Glasvulkan - Schall & Rauch - Silvia Hildebrandt - E-Book
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Glasvulkan - Schall & Rauch E-Book

Silvia Hildebrandt

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Beschreibung

Eintauchen in die schillernden Goldenen Zwanziger Richárd, Franz und Blanka aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn träumen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von Ruhm und Erfolg. Das Emelka Filmstudio in München bietet dafür die geeignete Bühne. Während eine Hyperinflation die Weimarer Republik in die Mangel nimmt, scheint der Aufstieg der drei unaufhaltsam zu sein. Doch der Erfolg ruft auch Neider auf den Plan, die bis in die höchsten politischen Kreise reichen. So laufen der N.S.D.A.P. die Menschen in Scharen zu. Für die jüdischstämmigen Franz und Blanka und den Autisten Richárd geht es bald um das nackte Überleben. Ein detailliert beschriebener historischer Roman voller Gefühl, am Vorabend der Weltenkatastrophe.

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Inhaltsverzeichnis

Dramatis Personnae

Hinweise zur Aussprache

Teil I Mein kleiner grüner Kaktus

Teil II Straße, Freiheit, Gegenwart

Teil III Heut’ geh’n wir morgen erst ins Bett

Epilog Tara

Bemerkung

Danksagung

Weitere Romane der Autorin

Triggerwarnungen

Glasvulkan – Schall & Rauch

Klappentext:

Eintauchen in die schillernden Goldenen Zwanziger

Richárd, Franz und Blanka aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn träumen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von Ruhm und Erfolg. Das Emelka Filmstudio in München bietet dafür die geeignete Bühne.

Während eine Hyperinflation die Weimarer Republik in die Mangel nimmt, scheint der Aufstieg der drei unaufhaltsam zu sein. Doch der Erfolg ruft auch Neider auf den Plan, die bis in die höchsten politischen Kreise reichen. So laufen der N.S.D.A.P. die Menschen in Scharen zu.

Für die jüdischstämmigen Franz und Blanka und den Autisten Richárd geht es bald um das nackte Überleben.

Ein detailliert beschriebener historischer Roman voller Gefühl, am Vorabend der Weltenkatastrophe.

Copyright © 2024 Silvia Hildebrandt

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung Renée Rott, Dream Design Cover and Art

Dies ist eine fiktive Geschichte basierend auf historischen Hintergründen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Gegenbenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Impressum: Silvia Hildebrandt, Fichtenstr. 10, 72461 Albstadt

Eine Auflistung von Content-Warnungen befindet sich ganz am Ende des Buches.

Eine andre Welt mir wohlgefällt: Die zusammen hegt in Einer Brust Das süße Leid, die bittre Lust, Das Herzensglück, die bange Noth, Das selge Leben, leiden Tod, Den leiden Tod, das selge Leben. Dem Leben hab ich meins ergeben, Der Welt will ich ein Weltkind sein, Mit ihr verderben und gedeihn.

Gottfried von Straßburg, Tristan

Nenn es dann, wie du willst, Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust Erster Teil

Dramatis Personnae

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet

In der Provinz

Blanka Molnár, geb. als Bitja Sosanna Menachem

Ferenc Levente Molnár, genannt Franci, geb. als Feiwel Lazer Menachem

Ádám Sámuel Molnár, Inhaber der Motorenwerke M.A.S. für Automobile und Flugzeuge

Eszter Molnár, seine Frau

Richárd Féodor

Árpád Féodor, sein Onkel

Viktor Féodor, Richárds Cousin

Anton Klapka, ein Unternehmer

In München und Berlin

Heinrich Sattler, Schauspieler

Ludwig Eduard Hoffmann, Regisseur im MLK Filmatelier

* Ernst Röhm, Nationalsozialist

* Friedrich Wilhelm Murnau, Regisseur von Nosferatu und Doktor Faust

Hinweise zur Aussprache

Ein ungarisches Á oder á wird wie ein langes A ausgesprochen, Richárd klingt also in etwa wie „Richaaard“ mit starker Betonung auf dem ersten Vokal i. Ein ungarisches A oder a gleicht dem Bayerischen a wie in „I hab gsagt“ oder wird wie das a im Englischen „what“ ausgesprochen. Generell zeigt ein Akut über einem Buchstaben an, dass dieser lang ausgesprochen wird. Ein S wird als Sch gelesen, Sz ist ein stimmloses S, ein C wird als Z gesprochen. Betont wird immer auf der ersten Silbe.

Das Budapester Ungarisch ist schnell und „hart“, wohingegen der Theiß-Dialekt der südlichen Gegenden „weicher“ und viel langsamer gesprochen wird.

Normalerweise erwähnt man immer den Nachnamen vor dem Vornamen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde hier darauf verzichtet, wie auch an anderen Stellen die Authentizität dem besseren Lesefluss untergeordnet wurde.

Englische Ausdrücke wie „Boys“ waren auch damals bereits in höheren Kreisen gebräuchlich.

Teil I Mein kleiner grüner Kaktus

1 Tristan und Isolde

Temesvár, ehemals Österreich-Ungarn

Das Anwesen der Familie Molnár

September 1920

Blanka wusste, was ihre Mutter dachte, wenn sie sie so ansah. Unaufgefordert hatte Mutter sich in Blankas Zimmer begeben, sich hinter ihr auf einen Stuhl gesetzt, Zeitung gelesen, und das Gelesene hin und wieder kommentiert; die neuen Singer-Nähmaschinen, die sie wohl für das Hausmädchen anschaffen sollten, denn die jetzige Maschine war zu alt geworden. Die neue Korsettmode für den Winter – »Unerhört, selbst die Korsetts zeigen heutzutage zu viel Haut!«; Werbung für Ausflugsfahrten auf dem Fluss und für Odol-Zahncreme – nichts konnte Mutter unkommentiert lassen, nichts war mehr so gut, wie es früher einmal war. Mutter las nämlich nur die Reklameseiten der Zeitungen.

Blanka verspürte ihren stechenden Blick im Rücken von hinten und reflektiert im Spiegel ihres Schminktisches. Ihre Haushälterin war gerade mit ihren Haaren fertig geworden und aus dem Zimmer gegangen, Blanka wollte sich aussuchen, welches Parfum sie auftragen wollte, da war Mutter ins Zimmer gekommen. Sie war sich sicher, dass Mutter vor der Tür gelauert hatte. Schließlich stand sie aus ihrer enervierenden Starre auf, trat neben Blanka und richtete eine Locke.

»Das sieht besser aus, wenn du sie so drapierst«, sagte Mutter.

Seit Blanka denken konnte, hatte ihre Mame, die werte Frau Eszter Molnár, etwas an ihr zu bemäkeln gehabt. Für eine Frau war sie zu groß, zu hager im Gesicht, sie fluchte zu viel, sie lachte zu viel, sie ließ sich die Haare nicht schön genug schneiden, ihre Kleider suchte sie nicht dem Anlass angemessen genug aus. An ihrem Bruder Franci gab es allerdings vonseiten der Mutter kaum etwas auszusetzen. Der Himmel schrie vor so viel Ungerechtigkeit! Blanka konnte erahnen, dass es nun wieder einmal Franci war, der noch immer in seinem Cocain-Delirium vor sich hin schnarchte und sich den Frack erst in letzter Minute anziehen würde. Aber sie war es, die die Schelte bekam, weil eine Locke nicht richtig saß. An ihrem eigentlichen Debütantinnenball hatte Blanka nicht teilnahmen können, als sie das geeignete Alter erreicht hatte, denn zu dieser Zeit war der Große Krieg zu einem Weltkrieg ausgeartet. Mutter hatte ihr damals pausenlos das Gefühl gegeben, sie hätte Schuld daran, dass die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren und der Ball wegen der Kämpfe ausgefallen war. Und dies passierte ausgerechnet Blanka Molnár, der Junggesellin eines der reichsten Familien in der ganzen Region, der Tochter des Inhabers der M.A.S. Automobil- und Flugzeugwerke. Andere Frauen hatten in ihrem Alter bereits ihr zweites Kind und sie war noch nicht einmal verlobt, was für eine Schande!

Trotzig ließ Blanka diese eine Locke wieder hervorspringen und sie hörte sogleich, wie Mutter missmutig murrte.

»Du hast dir erneut die Haare so kurz geschnitten, Kind?«, fragte sie. »Wie sieht das denn im Nacken aus? Wie bei einem Buben.« Mutter trug immer noch ihre Frisur und ihre Kleidung wie vor dem Krieg. »Man kann doch mit solch kurzen Haaren nichts anfangen und die Männer stößt es auch ab.«

Umso besser! »Ist schon gut, Mutter. Ich brauche ja auch nur einem Mann zu gefallen, nicht vielen.« Sie erhob sich, krallte sich schutzsuchend in ihrer Federboa fest. Sie hasste diese weißen Handschuhe, die sie zu tragen hatte, wenn sie ausging.

»Heute ist im Franz-Josef-Theater ein Musikprofessor zugegen«, berichtete Mutter. »Wir werden uns auf einen Champagner mit ihm verabreden. Bitte sieh ihn dir einmal an und ziehe ein weiteres Treffen mit ihm in Erwägung.«

»Hm. Wie alt wird er wohl sein? Sechzig und inkontinent?«

Ehe Mutter sie schelten oder ihr für diese patzige Antwort eine Ohrfeige geben konnte, rauschte sie aus dem Zimmer. Manchmal war Blanka ob des Krieges und der Lungenpest ganz froh. Wäre alles so gewesen wie seit Jahrhunderten, wäre sie schon längst mit einem alten, widerlichen Kerl unter der Haube. So hatte sie sich doch aus dem einen oder anderen unnötigen Schlamassel ziehen können. Und sogar ihre Verwandtschaft hatte sie gegenüber ihrer Mutter in Schutz genommen, wie etwa ihre Tante: »Ja, wissens’, der Krieg, der Krieg, wo soll denn Blanka einen Mann kennenlernen, wenn alle an der Front sind? Ja, wissens’, diese schlimme Grippe, diese schlimme, seit Jahren schon kann kein Ball und kein Heiratsmarkt stattfinden, was soll nur aus dieser Jugend werden, alle sterbens’ an der Seuche!«

Vater wartete bereits mit dem Chauffeur draußen vor dem Automobil. Auch Franci war erstaunlicherweise frisch gestriegelt und frisiert, obwohl Blanka natürlich seine rote, laufende Nase erkannte. Ehe ihr Mutter wegen ihrer Art noch einmal eine Rüge erteilen konnte, ließ sie sich die Automobiltür öffnen und stieg ein, achtete dabei nur wenig darauf, nicht auf ihren Rock zu treten. Es war noch ein knöchellanges Modell von vor dem Krieg, bei dieser Kälte war sie beinahe dankbar darum, obwohl sie natürlich einen modischeren kurzen Rock bevorzugt hätte.

Franci setzte sich neben sie auf die hintere Sitzbank. Wenigstens würde sie für einige Augenblicke Ruhe vor Mutter haben, denn diese teilte sich mit Vater den zweiten Wagen, allesamt waren die Automobile der eigenen Firma entsprungen, der die Familie ihren Reichtum verdankte.

»Weißt du, was sie gesagt hat?«, fragte Blanka ihren Bruder, während der Chauffeur den Wagen in Bewegung setzte. »Wir haben im Theater einen Sektempfang mit einem Musikprofessor und ich soll ihn mir mal ansehen.«

Franci zündete sich eine Zigarette an und zog die Nase geräuschvoll hoch, seine Rehaugen blickten neckisch unter seinen blonden Locken hervor. »Na, vielleicht ist er ja ganz hübsch. Ich werd ihn mir mal auf jeden Fall ansehen.«

»Du Idiot!« Blanka boxte ihn in die Seite, sein Mantel war jedoch zu dick, als dass er es ernsthaft gespürt hätte. Er munterte sie doch mit seinen Kommentaren auf. Noch ging er zur Schule, noch hatte er Schonfrist, aber schon bald würde es bei ihm heißen: »Bitte such dir eine Debütantin aus mit einem gebärfreudigen Becken, damit unsere Firma auch weiterhin in guten Händen ist.« Würde er das tun? Würde er den Schein aufrecht erhalten, nach Vaters Pfeife tanzen, und die Motorenwerke als Geschäftsführer in nächster Generation leiten?

Sie nahm Franci die Zigarette aus der Hand, paffte und gab sie ihm wieder, als das Automobil vor dem Franz-Josef-Theater vorfuhr.

Im Empfangssaal wurden sie als ehrenwerte Familie begrüßt, dann teilten sie sich wieder auf, Vater und Mutter pflegten ihre Beziehungen zu ihren Kunden, während sich Blanka mit Franci zu einem Tisch in der Ecke verkroch, der nahe an der Bar stand, wo der Oberkellner die Drinks auf Tabletts anrichtete. Unbemerkt nahm sich Franci zwei Cocktails, bevor es jemand von den Boys merken konnte. »Schau mal, der eine Mann dort, der mit Vater spricht. Was meinst du, was der von Beruf ist?«, fragte Franci und schlürfte an seinem Getränk. Ohne Blankas Antwort abzuwarten, steckte er sich eine neue Zigarette an und fuhr fort: »Er ist Rennfahrer. Vater will mit unseren Motoren bei diesen neuartigen Automobilrennen mitmischen und einen eigenen Stall … ja, ich glaube, so sagt man doch, also einen eigenen Stall aufmachen mit dem da als Aushängeschild.«

»Na, der hat eine ziemlich krumme Nase.«

»Du solltest einmal seinen Schwanz sehen.«

Sie brauchte eine Weile, um seine Antwort zu verdauen, dann musste sie sich beherrschen, um nicht laut loszuprusten. »Was? Du hast doch nicht etwa …?«

»Oh doch. Ich sag dir, wenn er auf der Rennpiste so schnell wie im Bett ist, kann Vater seinen Reichtum mehren.«

»Ah geh!« Sie nahm eine Praline von einer Etagère auf dem Tisch. Franci schaffte es immer wieder, sie aus ihren trüben Gedanken zu reißen. »Und wer noch?«

»Na, der eine Bankierssohn, János Mendelssohn hieß er, glaube ich. War einmal bei uns zu Gast. Dort, schau mal, rechts neben dem Eingang an der Säule.«

»Hm, der wäre mir zu untersetzt, sieht ja aus wie ein Bulle.«

»Ach wirklich? Und was ist mit seinem Bruder? Schau mal, der steht neben ihm. Wäre der nicht etwas für dich? Er mag Frauen.«

»Schon besser. Aber er verzieht den Mund so eigenartig. Außerdem hat er mir einen zu dicken Hals.« Das Gute daran, einen Bruder zu haben, der sich nichts aus Frauen machte, war, dass man herrlich über andere Männer tratschen konnte. Sie fühlte sich befreit, hier im Abseits mit Franci zu sitzen und andere aus Spaß abzuurteilen.

»Du bist ja anspruchsvoll.« Lausbubenhaft grinste Franci. »Sag, kann ich dich etwas fragen? Der da, der neben dem Ministerialrat Székely steht, glaubst du, er würde mich mögen?«

»Ob er einen Mann nicht von der Bettkante stoßen würde? Nun, ich bin nicht sicher, aber so wie er sich gibt, eher nicht. Ich würde es nicht versuchen«, riet sie ihm.

»Schade.«

»Wieso schade? Hast du sein Habichtgesicht einmal genauer angesehen? Was willst du mit so einem?«

»Nun, so wichtig ist mir das Gesicht nicht.« Franci schmunzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Seine Oberschenkel hingegen …«

»Ah geh, nur wenn das Licht ganz aus ist und bei Neumond!«

So ging es eine Weile und sie fühlte sich wieder ausgelassen, was auch ein wenig am Alkohol und an den Schokoladenpralinen lag. Dann löschte man das Licht für einen Augenblick, das Zeichen, dass sich alle in den Theatersaal begeben müssten, denn in fünfzehn Minuten würde die Oper beginnen.

Das gemeine Volk strömte bereits unter den Markisen in den großen Saal, die Familie Molnár hatte einen eigenen Eingang, der sich direkt zu ihrer Empore emporschwang. Dort war bereits ein kleiner Tisch mit Häppchen und Sekt gedeckt, frische Blumen standen in der Vase, die Ferngläser in ihren Kästchen.

Blanka nahm sogleich eine Sektflöte und stürzte den Inhalt mit einem Mal herunter.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, zischte Mutter, während sie sie einen Schritt zur Seite nahm, Vater schaute nur verdutzt. »Der war zur Begrüßung für Professor Varga!«

»Dann habe ich ihn ja richtig benutzt, indem ich mir Mut angetrunken habe.«

Blanka sah, dass Mutter ihren Mund verzog und etwas sagen, nein, Gift und Galle spucken wollte, da klopfte es an die Tür der kleinen Kabine. Ein Bedienester machte auf, kündigte Professor Varga an, der hereingeschwebt kam; ein alter Kauz mit einem ulkigen, ewiggestrigen Bart, wie Blanka ihn sich vorgestellt hatte. Er trug sogar ein Monokel. Sie blickte hilfesuchend zu Franci, der machte eine Geste, als müsste er sich den Finger in den Mund stecken und würgen, und sie verkniff sich ein Lachen – trotz all ihrer Verzweiflung.

»Darf ich Ihnen meine Tochter Fräulein Blanka vorstellen, Herr Professor Varga?«, hörte sie ihren Vater sprechen und konnte sich vorstellen, wie viel Enttäuschung in diesen Worten steckte, da er sie nicht nach guter alter Sitte bei einem Debütantinnenball einführen hatte können, sondern hier in der kleinen Kabine vor einem Opernstück.

»Küss die Hand, gnädiges Fräulein Blanka.« Professor Varga beugte sich zu ihr herunter und ein schmieriger Geruch stieg ihr in die Nase. Der Butler verteilte sogleich die bereitstehenden Sektflöten und stutzte, als zu dem leeren Glas gelangte.

»Ich fürchte, Blanka hat mit ihrem Liebestrank nicht warten können, nicht wahr, du schöne Isolde?«, warf Franci ein, ehe Vater oder Mutter lospoltern konnten. Und dann flackerten die Lichter dreimal, das Raunen, Schnattern und Husten wurde leiser, Kleidung raschelte, als man sich hinsetzte, es wurde vollkommen dunkel, bis der Vorhang aufging und das Preludium begann.

»Sie spielen das Stück etwas langsamer als gewohnt, aber es ist wirklich eine interessante Interpretation.« Professor Varga beugte sich etwas vor, sein herber, störender Geruch machte sich neben Blanka breit und sie wünschte, sie könnte noch einen Champagner haben.

So floss die Zeit endlos dahin, bis schließlich der zweite Vorhang für den ersten Aufzug aufgemacht wurde. Auf der Bühne sah man ein stilisiertes Schiff und Meereswellen, Isolde, wie sie ihrem Zukünftigen, dem alten König Marke, als Braut zugeführt wurde.

»Luft! Luft! Mir erstickt das Herz!«, beschwerte sich Isolde bei ihrer Magd Brangäne und Blanka seufzte lautstark auf. »Wie gut kann ich sie verstehen!«

»Psst!«, schalt sie Professor Varga und im weiteren Verlauf duckte sie sich in ihrem Sitz, sah zu, wie Brangäne den Todestrank, mit dem sie ihre Herrin Isolde vor dem Schicksal der unglücklichen Verheiratung bewahren wollte, mit einem Liebestrank tauschte. Als Tristan und Isolde schließlich von dem Liebestrank kosteten, noch im Glauben, dies wäre der Todestrank, spürte sie, wie Professor Varga nach ihrer Hand griff. »Eine Allegorie, dass man stets an dem festhalten sollte, was einem das Schicksal vorherbestimmt hat«, kommentierte er und sie fragte sich, warum sie ihm nicht den Mund verbieten durfte. Nur weil sie eine Frau war? Vorsichtig schielte sie zur Seite, zu Franci, im Halbdunkel sah sie, wie ihm vor Langeweile die Augen zufielen.

Nach dem Ende des ersten Aufzugs versammelten sie sich mit dem gemeinen Volk in der Eingangshalle und auf der Terrasse des Theaters. Professor Varga und Vater rauchten eine Zigarre, Mutter hatte sich – Gott sei’s gedankt – in das Frauenseparee zurückgezogen und Blanka stand unschlüssig bei den Männern herum, nickte und antwortete hier und da höflich, wenn man ihr eine Frage stellte und versuchte ansonsten, ihre schmerzenden Füße zu beruhigen.

Blanka blickte gelangweilt um sich, in einer Ecke entdeckte sie einen jungen Mann, der seltsamerweise überhaupt nicht in dieses Theater zu passen schien, als käme er von hinter dem Mond. Er beteiligte sich nicht am Gespräch, hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah abwechselnd ins Leere und auf seine Schuhe. Sein eigenartiges Auftreten faszinierte Blanka. In seinem Blick mit den schweren Lidern, den verträumten Augen und den sinnlichen Lippen lag etwas, was Blanka in den Bann zog. Trotz seines hübschen Aussehens sprach eine ungeheure Kälte aus seinem Blick, dies befremdete Blanka genauso wie es sie anzog. Ehe sie sich ein Herz fassen und zu ihm hingehen konnte, flackerten die Lichter erneut und kündigten den Beginn des zweiten Aufzugs an und Blanka nahm auf der Empore neben Professor Varga ihre Position ein, genauso wie Isolde auf der Bühne neben König Marke. Dieses Mal jedoch versuchte sie nach unten zu spähen, ob sie auf den unteren Sitzen den Mann entdecken konnte, aber es war zu dunkel und Tristan sang auf der Bühne: »O sink hernieder, Nacht der Liebe, gib Vergessen, dass ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los!«

»Ist das nicht herzzerreißend?«, fragte Professor Varga und drückte ihre Hand, aber so sehr, dass es unangenehm war. Nach dem zweiten Aufzug sah Blanka den Mann nicht mehr, da sie bis zum Ende des Tages die Zeit in der Kabine mit Professor Varga verbrachten. Blanka fühlte sich in einer eigenartigen Stimmung, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie spürte eine Sehnsucht nach etwas, und wusste nicht, was es war. Das Stück hatte sie doch seltsam auf eine neue Art und Weise berührt, obwohl es nicht das erste Mal gewesen war, dass sie Wagners Tristan und Isolde gesehen hatte.

»Ich wäre sehr verbunden, wenn wir unser Studium dieses Stückes vertiefen würden und ich Sie einmal auf einen Jagdritt nach Tristans Manier mitnehmen könnte. Ich bin nun einige Wochen nicht im Land, aber danach stehe ich Ihnen uneingeschränkt zur Verfügung«, schlug Professor Varga vor und Blanka nickte abwesend.

Damit war ein zweites Treffen zwischen Blanka Molnár und Professor Varga eine beschlossene Sache, ehe sie ihren Fehler korrigieren konnte.

»Nicht wahr, dieser Professor Varga ist wirklich klug und ein großer Kenner der Oper Wagners. Und zusätzlich sieht er auch noch unverschämt gut aus«, trällerte ihre Mutter, als sie wieder zu Hause waren und bei diesen Worten wäre Blanka beinahe in Tränen ausgebrochen.

»Ich bin so froh für dich, Blanka, dass er sich alsbald mit dir auf einen Jagdausritt treffen möchte. Ich meine, es ist nicht selbstverständlich, immerhin bist du keine Debütantin mehr.« Eine fröhliche Musik summend, verließ Mutter damit ihr Zimmer. Erst als ihre Schritte auf dem Korridor verklungen waren, traute sich Blanka, einen ihrer Schuhe gegen die Tür zu werfen.

*

»Richárd, wenn du nur nach links schaust, verpasst du, was rechts von dir geschieht!«

In letzter Sekunde konnte er einen Fluch unterdrücken, seine Fingerkuppen wurden weiß, als er das Lenkrad krampfhaft umklammerte. Ja, er sollte dankbar sein, dass sein Onkel ihn nach dem Tod seiner Mutter bei sich aufgenommen hatte und dass er ihm nun das Fahren beibringen wollte. Er würde es wohl nie lernen, das Automobil zu beherrschen. Viel zu viele Eindrücke sprangen ihn an, die er nicht verarbeiten konnte. Das brüllende Röhren des Motors, das Licht, das sich durch die Bäume brach, wie Feuer aus der Sonne, frostig-kühles Leder auf seiner Haut, der rußige Gestank der Abgase, ein vibrierender Druck, der seinen gesamten Körper versteifte, Hupen, Dröhnen, Rattern, Klappern, Piepen, Ratatatatata, ein Schnellfeuer, das ihn beinahe implodieren ließ.

Der Motor des Wagens knatterte – Ratatatatata –, er trat mit all der siebzehnjährigen Wut, die in ihm brodelte, auf das Bremspedal. Das Auto war jedoch träge, gehorchte nicht seinen Anweisungen. Trottend überfuhr es ein Holzschild, auf dem in großen Lettern »Kocsi« stand. Das Schild löste sich krachend, fiel zu Boden und zersplitterte unter dem Reifen, wie ein Bersten von tausend Knochen. Ihm brach der Schweiß aus – Ratatatatata –, und er wollte nur noch – Ratatatatata –, dass dieses Geräusch, das ihn zu zermalmen drohte – Ratatatatata –, aufhörte.

»Jetzt hast du die Menschen in der Droschke überfahren. Du hättest anhalten und sie vorbeifahren lassen sollen«, tadelte ihn sein Onkel.

»Jesus, Maria, das war nicht echt. Wären wir wirklich auf den Straßen, hätten die schon laut geschrien, und ich hätte sie rechtzeitig bemerkt.«

»Du darfst dich nicht immer auf die anderen verlassen«, sagte Onkel Árpád, während er seinen großen, dunklen Schnauzbart zwirbelte. »Vielleicht sind das auch solche halbstarken Träumer wie du. Vergiss bitte nicht, aufrecht zu sitzen. Und versuch auch, nicht immer hin und her zu rutschen, sonst kommst du womöglich einmal aus Versehen zu stark auf das Gaspedal.«

Richárd krempelte seine rutschenden Hemdsärmel wieder hoch und trotz des herbstlichen Wetters begann er zu schwitzen. Bald würde das Schuljahr beginnen, und bis dahin sollte er bereit sein, im chaotischen Stadtverkehr zurechtzukommen. Er wusste nicht, warum man das von ihm erwartete. In seiner Heimatstadt hatte auch keiner gewollt, dass er das Automobilfahren erlernte, er war sehr gut zu Fuß und mit der Straßenbahn zurechtgekommen. Aber in der Provinz war es wohl anders.

»Es fährt ohnehin jeder, wie es ihm beliebt. Ich werde mich schon durchschlagen«, verteidigte er sich.

Sein Onkel zwinkerte ihm zu, zwirbelte seinen Bart. »Na, na, ich muss mich auch erst an den Rechtsverkehr gewöhnen. Pass mal auf, du fährst den Wagen um die Ecke in den Schuppen. Schaffst du das?«

Mit einer väterlichen Geste wollte er Richárd auf die Schulter klopfen, der der Bewegung aber auswich und der Anweisung Folge leistete.

In den Regionen der zerfallenen Donaumonarchie war an vielen Orten Linksverkehr üblich gewesen, auch in seiner Heimatstadt Budapest. Mit der neuen Ordnung der Welt musste der stetig wachsende Straßenverkehr sich anpassen. Seitdem abzusehen war, dass mehr Automobile als Droschken unterwegs sein würden, hatte man Regeln eingeführt und bestehende verändert und Richárd ärgerte sich über sich selbst, dass er so schwer mit Neuem umgehen konnte.

Es dauerte eine beträchtliche Zeit, bis er das Auto schließlich ohne Schaden in den Schuppen manövriert hatte. Das Wohnhaus, in dem sein Onkel mit seinem Cousin Viktor die Wohnung Nummer drei bewohnte, lag etwas außerhalb, am Rande des ländlichen Bezirks, der sich Franzvorstadt nannte. Sein Herz pochte bis zum Hals, der Motorenlärm dröhnte noch in seinen Ohren, als er bereits ausgeschaltet war.

Die Automobile in Budapest waren beträchtlich leiser und sogar schneller gewesen. Dieses hier hatte nicht einmal ein Verdeck gegen den Regen. Mehr konnte sich Onkel Árpád mit seiner Lehrerpension wohl nicht leisten, aber immerhin besaß er ein Automobil.

»Gut gemacht, Junge!«, lobte ihn sein Onkel, der sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Schwerfällig stieg er aus dem Wagen aus. »Hast du schon deine Schulsachen zusammen?«

»Die Schule beginnt doch nicht gleich morgen. Ich habe noch Zeit.«

»Ja, aber denk rechtzeitig daran! Ich weiß doch, dass du immer alles auf den letzten Drücker erledigst und dann nervös wirst.« Mit einer drohenden Handbewegung näherte er sich, konnte aber seine strenge Miene nicht lange aufrechterhalten. Stattdessen klopfte er väterlich an die Autotür, bevor er die Hinterräder mit Steinen sicherte und davonging.

Richárd blieb im nun geparkten Auto zurück und genoss die Ruhe. Manchmal liebte er das Alleinsein, obwohl er normalerweise gerne unter Menschen war. Doch er war nicht lange allein, denn nach kurzer Zeit hörte er ein Rascheln und Klimpern aus einer Ecke des Schuppens. Sein Cousin Viktor tauchte aus dem Schatten hinter dem Wagen auf. In seiner Hand schwang er eine Flasche mit klarem Inhalt, er hatte ein Etui Zigaretten zwischen den Fingern geklemmt, und ein schelmisches Grinsen zierte sein Gesicht.

»Du hast wieder Onkels Schnaps entwendet, das sieht er nicht gern«, sagte Richárd zu Viktor, der sich sogleich auf den Sitz neben ihm schwang.

»Ach was, Vater wird nicht lange böse sein, das weißt du doch.« Viktor öffnete die Flasche, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht, bevor er sie Richárd reichte.

Beide waren fast gleich alt, nur eine Woche trennte sie voneinander, und trotzdem fühlte sich Richárd um einiges älter. Viktor war für seinen Geschmack viel zu leichtsinnig, zu unernst. Richárd nahm einen großen Schluck und verzog sogleich sein Gesicht.

»Komm schon, tu nicht so, als würde es dir nicht schmecken«, hörte er Viktor sagen.

»Teufelszeug!«, erwiderte er. Es war der selbst gebrannte Schnaps seines Onkels, auf den dieser sehr stolz war und den er nur zu besonderen Anlässen hervorholte. Doch er schmeckte niemandem, wahrscheinlich nicht einmal seinem Onkel, obwohl dieser es nie zugeben würde. Richárd spürte die Trockenheit des Getränks, als es seine Kehle hinabfloss, fast wie Pulver. Aber es war stark, und ein Mann trank das eben, egal ob es schmeckte oder nicht. Also hielt er sich an diese Regel.

Nach jeder heimlichen Trinkrunde verdünnte Viktor den Pflaumenschnaps mit Wasser, damit Onkel nicht merkte, wie er langsam verschwand.

»Ja, verdammt, Teufelszeug!«, stimmte Viktor zu. Dieser öffnete schließlich sein Zigarettenetui. »Ich konnte sie ihm stibitzen, bevor er sie in seine Tasche gesteckt hat.«

Richárd nahm auch eine Zigarette und ließ sich von Viktor Feuer geben. Er rauchte meistens nicht auf Lunge, aber er war fest entschlossen, diese Technik zu verbessern. Zumindest konnte er nun den Hustenreiz besser unterdrücken.

»Hat er dir wieder eine Fahrstunde gegeben?«, fragte Viktor.

»Natürlich«, antwortete Richárd und zog an der Zigarette, diesmal tiefer und länger. Ein leichtes Kratzen im Hals durchzuckte ihn, doch dann breitete sich ein entspannendes Glücksgefühl aus, das sogar die störenden Geräusche der Welt dämpfte.

»Und wann kannst du endlich alleine auf den Straßen fahren?«, fragte Viktor.

»Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt möchte«, antwortete Richárd.

»Wie, ob du das überhaupt möchtest? Machst du Witze? Das Automobil bedeutet die größte Freiheit, die ein Mann erreichen kann. Und du hast das Privileg, dass Onkel ein Automobil besitzt und dir sogar Fahrstunden gibt. Glaube es mir, bei dir gibt er sich viel mehr Mühe und weist sehr viel mehr Geduld auf als bei mir. Freiheit ist das, Richárd, Freiheit! Und ein Privileg.«

»Es fühlt sich aber nicht wie Freiheit an. Eher wie etwas, das mich fest in der Hand hat, mich kontrolliert.«

»Du solltest das Automobil kontrollieren, nicht umgekehrt. Erst dann bist du bereit für die große, weite Welt«, dozierte Viktor mit einer tiefen Stimme, ahmte seinen Vater nach.

Richárd schnäuzte sich und nahm den letzten Zug seiner Zigarette. »Natürlich.«

»Natürlich! Das heißt freilich. Du redest immer so hochnäsig.«

»Wie, hochnäsig?«

»Nun ja, so hochnäsig wie … ihr alle.« Viktor zuckte mit den Schultern. Eine kurze Veränderung flackerte im Gesicht Viktors auf, doch Richárd konnte nicht ganz erfassen, was es bedeutete.

»Das ist eben die Art, wie man in Budapest spricht. Ich habe es mein ganzes Leben lang so gemacht. Und was ist mit euch? Im Gegenteil, ich finde, dass ihr im Süden mit eurem Theiß-Dialekt ulkig sprecht. Möhr törkisch öls ungareesch. Ölf Öpfel. Man muss sich wirklich dran gewöhnen.«

Sein Cousin lachte. »Ja, da hast du wohl recht.« Seine Bemerkung über das Budapester Ungarisch erinnerte Richárd daran, dass er in der Provinz war, nicht mehr in der Hauptstadt, und ein Heimweh, das die verglimmende Zigarette nicht stillen konnte, machte sich in ihm breit.

Viktor spürte wohl Richárds Stimmung und ließ ihn alleine. Nun sehnte sich Richárd tatsächlich nach der Schule. Auch wenn er in einer neuen Klasse, in einem neuen Gymnasium, in einem neuen Land seinen Abschluss machen würde und ihn so viel Neues tief im Herzen beunruhigte, würden die Aufgaben ihn zumindest von seinem Heimweh und dem Gefühl, irgendwo im Nirgendwo gestrandet zu sein, ablenken.

Aber als er an diesem Abend schlaflos im Bett lag, Mitternacht verstrich, da musste er wieder an den zurückliegenden Sommer denken, als er noch in Budapest gelebt hatte. Der Sommer, in dem seine Mutter verstorben war und er aufgrund dessen zu seinem Onkel geschickt wurde. Er hatte noch jedes Detail in Erinnerung, das Ereignis verfolgte ihn bis in seine Träume:

Der Juni hatte Budapest unter einem düsteren schwarzen Schleier vergraben. Die Flaggen flatterten auf Halbmast. Nachdem der Krieg und die Seuche überstanden waren, lastete eine unerträgliche Bürde erstarrter Hitze auf der Stadt. Der Krieg war verloren, der König hatte abdanken müssen, Ungarn gab zwei Drittel seines Staatsgebietes an andere Länder ab und wurde zur Räterepublik, bevor der rechtsnationale Miklós Horthy die Macht an sich riss und die Bolschewisten mit einer gnadenlosen Härte verfolgte und ausmerzte, was man als Weißen Terror bezeichnete.

Die älteren Menschen schienen stets, als hätten sie einen Geist erblickt. Sie bewegten sich langsamer durch die Straßen, Worte drangen nur schwer zu ihnen durch, und ihre Launen waren reizbar, wenn man allein in ihrer Nähe atmete. Als die letzten jungen Männer von der Front heimkehrten und die letzten jungen Männer, die den letzten Wellen der Grippe erlegen waren, bestattet wurden, humpelten die vorzeitig Gealterten zu ihren Vätern, Großvätern und Onkeln, die so heftig schluchzten, dass sie sie nicht einmal umarmen konnten. »Wir haben alles verloren, alles ist vorbei! Was für eine Schande!« Ja, die alten Männer schleuderten den jungen Männern diese Worte entgegen, als wären diese dafür verantwortlich. Als hätten sie ihr rechtes Bein, ihren linken Arm, ihr Augenlicht umsonst geopfert. »Sieh dich an, du Krüppel! Und dennoch haben wir verloren!«

Es waren nicht die neunzehnjährigen Männer in der vollen Blüte ihres Lebens, die sich um ein Körperteil beraubt fühlten, um ein halbes Leben. Nein, es waren die alten, sehr alten Männer. Bevor die drückende, alles beherrschende Hitze das Land erreichte, wurden in Paris die Friedensverträge unterzeichnet und das Klagen der Alten wurde zu einem Requiem für ein untergegangenes Reich, für den Weltuntergang, im Walzertakt.

Für Richárd spielte das alles keine Rolle. Er war zu jung gewesen, um in den Krieg zu ziehen. Zwei Jahre lang, seit die Seuche ausgebrochen war, hatte er sich hinter Masken versteckt, und nun wollte er endlich sein Leben beginnen. In der Zeit, als sich seine Stimme endgültig formte, als ihm ein Bart zu wachsen begann, wandelte die Stadt wie eine lebende Leiche umher. Aus jeder Ecke, wie das heidnische Gebet eines Nietzsche, wie die Noten eines dieser neuen Zwölftonstücke, drang das Stöhnen der Alten, als würde man ihnen das Blut aussaugen. »Dieser Frieden ist eine Schande, ja, eine Schande ist er! Man hat uns entstellt!«

Im Juli allerdings, während einer Hitzewelle, ging es seiner Mutter immer schlechter. Ob es die letzten Überbleibsel der flandrischen Lungenpest waren oder etwas Anderes, ließ sich nicht sagen. Sie baute viel zu schnell ab, um eine Diagnose zu stellen. Sein Vater Menyhért Féodor war bereits an Tuberkulose gestorben, als Richárd zehn Jahre alt gewesen war, lange vor dem Krieg. So sah man ihn mitleidig an, als müsse er bald ins frühe Grab, als man ihn zu seiner Mutter ans Krankenbett rief.

»Die Welt ist so ungerecht, dabei ist Katalin doch noch gar nicht so alt, sie stand gerade eben in der vollen Blüte ihres Lebens. Und Richárd, ihr Sohn, der Ärmste! Er erträgt es so stoisch und tapfer, als würde es ihm nichts ausmachen. Aber was soll nun aus ihm werden, ihr wisst doch, wie er ist, nicht ganz richtig im Kopf? All seines vertrauten Umfelds beraubt«, sagten sie. Lehrer, Bedienstete, der Pfarrer – er wusste nicht, ob sie ihn meinten oder das Königreich Ungarn. Sie reihten sich vor dem Zimmer auf, in dem seine Mutter lag, alle in den wohlbekannten Masken, es erinnerte ihn an eine Geschichte von Edgar Allan Poe, und sie schleuderten ihm ihre heuchlerischen Beileidsbekundungen entgegen, wie bei einem Spießrutenlauf. »Möge Horthy ihn sicher auf seinen Wegen begleiten«, als wäre der Reichsverweser eine gottgleiche Institution.

Es fiel ihm nicht schwer, die Tür zu öffnen. Den ganzen Tag hatte er darüber nachgedacht, wie es sein würde, sie das letzte Mal zu sehen. Würde seine Hand zittern? Würde er in Tränen oder in Wut ausbrechen? Aber er fühlte sich seltsam ruhig, vielleicht sogar leer.

Im Zimmer herrschte Dunkelheit. Die schweren, bordeauxroten Samtvorhänge waren vor den mannshohen Fenstern zugezogen und verströmten wie Weihrauch einen bedeutsamen, schweren Duft, den sie gestern noch nicht gehabt hatten. Das Holz an den Wänden knackte anders als gestern. Es schien mit ihm zu sprechen, so wie die Alten zuvor im Flur. »Es tut mir so leid, armer Junge, du musst nun ganz alleine zurechtkommen. Armer Junge, so viele in deiner Familie sind nun gestorben. Jetzt bist du ganz allein. Und dabei bist du doch nicht ganz richtig im Kopf, was soll nur aus dir werden?«

»Richárd?«, hörte er eine schwache Stimme vom Bett her und sah die Bewegung der Decke, bevor er das Rascheln vernahm – wie der Blitz, der vor dem Donner kam. Langsam ging er zu ihr, zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und verspürte plötzlich das Verlangen, sich neben sie zu legen. Aber so nah bei ihr roch es stark nach Eiter und nach etwas Anderem, und er konnte es kaum ertragen.

»Ach, Richárd«, sagte sie und stöhnte leise und röchelnd auf. Also doch etwas mit der Lunge. Ihre dunklen Locken waren wie eh und je zu einer Frisur aufgetürmt, aus der jedoch ein paar schweißnasse Strähnen herausragten. Die Haarnadeln mussten die Verwandten im Liegen angebracht haben, dachte er. Und natürlich bekam sie kaum Luft, wohl weil sie ihr malvenfarbenes Kleid so hoch zugeknöpft hatte. Als würde sie zu einem Ball gehen.

»Mutter, ich denke, morgen wird es dir viel besser gehen. Heute noch nicht, aber morgen«, sagte er, da ihm passendere Worte fehlten, und angesichts eines peinlichen Gefühls der Überforderung in diesem bedeutsamen Moment.

»Na«, hauchte sie nur. Ein typischer ungarischer Ausdruck, der in tausend Variationen und Betonungen alles und nichts bedeuten konnte und trotzdem immer passte. Sie suchte nach seiner Hand, und er half ihr, sie zu ergreifen. So verbrachten sie einige stille Minuten und lauschten dem Hochsommerwind draußen, der wie Feuer durch die Straßen fegte. Nun vermischte sich auch der Geruch seines eigenen Schweißes mit dem Raum. Es war unerträglich heiß. So heiß, dass die Hosen verrotten, wie ein ungarischer Spruch lautete.

»Sag einmal, Richárd, ich habe nachgedacht«, meldete sie sich erneut zu Wort, dieses Mal noch heiserer als zuvor, als wären in der Zwischenzeit Jahre verstrichen, in denen sie ihre Stimme nicht mehr genutzt hatte. »Ich habe darüber nachgedacht, was mit dir passieren soll ... danach ...«

»Was denn?«, fragte er, weniger aus Neugier als vielmehr in der Erwartung, dass sie fortfahren würde. Was sollte schon geschehen? Sie würde wieder gesund werden, er würde die Schule beenden und sein Leben würde weitergehen mit jedem Tag – nach einem Krieg, in dem er nicht gekämpft hatte, nach einer Seuche, die ihn verschont hatte.

»Nun ... wenn ich nicht mehr da bin, wird es hier in Budapest niemanden geben, der sich um dich kümmern kann.« Ihre Stimme wurde wieder fester. Während dieses Satzes musste sie sich zwar öfter räuspern, doch er verstand sie dennoch klar und deutlich.

»Ich werde schon zurechtkommen, ich bin siebzehn«, erwiderte er, als würde er morgen eine Studienreise antreten.

»Nein. Ich möchte nicht, dass du ... alleine bist. Ich bin sicher ... du würdest es schaffen, aber ... du warst schon immer ...« Dann schwieg sie eine Weile, als sammle sie erneut Kraft. »Hör zu. Ich habe daran gedacht, dass du bei Onkel Árpád unterkommen könntest … So lange du noch … so jung bist … wird er für dich sorgen.«

Onkel Árpád, der Bruder seines Vaters, den seine Mutter den Tatar nannte, teilte mit dessen Sohn Viktor eine große Wohnung in der Stadt Temesvár. Onkel war Lehrer gewesen, wie Richárds Vater, und er hatte oft mit seinem Cousin gespielt. Sie hatten sich wie Brüder verstanden. Die Familie seines Vaters wurde liebevoll-neckisch als tatarische Bagage bezeichnet, aufgrund der Augenform, die sie gemeinsam hatten. Er und seine Mutter hingegen hatten schwere, verträumte Lider, die sich über blaugraue Augen stülpten und ihnen den leicht abwesenden Blick eines traurigen Sonntags bescherten.

»Dein Onkel mochte dich immer sehr.« Ihr Griff um seine Hand wurde fester, dann ließ er nach. Ein Hauch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase, doch jener andere Geruch überwog. »Er wird dich bei sich aufnehmen und sich um dich kümmern. Und du hättest ... wieder einen richtigen König.« Die Monarchie Ungarns war zwar wiederhergestellt, aber es gab keinen echten König mehr. An der Spitze thronte nun der Reichsverweser Miklós Horthy wie ein Mundschenk, der lange im Schatten des Monarchen gestanden hatte und nun seine gesamte aufgestaute Grausamkeit ausspielen konnte.

Er wusste nicht, was er sagen sollte, denn er glaubte nicht daran, dass seine Mutter sterben würde. Und ob Ungarn einen König hatte oder nicht, war ihm auch ganz gleich.

»Du wirst es gut haben bei ihm.« Ihre Stimme wurde leiser, und er musste sich vorbeugen, um sie zu verstehen. Er hatte nur Bruchstücke von dem gehört, was sie gerade sagte, und fügte die Worte in Gedanken selbst zusammen, als unterstütze er sie beim Sprechen. »Sie leben zwar jetzt ... in einem anderen Land, aber ... es wird gelingen. Er mag dich sehr und war immer ... so wie ein Vater ... für dich ...« Die Region des Banats im Südwesten, in der sein Onkel lebte, hatte lange Zeit zu Österreich-Ungarn gehört, die Pariser Friedensverträge hatten die Region nun zum Königreich Rumänien zugeschlagen.

Mutter stöhnte. »Richárd, ich möchte ... schlafen.« Damit ließ sie seine Hand los. Sie drehte sich nicht um, zog die Decke nicht enger um sich. Sie ließ einfach seine Hand los, und bald wurde ihr Atem leiser und regelmäßiger, ohne dass sie sich anders hingelegt hätte. Sie lag immer noch so verdreht zu ihm, nicht einfach eingeschlafen, sondern in einen erschöpften Schlaf gefallen, weil es nicht anders möglich war. Da wurde ihm erstmals bewusst, wie schlimm es um sie stehen musste.

Die nächste Sommerwoche verbrachte er im Strandbad, denn bei dieser Hitze gab es kaum etwas anderes zu tun als baden zu gehen. Er ging allein, lehnte Einladungen seiner Kameraden ab. Ein merkwürdiges Bedürfnis nach Einsamkeit überkam ihn oft. Er brauchte es, so wie ein Durstiger Wasser braucht. Nicht, weil er um seine Mutter besorgt war, sondern einfach weil er allein sein wollte. Nicht einmal der Anblick der Alten in den Thermen der Stadt, die wie Dahinsiechende das Ende des tausendjährigen Ungarn beklagten, machte ihn traurig. Er war eher enerviert von ihrem Gerede. »Was für eine diskriminierende Schande. Sie haben uns fast alle Gebiete genommen, die uns schon immer gehört haben. Wir haben nicht einmal mehr Zugang zur Adria.«

»Die Adria ist immer noch da. Sie können doch jederzeit zur Adria fahren, jetzt durchqueren Sie dabei eben ein anderes Land«, erwiderte er eines Tages einem fremden Mann und erntete eine schallende Ohrfeige. Er hatte einem Alten widersprochen – die größte Sünde in diesem katholischen Land. Die Alten hatten immer recht, einfach weil sie alt waren. Selbst wenn sie einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche legten, galt es als das Richtige, nur weil sie alt waren.

»Dass du dich nicht schämst, Bürschchen. Der Teufel soll dich holen!« In diesem katholischen Land war auch der Teufel allgegenwärtig.

»Ist mir egal, na, dann soll er eben kommen. Heißer als hier kann es in der Hölle nicht sein.«

Die letzten Hundstage überstand seine Mutter noch, dann starb sie. Und obwohl er sich innerlich längst von ihr verabschiedet hatte, traf ihn das Bewusstsein, dass er nun Vollwaise war, wie ein Schlag ins Gesicht. Aus einem unerfindlichen Grund berührten ihn die Vornamen auf den Grabsteinen – Menyhért und Katalin – am meisten, es erschütterte ihn regelrecht, dass seine Eltern nun zu diesem Ding unter der Erde geworden waren, zu zwei Steinen auf einem Friedhof, nicht mehr Vater und Mutter, nicht mehr Herr und Frau Féodor, nur noch bloße Vornamen.

Der Pfarrer half ihm nach der Beerdigung beim Packen, obwohl es nicht viel zu packen gab. Zwei Koffer bekam er zusammen, in einem waren hauptsächlich seine Bücher verstaut. Dann stieg er in den Zug gen Süden und wunderte sich darüber, dass sie während der Fahrt so oft anhielten. Dann fiel ihm wieder ein: Die Stadt, in der sein Onkel lebte, gehörte nun nicht mehr zu Ungarn, und er reiste ins Ausland. Trotz der düsteren Aussicht, das vertraute Budapest für das entfernte Hinterland zu verlassen, verspürte er plötzlich wieder einen Hauch von Entschlossenheit. Man versicherte ihm zwar, Temesvár sei eine große, bedeutende Stadt, aber für einen Budapester war jede andere Stadt nur ein Dorfnest, auch eine Stadt wie New York war nur ein Kuhkaff für einen echten Budapester.

»Ich reise ins Ausland.« Dieser Satz führte ihn fast auf Wolken die letzten Kilometer, er trug ihn wie Flügel. Er fühlte sich ungeheuer bedeutend, wie ein Abgesandter, der eine wichtige Delegation in einer bedeutsamen Mission vertrat. Stets hatten in seiner Brust zwei Herzen geschlagen; eines sehnte sich nach einer immer gleichen Routine, nach der immer gleichen Umgebung. Und das andere gierte nach Neuem.

Und stets hatte er sich deswegen zerrissen gefühlt und sich gewundert, ob es stimmte, was die anderen sagten; ob mit seinem Kopf wirklich etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Das Ausland wurde für Richárd wider Erwarten schnell zu einem neuen Zuhause. Bereits bevor die Schule in Temesvár begann, hatte er Deutsch lernen müssen, um sicherzustellen, dass er in diesem Fach innerhalb eines Jahres seinen Abschluss machen konnte, und auch weil Deutsch neben Ungarisch in Temesvár noch immer die Verkehrssprache war. Er hatte mit dem Lernen bereits im Zug begonnen und beherrschte die Sprache nach zwei Wochen bereits sehr zufriedenstellend.

»Unglaublich, wie schnell du diese schwierige Sprache erlernst hast«, lobte ihn Onkel Árpád. »Bis heute kann ich selbst nur eine Handvoll Wörter, geschweige denn, dass ich einen Satz zustande bringe.«

»Wieso? So schwer ist Deutsch nicht.«

»Siehst du! Du bist eben doch sehr klug, ich würde es in hundert Jahren nicht mehr lernen«, erwiderte Onkel.

Am ersten Schultag spürte er, dass seine Kenntnisse nun ausreichend waren, um eine anständige Konversation auf Deutsch zu führen.

Natürlich sollte er sich an diesem ersten Tag vorstellen. Er stand aufrecht vor der Klasse, die Arme als Bestärkung hinter dem Rücken verschränkt, so sehr, dass es ihn beinahe krampfte, und verkündete, während in ihm alles zu zerfließen drohte: »Mein Name ist Richárd Féodor. Ich bin diesen Sommer von Budapest nach Temesvár gekommen.«

»Budapest in … Ungarn?«, fragte der Herr Lehrer daraufhin, und Richárd antwortete: »Ja, sicher, welches Budapest denn sonst? Das dürfte doch hinlänglich bekannt sein, Herr Professor Szalai.«

Er erntete einen argwöhnischen Blick des Lehrers und konnte ihn sich nicht erklären. »Werden Sie etwa frech, Féodor?«

»Wieso frech? Ich habe doch nur Ihre Frage beantwortet, Herr Professor Szalai.«

Der Lehrer schüttelte den Kopf und Richárd wusste nicht, warum. »So ein Bürschchen sind Sie also! Nun gut, der einzige Platz, den ich Ihnen zuweisen kann, Féodor, ist seitlich an der Ecke, neben unserem Juden, Herrn Molnár.«

Zu dieser Zeit war das Gymnasium bereits hoffnungslos überfüllt mit Schülern. Das Loga-Nationalkolleg ein paar Straßen weiter östlich hatte auf die rumänische Sprache umgestellt, und die Ungarn suchten regelrecht Zuflucht in diesem Gymnasium am Scudier-Park.

Richárds Augen schweiften über die Ansammlung an Abschlussschülern, er konnte kaum ein Gesicht in der Masse ausmachen, so sehr überforderte ihn der Anblick. Geschweige denn, dass er in dem Gedränge Viktor wiederfand. Es mochten wirklich gut und gerne fünfzig Schüler hier sein, der Geruch, das Rascheln, das Murmeln, alles war überwältigend und knisterte ihm in den Ohren.

»Wenn Sie sich bitte setzen würden«, sagte Professor Szalai und auf Richárds Stirn brach der Schweiß aus. Wohin denn setzen? Alles verschwamm vor seinen Augen, er konnte kaum mehr etwas erkennen, nur Fenster und irgendwelche Reihen von Holzbänken, auf denen sich bewegende Schemen saßen.

»Aber wohin, Herr Professor?« Er schämte sich, aber wusste nicht, was er anderes tun sollte, als weiterhin stehenzubleiben.

»Wie, Sie wissen nicht wohin? Wollen Sie mich veralbern? Hierhin, da ist doch der einzige freie Stuhl!«

Vage bewegte er sich nun in die Richtung, die der Lehrer ihm anzeigte und stieß dabei an eine harte Kante. Ihn durchfuhr der Schmerz, er tastete wie ein Blinder nach dem erwähnten Stuhl und fühlte dann eine Hand, die ihn sachte am Ellenbogen berührte.

»Noch einen Schritt nach vorne, hier.«

Auf eine sanfte Art und Weise wurde er dirigiert und das Bild vor seinen Augen klarte sich immer weiter auf, je mehr sich seine Nervosität legte. Nun konnte er wieder richtig sehen. Ihm seitlich gegenüber saß also der besagte Herr Molnár, der Jude, wie Professor Szalai ihn vorgestellt hatte, und lächelte ihn zaghaft an. Er hatte freundliche, rehbraune, fast schwarze Augen, eine eigenartig gerötete Nase, seine dunkelblonden Locken waren etwas zu lang und zu wirr und gaben ihm ein rebellisches Aussehen; er war Richárd sogleich sympathisch.

»Ich bin Ferenc, du kannst mich aber Franci nennen«, stellte er sich leise vor und schlug sein Heft auf, nachdem Szalai die Klasse dazu aufgefordert hatte. In all dem Rascheln, das nun folgte, konnte Richárd trotzdem Francis Stimme gut verstehen.

»Mein Name ist Richárd Féodor.«

»Ja, hattest du vorhin bereits gesagt.«

»Wahrlich. Tut mir leid.«

»Muss es doch nicht.«

»Du musst von mir denken, ich sei dumm. Oder blind.«

»Nein.« Franci zuckte mit den Achseln. »Szalai kann manchmal ein Arsch sein, ich bin noch immer nervös, wenn er mich direkt anspricht, da verschwimmt mir auch alles vor den Augen. So war es doch vorhin bei dir, nicht?«

Richárd war sehr froh, dass Franci genau das benannte, was Richárd Schwierigkeiten gemacht hatte. Er lachte ihn nicht aus, er triezte ihn nicht, wie so viele andere, denen er in Budapest in der alten Schule begegnet war.

»Ich meine, du hast doch gehört, wie er mich vorgestellt hat? Neben unserem Juden.« Franci verdrehte die Augen. »Dabei wurde ich mit fünf Jahren katholisch getauft. Er kann es nicht ausstehen, dass ich, als geborener Jude, Klassenbester bin! Warum ordnest du eigentlich alle deine Stifte auf dem Pult?«

»Weil ich erst dann lernen kann.« Richárd spannte seine Gliedmaßen an und wartete auf den Spott, der in solchen Situationen unweigerlich folgte. Er ärgerte sich, dass er die Frage überhaupt wahrheitsgemäß beantwortet hatte, er dachte, lügen sei leichter, dann müsse er keinen Spott ertragen, aber er konnte nicht lügen.

»Haben etwa alle eine feste Reihenfolge?«, fragte Franci neugierig und Richárd war freudig überrascht, dass dieser sich nicht lustig darüber machte.

»Molnár!«, rügte ihn daraufhin Herr Professor Szalai und den Rest des Unterrichts verbrachten sie in Stille.

Als der Schultag zu Ende war, tauchte plötzlich Viktor vor ihm auf. »Wir können Szalai morgen fragen, ob du nicht den Platz tauschen und neben mir sitzen kannst«, sagte er aufgedreht.

»Warum? Ich sitze ganz gerne hier«, wunderte sich Richárd.

»Ich dachte nur, du möchtest neben jemand Vertrautem sein.«

»Wir haben uns angefreundet, Viktor«, sagte Franci, ehe Richárd selbst antworten konnte und Viktor erwiderte nichts mehr, entfernte sich und fast schien es Richárd so, als mache Viktor vor Franci einen Knicks, wie vor einem König.

»Viktor ist verschossen in meine Schwester Blanka, weißt du«, erklärte dann Franci.

»Oh. Das hatte er noch nie erwähnt.«

»Und er geht mir mit seiner anbiedernden Art auf die Nerven, aber was soll’s, zumindest ist er nicht boshaft mir gegenüber wie die meisten.« Er stand auf und legte seinen Ranzen lässig um eine Schulter. »Ich bin froh, dass du ganz anders bist. Scheinst in Ordnung zu sein, Richárd. Nicht so selbstgefällig wie die anderen hier.«

An diesem Tag fühlte sich Richárd seltsam leicht und unbeschwert, denn noch nie war jemand Gleichaltriges so freundlich zu ihm gewesen, nicht einmal Viktor. Er bekam zum ersten Mal eine Ahnung davon, was es hieß, Freundschaften zu schließen.

Sein Onkel Árpád Féodor wohnte am nordwestlichen Rand der Stadt, in einer Franzvorstädter Siedlung, die mehr wie ein ländlicher Gutshof als ein Vorort wirkte. Jeden Morgen und Abend ging Richárd mit Viktor an der Ziegelbrennerei vorbei, da die Franzvorstadt noch nicht an die Straßenbahn angeschlossen war. Schließlich stiegen sie am Josefsbahnhof ein, um ins Zentrum Belváros zu fahren, wo sich das Gymnasium befand. Je weiter östlich sie kamen, desto prächtiger und anmutiger wurden die Häuser, und es wehte ein Hauch von vertrauter österreichisch-ungarischer Noblesse en miniature durch die Straßen. Sogar die Viertel trugen Namen, die an Wien oder Budapest erinnerten: Josefstadt, Elisabethstadt, Franzvorstadt. Viktor beschwerte sich darüber, warum sie so weit außerhalb wohnten und jeden Morgen so früh aufstehen mussten, um zur Schule zu gelangen, und sehnte sich danach, wann er endlich das Automobil benutzen durfte. Richárd konnte Viktor nicht zustimmen, denn er war noch viel längere Wege aus Budapest gewohnt. Selbst mit der Straßenbahn bedeuteten manche Strecken dort eine regelrechte Weltreise.

Dennoch vermisste er nichts Schulisches aus der Heimat, denn der Unterricht war oft den Kriegszuständen, der Grippe oder irgendwelchen Revolutionen zum Opfer gefallen. So war es das erste Mal seit Langem, hier in Temesvár, dass er einem geregelten Schulalltag nachging und sich auch dank Franci in der Schule so wohl fühlte, als hätte er schon immer hier gelebt.

Meistens sah er jedoch aus dem Fenster. Der Unterricht langweilte ihn nach einiger Zeit bereits. Und so begann er, Bücher mitzunehmen und sie heimlich unter dem Pult zu lesen. Seine Deutschkenntnisse waren weit genug fortgeschritten, um die Umgangssprache langweilig erscheinen zu lassen und so wandte er sich dem mittelalterlichen Deutsch zu. Während der Herr Professor über unregelmäßige Verben referierte, die bei seinen Kameraden nicht so recht ankamen, las er heimlich den »Tristan« von Gottfried von Straßburg in der mittelhochdeutschen Originalsprache.

»Herrgottssakrament, Féodor! Wollen Sie mich absichtlich provozieren, oder was?«, erklang plötzlich eine laute Stimme. Auf einmal war es ganz still geworden, und erst nach ein paar Augenblicken wurde ihm bewusst, dass es an ihm lag. Er sah sich um; tatsächlich, alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Also packte er sein Buch weg und setzte sich aufrechter hin.

»Nein, das will ich nicht, Herr Professor Szalai«, antwortete er. Es stimmte ja, was sollte er also anderes sagen?

»Nun, dann bin ich gespannt, ob Sie nach vorne kommen können, um alle Formen des Verbes auserkoren im Konjunktiv zu konjugieren.«

Er antwortete: »Der Infinitiv heißt jedoch nicht auserkoren, sondern kiesen. Und es geht so im zweiten Konjunktiv des Präteritums: köre, körest oder körst, köre, kören, köret, kören. Interessant ist natürlich, dass der deutsche Kurfürst, der kürvürste, sich von diesem Wort ableitet, von kūre, küren und so weiter, aber das ist ja allgemein bekannt.«

Daraufhin ließ ihn Professor Szalai seine Lektüren in Ruhe weiterlesen.

2 Kaiser und König

Herbst 1920

Zur Nacht auf den ersten November brach im Franz-Josef-Theater auf dem Ferdinandsplatz ein verheerendes Feuer aus, das drei Tage lang wütete und während dieser Zeit biblische Ausmaße annahm. Nur ein paar Instrumente überlebten den Brand, der das Gebäude im Herzen von Belváros wie einen Stummelzahn sterbend zurückließ.

Der Brand verschob den Jagdausflug von Blanka und Professor Varga nur um eine Woche und an einem nebligen Novembertag verabredete man sich im Nordosten der Stadt auf dem Jagdfeld. Man würde also durch die halbe Stadt auf Pferden reiten wie eine hochherrschaftliche Königsfamilie samt Gefolge. Blanka duckte sich etwas abseits bei den Stallungen in eine Ecke, um heimlich eine Zigarette zu rauchen und sich, so lange es ging, vor ihren Eltern zu verstecken. Sie beobachtete, wie Franci dem Stallburschen die Pferdebürste aus der Hand nahm und den Kopf des Pferdes damit massierte. Sie vermutete, dass die beiden sich sehr gern hatten und wohl auf eine Affäre spekulierten, aber noch unsicher waren, und die Bürste war wohl so etwas wie ein verschlüsseltes Zeichen zwischen ihnen. Als der junge Bedienstete gegangen war, sagte sie zu ihrem Bruder: »Jetzt muss ich mir nur ausdenken, wie ich Vargas Vornamen erfahre, ohne dass es peinlich für mich wird.«

»Nenn ihn einfach weiterhin Professor. Solche alten Männer haben keine Vornamen, nur Titel. Es wird ihn bestimmt schmeicheln, wenn du ihn so nennst, während er dich fickt, nicht? Oh, Professor, oh lieber Herr Professor, tiefer, ja, tiefer mit Ihrem Zeigestock! So etwa, na?«

»Was für eine widerliche Vorstellung!« Sie nahm einen tiefen Zug ihrer Zigarette und verdrehte die Augen. »Er wird heute um meine Hand anhalten. Ich muss mir überlegen, wie ich da den Kopf aus der Schlinge ziehe, ohne dass mich Mutter und Vater umbringen.«

Bald schon setzte sich der Zug im Novembermorgen in Bewegung. Die Sonne kämpfte sich fahl durch die Wolken und den Nebel. Mutter schien erfreut, als sie Blanka und Professor Varga nebeneinander herreiten sah. Blanka zupfte dann schließlich an ihrem Mantel, lupfte ihn ein wenig hoch und ließ so einen Blick auf ihre Hosen zu. Sogleich verfinsterten sich die Augen ihrer Mutter wieder, als sie wohl endlich erkannte, dass Blanka nicht brav im Kleid im Damensitz auf dem Pferd hockte, und wendete ihren Blick enttäuscht ab. Ein kleiner Triumph.

Sie nahmen den Weg über die Fabrikvorstadt, machten einen großen Bogen um das Roma-Viertel im Norden und ritten durch den jüdischen Bezirk, Vater trug den Kopf so hoch, als würde er über den Wolken schweben, als wollte er sagen: Seht her, wir sind besser als ihr, wir haben unseren Messias im Motoröl und im Reichtum gefunden und ihr schart euch noch immer bloßfüßig um euren Rabbi in der Gosse!

Auf dem Weg aus der Stadt heraus bemerkte Blanka, dass die Straßennamen nach und nach ersetzt und umbenannt worden waren, sie bezweifelte jedoch, dass man sich an die rumänischen gewöhnen könnte. Sie glaubte nicht, dass diese Stadt noch lange zu Rumänien gehören würde, denn auf den Straßen hörte man diese Sprache kaum, die Verkehrssprachen waren Ungarisch und Deutsch. Sogar Čerhari und Jiddisch hörte man öfter als Rumänisch.

Auf dem Jagdfeld separierten sich sogleich die Geschlechter wieder. Die Männer putzten und richteten ihre Waffen, ihnen wurden die Pferdesattel noch einmal nachgezogen, sie tranken sich Mut an und verschwanden sogleich im wieder aufziehenden Nebel, während die Frauen unter einem eigens errichteten Pavillon Kaffee zu sich nahmen und mit den Plänen für die neue Ballsaison begannen, die doch nun endlich, nach beinahe einem Jahrzehnt der Entbehrungen, im nächsten Jahr wieder ordentlich stattfinden würde. Blanka sah noch lange dem Punkt nach, an dem Franci auf seinem Pferd verschwunden war. Auch er hatte nicht sonderlich glücklich ausgesehen, mit den Männern wegreiten und über Geschäftliches reden zu müssen, genauso wenig wie sie nun darüber diskutieren wollte, welchen Ort man nun für den nächstjährigen Debütantinnenball wählen sollte, wo doch das Theater abgebrannt war und der Hunyadi-Palast als etwas zu gewöhnlich für dieses Ereignis erachtet wurde.

»Wir müssten den nächsten Debütantinnenball in der Hauptstadt Budapest feiern, ich sage es euch!«, schlug Tante Zsuzsa vor, eine alte Schreckschraube, die es nicht lassen konnte, Blanka missbilligende Blicke wegen ihrer Hosen zuzuwerfen. Ob man verwandt war oder nicht; ältere Frauen wurden stets mit »Tante« angeredet und ältere Männer mit »Onkel.«

»Das liegt doch aber jetzt in einem anderen Land, unsere neue Hauptstadt ist nun Bukarest«, gab Blanka zu bedenken und erntete nur ignorantes Murmeln.

»Bukarest liegt aber in Rumänien«, schalt sie Zsuzsa und Blanka erwiderte: »Wir gehören seit dem Sommer zu diesem Land.«

»Auf der Margaretheninsel«, lenkte Zsuzsa wieder auf ihr Thema ab und dann drehte sich alles nur noch darum, ob man das Casino auf der Margaretheninsel oder das Grand Hotel als Austragungsort nehmen sollte, als wäre dies bereits beschlossene Sache, als würde ihnen die gesamte Welt gehören.

»Ist denn Ungarn noch immer ein Königreich, in dem man Bälle austragen kann oder will der Vertrag von Trianon uns das auch verbieten?«, warf eine andere dieser alten Schnepfen ein und danach ergossen sich die Frauen über den Knüppelvertrag, der das arme Ungarn massakrierte und was man gegen die horrende Ungerechtigkeit tun könne.

»Nun, genug davon«, beendete Zsuzsa das Thema, und Blanka wäre beinahe froh darüber, wüsste sie nicht, dass ihre Tante nun ein viel schlimmeres Thema anstimmen würde. »Schließlich sind wir ja alle heute wegen Blanka hier, nicht wahr?« Sie sah in die Runde und Blankas Herz setzte für einen Moment aus, sie spürte einen schweren Kloß im Hals. Nein, bitte nicht! Bitte sprecht nicht über diese Sache mit mir!

Es nützte alles nichts. »Ich hörte, Professor Varga zeige sich sehr interessiert an einer Verlobung, meine liebe Blanka.«

Sie versuchte ein Lächeln aufzusetzen. »So sagt man sich, ja, Tante Zsuzsa.«

»Oh, dann werden wir heute Abend noch den Champagner aufmachen müssen, nicht wahr? Lass mich einmal sehen.« Damit nahm sie ihre Kaffeetasse in die Hand, schwenkte sie, schlürfte die letzten Reste und betrachtete dann das Innere eingehend. »Ah, wenn mich nicht alles täuscht, wirst du zwei oder drei Kinder haben. Diese Unklarheit könnte natürlich bedeuten, dass dir eines in jungen Jahren verstirbt oder dass du eine Fehlgeburt haben wirst. Aber zwei Kinder werden gesund sein und das Erwachsenenalter erreichen.«

»Na, da ist hoffentlich ein Sohn dabei!«, wollte Mutter wissen, die bis dahin seltsamerweise geschwiegen hatte.

»Ich sehe mehrere männliche Personen in ihrem Leben, die eine Rolle spielen.«

»Und das sind hoffentlich alles rechtschaffene katholische Ungarn.« Mutter warf ihr einen mahnenden Blick zu, als wäre die Zukunft bereits ihre Schuld.

Trotz des dicken teuren Wollmantels spürte Blanka eine eisige Kälte durch ihre Knochen fahren, obwohl die Spätherbstsonne ein wenig zwischen den Wolken hervorblitzte. In diesem Moment hörte sie das Traben von Pferden, die Jagdgesellschaft kam zurück, nun wurde erst einmal der Wein und der Pálinka geöffnet und die Ausbeute begutachtet, und Blanka konnte sich zu ihrem Bruder davonstehlen, der gerade seinen Gewehrlauf putzte.

»Ich habe anvisiert, aber im letzten Moment daneben gezielt«, sagte er und sie fiel ihm um den Hals.

Blanka sah zu dem Zweispänner, auf dessen hinterem Wagen sich Füchse, Hasen und drei junge Rehböcke stapelten. Die Augen der Rehe sahen hilflos ins Leere. Professor Varga stand daneben, fing ihren Blick auf und lächelte ihr zu und sie fühlte sich wie seine nächste Beute. Wo ist denn meine Brangäne, meine Magd, die mir einen Trank braut, damit ich aus dem Leben scheiden kann und dies nicht erdulden muss, dachte sie und sah sich nach der Haushälterin Rozika um, aber diese war nicht mitgekommen.

»Darf ich das gnädige Fräulein entführen?« Professor Varga hatte sich bereits neben sie gestellt und nahm nun ihre Hand, ohne dass sie die Zustimmung dazu gegeben hätte.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Franci in ihrer ganz eigenen Geschwister-Geheimsprache, die sie benutzten, seit sie Kinder waren, eine vermischte Abwandlung aus Serbisch, Jiddisch und Čerhari-Romani, was sie eben auf den Straßen aufgeschnappt und für sich selbst interpretiert hatten.

»Nein, schon gut, ich werde es selbst regeln«, erwiderte sie.

»Breche ihm zur Not die Nase, wie du es bei mir gemacht hast, als ich acht war«, schlug er mit einem Lächeln vor und sie drückte ihm liebevoll den Arm.

Varga räusperte sich, wohl weil er nicht verstehen konnte, was sie sagten, und zog sie von Franci weg.

In der Nähe gab es einen kleinen Bachlauf und einen überdachten Tanzplatz. Professor Varga hatte eine Flasche rote Mädchentraube und zwei Gläser mitgebracht, woraus er nun für beide ausschenkte und die Getränke auf den Tresen am Rande des Tanzplatzes hinstellte.

»Mein liebes verehrtes Fräulein Blanka«, begann er also und sie wappnete sich, spannte ihre Muskeln an, »ich finde es äußerst angenehm, mich in Ihrer Nähe aufzuhalten und ich wäre sehr froh, wenn wir aus unserer Sympathie füreinander einen größeren Bund schließen könnten.«

Sie trank ihren Wein mit einem Schluck zur Hälfte leer, was Professor Varga für einen Moment aus der Fassung brachte. Wie viel Zeit haben wir denn bereits miteinander verbracht? Fast gar keine. Du möchtest mich legal ficken und versprichst dir Reichtum von meiner Mitgift, das ist alles.

»Ist der Wein wohltemperiert und nicht zu kalt, gnädiges Fräulein?«

»Er könnte besser sein, wenigstens macht er schnell betrunken«, antwortete sie und schien ihn damit zu überfordern. Um seine Unsicherheit zu überspielen, schenkte er ihr nach.

»Nun, ich sehe, Sie reden nicht gerne um den heißen Brei herum. Deswegen frage ich sie geradeheraus, ob Sie Frau Varga Kázmérné werden wollen. Natürlich beinhaltet dies nicht nur eine Assimilation, sondern eine ordentliche Konvertierung zum römischen Katholizismus, mit einer pädagogischen Unterweisung, zu welchem Heiligen man in welcher Situation beten solle, worum ich mich in allen Einzelheiten kümmern werde. Ich habe bereits an den Heiligen Vater geschrieben.«

»Ah, Kázmér ist also ihr Vorname. Weiß ich dies also auch.«

Wieder schien ihn ihre Antwort zu irritieren, dass seine Gesichtszüge ihm kurz entglitten und er leicht, wie ein trotziges Kind, das seinen Willen nicht bekam, aufstampfte.