Attila.

Attilas größter Traum, der Kompass seines Lebens, ist es, in den Westen zu gelangen. In Paris mit Viktor zu leben. Zusammen, sich niemals mehr vor einer Regierung verstecken zu müssen.

»Also, der Eiffelturm ist viel höher, als man denkt. Und die Straßen sind dreckig, zugemüllt. Du kannst gar nicht glauben, dass du den Osten verlassen hast. Und wirklich, die Tauben sind eine Plage.« Viktor setzt sich, lässt Attilas Hände los. »Willst du noch immer dorthin? Ich meine, wenn man uns an der Grenze nicht erschießt?«

Plötzlich zerfällt Attilas Mut. Als ob er seinen Geburtstag wochenlang geplant hätte, jedes Detail ausgearbeitet hätte, nur um dann eine Absage nach der anderen zu kassieren.

Noch immer meint Viktor es nicht ernst, er macht sich über die Idee lustig, merkt Attila enttäuscht.

Aber es ist kein Hirngespinst von Attila, er meint es todernst, wie im Fieber hält er daran fest. »Du glaubst nicht, dass wir’s schaffen? Du glaubst nicht, dass wir’s bis in den Westen schaffen?«

»Jöjj, drágám, Ich will doch nicht, dass man dich erschießt.«

»Das werden sie nicht. Wirst schon sehen. Auf gar keinen Fall kriegen die uns.«

»Oh, drágám, drágám, versprich mir einfach, dass du nichts Dummes anstellst, ja?«

Die einzigen drei Züge, die freitags in die Dörfer fahren, sind die um elf, vierzehn und achtzehn Uhr. Die Strecke zum Gara Timișoara Nord kann man gut zu Fuß schaffen. Aber Attila wartet immer bis zur letzten Minute und dann eilt er aus dem Wohngebäude zur Haltestelle, rennt zu dem tuckernden gelb-weißen Bus und im letzten Moment – bevor die Türen seine Hand einklemmen – schafft er es tatsächlich hinein. Außer Atem, durchgerüttelt von den Fahrmanövern durch die mit Schlaglöchern gepflasterten Straßen, findet er zu dieser Tageszeit keinen Sitzplatz zwischen all den Pendlern, Internatsschülern und den Leuten, die vom Markt kommen, wo sie stundenlang für ein wenig Öl anstanden.

Seine Augen brennen vom Schweiß, der ihm die Stirn hinunterläuft, doch er wagt nicht zu blinzeln. Saugt den Anblick von Viktors Haus in sich auf. Es wird in der Ferne kleiner und kleiner, als sie die Fakultät für Elektrokommunikation passieren. Erst als sie an der Brücke über den Bega-Fluss in die Strada Vladimirescu Tudor einbiegen, verliert er ihr Liebesnest aus den Augen und fühlt einen tiefen, tiefen Stich in seinem Herzen.

Eine weitere Woche bis zur nächsten Chemiestunde liegt vor ihm. Eine weitere endlose Woche zu Hause und in der Schule, in der er gezwungen ist zu warten, jeden noch so kleinsten Blick auf Professor Károly Viktor als einen Erfolg zu betrachten.

Es ist immer wieder ein Wunder, wie sich Attila und Tiberiu auf der überfüllten Plattform finden. Natürlich machen sie jedes Mal einen Ort aus, an dem sie sich treffen wollen. Aber dann rennen sie doch irgendwo anders ineinander. An einem Zeitungskiosk, auf der Toilette, mitten in der Eingangshalle.

»Als ob die Chemie uns zusammenbringt«, witzelt Tiberiu.

»Bleib mir vom Leib mit Chemie«, antwortet Attila wie immer.

»Du bist spät dran«, sagt Tiberiu, als der Zug einfährt und er für sich und Attila noch schnell etwas Süßes kauft. »Wo bist du gewesen?«

»Ähm.« Attila reibt seinen Nacken, sein Schweiß macht seine Haare und Hände unangenehm schmierig. »Im Kino.« Kaum dass er es ausgesprochen hat, beißt er sich auf die Lippen.

»Im Kino, vai. Sind die wieder offen? Hab seit Wochen nicht mehr gehört, dass sie was spielen. Warum hast du’s mir nicht gesagt?«

Attila zieht scharf die Luft ein, ein Zischen entrinnt seiner Kehle. »Ich … ich hab nicht dran gedacht, ’tschuldige.«

Lächelnd knufft Tiberiu ihn in die Schulter. »Eh, du weißt doch, wie sehr ich Filme vergöttere. Und heutzutage wird kaum noch einer gezeigt. Wie gemein von dir, Genosse.«

Attila zuckt mit den Achseln. »War ein Versehen.« Und sogleich fühlt er sich, als ob ein Eimer eiskaltes Wasser über ihn ausgeschüttet worden wäre. Was, wenn Tiberiu ihn bespitzelt? Wenn er die Spielpläne der Kinos nachprüft und tatsächlich herausfindet, dass kein einziges offen ist? Was, wenn er …? Aber so etwas weiß er doch bestimmt schon. Und Tiberiu ist nicht der Typ, der seinen besten Freund verpfeifen würde.

»Hei, willst du das Wochenende hier im Bahnhof verbringen? Komm schon. Der Zug fährt bald ab.«

»Ja, sicher.«

Erdrückt von den Massen an Schülern der verschiedenen Internate, von den heimatlosen Männern und Frauen, die in den Zügen leben, ständig unterwegs, ständig auf der Flucht vor der Miliția und der Securitate, von den Geschäftsmännern und Reisenden, finden sie schließlich ein Abteil für sich. Sie lassen sich auf die ausgefransten Lederbänke fallen, schließen den Vorhang vor der Tür, damit niemand hereinblicken kann.

»Hoff mal, wir bleiben heute allein. Weißt du noch; das Scheusal von letzter Woche? Mit nur einem Auge? Ich krieg den Gestank der alten Frau nicht mehr aus meinen Albträumen heraus.«

»Hm.« So sehr Attila Tiberiu auch mag und sich sonst von seiner Sorglosigkeit anstecken lässt, heute wäre er lieber allein. Das Wetter wird schlechter, Wolken bedecken den Himmel und eine Melancholie bemächtigt sich seiner.

»Huhu. Ich hab dich gefragt, ob du den Test heute noch geschafft hast.«

»Hm. Hab ich.«

»Professor Károly hat ihn doch letzte Woche angekündigt. Und er hat nur die Alkalien getestet. Du hättest die doch im Nullkommanix auswendig lernen können. War doch praktisch geschenkt.«

»Egal. Kannst du jetzt bitte aufhören, von der Schule zu sprechen? Es ist Wochenende.«

Manchmal ist er eifersüchtig auf Tiberiu; der ist ein Ass in allen Fächern, ist trotz seines offensichtlichen Status als Spitzel der Beliebteste, kann gut mit den Mädchen. Er ist kein Schlägertyp, der sich das Recht herausnimmt, Schwächere zu drangsalieren. Im Gegenteil. Sein Vater ist Kommunist erster Klasse, hält sich öfter in Bukarest und bei den Ceaușescus auf als zu Hause und er hat seinen Sohn als Aufpasser am Gymnasium auserkoren. Dennoch schafft Tiberiu es, so etwas wie ein Rebell zu bleiben, und niemand kann ihm etwas anhaben. Alles, was er berührt, wird zu Gold.

Attila ist stolz darauf, dass Tiberiu ihn seinen besten Freund nennt. Er ist erstaunt darüber, wie Tiberiu mit Herz und Seele ihre Freundschaft am Leben erhält, auch wenn Attila sich manchmal abweisend verhält. Aber er weiß auch, dass er vorsichtig sein muss. Falls Tiberiu das Interesse an ihm verlieren sollte, kann es ihm an den Kragen gehen. Tiberiu ist sein Schutzschild, bewahrt ihn davor, von der Schule zu fliegen, ins Gefängnis geworfen oder erschossen zu werden, so riskant, wie er sich immer verhält.

»Was ist mit deinem Hund, Attikó? Wie geht’s ihm?«

»Weiß nicht. Er war letzten Sonntag sehr schwach. Glaub nicht, dass er noch am Leben ist.«

»Atti, das tut mir leid. Das muss dich ja ganz schön mitnehmen. Ich weiß, wie sehr du ihn liebst.«

»Hm-m.«

»Okay. Du willst nicht darüber reden. Hab’s verstanden.«

Attila ist dankbar, dass ein Schwall Schüler ins Abteil drängt und die mühsame Unterhaltung unterbricht. Er weiß gar nicht, warum er so wortkarg ist. Irgendetwas ist am Nachmittag zwischen ihm und Viktor passiert, das nun in seinem Inneren gärt und ihn in dieser Stimmung zurücklässt.

»Du bist verliebt, stimmt’s?«, grinst Tiberiu und Attilas Herz setzt für einen Moment aus.

Der Zug dampft nun über den Timiș-Fluss, der Regen formt tausend kleine Perlen auf dem Wasser.

»Endlich, Mann! Hab schon gedacht, irgendwas stimmt mit dir nicht. Wer ist sie? Kenn ich sie?« Tiberiu lockert seine Krawatte unter seinem Pullunder und zwinkert ihm zu. Wenn er doch nur die Klappe halten würde, nur heute!

Wie kann sich Attila nun auf die Schnelle eine gute Lüge einfallen lassen?

»Ja, du bist seit Monaten so. Jetzt versteh ich’s. Also, wie heißt sie?«

»Ähm … eh, K… Karolina«, spuckt er den erstbesten Namen aus, der ihm in den Sinn kommt.

»Was für ’n Ding. Karolina aus der Mädchenklasse nebenan?«

»Nein, nein. Sie ist aus … aus dem anderen Dorf, aus … ähm … Sie ist aus Voiteg. Du kennst sie nicht.«

»Hah. Und was machst du in diesem Kaff? Wann warst du dort?«

Verdammt! In genau diesem Moment hält der Zug in dem kleinen Bahnhof von Voiteg, letzte Station, bevor sie selbst aussteigen müssen. Das Abteil leert sich.

Attilas Wangen glühen vor Scham. Scheiße, was für eine dämliche Lüge. »Ich … ich weiß nicht.«

»Vai de mine, hat man dir heute ins Hirn geschissen. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würd ich sagen, du hast ein Geheimnis. Soll ich dich persönlich an den großen Boss verpfeifen?«

Attila zuckt zusammen.

»Okay, mach mal halblang. War nur ’n Witz. Komm schon, tut mir leid. Echt blöder Witz.«

Sie verbringen die letzten fünfzehn Minuten in Stille, Attila beobachtet die Regentropfen auf dem Fenster.

»Ah, schau mal, Viorica ist da.« Tiberiu winkt dem Mädchen zu, das auf dem Bahnsteig ihres Heimatdorfs steht.

Ihre schwarzen Locken fallen wie ein Wasserfall auf ihre Schultern. Wie immer lächelt sie verschmitzt, ihre Hamsterbacken wackeln, als sie auf sie zuläuft und sie mit einem Luftkuss begrüßt. »Meine Jungs.« Sie küsst jeden von ihnen auf die Wange.

Die anderen Mitfahrer glotzen die ungewöhnliche Clique an: der Sohn der Securitate, der Ungar und das Roma-Mädchen. Jeder kennt hier jeden, aber sie wagen es nicht, in der Öffentlichkeit, am helllichten Tag, über Tiberiu und seine Freunde zu tratschen – jeder weiß, dass Mareșal Nicolescu, Tiberius Vater, einen direkten Draht zu Präsident Ceaușescu hat.

Der Bahnhof liegt neben dem Friedhof. Ihr Freitagsritual nach der Heimreise beinhaltet, dass sie dort ungestört eine rauchen.

»Scheiße, Viorica, nicht schon wieder diese schrecklichen Sputniks.« Tiberiu reißt die Verpackung auf und sieht aus, als hätte er auf eine bittere Pille gebissen.

»Hei, ich war halt diese Woche dran und ich komm nicht an die deutschen, nicht so wie du, Genosse.«

»Das Papier krümelt im Mund und alles schmeckt nach Sägemehl.«

»Okay, dann kaufst du ab jetzt immer die Kippen.«

»Gute Idee.« Trotzdem nimmt sich Tiberiu eine.

Wie immer ist Attila der Einzige, der husten muss, und schon bald stampft er seine halbgerauchte Zigarette aus.

»Jetzt halt dich fest, Rica.« Tiberiu lehnt sich gegen die Bank, betrachtet die Hügel und Reihen von Steingrabmälern und Totenhäusern. »Unser kleiner Attikó hier ist verliebt.«

»Was? Verliebt? Unser Mauerblümchen? Glaub ich nicht.«

Attila rollt mit den Augen, er kickt ein paar Kieselsteine weg.

»Ja, ich hab’s selber kaum glauben wollen«, antwortet Tiberiu.

»Ah. Wer ist sie? Oh-Oh. Sag nix. Ich bin es, was?« Sie zwinkert Attila zu.

Normalerweise bereiten ihm die Treffen mit Viorica und Tiberiu Spaß, sie lenken ihn von seiner Sehnsucht nach Viktor ab, aber heute nerven sie ihn nur.

»Jetzt mach mal halb lang, Rica. Jeder weiß, dass die Hunnen sich nicht mit den Zigeunern paaren.«

Man muss schon ziemlich gut befreundet sein, um sich so aufziehen zu können, in einem Land, in dem man wegen seiner Nationalität verhaftet werden kann.

Tiberiu nimmt einen tiefen Zug und lacht. »Mir wär’s egal. So lang’s kein Kerl ist. Du bist doch kein Arschficker, oder?« Er bricht erneut in Lachen aus, als ob es der beste Witz aller Zeiten wäre.

Attilas Herz hört zu schlagen auf, Schweiß rinnt ihm die Stirn herunter. Ein Kloß formt sich in seinem Hals, aber er versucht zu lächeln. »Ja, stell dir das mal vor. Warum glaubst du, ich sei so einer, neh?«

Tiberiu legt einen Arm um seine Schulter. »Nicht auszudenken. Ich kenn dich seit dem Kindergarten und dann krieg ich mit, du wolltest schon immer meinen Arsch ficken. Wie krank wär das? Müsste dich persönlich zur Securitate karren, hm?«

»Ha, ha, genau.«

»Hei, Jungs. Genug von dem Scheiß. Es ist schon spät. Muss jetzt los«, kündigt Viorica an, versucht lauter zu sprechen, als Tiberiu gackern kann.

Attila und Tiberiu verabschieden sich von ihr, die in eine andere Richtung losmarschiert. Zusammen schlendern sie die Strada Ştefan cel Mare hinab, an der katholischen Kirche vorbei.

»Großer Tag für dich morgen, Attikó, nicht?« Tiberiu hüpft über die rissigen Steinplatten des Gehwegs, konzentriert sich darauf, nicht die Spalten zu berühren. So wie sie es schon als Kinder taten.

»Was meinst du?«

»Die Schweineschlachtung. Dein Initiationsritus.«

»Oh, das. Klar.«

»Und? Sollen wir uns morgen treffen, um das zu feiern? Sollen wir zum Ernteball gehen? Du kannst dein Schätzchen mitbringen.«

Attila hält inne. Wie kann er seinen besten Freund nur anlügen? Doch nun muss er damit leben; ihn immer zu betrügen, immer auf der Hut zu sein, vorsichtig und argwöhnisch. »Ähm … Ich … ich weiß nicht. Ich denk nicht, dass sie will.«

»Sie wird sowieso zum Ball in ihrem eigenen Dorf gehen, nicht?«

»Sicher.«

»Okay.«

Sie erreichen das Tor von Tiberius Villa und er sucht in seiner Schultasche nach den Schlüsseln. »Aber wir sollten uns trotzdem irgendwo treffen. Wir können mit den Rädern zum Fluss fahren und uns abkühlen, oder? Der letzte Badetag, bevor es dann wirklich Herbst wird. Ich bring die Zigaretten mit. Die deutschen. Versprochen.«

Attila zuckt mit den Achseln. »Ja, hört sich gut an. Szia.«

Tiberiu winkt ihm lässig zu und verschwindet durch das Tor.

Und Attila bleibt zurück, steht für ein paar Minuten still da, starrt die Buchstaben auf der Klingel an, ohne sich zu bewegen.

Nicolescu.

Ein so bekannter, so gewöhnlicher und doch so bedrohlicher Name. Wie eine Waffe, die ihn vor den Feinden beschützen soll, die sich jedoch wie eine tickende Zeitbombe jederzeit gegen ihn richten kann, wenn er auch nur den kleinsten Fehler macht.

Mihailsdof wurde vor dreihundert Jahren von deutschen Siedlern gegründet. Als der Glanz der österreich-ungarischen Monarchie verblasste und das Grauen des Dritten Reichs in die Zeit der russischen Besatzung mündete, verfiel die einst so wohlhabende Stadt mit ihren Prachtgärten und herausgeputzten Gebäuden zu einer Satellitensiedlung für die monströse Möbelfabrik.

An der rückwärtigen, mit Stacheldraht bewehrten Mauer haben die Roma ihr kleines Hüttenviertel erbaut.

Dies ist Vioricas Zuhause.

Die Häuser der Roma-Gemeinde entlang der Strada Carpați reihen sich zu einer Perlenkette aus selbst zusammengezimmerten Möchtegern-Anwesen auf. Das Zentrum eines jeden rumänischen Dorfhauses ist der Hof, der zwischen dem Wohnhaus und dem Garten liegt. Hier passiert das Leben; von März bis Oktober kocht jeder in seiner Sommerküche, die Reichen besitzen sogar ein Sommerwohnzimmer. Im Haupthaus bleibt währenddessen alles dunkel, Vorhänge und Läden sind geschlossen, um die Hitze auszusperren. Nur die Bettlägerigen sind während des Sommers abgeschnitten von der Gesellschaft, die ihre Hochzeiten, Taufen und das Leben draußen feiert.

Heute gibt es noch mehr Trubel als sonst im Hof der Negrescus. Die Blumen im kleinen Rosengarten sind abgeschnitten, bereit, in Vasen und Sträußen angerichtet zu werden. Tische, Bänke und Stühle sind um den Brunnen herum angeordnet. Über allem schwebt der Duft von Kuchen, Torten und Gebäck, bereits seit Wochen vorbereitet. Es ist eine Wissenschaft für sich, das Backen zu organisieren, da einige Teige erst reifen müssen, andere jedoch frisch gegessen werden sollten.

Der Hof war vor dreizehn Jahren schöner als jemals zuvor geschmückt gewesen. Sie kann sich noch genau an den Tag erinnern. An diesem Tag wurde die vierjährige Viorica dem neunjährigen Bogdan versprochen.

Und der Tag, auf den alle jahrelang gewartet haben, ist bereits in einer Woche. Die Vorbereitungen sind in vollem Gange, drinnen und draußen summen Mütter, Tanten und Großmütter, ihre Hauskleider besprenkelt mit klebrigem Mehl und Eigelbspritzern.

Vor einem Monat haben sie das Hochzeitskleid in Timișoara gekauft. Und seitdem hat die fünf Kilo schwere Robe ein eigenes Zimmer im Haus, ein Gespenst in einem Schloss. Jede Nacht malt sich Viorica aus, wie sie darin aussieht, wie sie darin tanzt. Aber wenn sie an die eigentliche Hochzeit denkt, fühlt sie sich wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wird. Denn jedes Mal, wenn sie sich vor ihrem inneren Auge in dem gerüschten Kleid sieht, flieht sie über die Felder, flieht aus der Stadt. Nur weg von Bogdan, zur Grenze hin, nach Westen.

Ihr Zukünftiger lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Aber ihre Schwestern und Verwandten sind eifersüchtig, weil Viorica drauf und dran ist, das Bild von einem Mann zu heiraten. Bogdan ist ein wirklicher Held, der mit seiner Axt jedem den Kopf abschlägt, der es wagt, ihn blöd anzustarren. Ein wahrer Mann, der seine Frau die ganze Nacht lang befriedigen kann, sodass ihr die Luft wegbleibt.

Aber sie würde einen Mord begehen, um so jemanden wie Nicolescu Tiberiu zu heiraten. Sie weiß, dass er keine romantischen Absichten hegt, nicht weil sie eine Roma ist, sondern weil Tiberiu so verdammt nobel ist und niemals eine Freundin verführen würde. Eigentlich ist er so anständig, dass es schon fast an Dummheit grenzt.

Er ist so schön, so liebenswert.

Ein Mann, dem sie mit Haut und Haaren verfallen ist.

Dieses Wochenende markiert den Höhepunkt der Erntezeit. Das höchste Landfest: die Schlachtung des Winterschweins. Jeder Haushalt hat ein ganzes Jahr lang Geld zur Seite gelegt, um die fetteste Sau des Metzgers zu ergattern. Während sie noch am Freitag im Garten quiekt, wird sie am Samstag in den Hof gezerrt und als Gottheit der Winterküche verehrt. Und wenn die Geigen und das Akkordeon durch das Land hallen, reißt der Vater des Hauses den Hals des Schweines auf, lässt es inmitten des festlich geschmückten Hofes ausbluten. Das Herbstrot füllt den rissigen, trockenen Asphalt mit Leben. Alles von diesem Tier wird verwertet und zu Nahrungsmitteln verarbeitet, die eine ganze Familie durch den Winter bringen müssen.

Während alle lachen und Spaß haben, mit Bier in der einen Hand, Zigarette in der anderen, dem lebensspendenden, sterbenden Tier zuprosten, zieht Attila es vor, den Tag in seinem dunklen Zimmer zu verbringen, das Grunzen mit Ravels Marsch aus den Kopfhörern auszusperren. So wird’s wohl auch dieses Jahr sein, denkt er, als er durch den Flur stapft.

»Bin zu Haus«, ruft er, steuert schnurstracks auf sein Zimmer am Ende des Korridors zu.

»Warum hast du so lang gebraucht?«, begrüßt seine Mutter Izabella ihn und übertönt mit ihrer lauten Stimme das freudige Schnattern der Armee der weiblichen Verwandten, das aus der Küche kommt.

Mit der Hand auf dem Türgriff antwortet er: »Bin noch spazieren gegangen.« Aber das ist ein Fehler.

Seine Mutter eilt zu ihm, wischt ihre Hände an ihrer Schürze ab. »Ein Spaziergang? In diesem Wetter? Es hat doch angefangen zu regnen. Mensch, Attikó, du hast ja ganz nasse Haare. Du wirst dich erkälten. Das ist das Letzte, was wir morgen brauchen!«

»Hm.« Er zuckt die Achseln.

»Oh … und … es tut mir so leid, drágám, aber dein Hund ist am Mittwoch gestorben. Er hatte solche Schmerzen und da hat dein Vater ihn erledigt.«

Attila schluckt. Seine Zimmertür quietscht, als er sie öffnet. Die Fensterläden sind immer von Montag bis Freitag geschlossen, wenn er im Internat ist. »Okay«, erwidert er nur in die Dunkelheit hinein.

»Es tut mir wirklich so leid.«

»Okay, danke, Mami.« Jetzt lass mich in Ruhe, schreit er innerlich.

»Wenn du reden willst …«

»Nein! Danke. Ist schon okay.«

»Aber wenn du’s dir anders überlegst …«

»Es ist okay, Mami. Echt.«

»Also gut.« Sie schaut ins Innere seines Zimmers. »Ich bin immer für dich da. Du weißt das doch hoffentlich.«

»Ich weiß, Mami.«

»Aber hast du schon mal daran gedacht … Kann ich dich etwas fragen?«

Er muss all seine Kraft zusammennehmen. »Ja, klar.«

»Denkst du nicht, dass er von diesem Nicolescu vergiftet wurde? Als Warnung? Ich meine, ich weiß, dass seine Eltern für das Departament arbeiten und dass sie ihn in das ungarische Gymnasium versetzt haben. Und du sagst doch immer, wie nah ihr euch steht. Denkst du denn nicht, dass er uns im Speziellen ausspioniert?«

»Was zur Hölle, Mami? Er ist mein bester Freund.«

»Ja, weiß ich doch. Aber trotzdem …« Sie lächelt ihm zu und kneift in seine Wange. »Du behältst das im Hinterkopf, ja, drágám?«

»Okay. Jetzt, bitte, Mami. Ich bin müde.«

Sobald er die Tür hinter sich zuknallt, verlässt die Spannung jeden Nerv seines Körpers, macht Platz für Wellen von Wut und Traurigkeit. Wenn er doch nur weinen könnte und nicht von seinem Ärger und seiner Enttäuschung zermalmt werden würde. Er lässt die Läden geschlossen, macht den Plattenspieler an, setzt die Kopfhörer auf. Sein Hirn rattert zu Ravels Bolero.

Er will nicht mit mir nach Paris fliehen. Er wird seine Frau niemals verlassen. Er wird niemals sein Leben, seine Position, seine Arbeit für mich aufgeben.

Attila dreht die Lautstärke auf, bis die Musik seine Ohren zudröhnt.

Morgen ist der große Tag, sein großer Tag. Der Tod des Schweines, die Initiation des Novák Attila. Er wird derjenige sein, der das Messer führt und das Tier, den Halbgott der Puszta, über die Schwelle vom Leben zum Tod bringt. Morgen wird er zu einem Mann werden, einem Erwachsenen, einem stolzen Ungarn, einem Krieger der großen Steppe, einem Soldaten.

Ein Schwein schlachten, das Gymnasium absolvieren, drei Jahre Militärdienst in der Volksarmee leisten, heiraten, das Haus erben, Kinder zeugen, in der Möbelfabrik arbeiten.

Dieser alte Weg, der von seinen Vorfahren geebnet wurde, beinhaltet kein Leben in Paris mit seinem Liebhaber.

Er schlägt mit der Faust auf seinen Nachttisch. Noch einmal dreht er die Lautstärke auf, bis die Stimmen in seinem Inneren gezähmt sind, bis nichts mehr als das gemächliche Pochen der Musik bleibt.

Sturmfrei am Freitag zu haben ist für Tiberiu eine Gnade. Kein Vater, der ungeduldig am Esstisch auf ihn wartet, keine Befragung über seine Mitschüler, ihre Noten, was sie gesagt und getan haben. Als ob Tiberiu nur ein Mitarbeiter seines Vaters wäre.

»Also?« So beginnt der Mareşal immer sein Verhör. Kein »Schön, dich zu sehen, Tibi!«, kein »Wie war deine Woche?«, nichts.

Und Tiberiu gibt Rapport wie ein Soldat. »Für Juhász sieht es schlecht aus. Er sagte etwas von wegen, sie würden nächsten Monat Verwandte in Ungarn besuchen.«

»Hm. Der bleibt sitzen. Werd seinen Eltern mal einen Besuch abstatten. Weiter.«

»Mészáros hat beim Test geschummelt. Kocsis tauschte mit Somogyi irgendwelche Zettel aus, auf die sie Karikaturen von unserem Präsidenten gekritzelt haben.« Und so weiter und so fort, neunundzwanzig Namen.

»Und Novák?«

»Novák? Was … Mit ihm war nichts. Nichts.«

Wie sich dann die Augen seines Vaters in ihn bohren, das spürt er jedes Mal tief in seinen Knochen.

Aber heute kann er tun und lassen, was er will. Also fährt er mit seinem Motorrad noch einmal eine Runde durchs Dorf.

Bei dem Lebensmittelladen im Zentrum nahe dem Frisör sieht er Attila am hinteren Ende der Warteschlange stehen, an sein Fahrrad gelehnt, ein Buch in der Hand.

»Hei, was tust du hier am Abend?«, begrüßt er ihn.

Wie aus dem Schlaf aufgeschreckt zuckt Attila zusammen. »Ach, du bist’s nur. Na ja, muss noch was für meine Mutter einkaufen.«

»Tatsächlich?«

»Ja.« Attila fummelt einen zusammengeknüllten Zettel aus seiner Hemdtasche und liest die Liste auf Ungarisch vor: »Mehl. Natron. Eier. Rum-Aroma. Für ihre blöden Kuchen. Ah. Und Servietten für ’n Arsch.«

»Dazu sagt man Klopapier«, prustet Tiberiu los. »Und du Blödmann wartest, bis du an der Reihe bist? Warum rufst du mich nicht an? Komm.« Er lotst ihn zum Hinterausgang, öffnet ganz selbstverständlich die Metalltür und kommt vor der Tochter der Ladenbesitzerin, eine Banater Schwäbin, zu Stehen. »Guten Tag, küss die Hand, Freilein. Wie geht es heit?«, säuselt er auf Deutsch mit seinem starken Akzent und erzeugt so einen seltsamen deutsch-österreichisch-rumänischen Kauderwelsch.

Das Mädchen wird sogleich rot. »Ah, Herr Nicolescu. Sie waren schon lange nit mehr hier.«

»Ich weiß, ich weiß, viel zu tun.« Er erinnert sich dunkel daran, mit ihr mal eine Liebschaft angefangen zu haben. »Hätten’s denn was davon?« Er zieht die Einkaufsliste hervor.

Sie streicht über ihre Schürze, richtet sich die Haare, dann empfängt sie die Einkaufsliste aus Tiberius Hand. »Bin gleich wieder da.« Sie verschwindet hinter einem geblümten Vorhang, schnattert munter weiter.

Tiberiu erwidert hin und wieder ein »Hm« und »Ach, wirklich. Ja, so was!«

Und dann ist sie mit einer Plastiktüte voll Zutaten zurück. »Sie hatten Glück. Alles noch da.«

»Scheen, scheen. Ich wünsche noch einen scheenen Tag, Mädel.«

Missmutig reißt Attila ihm die Tüte aus der Hand, als sie wieder nach draußen gelangen. »Das hättest du nicht tun müssen.«

»Was? Wolltest du lieber bis tief in die Nacht hier anstehen?«

»Ich hatte ein Buch zu lesen dabei.«

»So spannend kann ein Buch doch gar nicht sein.«

»Ja, sehr witzig. Weißt du was … Ach. Vergiss es.« Attila hüpft auf seinen klapprigen Drahtesel und radelt los, lässt Tiberiu alleine stehen.

Wie seltsam. Früher hätte Attila ihm gedankt, dass er ihn davor bewahrt hat, seine Zeit für Erwachsenenzeugs zu verschwenden. Sie hätten den gesamten Abend zusammen verbracht, wären an den Fluss gefahren, wären noch eine Runde geschwommen. Hätten geraucht, getrunken, bis Attila dann am späten Abend bei seiner Mutter zu Hause aufgetaucht wäre und gesagt hätte: »Entschuldige, Mami, musste ewig anstehen, mal wieder.«

Irgendetwas verändert sich gerade zwischen ihnen, das spürt Tiberiu. Und nicht nur, weil Attila auf einmal eine Freundin hat.

Am Samstagmorgen befindet sich ein Paket in Tiberius Zimmer, thront auf einem Stuhl neben seinem Bett. Er hörte, wie sein Vater nach Hause kam, ein vorsichtiges Rascheln in der Nacht, leises Fußgetrippel, um drei Uhr, der toten Stunde.

Tiberiu weiß genau, was sich im Päckchen befindet. Mit schläfrigen Augen im halbdunklen Zimmer öffnet er es so sorgfältig wie möglich, wie eine Geburtstagszeremonie.

Es ist ein Mantel der Volksarmee. Sogleich wird seine Brust breiter, seine Schultern spannen sich an, als er den Mantel vor sich hält und sein Spiegelbild betrachtet.

Er passt perfekt.

Ich werde meinen Vater stolz machen.

Er schlägt die Hacken zusammen und salutiert.

Ich werde ein guter Diener meines Vaterlandes sein. Es sauber halten von jeglicher feindlicher Gefahr.

Eine Stunde bevor ihre Schwestern und ihre Mutter aufwachen, steigt Viorica aus dem Bett, ihr Herz hämmert in ihrer Brust, sie schleicht sich ins Brautzimmer. Da schwebt das Kleid in der Luft, eine mächtige Aura aus Lagen von Polyester. Ein gequälter Geist, besprenkelt mit blutroten, kitschigen Spitzenrosen.

Natürlich haben ihr ihre Schwestern einen gehörigen Schrecken eingejagt, als sie ihr lebhaft davon berichteten, was die rote Farbe auf dem Brautkleid wirklich zu bedeuten hat. Des Nachts, wie eine Gruselgeschichte, berichteten sie ihr von den Pflichten und Aufgaben einer verheirateten Frau. Sie gaben ihr Ratschläge, wie man den Mann am besten befriedigt, wie man die Beine spreizt und die Hüften im richtigen Winkel hinhält, um einen Jungen, einen Sohn, einen Erben zu zeugen.

Jede Nacht nähte Viorica unsichtbare Innentaschen in das Futter des Kleides, in denen sie das Geld versteckte, das sie von den Leuten, die in der Warteschlange vor den Lebensmittelläden standen, stahl. Tag für Tag, ein ganzes Jahr lang.

Dieses Geld wird reichen, um uns durch Ungarn nach Österreich zu bringen.

Sie hegt keinen Zweifel, dass ihre besten Freunde Tiberiu und Attila sie auf ihrer Flucht begleiten werden.

In diesem Kleid werde ich kein Kind bekommen, aber reich beschenkt werden mit meiner Freiheit, schwört sie sich.

Auf dem Novák-Hof wird am Samstagnachmittag das Opferschwein wie in einem Ritterturnier über das Pflaster gejagt. Die Männer – Attilas Vater, seine Onkel, seine Brüder und Cousins – treiben das Tier in die Enge, jubeln, heizen es auf. Sie pfeifen einen Csárdás, beginnen langsam, dann schneller und schneller, bis es zu einer wilden, ekstatischen Hymne anschwillt. Der Kreis um das quietschende Opfer wird enger und enger – und dann steht es vor Attila.

Plötzlich ist jedes Geräusch wie verschluckt. Sogar die Grillen haben aufgehört zu zirpen.

Attila starrt in die geweiteten, dunklen Augen des Schweins. Lächerlich, dass er erst jetzt bemerkt, dass auch Tiere Wimpern haben. Dies ist der Moment, in dem er beinahe zusammenbricht. Den ganzen Tag lang hat er all seinen Mut zusammengenommen. Aber die Wimpern sind es, die ihn zögern lassen. Das funkelnde Auge des Tieres, das durch ihn hindurchsieht; das ist nicht nur totes Fleisch, das ist ein Lebewesen mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen. Genauso wie er.

»Attila. Jetzt! Jetzt ist dein großer Moment gekommen. Los!«, hört er seinen Vater jubeln. Aber die einst so vertraute Stimme erscheint nicht mehr real.

Das Einzige, das auf dieser Welt noch existiert, ist der mitleidige Blick, der zu ihm spricht.

Viktor wird sein Leben niemals für dich aufgeben, Attikó, scheint das Schwein zu sagen.

Und mit einem kräftigen Hieb seines scharfen Jagdmessers reißt er den Nacken des hypnotisierten Tieres auf und das Blut besprenkelt sein Gesicht mit einem tiefen Rot.

Kapitel 2

»Warum wolltest du dich nicht am Samstag mit mir treffen?«, fragt Tiberiu am nächsten Abend, als sie zurück in ihrem Internatsschlafsaal in Timișoara sind. »Wir hatten vor, im Fluss zu baden. War doch ’ne Affenhitze. Das perfekte Spätsommerwetter.«

»Ich hatte keine Lust.« Attila nimmt die sauberen Klamotten aus seinem Koffer und verstaut sie in seinem Schrank. »Mein Hund ist gestorben und mir war nicht danach.«

»Oh, tut mir leid. Scheiße. Okay, das ist verständlich.«

Tiberiu sind die Veränderungen in Attilas Verhalten nicht mehr geheuer. Seit wann geht das schon so? Wann begann es? Dieses Wochenende, letzte Woche, letztes Jahr?

Attila half ihm immer dabei, sich wie ein ganz normaler Junge zu fühlen und nicht wie der berühmt-berüchtigte Sohn der Geheimpolizei. Tiberiu kann sich niemals sicher sein, ob man wirklich mit ihm befreundet sein will oder ob sich die Leute nur bei ihm einschmeicheln. Sein Name ist Fluch und Segen zugleich. Aber das hat Attila nie gejuckt. Er war immer der Einzige, der normal zu ihm sprach, der nicht jedes Wort und jede Phrase im Voraus plante, als ob jede Konversation ein Verhör wäre.

Als Attila dann verriet, dass er sich mit einem Mädchen treffe, und als er gestern nicht auftauchte, als Tiberiu am Fluss auf ihn wartete, fühlte er einen Stich im Herzen. Jeder glaubt, er sei ein robuster, lässiger Kerl, aber eigentlich wäre er nichts ohne Attila; er ist sein Fels in der Brandung, mit den Nováks hat er eine liebende und fürsorgliche Ersatzfamilie. Und was er immer befürchtete, ist nun geschehen: Attila liebt so ’n Gör aus dem Nachbardorf, verbringt immer mehr Zeit mit ihr, immer weniger mit ihm. Tiberiu weiß, dass er sich scheinheilig benimmt, da er selbst jede Woche ein anderes Mädel hat, aber trotzdem schmerzt es ihn.

»Was?«

Tiberiu wird aus seinen Gedanken gerissen. »Hm?«

»Du glotzt mich an, als ob ’ne fette Spinne über mein Gesicht krabbelt.«

»Hm, ja.« Er zuckt mit den Achseln. »Weißt du, du solltest dich echt öfter mal rasieren. Also hat die Initiation gewirkt, was?«

Attila wirft ihm ein Kissen ins Gesicht, lächelt. »Sehr witzig.« Er seufzt, beendet das Hin- und Herräumen seiner Klamotten. »Okay. Zeit für Hausaufgaben.«

»Hausaufgaben? Jetzt? Hast du sie nicht am Wochenende gemacht?«

»Nö. Seit wann kennst du mich schon?«

Als sich Attila hinsetzt und seine zerknitterten Hefte herausholt, wird Tiberiu hibbelig. Ja, er kennt ihn seit eh und je, er weiß alles über ihn. So begierig Tiberiu auch darauf ist, den Abschluss zu machen und endlich in den Militärdienst einzutreten, so bange ist ihm, dass sie vielleicht – nein; sicherlich! – getrennt werden. Er will in seinem Leben etwas erreichen, mit den wichtigen Generälen anbandeln. Wahrscheinlich wird er in der Nähe von Bukarest stationiert werden, inmitten der hohen Tiere der Partei. Und Attila landet mit Sicherheit in der Garnison nicht weit von hier. Wär das Beste und Einfachste für so einen Mann wie ihn, für den das alles wie der blanke Horror erscheinen muss. Werden sie Freunde bleiben? Werden sie sich noch regelmäßig sehen? Werden die wenigen Gelegenheiten genug sein? Auf was stützt sich eigentlich ihre Freundschaft? Tiberiu kann es nicht genau sagen. Eigentlich haben sie gar nicht so viel gemeinsam. Wenn sie zusammen sind, ist jedoch alles so einfach, so sorglos.

Als Einzelkind, als Erbe seines Vaters, der größten politischen Hoffnung des Dorfes, findet er Attilas Leben umso faszinierender. Wenn er ihn und seine große Familie zu Hause besucht, seine Brüder und seine Schwester – István und Gábriel und Ánná –, findet er immer diese warme und freundliche Atmosphäre vor, die ihm in seinem eigenen Zuhause so fehlt. Ja, Attila ist seine wahre Familie, ein Bruder, wie er vertrauter nicht sein kann.

Die ganze Woche liegt noch vor ihm, fünf Tage muss Attila in der Hölle schmoren, bis zur nächsten Chemiestunde am Freitag. Lange Stunden, unendlich; Literatur, Mathe, Physik und – am allerschlimmsten – Sport am Montag. Das Grauen, sich in der Umkleide zwischen all den Jungs umzuziehen, sich ihre Mädchengeschichten anhören zu müssen, während er den Blick nicht von ihren Körpern abwenden kann. Und immer – immer! – ist Tiberiu der lauteste Aufschneider von allen. Derjenige, der den Ton angibt.

Nachdem er seine Schuhe zugebunden hat, steht Tiberiu auf, wendet sich an die Klasse und als ob er der Sprecher einer politischen Versammlung wäre, deklariert er: »Darf ich Ihnen das neueste Mitglied in unserer geliebten Partei der Schürzenjäger vorstellen? Genosse Novák, der einzig wahre Attila der Hunne.« Jeder lacht und Tiberiu umarmt Attila. »Jetzt bist du ein wahrer Mann, nicht, Kumpel?«

»Sehr witzig«, grummelt dieser und hofft, dass das Thema damit beendet ist. Er hat ein furchtbares Gefühl in der Magengrube wegen dieser blöden Witze und der nächsten zwei Stunden; Liegestütze, Klimmzüge, Kniebeugen, nur noch gekrönt von dem halbstündigen Ausdauerlauf am Ende der Stunde, wenn er sowieso schon halb tot ist.

Während er zur Halle läuft, klopfen ihm einige auf die Schulter, beglückwünschen ihn. Und dann stellen sie sich in einer Reihe vor dem Lehrer auf, die Jungen werden mit einem Schlag still und salutieren.

Professor Horváth marschiert durch die Reihe der Jungen, inspiziert jeden gründlich, kommentiert ihre Haltung und ihr Aussehen.

»Mein lieber Genosse Nicolescu«, sagt Horváth, als er vor Tiberiu steht, »was für ein wundervolles Beispiel du uns heute wieder abgibst, wie immer.« Dann spricht er zur gesamten Klasse: »Schaut ihn euch an. So sieht ein wahrer Soldat aus. Wir sollten uns alle ein Beispiel an ihm nehmen. Wohingegen …« Und jetzt ist Attila an der Reihe. »Nun, Novák. Überrascht mich nicht. Warum hängst du so rum? Es ist doch erst Montag. Und warum schaut deine Handinnenfläche nach außen? Willst du dich über mich lustig machen?«

Im letzten Moment kann Attila sich davon abhalten, mit den Augen zu rollen. »Nein, Professor.«

»Und was ist mit deinen Haaren? Wann warst du zuletzt beim Frisör, Dorftrampel? Siehst aus wie ein Mädchen.«

Die Klasse lacht angespannt. Tiberiu neben ihm räuspert sich.

»Hab’s vergessen, Professor«, murmelt Attila, genervt von diesem wöchentlichen Ritual. Es sollte eigentlich einschüchternd sein, aber nach einem Jahr ist es nur noch langweilig und vorhersehbar.

»Tatsächlich war er in einem Mädchen«, flüstert ein Mitschüler und seine Stimme hallt von den Wänden wider, verstärkt durch den kalten, nackten Beton.

»Wie bitte?« Horváth runzelt die Stirn, grinst. »Du sagst, dieser kleine Bengel hier, dieser Waschlappen von einem Mann, hat sein Gewehr in ein Mädchen gesteckt?«

Da ist es wieder, das erzwungene Lachen, lauter als zuvor.

Tiberiu stellt sich ein bisschen näher an Attila heran. Er ist der Einzige, der nicht lacht. »Was für’n Arsch«, sagt er und Attila grinst.

»Also, Attila. Oder soll ich dich ab jetzt Genosse Novák nennen?« Professor Horváth zwinkert ihm zu. »Was für eine Kraft so ein Frauenkörper einem geben kann, was? Kannst du uns zeigen, wie deine Initiation gewirkt hat? Schaffst du endlich mal die zwanzig Liegestütze, die du nie hinbekommen hast?«

Attila zuckt mit den Achseln.

Die Stimme von Professor Horváth wird eindringlicher: »Das war keine Frage.«

Die Augen auf das zerkratze Linoleum gerichtet, macht Attila einen Schritt nach vorne, geht in die Knie, stützt sich dann auf seine Handflächen. Die ersten fünf sind leicht, aber sobald er den Meilenstein von zehn erreicht, fangen seine Arme und Beine zu zittern an, sein Rücken brennt, jeder Muskel seines Körpers schmerzt und fleht ihn an, aufzuhören.

»Elf. Zwö… Ah. Ah. Das zählt nicht. Noch mal. Zwölf. Dreizehn. Vierzehn. Komm schon. Das ist doch genauso leicht wie im Bett.«

Beim fünfzehnten angelangt – jetzt lacht die gesamte Klasse über ihn –, kann er sich nicht mehr vom Boden hochstemmen. Attila beißt die Zähne zusammen, spannt Arme, Beine, Bauch, Rücken, an, aber sein Körper gibt einfach auf und bleibt flach auf dem kalten Boden liegen. Das Plastik stinkt nach den Erfolgen und Demütigungen von Generationen von Schülern.