Kinder der Revolution - Silvia Hildebrandt - E-Book

Kinder der Revolution E-Book

Silvia Hildebrandt

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Beschreibung

Nach den Schrecken der blutigen Revolution tut sich Tiberiu schwer damit, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. Zu viele Verluste haben ihn zutiefst erschüttert, die Bilder der Kämpfe verfolgen ihn bis in seine schlimmsten Albträume. Mittellos und ohne klares Lebensziel flieht er in den Osten des Landes und zieht sich in eine Hütte in den Karpaten zurück. Doch auch die wilde Natur Rumäniens bleibt von den Nachwehen der Revolution nicht verschont, denn in Targu Mures bricht eine Art Bürgerkrieg aus – und Tiberiu mittendrin. Nur die Freundschaft zu Leo lässt ihn nicht an all diesen Ereignissen verzweifeln. Obwohl zu Beginn eher Antipathie zwischen ihnen herrschte, schweißt sie der Bürgerkrieg zusammen. Oder ist da vielleicht sogar viel mehr zwischen ihnen, als er anfänglich wahrhaben will …?

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KINDER DER REVOLUTION

SILVIA HILDEBRANDT

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-947706-36-5 (Taschenbuch)ISBN 978-3-947706-29-7 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund Korrektorat: Jana Oltersdorff - Dietzenbach Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Silvia Hildebrandt

Kinder der Revolution

Zum Buch

Nach den Schrecken der blutigen Revolution tut sich Tiberiu schwer damit, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. Zu viele Verluste haben ihn zutiefst erschüttert, die Bilder der Kämpfe verfolgen ihn bis in seine schlimmsten Albträume.

Mittellos und ohne klares Lebensziel flieht er in den Osten des Landes und zieht sich in eine Hütte in den Karpaten zurück. Doch auch die wilde Natur Rumäniens bleibt von den Nachwehen der Revolution nicht verschont, denn in Targu Mures bricht eine Art Bürgerkrieg aus – und Tiberiu mittendrin.

Nur die Freundschaft zu Leo lässt ihn nicht an all diesen Ereignissen verzweifeln. Obwohl zu Beginn eher Antipathie zwischen ihnen herrschte, schweißt sie der Bürgerkrieg zusammen.

Oder ist da vielleicht sogar viel mehr zwischen ihnen, als er anfänglich wahrhaben will …?

TEIL I

IN MEMORIAM

Kapitel 1

31. Dezember 1989

»Liebe Frau Novák, mein aufrichtiges Beileid. Ihr Verlust tut mir leid. Ich weiß genau, was Sie … ich kann mir vorstellen, was Sie durchmachen müssen … Oh, Scheiße!« Tiberiu schlägt mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Dort parkt er in der Straße in Mihailsdorf vor dem Novák-Bauernhaus, seinem zweiten Zuhause, und versucht der Frau, die kürzlich zwei ihrer Kinder verloren hat, etwas Tröstendes zu sagen. Die Frau, die Zeit seines Lebens wie eine Mutter für ihn war.

Ist es wirklich erst ein paar Tage her, seit Rumänien im Chaos der Revolution versank? Seit sie ihren Tyrannen, Präsident Ceaușescu, gestürzt hatten? Seit so viele ihren Wunsch nach Freiheit mit dem Leben bezahlten? Und unter den Toten auch sein bester Freund aus Kindertagen: Attila, der jüngste Sohn der Nováks. Erst gestern wurde er zu Grabe getragen, aber es mutet Tiberiu an wie eine Ewigkeit. Schnee knirscht unter Tiberius Füßen, als er aus dem Auto steigt. Die summende Lampe kann der Straße kaum Licht spenden, er stolpert über einen Pflasterstein, der seit dem großen Erdbeben von 1977 lose ist.Er bringt eine Flasche Wein mit, einen ungarischen, um den kürzlich begrabenen Sohn der Familie zu ehren. An der Tür klingelt er, es bellt kein Hund, kein Hahn kräht sein Kukurikú, wie er es seit fast drei Jahrzehnten gewohnt ist. Als sich das Tor öffnet, erscheint ein erschöpfter Novák József, und Tiberiu kann seine Angewohnheit zu salutieren nicht unterdrücken. Zehn Jahre als Soldat in so einem Land hinterlassen ihre Spuren.

József schaut zu Boden, sein Rücken ist gebeugt, sein Haar ist über Nacht weiß geworden. Tiberiu steht mit seiner Flasche verloren da und weiß nicht, was er genau tun oder sagen soll. So nicken sie sich wie Fremde zu, und Tiberiu folgt Herrn Novák über den Hof ins Haus.

Novák Izabella sitzt mit glasigen Augen am Esstisch, die Hände im Schoß, eine einzelne Kerze brennt in dem sonst schwach beleuchteten Raum. Sobald Tiberiu die im Laden gekauften Kuchen in ihren hässlichen Plastikverpackungen sieht, die achtlos auf den Tisch geworfen wurden, weiß er, wie schlecht es ihr wirklich geht. Kein warmer, süßer Geruch weht aus der Küche, kein Mehl auf Frau Nováks Schürze. Die Matrone, als die er sie gekannt hatte, gibt es nicht mehr. Sie ist eine gebrochene Frau. Niemand sollte seine eigenen Kinder zu Grabe tragen müssen. Es gibt keinen Grund, nicht einmal die Freiheit eines ganzen Landes, der dies rechtfertigt.

Niemand sagt etwas.

Tiberiu holt drei Gläser und Teller aus dem Schrank. Er schenkt den Wein ein, öffnet den verpackten Kuchen und serviert jedem ein Stück. Die Gabeln klimpern in seiner Hand, und er sucht nach Servietten. Seit den späten Sechzigern weiß er, wo sich alles im Wohnzimmer befindet. Es hat sich nichts geändert.

Er probiert den verpackten Kuchen, aber er schmeckt schrecklich. Zu trocken, zu süß, er würgt fast daran. Das Klappern des Bestecks auf dem Teller dröhnt in seinen Ohren. Und die Stille zerreißt ihn wie Kugeln.

»Warum hast du ihn gestern Bruder genannt?« Plötzlich durchbricht Frau Novák das Schweigen.

»Izabella«, murmelt József und seufzt.

»Nein, ich möchte es wissen. Du bist nicht Attilas Bruder. Du bist nicht einer meiner Söhne, Nicolescu Tiberiu.«

»Es tut mir leid«, sagt er und spielt mit Kuchenstreuseln, drückt sie zu flachen, klobigen Zuckerfladen. »Das sind meine aufrichtigen Gefühle. Ich habe ihn immer für einen Bruder gehalten. Wir sind seit dem Kindergarten zusammen aufgewachsen.«

»Hey, ich habe Feuerwerksböller gekauft«, unterbricht ihn József. »Um Mitternacht können wir in den Innenhof oder ins Stadtzentrum gehen. Das neue Jahr begrüßen. Das erste Jahr in Freiheit. Was denkst du?«

»Wechsle nicht das Thema, Józsi.«

»Es tut mir leid, Frau Novák. Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.« Nach all den Jahren spricht er sie immer noch so an. Er fühlt sich wohl damit, Attilas Vater bei seinem Vornamen zu nennen, aber er wird es nie wagen, sie Izabella zu rufen.

»Aber dann denke ich doch, ein Feuerwerk ist in Anbetracht der Ereignisse unangemessen«, murmelt Attilas Vater, größtenteils für sich.

Nach Attilas Tod konnte Tiberiu nicht mehr in Bukarest bleiben. Die Hauptstadt versank im Chaos eines Bürgerkriegs, Revolution und Konterrevolution wechselten sich ab, zu viele Zivilisten mussten ihr Leben lassen, und inmitten dieser Hölle organisierte er den Transport von Attilas Leiche in sein Heimatdorf.

»Und was waren diese hässlichen roten und braunen Flecken an seinem Körper? Hm, Tibi? Was war das? Kannst du mir das erklären?«

Er half Izabella im Bestattungsinstitut, ihren verstorbenen Sohn zu identifizieren, zusammen mit ihr zog er der Leiche die Uniform aus und einen feierlichen schwarzen Anzug an, bereit für die Beerdigung. Sein Körper ähnelte einem ausgehungerten Vampir. Es gab nur einen Grund, warum all diese Läsionen Attilas Körper bedeckten. Darf er es sagen? Er vermutet, dass Attilas Eltern das größte Geheimnis ihres Sohnes wahrscheinlich nicht kennen.

»Du weißt, was das war, oder?«, wimmert Izabella. »Ich sehe es in deinen Augen. Du weißt so viel über ihn. Mehr als ich. Warum sagst du es mir nicht?« Tränen rinnen über ihre Wangen. »Warum hat er aufgehört, mit mir zu reden, sich von mir entfremdet? Ich weiß kaum etwas über ihn. Warum, Tibi, warum?«

Tiberiu räuspert sich. Ihm wird übel.

»Sag’s mir, um Himmels willen, Tiberiu!«

Okay. Das ist es. Jetzt muss er es wohl gestehen. »Nun, er … ähm … er war krank«, stammelt Tiberiu, »sehr krank. Er hatte eine Krankheit … Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben. Eine Art … Autoimmunerkra… Hautkrebs.«

Er beobachtet sie. Natürlich reicht diese Erklärung nicht aus. Sie runzelt die Stirn, und ihr Blick durchbohrt ihn. Der gleiche Blick wie der von Attila. »Hautkrebs? Autoimmuner Hautkrebs? Aber wie kann man Hautkrebs bekommen, wenn man kaum draußen in der Sonne ist?«

Vampirismus, lacht er in Gedanken laut und spöttisch auf. Es erstaunt ihn, wie das Gehirn sich in diesem Moment so einen geschmacklosen Witz ausdenken kann. Aus Selbstschutz?

»Nun …« Sie sollten es wissen. Sie verdienen, die Wahrheit zu erfahren. Attila verdient es, dass seine Eltern über seine wahre Natur Bescheid wissen. »Okay. Ich komm in die Hölle dafür, aber egal. Er hatte … AIDS.« Tiberiu beißt sich auf die Lippen und schmeckt Blut auf seiner Zunge. »Ich weiß nicht, wie lange er darunter gelitten hat. Er … ähm … er hatte ziemlich viele … ziemlich viele … Liebhaber. Anscheinend ist es …«

»AIDS? Ich habe noch nie von einer Krankheit namens AIDS gehört«, knurrt Izabella. József ist ruhig geworden. Er bewegt sich nicht, kein Laut ist von ihm zu hören. Er ist tot für die Welt.

»Es wurde von der Regierung geheim gehalten, von Attilas eigener Abteilung. Er selbst hatte …« Da hört er auf zu sprechen. Es ist zu schrecklich, darüber nachzudenken, wie verdreht das Leben war, das Attila geführt hatte. Erst jetzt merkt Tiberiu, was Attila für die Securitate durchgemacht haben musste. Wie er litt, weil Tiberiu ihn selbst in diese Position brachte. Wie er seine eigene Identität verleugnen musste.

»Liebhaber? Was meinst du mit Liebhabern? Er hat nie gesagt, dass er Freundinnen hatte. Er sagte, er sei zu beschäftigt, um Beziehungen zu haben.«

»Ah.« Tiberiu reibt sich die Stirn. Diese Kopfschmerzen werden ihn noch umbringen. Okay, Augen zu und durch. Er muss es hinter sich bringen. »Er hatte tatsächlich Liebesbeziehungen. Mit Männern.«

Izabella zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf, als würde er Chinesisch sprechen. Nach dieser ersten Hürde spricht Tiberiu weiter: »Er war schwul. Homosexuell.«

»Was?«, gibt sie empört zurück. »Nein! Tiberiu. Warum sagst du so etwas? Nach allem, was ich für dich getan habe? Warum ziehst du den Namen meines Sohnes in den Dreck? Was hat er dir angetan?«

»Das ist …«, seufzt er. Er will aus diesem Haus raus. Er hoffte, ein bisschen Zeit allein in Attilas altem Jugendzimmer zu verbringen und in aller Stille um seinen Freund zu trauern, aber jetzt will er nur noch nach Timișoara zurückfahren. »Das hat er mir gesagt. Ich zitiere ihn nur.« Kapitulierend hebt er die Hände. Ja, was für ein feiger Schachzug.

»Oh Gott. Das kann doch nicht wahr sein. Du denkst dir das aus, um mich zu beleidigen.« Izabella fährt sich durch die Haare. »Nun ja, du scheinst nicht ganz du selbst zu sein, Tibi. Ehrlich gesagt, verstehe ich dich. Wir sind alle ein bisschen müde.«

»Vielleicht … sollte ich nach Hause. Ich will Sie nicht länger aufhalten als nötig. Sie sollten sich gut ausruhen.« Er weiß sehr wohl, dass heute die Silvesternacht ist. Und obwohl sie gestern ihren Sohn begraben haben und erschöpft sein müssen, scheinen seine Worte seltsamerweise fehl am Platz zu sein. Es ist schon immer in Rumänien Tradition gewesen: Jeder ist an diesem Tag bis zum nächsten Sonnenaufgang wach. Zu früh ins Bett zu gehen gilt als unsozial. Den Sohn zu begraben, ist keine angemessene Entschuldigung.

»Ja«, bestätigt Izabella. »Ja, ich begleite dich zur Tür.«

Höflich verabschieden sie sich noch voneinander, aber er weiß, dass er schon lange nicht mehr willkommen ist. Und als sich alle auf die Feierlichkeiten vorbereiten, um ein neues Jahr, ein neues Jahrzehnt, eine neue Ära zu begrüßen, fährt er zurück nach Timișoara, auf der einsamen Überlandstraße, Freies Radio Europa spielt Chris Reas melancholische Stimme.

Das Türscharnier von Attilas Wohnung ist immer noch halb gebrochen. Tiberiu versucht, es provisorisch zu reparieren, um den Eingang zu schließen, damit es in der Wohnung nicht zu kalt wird.

»Ach, Bruder«, seufzt er, und Tränen schießen ihm in die Augen, als er das Wohnzimmer betritt, in dem sie ihre letzte Nacht in dieser Stadt verbracht haben. Sein Blick schweift sofort zu den Fenstern, von wo aus er im Dezember die Panzer durch Timișoara rollen sah. Die bestickten Vorhänge. Wie schmerzt ihr Anblick in seinem Herz! Er weiß, dass Attila diese hasste. Er weiß, dass Izabella sie ihm geschenkt hat, als er nach dem Wehrdienst hierhergezogen ist. Und er weiß, dass Attila es nie gewagt hat, sie abzuhängen, egal wie hässlich er sie fand.

Ja, okay, er braucht etwas Alkohol, um diese beschissene dunkle Stimmung zu überdecken. Er öffnet die Bartür in Attilas Schrankwand. Ein gut ausgestatteter Vorrat an Getränken lässt ihn wieder frei atmen. Er öffnet eine Pálinka-Flasche und würgt einen großen Schluck herunter, ohne ihn in ein Glas zu füllen.

»Noroc, Atti, du Hurensohn«, prostet er dem schwarzen Fernseher in der Ecke des Zimmers zu.

Und dann hört er ein schreckliches Kreischen. Sein Hals zieht sich zusammen. Sein Magen brennt. Was ist das? Was ist das für ein Geräusch? Was ist das für ein schreckliches Gefühl?

Oh lieber Gott, nein! Er weint. Er weint wie ein Mädchen. Er trinkt und heult sich die Augen aus. Er weint um Attila. Er weint um Ánná, Attilas Schwester, seine langjährige Lebensgefährtin. Er gibt sich seinem Selbstmitleid hin. Er würde töten, damit sie wieder am Leben wären. Er möchte, dass sie hier sind, mit ihm auf ein neues Jahr anstoßen, auf den Erfolg der Revolution. Er will sie an seiner Seite haben, wenn sich die Neunzigerjahre nähern. Wie können sie alle tot sein? Wie konnten sie es wagen, wie Fliegen zu sterben? Sie haben ihn betrogen, ihn in dieser grausamen Welt allein zurückgelassen. Es ist unfair von ihnen, ihm das anzutun.

Oh nein, er sollte mit dieser Altweiber-Melancholie aufhören. Sein Vater hatte recht: Er ist eine Schande von einem Mann. Völlig unfähig, sich zu beherrschen, unfähig, als Căpitan der Volksarmee erfolgreich ein Bataillon zu führen. Und jetzt ist er nur noch ein Betrunkener, erbärmlich und arbeitslos.

Um der unerträglichen Stille ein Ende zu setzen, schaltet er das Radio ein. Begleitet von den Melodien geht er Attilas Besitztümer durch und findet seine alte Geige. Dieser Mistkerl hat das Ding hier in Timișoara behalten! Nicht bei seinen Eltern in Mihailsdorf. Was für wunderbare Erinnerungen dieses Instrument hervorruft. Von unzähligen Festen: Ánnás fünfzehnter Geburtstag. Hatte sich Tiberiu damals schon, als kleiner Junge, in sie verguckt? Die Revelion-Nacht von 1974/75, als er und Attila beide im Stimmbruch waren. Die Silberhochzeit von Herrn und Frau Novák, zu der das halbe Dorf eingeladen war.

Tiberiu fragt sich, wann er Attila das letzte Mal spielen gesehen hat. Wann hatte er aufgehört, ein unbeschwerter Mann zu sein, und war zum Aushängeschild der Securitate, der rumänischen Geheimpolizei, geworden? Wann ist all diese Scheiße passiert? Was war der Wendepunkt?

Als der Alkohol durch seine Adern fließt und in seinem Kopf herumwirbelt, fragt er sich, warum er vor ein paar Stunden unbedingt wollte, dass Frau Novák etwas über Attilas Sexualität erfuhr. Warum war es ihm so wichtig? Warum kann er die Toten nicht in Frieden ruhen lassen?

Und dafür haben wir gekämpft, Genosse Novák? Allein Silvester zu verbringen, um der einzige Überlebende unserer Clique zu sein, der einzige Überlebende der Revolution?

Das ist nicht fair.

Es ist so ungerecht, am Leben zu sein, wenn sie es nicht sind – Attila und Ánná, Freunde und Familie, und all jene, die in Timișoara und Bukarest ermordet wurden.

Er weiß, dass es respektlos ist, in Attilas Wohnung herumzukramen. Aber er kann nicht anders. Er sucht verzweifelt nach irgendeinem Trost, den Attilas Habseligkeiten ihm geben könnten. Sucht nach einer gespenstischen Präsenz, die möglicherweise noch hier herumgeistert. Er findet eine Packung Kondome, die noch versiegelt sind, und kichert. Ja, natürlich. Als Offizier des Geheimdienstes hatte Attila Zugang zu diesen Gütern. Irgendwann verbot der gestürzte Präsident das Verkaufen von Verhütungsmitteln, und mehr als einmal hatte Tiberius Freundin Ánná ihm mitgeteilt, sie müsse schon wieder heimlich abtreiben. Da hatte er sich immer gefragt, ob das nicht einfacher ginge. Warum hat Attila ihnen nicht einfach Kondome besorgt? Gut, Attila hat offenbar auch nie welche davon benutzt.

Tiberiu findet eine Sammlung von Rezepten für Medikamente, die alle nicht eingelöst sind. Er findet ein Dokument mit Attilas AIDS-Diagnose.

Keine Fotos, weder von Attila, seiner Familie noch von seinen Liebhabern. Nichts Persönliches als die Geige und jede Menge Bücher russischer und ungarischer Autoren. Die Flasche Pálinka ist schon halb leer, als leiser Jubel und ein paar knallende Feuerwerkskörper von außen erklingen und ihm mitteilen, dass das Jahr 1990 offiziell begonnen hat.

Und als zehn Minuten nach Mitternacht jedes Geräusch wieder verstummt, erbricht er sich in Attilas Küchenspüle und schläft auf seiner Couch ein.

Frohes Neues Jahr, Genosse.

Ein Klingeln weckt ihn einige Stunden später. Sein Mund schmeckt nach kalter Asche, und er muss sich wieder übergeben.

Instinktiv geht er ans Telefon, bevor er weiß, wo zum Teufel er überhaupt ist. »Ja? Nicolescu.«

»Ich wusste, dass ich dich in seiner Wohnung finden würde«, flüstert Novák Izabellas Stimme durch die störungsanfällige Leitung. »Wirst du am Nachmittag noch da sein?«

Jäh aus dem Schlaf gerissen, springt er zum Fenster und fummelt an dem bestickten Vorhang herum, wie es seine Gewohnheit ist, wenn er telefoniert. Das ist es, das ist Normalität, das ist der Alltag eines Novák. Der Anblick von Schnee, die Vorfreude darauf, im Schoß der Familie zusammenzusitzen, die Wärme und Gemütlichkeit der Vorhänge, die einen von draußen ins Warme locken, lebhaftes Lachen, ein unaufhörlich klingelndes Telefon, keine Zeit, seltsamen Gedanken nachzuhängen, die im Kopf herumkreisen.

»Ja, ich bin nachmittags noch hier«, sagt er und beobachtet die Strada Miron Costin. Alles schmeckt und riecht so normal. Dreck und Müll von der Silvesterfeier liegt auf der Straße, verschneiter Schlamm sammelt sich auf den Gehsteigen, nur ein paar Autos fahren vorbei. Die Telefonkabel über den Bäumen, die gelben Stromkästen. Aber eine Million kleiner Einschusslöcher bohren sich in den bröckelnden Putz der Hausfassaden. Das heruntergekommene Aussehen der mit Kugeln übersäten Häuser erzählt von der elenden Geschichte dieses Landes.

»Ich nehme den Drei-Uhr-Zug.«

»Soll ich Sie mit dem Auto abholen?«

Eine lange Pause. Sie weiß, dass er kein eigenes Auto besitzt. Sie weiß, dass er Attilas benutzen wird. Gestern vermied sie es, aus dem Fenster auf die Straße zu schauen, auf der er den Audi geparkt hatte.

»Nein. Es ist nur einen Kilometer vom Bahnhof entfernt. Ein kurzer Spaziergang tut mir gut.«

Nun, dieser Mann da sieht seltsam aus. Stand er nicht vor ein paar Minuten schon dort? Warum verweilt er neben der Telefonzelle und tut nichts? Tiberiu weiß nicht, warum er besorgt ist. Möglicherweise wartet dieser Mann auf jemanden und reibt nervös die Hände zusammen. Die gesamte Regierung ist zusammengebrochen, so etwas wie die Geheimpolizei, Spione und Agenten gibt es doch nicht mehr.

»Okay, Frau Novák. Ich werde hier sein«, verspricht er, und sie legt auf. Das Tuten hypnotisiert ihn. Er kann den Blick nicht von dem Mann an der Telefonzelle abwenden.

Er hört sie, bevor er sie sehen kann. Ihre braunen Locken sind in ein Seidenkopftuch gebunden. Ihre Falten sind ausgeprägter als vor ein paar Wochen. Krümel ihres leuchtend roten Lippenstifts kleben an ihrem Mund. Sie greift nach ihrer winzigen Handtasche. Es ist kaum Platz darin für mehr als ihre Schlüssel und ihr Zugticket. Aber ohne sie hat er sie nie ihr Haus verlassen sehen.

»Ich dachte, ich muss versuchen, es zu reinigen«, begrüßt er sie, reibt über das zerbrochene Rücksitzfenster von Attilas Audi und bleicht die Blutflecken auf dem Polster mit medizinischem Alkohol aus, hier und da wirft er einen misstrauischen Blick auf den Mann an der Telefonzelle. Er ist immer noch da. »Atti hätte mich umgebracht, wenn ich nicht wenigstens einen Versuch unternommen hätte, sein Auto sauberzukriegen. Das Ding war sein ganzer Stolz.«

Sie räuspert sich, zieht die Augenbrauen zusammen und presst die Lippen aufeinander. »Was du über Attila gesagt hast: Es ist nicht wahr. Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Basta.«

Ja, das ist die Novák-Einstellung. Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose ist keine Rose, wenn ich das sage.

»Sollen wir nach oben gehen?« Er zeigt auf das Wohnhaus, und sie nickt. Ein letzter Blick auf die Telefonzelle. Sein Herz setzt einen Schlag aus.

Drinnen, nachdem er ihr aus ihrem Mantel geholfen hat und sie sich beide gesetzt haben, kramt er eine Zigarette aus der Schachtel und bietet auch ihr eine an. Selten hat er sie rauchen gesehen, nur in Momenten höchster Aufregung. Die Zeit, als ihre älteren Söhne aus dem Land flohen, war eine Gelegenheit gewesen. Das hier ist eine andere.

»Und nun? Was wird aus Rumänien?«, fragt sie.

»Hm.« Er schnauft tief.

»Iliescu wird jetzt Präsident, nicht wahr? Taugt der was?«

Er seufzt. »Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich gesagt, lasst uns Tőkés zu unserem neuen Präsidenten machen.«

Ihre Augen weiten sich, sie neigt den Kopf. So wie Attila es immer getan hat.

»Nur meine Meinung.«

»Kannst du …« Ihre Stimme ist so leise, dass er sich näher zu ihr bücken muss, um sie zu verstehen. »Kannst du mir helfen, nach Deutschland auszureisen? Weißt du, ich möchte meinen Ältesten, István, besuchen. Und Gábriel. Ist es schon sicher, nach Westen zu gehen?«

»Ich weiß es nicht. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es auf jeden Fall teuer sein wird.«

»Ich denke darüber nach, das Haus zu verkaufen. Immerhin ist es für Józsi und mich zu groß geworden.«

»Verständlicherweise«, antwortet er. Aber innerlich will er schreien: Nein, verkaufe das Haus nicht. Es ist Attilas Kindheit. Meine Kindheit auch. So viele Erinnerungen sind in seinen Wänden eingeschlossen.

»Weißt du noch? Einmal …«, murmelt sie, und ein schüchternes Lächeln umspielt ihren Mund, »als du und Atti in meiner Küche mit der Hälfte der Zutaten experimentiert habt, die ich im Laufe der Jahre mühsam zusammengestellt habe?« Ein tiefes Seufzen entweicht ihrer Kehle. »Ich war nur eine Stunde weg. Einkaufen und mit meinem Nachbarn plaudern. Aber als ich zurückkam, sah das ganze Haus aus wie ein Schlachtfeld, und es stank höllisch. Wie kann man in nur einer Stunde aus Mehl und Eiern so etwas Schreckliches fabrizieren?«

»Ich weiß«, lacht er, »wir hatten eine seltsame Experimentierphase in der Küche. Wann war das? Wir waren … sechs? Sieben? Acht?«

»Ihr wart schon dreizehn!«

»Auf keinen Fall.«

»Oh ja. Glaube mir. Ich erinnere mich noch gut. Es ist wie ein Trauma in mein Gehirn gebrannt.« Um zu verdeutlichen, dass sie Witze macht, hebt sie die Hand und streichelt Tiberius Wange, wie sie es mit ihren Söhnen getan hat. »Wochen danach habe ich immer noch eure … Kuchen gefunden. Ihr habt versucht, den Teig in meinem Ofen in Plastikboxen zu backen? Wirklich?«

»Nun.« Er lacht laut. »Attila war schon immer schlecht in Chemie.« Er erkennt den bitteren Sinn dieses Witzes und beißt sich auf die Lippe. Attila war im Land berühmt dafür gewesen, als Geheimdienstoberst mit Chemikalien seine Opfer zu foltern. »Ich habe ihm gesagt, dass seine Idee dumm sei. Aber er wusste es besser, dieser Klugscheißer.«

»Hm.«

Sie brauchen fast zehn Minuten, um sich wieder einzukriegen. Sie starren mit glasigen Augen auf den Teppich, Verkehrsgeräusche dringen ans Ohr, in der oberen Wohnung stampft ein Kleinkind mit den Füßen auf, aber ihre Gedanken sind zu weit weg, um etwas zu registrieren. Nur ihre Körper sind anwesend, während ihre Gedanken in Mihailsdorf weilen, zurück in der warmen und gemütlichen Heimat der Nováks.

»Und damals, als ihr zwei zum ersten Mal Alkohol probiert habt? Hast du gedacht, wir würden euch nicht hören, wenn ihr euch aus Attis Zimmer schleicht und in unserem Schrank nach den Schnapsflaschen stöbert?«

»Wir dachten, wir wären die schlauesten Menschen der Welt. Und unbesiegbar.«

»Nun, du hast deine Lektion am nächsten Morgen gelernt.«

»Oh Gott, ja. Ich frage mich, warum wir an diesem Tag nicht auf Lebenszeit auf Alkohol verzichtet haben.«

»Da ist noch immer ein Fleck in unserem Wohnzimmerteppich, wo du dich nachts übergeben hast, während du versucht hast, es ins Badezimmer zu schaffen.«

»Ist nicht wahr!«

»Ich sag’s dir doch.« Plötzlich bricht ihre Stimme. Ihre Lippen zittern. »Ist er wirklich … tot, Tibi?«

Tiberiu erinnert sich an den Grund, warum Attila gestorben ist. Nicht seine Krankheit hat ihn getötet, sondern eine schreckliche Überreaktion. Im Augenblick des höchsten Triumphs, als Präsident Ceaușescu gestürzt wurde, erschoss ein abergläubischer Zivilist Attila. Er hatte dessen Flecken auf der fahlen Haut irrtümlich missdeutet. Ein Strigoi. Er ist ein Strigoi. Töte ihn!

»Ja. Ja, er ist tot.«

Ihr Schluchzen durchschneidet die Stille wie ein Messer. Tiberiu kann es nicht ertragen, sie anzusehen. Er kann auch nicht aufstehen oder sich bewegen oder etwas sagen. Er sitzt da und fummelt an den Fäden, die sich aus der Tischdecke herauslösen.

»Er war in seinen letzten Jahren so gestresst«, flüstert sie und weint. »Isten éltese. Mein armer Sohn.«

Ein weiterer stummer Moment vergeht. Es wird unangenehm. Tiberiu kann das nicht mehr ertragen, er sitzt neben ihr, während Schluchzer ihren Körper erschüttern, er kann sie nicht trösten. Was soll er auch tun?

»Verzeih mir, Tiberiu.« Sie wischt sich schließlich mit ihrem Blusenärmel die Tränen ab. Die Frau Novák, die er kannte, hätte das niemals getan. »Ich sollte wahrscheinlich gehen.«

»Soll ich … soll ich Sie nach Gara Nord begleiten?«

Sie springt auf und sammelt ihren Mantel und ihre Handtasche ein. »Ich werde noch einen Spaziergang machen. Ich muss meine Gedanken sortieren. Alles in Ordnung. Danke«, plappert sie. Und an der Tür dreht sie sich zu ihm um und winkt ihm schüchtern zu. »Auf Wiedersehen, Tiberiu.«

»Auf Wiedersehen, Frau Novák«, sagt er. Bitte verkaufen Sie das Haus nicht, Izabella.

Er mied den Anblick des Stadtzentrums, nachdem er aus Bukarest zurückgekehrt war. Nur aus der Ferne erhaschte er einen flüchtigen Blick, wie die Menschen Kerzen am Kirchplatz auf der Piața Operei für die Verstorbenen anzündeten. Am Silvesterabend war der ganze Ort zu einem einzigen großen Traueraltar geworden, der an die Opfer des Aufstands von Timișoara erinnerte.

Nachdem Frau Novák gegangen ist, verspürt Tiberiu den Drang, den Ort des Massakers erneut zu besuchen. Er findet es seltsam, einen Blumenstrauß zu kaufen und auf Attilas Grab zu legen. Was würde das auch nützen? Aber stattdessen möchte er, nein, er muss eine Kerze für ihn anzünden.

Er schleicht sich aus der Eingangstür des Apartmentkomplexes und schaut, ob der Mann an der Telefonzelle noch da ist – und Tiberiu ist erleichtert, als er ihn nicht sieht –, dann öffnet er Attilas Auto und fährt auf der Straße über den Fluss Bega. Die Hauptverkehrsader wurde in Bulevardul 16 Decembrie 1989 umbenannt. Er schluckt bei diesem Gedanken, ein dicker Klumpen scharfen Speichels erstickt ihn.

Ja, sie hatten keine Zeit, eine neue Regierung aufzustellen, aber sie haben es natürlich geschafft, ein neues Straßenschild zu schmieden und es einzubauen.

In letzter Sekunde beschließt er, das Auto vor dem technischen Gymnasium zu parken und nicht in der Nähe der orthodoxen Kathedrale, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte. Dort haben die Leute auch Kerzen und ein paar Holzkreuze mit den Namen derjenigen aufgestellt, die vor zwei Wochen in der Cetate gestorben sind.

Tiberiu zündet weder eine Kerze an, wie er es beabsichtigt hatte, noch hinterlässt er einen Brief, einen letzten Gruß an die Toten. Stattdessen hat er etwas mitgebracht, eine Hommage an seinen Freund, und erklimmt die Stufen seines ehemaligen Internats.

Mit zitternden Händen, sich schützend vor der plötzlichen bitteren Kälte, die nach Weihnachten durch das Land gefegt ist, legt er Attilas Geige dort ab.

»Leb wohl, Genosse Novák«, flüstert er, bevor er sich abwendet.

Als er in die Strada Miron Costin zurückkehrt, steht der Mann wieder neben der Telefonzelle. Und dieses Mal geht er direkt auf Tiberiu zu.

Er begrüßt ihn und räuspert sich dann. »Mein Herr, kennen Sie zufällig General Novák Attila?«

Tiberiu kann ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. Er war noch nie gut darin, ein stoisches Soldatengesicht aufzusetzen. »Ja. Warum?« Du bist zu dumm, hört er die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Verdammt. Er hätte einfach verneinen sollen.

»Ähm, wissen Sie, ob … es ein Testament gibt oder so?«

»Oh. Ich fürchte, er … Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich bin, ähm … ich bin ein guter Freund«, murmelt der Mann.

»Hm. Ich verstehe.« Tiberiu nickt, die Augen auf das kantige Kinn gerichtet, die ausgehöhlten Wangen, den kleinen roten Fleck unter dem Ohrläppchen. »Ich weiß, was hier los ist«, raunzt er, »ich weiß, wer Sie sind.«

Wie von einer Wespe gestochen stolpert der Mann zurück. Bevor er auf den Bürgersteig fällt, packt ihn Tiberiu am Arm und hilft ihm, aufrecht zu stehen. Sein Arm unter dem Mantel ist knochig.

»Hey, Mann. Mach dir keine Sorgen. Ich bin seit Ewigkeiten sein bester Freund. Eure dreckigen kleinen Geheimnisse sind bei mir in Sicherheit. Ich möchte jedoch wissen, was du von ihm willst.«

»Ich … ich … ich wurde … vor ein paar Monaten schwer krank.«

Oh, verdammt.

»Und ich kann mir die Medizin nicht leisten. Und wir waren … gut befreundet. Wissen Sie. Wir hatten eine Beziehung, fast zwei Jahre lang. Also dachte ich, er hätte sich in seinem Testament um mich gekümmert.«

»Nun, und was soll ich tun?«

»Ich weiß nicht«, stammelt er.

Tiberiu zuckt die Achseln und dreht sich um. Er sollte den Mann auf der Straße stehen lassen und ihn für den Rest seines kurzen Lebens ignorieren. Aber dann geben seine Füße einfach nach. »Verdammt«, flucht er, während er seine Brieftasche herausnimmt und einen Haufen Banknoten abzählt. Kommt ihm vor wie eine Tonne Geld, aber das dicke Bündel von Lei ist nicht mehr wert als hundert Mark. Ja, verdammt sei seine Großzügigkeit. »Hier. Und ich will dich nie wieder hier sehen. Verstehst du? Du bist nicht sein Witwer oder so.«

»Danke mein Herr. Sie sind zu nett. Ich kann Ihnen nicht genug danken …«

»Ja, ja, jetzt hau schon ab.«

Als er in Attilas Wohnzimmer sitzt und sich die letzten Momente vergegenwärtigt, findet er es so seltsam, sich Attila als Mann mit normalen Beziehungen vorzustellen. Tiberiu weiß von zwei Männern, die Attila einst geliebt hatte; ihren Chemielehrer in der Abschlussklasse, der als Spitzel enttarnt und ermordet wurde. Und Sergiu, Attilas Untergebener in der Securitate, der, wie sich herausstellte, von Attilas Chef dazu angeheuert worden war, ihn auszuspionieren während einer Romeo-Mission. Beide Male, als diese Männer eliminiert wurden, war Attila untröstlich gewesen, hatte um die Liebe des Lebens geweint. Von da an schien er der Einsiedler zu sein, der nur für seine Arbeit lebte, aber jetzt dämmert es Tiberiu: Auch Attila hatte ein – mehr oder weniger – funktionales Privatleben mit flüchtigen Sexabenteuern, die ihn über seinen einsamen Alltag hinwegtrösten sollten.

Und jetzt, nach allem, was passiert ist, kann Tiberiu nicht anders, als über all die verschwendeten Jahre und Gelegenheiten nachzudenken, in denen er, Ánná, Attila und dessen Geliebter sich in ihren Wohnungen hätten treffen und eine großartige Zeit zusammen verbringen können.

Hätte es Attila gerettet, wenn er ihm geholfen hätte, unter diesen beschissenen Umständen ein normales Leben zu führen? Ihn und seine Sexualität zu akzeptieren? Und ihn nicht in den Securitate-Abgrund zu werfen und dort verrotten zu lassen?

Kapitel 2

Tiberiu hat diesen Tag gefürchtet wie keinen anderen. Den Brief mit der Ankündigung hatte er sogleich fortgeworfen. Doch jetzt fühlt er sich wie ein Schwein, dessen Schlachttag gekommen ist. Er wusste, dass er dieses Datum nicht vermeiden konnte. Er wusste, dass er es nicht vermeiden wollte. Die Worte prägten sich in sein Gehirn, sie leuchteten, wenn er nachts die Augen schloss, und sie hallten jede Sekunde in ihm wider, wenn er wach war: »Timișoara ehrt seine Revolutionshelden. Der Festakt findet statt am Freitag, 5. Januar 1990, 18 Uhr, Politehnica, Timișoara-Zetrum.«

Sie mussten ja vergessen, was sie Attila angetan hatten, wie sie langsam sein Leben zerstörten, nur um ihn jetzt zu ehren? War das ein Witz, war das eine Falle?

Als er an diesem Tag seinen Schrank öffnet und seine alte Căpitan-Uniform erblickt, stinkt er bereits stark nach Alkohol. Er hatte seine und Attilas Uniformen reinigen lassen. Attilas wurde seinen Eltern übergeben, und er verbannte seine eigene in die hinterste Ecke des Schranks, in der Hoffnung, dass er sie nie wieder sehen müsste. Er wagt es jedoch nicht, sie wegzuwerfen. Das kommt ihm wie Blasphemie vor.

Doch jetzt zieht er seine Uniform doch wieder an, spürt das seltsame Gefühl, dass seine Kleidung größer geworden ist. Hat er so abgenommen, oder ist der Stoff durch die chemische Reinigung ausgeleiert?

Er kann sich nicht auf das Fahren konzentrieren. Die Welt dreht sich um ihn, als er die Brücke ins Stadtzentrum überquert. Verdammt, er hat viel zu viel Alkohol getrunken. Was ist, wenn er einen Unfall baut und an diesem Ort des Massenmordes, den er vor drei Wochen miterlebt hat, Menschen tötet? Glücklicherweise schafft er es, in einem Stück zum Opernplatz zu gelangen. Seine Parkfähigkeiten waren jedoch auch schon mal besser. Zwei Reifen befinden sich auf den weißen Trennlinien, er parkt zu weit links, blockiert den Platz neben sich, wie peinlich für jemanden seines militärischen Ranges. Aber hat er noch diese Position? Er hat keinerlei Neuigkeiten über seinen Beschäftigungsstatus erhalten.

Als er den Flur der Technischen Hochschule betritt, sieht er sie sogleich. Dort, neben den Stufen, die zu den Wissenschaftsräumen führen, steht Frau Novák. In einem blauen Kleid, die Haare zu einer eleganten Hochsteckfrisur frisiert, sie ist stark geschminkt, trägt schwarze, glänzende Stöckelschuhe an den Füßen. Sie sieht erstaunlich gut aus für jemanden in ihrem Alter. Er geht zu ihr und merkt, dass er furchtbar torkelt.

»Frau Novák«, begrüßt er sie, unterdrückt ein Aufstoßen und nimmt seine Offiziersmütze ab.

»Tiberiu. Bist du krank? Du siehst nicht gut aus.«

»Erkältet.«

»Erkältet?« Sie neigt den Kopf.

»Ja. Pálinka ist dafür die beste Medizin, nicht?«

»Oh, Tibi.«

Über der Eingangstür hängt ein Transparent mit der Aufschrift »Herzlichen Glückwunsch, Absolventen des Wintersemesters von 1989«, und er fragt sich, wie viele dieser Studenten noch am Leben sind. Sie sind vielleicht nur ein oder zwei Jahre jünger, aber Tiberiu fühlt sich im Vergleich zu ihnen wie ein seniler Veteran.

»Wo ist Józsi?«

»Er hat nicht … er konnte nicht kommen. Er … kämpft auch mit einer Erkältung.«

»Ich verstehe.« Sein Flüstern wird von der Schulglocke übertönt, die den Beginn des Festes anzeigt.

»Gibt es freie Platzwahl?«, fragt sie, während sie in die Aula gehen.

»Hoffentlich. Wofür haben wir schließlich gekämpft, wenn es keine freie Platzwahl gibt?«, spottet er, und Frau Novák runzelt nur die Stirn.

Es gibt aber keine freie Platzwahl. Und Tiberius Magen krampft sich zusammen, als er die Halle betritt und die Hälfte der Menschen als Mitglieder der Volksarmee erkennt. Sie tragen keine Uniformen mehr, sie sind in Zivil gekleidet, aber manche nicken ihm freundlich zu, es sind alte Kameraden aus der Garnison, einige sogar seine eigenen Leute, die er mal befehligt hat.

»Okay, mal sehen, wo unsere Platzkarten sind«, schlägt Frau Novák vor, und es klingt, als würde sie ihn für einen Einkaufsbummel begeistern wollen, auf den er keine Lust hat. »Oh, hier, Tibi. Wir sitzen nebeneinander«, pfeift sie weiter, während seine Augen auf seine Kameraden gerichtet sind.

Fünf Minuten nach dem ersten Klingeln ertönt eine zweite Glocke, und der rote Vorhang auf der Plattform öffnet sich. Und sein Herz setzt einen Schlag aus. Dort, in der Mitte der Bühne, hängt ein riesiges Porträt von Attila. Seine blauen Augen starren ihn an. Es ist eines seiner späteren Bilder; die Wangen sind bereits eingefallen, der Fotograf hat nicht gründlich mit dem Make-up gearbeitet, das die dunklen Taschen unter seinen Augen bedecken sollte. Frau Novák nimmt Tiberius Hand und drückt sie.

Applaus brandet auf. Die Einzigen, die nichts sagen, sind er und Izabella. Der leere Platz neben ihr schreit jedoch in die Stille.

»Das kann ich nicht ertragen, Tibi«, hört er sie schluchzen.

»Das wird schon. Ich bin da, Frau Novák. Wir stehen das zusammen durch.«

Ein Mann kommt von der linken Seite und zielt direkt auf das Rednerpult zu. Er trägt einen feinen schwarzen Anzug, ein blau-gelb-rotes dreifarbiges Abzeichen ist an seiner Jacke befestigt: die rumänische Flagge ohne kommunistisches Siegel. Seine Stimme ist ruhig, sachlich, als würde er über irgendeinen langweiligen Beschluss des Bürgermeisters zur Stadtsanierung sprechen: »Bürger von Timișoara.«

Tiberiu hält Frau Nováks Hand fester. Sie klammert sich an ihn.

»Bürger der Republik Rumänien«, fährt der Redner fort. »Die Mitglieder der Nationalen Heilsfront ehren an diesem Tag die Taten und die Entschlossenheit unserer Gefallenen für die Freiheit unseres Landes.«

»Tiberiu, das kann ich wirklich nicht. Ich will raus hier.«

»Pst. Bitte denken Sie an etwas anderes. Es wird nicht mehr lange dauern, dann gehen wir.«

Der Mann fährt fort zu reden, monoton und nicht ganz bei der Sache. Alles wirkt so unangemessen, des Ereignisses nicht würdig.

»Frau Novák. Bitte«, knurrt er. Ihre Hand zittert stark.

Die Rede endet genauso unspektakulär, wie sie begonnen hat. »Es lebe Timișoara!«, skandiert der Mann, viel zu leise, viel zu gelangweilt.

Doch es genügt, um Tiberiu in die Revolution zurückzuversetzen. Als die Bürger des Landes ihre Fäuste in die Luft reckten, Rache für die Ermordeten der Stadt forderten.

»Es tut mir leid, Izabella«, sagt er und nennt sie zum ersten Mal in seinem Leben so. »Es tut mir leid. Verkauf das Haus, und ich helfe euch, so schnell wie möglich aus Rumänien herauszukommen.«

»Tiberiu«, zittert ihre Stimme, »lass uns gehen. Hier hält mich nichts mehr.«

Tiberiu findet es zum ersten Mal in seinem Leben lächerlich, kein eigenes Auto zu haben. Denn so dringend die Situation auch sein mag, Frau Novák zögert, in Attilas Audi zu steigen, und Tiberiu kann nicht auf den Fahrersitz gelangen, weil er ihn vor einer Stunde so schlecht geparkt hat und ein anderes Auto die Tür nun blockiert. Also steigt er vom Beifahrersitz aus ein, und wenn die Situation nicht so traurig wäre, wäre es mit Sicherheit höllisch lustig.

Sie sprechen die vierzig Minuten Fahrt nach Mihailsdorf kein Wort miteinander.

Als sie sich der Straße nähern, erkennt Tiberiu bereits, dass Herr Novák auf dem Bürgersteig steht, mit zwei Koffern an seiner Seite auf sie wartet und überhaupt nicht krank aussieht.

»Hat er schon gepackt? Ihr wollt hier und heute das Land verlassen? Hast du das geplant?«, sagt Tiberiu zu Izabella. Das erste Wort, seit sie aus der Stadt draußen sind.

»Heute oder nie, Tiberiu.«

»Scheiße.«

»Kommst du mit, Tibi? Ich habe ein paar Sachen von Attila für dich eingepackt.«

Oh Mist. Er schließt die Augen und lehnt die Stirn auf das Lenkrad. Das kann nicht wahr sein. Das kann einfach nicht wahr sein. Das hat sie nicht gesagt. Er soll in Attilas Kleidern aus dem Land fliehen? Warum um alles in der Welt ist eine so miserable Situation eigentlich so ungewollt komisch?

»Du kommst doch mit, oder?«

Er schluckt und wartet darauf, dass József das Gepäck in den Kofferraum hievt, als würde er in den Urlaub fahren und nicht, als würden sie ihr altes Leben hinter sich lassen.

»Wir werden sehen«, sagt er und begrüßt Herrn Novák, sobald er sich auf den Rücksitz plumpsen lässt.

Im Auto ist alles ruhig. Er hört nur hier und da ein Räuspern von Herrn Novák und das Knirschen von Frau Nováks zusammengebissenen Zähnen. Sie hat das immer schon so gemacht, wenn sie traurig oder wütend war. Tiberiu meidet den schnellsten Weg zur ungarischen Grenze, er nimmt die Route an der jugoslawischen Grenze entlang. Sie passieren die Möbelfabrik von Mihailsdorf, und Tiberiu kann nicht aufhören, daran zu denken, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn er und Attila eine langweilige Karriere als Ingenieure angestrebt hätten. Er stellt sich vor, er würde jetzt nach Hause gehen und das Ende eines Arbeitstages mit einem Bier in der Kneipe ausklingen lassen. Er stellt sich vor, später würde er von Attila und seiner Schwester Ánná besucht werden, und alle würden über die Ereignisse der letzten Wochen in ihrem Land den Kopf schütteln.

Aber würden sie dann noch leben? Ihr Leben war niemals prädestiniert, normal abzulaufen, ihre Arbeitstage sollten niemals in einer Dorfkneipe enden. Tiberiu war der Sohn des Mareșals Nicolescu, von Anfang an war er dazu erzogen worden, Karriere in der Armee zu machen.

»Hast du meine Angel eingepackt, Iza?« Józsefs Stimme schneidet durch seine Gedanken wie ein Messer.

»Sie war zu groß, um sie in den Koffer zu stecken. Du kannst in Szeged eine neue kaufen.«

»Hm«, murmelt Attilas Vater von hinten. Tiberiu krallt seine Hand fester um das Lenkrad. Wie absurd, wie traurig, wie elend.

»Und Attilas alte LPs? Zwei oder drei? Sie nehmen nicht so viel Platz ein.«

»Ja, eine habe ich mitgenommen.«

Tiberiu beißt die Zähne zusammen. Er kann das nicht mehr hören.

»Welche?«

»Der Schwanensee.«

Warum redeten sie, als wären sie in den ersten fünf Minuten eines Urlaubs? Als ob Attila noch am Leben wäre? Tiberiu schaltet das Autoradio ein. Es ist immer noch auf dem Kanal von Radio Freies Europa und Gott sei Dank: Ein Rocksong übertönt das Geschwätz der Nováks.

Aber natürlich muss sie es sagen, wie die Mutter, die sie immer noch ist: »Oh, Tiberiu. Könntest du bitte diesen ekelhaften Lärm ausschalten?«

Als sie die Grenze erreichen, an der sich schon eine lange Schlange Autos staut, ist es stockfinster.

»Scheiße«, platzt es aus Tiberiu heraus.

Izabella macht das Zeichen des Kreuzes, eine Gewohnheit, die sie mit allen Ungarn im Land teilt, ganz egal, ob Religion im Kommunismus erlaubt war oder nicht. »Isten éltese. Was tun wir jetzt? Was ist, wenn die Männer der Securitate nach uns suchen?«

»Es gibt keine Securitate mehr«, knurrt er, schaltet den Motor aus, schließt die Augen, verschränkt die Arme und lehnt sich zurück. »Ihr werdet nach Ungarn kommen, das verspreche ich. Bitte keine Panik.«

Das Vorankommen ist stetig, aber langsam. Manchmal sind es nur zwei oder drei Meter in zwei Stunden. Tiberiu weiß, dass die Grenzsoldaten gern mit der Angst der Menschen spielen. Er weiß, dass es keine Logik oder gesunden Menschenverstand dabei gibt. Wenn sie wollen, können sie hundert Leute passieren lassen. Und wenn ihnen ein Furz quer im Arsch steckt, warten sie vielleicht stundenlang und lachen über die hoffnungsvollen Massen, die sie anflehen, die Grenze doch endlich zu öffnen. Warum vernünftig sein, wenn Willkür so viel Spaß macht?

»Du sagst: Ihr werdet nach Ungarn kommen. Warum?«

»Bitte was?« Tiberiu will sich nach links einreihen, aber im letzten Moment nimmt ein anderer Fahrer seinen Platz ein. Er hupt und bekommt prompt als Antwort einen Stinkefinger zu Gesicht.

»Du sagst immer Ihr geht nach Ungarn. Ich werde euch an die Grenze bringen. Du sagst niemals wir.«

»Nun, ich bin eine bescheidene Person«, scherzt er, und Frau Nováks einzige Antwort ist ein gereizter Gesichtsausdruck. Ahnen sie etwas von seinen Plänen? Werden sie ihm eine Szene machen?

Abgesehen vom Schreien und Rufen und Hupen von außen bleibt es im Auto still. Die Stille ist so eiskalt und unangenehm, dass Frau Novák die Heizung aufdreht und das Radio wieder einschaltet, ohne sich von einem weiteren Rocksong gestört zu fühlen.

Sie brauchen zwei Stunden, um in das sumpfige Dorf Cenad zu gelangen. Als er durch den verschlafenen Weiler fährt, merkt er, wie ähnlich dieses Kaff seinem eigenen Zuhause ist. Wenn man die Dörfer entlang der Landstraße passiert, sieht alles gleich aus, fühlt sich aber nicht so an. Alle kleinen Städte sind Zwillinge, aber das eigene Zuhause ist anders und wird es immer sein. Alle Häuser sind gleich gebaut, sehen gleich aus, auch die Fassadenfarben sind gleich braun und beige. Endlose Reihen ähnlicher Bauernhöfe und Eingangstore mit blasigem Gips und rissigem Lack, sowohl auf rumänischer als auch auf ungarischer Seite. Und doch kann nichts das Heimatdorf ersetzen. Tiberiu weiß, dass sich die Nováks niemals woanders zu Hause fühlen werden, nicht in Ungarn, nicht in Deutschland oder anderswo. Und haben sie sich jemals in Rumänien heimisch gefühlt, Fremde in diesem fremden Land?

Und er? Wird er sich jemals wieder wohlfühlen, ohne all die Menschen, die er so sehr geliebt hat?

Aber plötzlich bewegt sich alles viel schneller. Der Tacho zeigt sogar zwanzig Stundenkilometer an. Die Grenzstation hier ist nur eine kleine heruntergekommene Hütte mit zwei Soldaten, die die kaputte Schranke bewachen. Sie dösen vor sich hin, als sie Auto für Auto durchwinken. Tiberius Stimmung steigt, als er hofft, dass sich diese Angelegenheit schnell erledigt. Aber dann – ja, natürlich – hält einer der Soldaten ihre Limousine an, als sie an der Reihe sind, die Grenze zu überqueren.

»Hallo.«

Tiberiu nickt als Begrüßung, ohne ein Wort zu sagen.

»Nettes Auto.« Der Soldat lehnt sich gegen den Fensterrahmen. »Deutsche?«

»Nein. Römische Prätorianerwache.« Vorsichtig öffnet er seinen Mantel und zeigt auf seine Uniform der Volksarmee.

Der Soldat pfeift. »Vai de mine. Sie haben wohl eine wichtige Position inne, um sich ein solches Auto leisten zu können, was?«

»Ja, hab meinem Land gute Dienste geleistet.«

»Wir mögen keine Menschen mehr, die dem Land gut gedient haben.«

»Du meinst, ich sei einer von Ceaușescus Lakaien?« Tiberiu schnaubt. Er hört Józsefs ruckartigen Atem und Izabellas flüsterndes »Tibi. Bitte!«.

»Nein«, fährt er fort, »ich bin nicht wie dieser Abschaum. Ich bin ein Veteran der Revolution, der in Timișoara und Bukarest gedient hat.« Und warum zum Teufel erkennen die ihn nicht? Er war doch mal eine Berühmtheit; Căpitan Tiberiu Ion Nicolescu!

»Ähhh. Nett. Aber warum sollte ich dir glauben? Vielleicht bist du ein verurteilter Kommunist, der versucht zu fliehen.«

»Tibi«, zischelt Izabella, »bitte gib ihm Geld oder so.«

»Ohhhhh«, murrt der Soldat, »und was transportierst du? Eine Ladung Ungarn?«

»Ja. Und was kümmert es dich? Komm schon, spiel hier nicht den Klugscheißer. Sag mir, was du von mir willst. Zigaretten, Kaffee, Geld? Wir haben es eilig.« Er holt seine Brieftasche heraus und zählt einen Batzen Scheine ab, der etwa hundert Mark entsprechen muss. So viel Geld. Für nichts und alles. »Ist das genug?«

Der Soldat macht einen Schritt zurück und grinst. »Wünsche Ihnen eine frohe Weiterreise, Herr.«

Tiberiu schnaubt und kurbelt das Fenster hoch. »Hurensohn.«

»Tibi, oh mein Gott«, seufzt Izabella, »das ganze Geld. Isten éltese. Ich werde es zurückzahlen. Wir und meine Söhne werden dir das Geld schon zurückgeben.«

»Das müsst ihr nicht. Schon gut, geht aufs Haus«, murmelt er, als er auf der dunklen Straße nach Szeged fährt.

Und da fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Zum ersten Mal in seinem Leben befindet er sich außerhalb Rumäniens. Er hat sein Heimatland nie verlassen. Noch nicht einmal daran gedacht. Und jetzt ist er enttäuscht, dass er nach all dem nichts mehr fühlt. Optisch macht es doch keinen großen Unterschied, im Dunkeln. Und es fühlt sich auch nicht anders an, in einem anderen Land zu sein. Er fühlt nichts, und die Zigarette, die er hier auf ungarischem Territorium raucht, schmeckt wie die gleiche Scheiße in Rumänien, nicht mehr oder weniger nach Freiheit.

»Wohin fahren wir?«, fragt er und zündet seine dritte Zigarette innerhalb kurzer Zeit an.

»Marostői Városrész. Direkt gegenüber dem großen METRO-Markt. Es ist ausgeschildert. Ich habe entfernte Verwandte dort. Sie erwarten uns.«

»Oh, fickt mich mit eurer komplizierten hunnischen Sprache«, schnaubt er, als er blinzelt und versucht, die Zeichen im Dunkeln zu lesen, die ihn zu dem erwähnten Stadtteil führen.

»Tibi. Also bitte.«

Er grinst. Ja, in all dem Chaos, all dieser Angst und Verwirrung ist sie immer noch die Matrone. Sie ist immer noch so etwas wie seine Stiefmutter. Seine leibliche Mutter starb, als er noch ein Kleinkind war, an sie hat er keine Erinnerung, er kennt sie nur von Bildern.

»Da ist es«, sagt Izabella und zeigt auf den großen blauen Komplex, und Tiberiu parkt das Auto vor einem mehrstöckigen Gebäude. Ohne ein Wort zu sagen, hilft er Herrn und Frau Novák, ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu laden. Sie gehen zum Eingang, aber auf halber Strecke drehen sie sich um. Izabella zieht eine Augenbraue hoch, wie es ihr Sohn immer tat, und ein Stich durchbohrt Tiberius Herz. Scheiße. Er kann jetzt nicht weinen! Jetzt ist nicht die Zeit für Nostalgie.

»Tiberiu? Kommst du nicht mit?«

Er schaut auf das dunkle Gebäude, das nur vom milchigen Licht einer Straßenlaterne beleuchtet wird. Irgendwo im vierten Stock sieht man Bewegungen. Er zündet sich eine weitere Zigarette an, um seine Traurigkeit zu verbergen. »Alles Gute.«

Sie schüttelt den Kopf. »Komm, Tibi. Wir wollen heute Abend noch weiter nach Deutschland. Sie haben zwei VW-Busse bereitgestellt. Sie haben alles geplant. Wir sind in einer Gruppe von zehn Leuten unterwegs. So ist es sicherer.«

»Dann brauchst du mich nicht mehr.« Er geht zurück zu Attilas Audi.

»Tibi, was … was machst du? Tibi? Tibi!«

Aber dann wird ihre Stimme vom Summen des Motors gedämpft. Er sieht sie nur im Rückspiegel, wie sie versucht, zu ihm zu rennen, aber natürlich ist das Auto viel schneller. Und so wird Frau Novák, die Mutter seines besten Freundes, die Frau, die ihm ein liebevolles Zuhause geboten hat, zu einem verblassenden kleinen Punkt in der dunklen Ferne.

Und er fährt zurück an die rumänische Grenze, zurück in ein Land, aus dem jeder fliehen möchte.

Auf der gegenüberliegenden Fahrspur hupen verzweifelte Menschen und versuchen, ihre Autos aus dem Stau heraus und näher an die Grenze zu manövrieren, um ein Land zu verlassen, in dem sie viel zu lange gefangen waren. Jede noch in Rumänien verbrachte Stunde ist eine Stunde zu viel.

Aber auf seiner Straßenseite fährt keine Menschenseele.

Der 12. Januar wurde zum Nationalen Trauertag erklärt, und Tiberiu verbringt ihn im Haus der Nováks. Er hat noch keinen Käufer gefunden. Wer möchte in diesen Zeiten einen so großen Hof kaufen? Wer würde Geld bezahlen, um Eigentum in einem Land zu besitzen, in dem die Ratten das sinkende Schiff verlassen? Es gelang ihm jedoch, alle verbliebenen Tiere und die Äcker außerhalb des Dorfes zu verkaufen und das Geld an Frau Nováks ältesten Sohn István in Deutschland zu schicken. Das Vieh brachte gutes Geld. Nach der Revolution haben die Menschen nicht aufgehört zu hungern. Die neue Regierung sieht ihre erste Priorität wohl nicht darin, ihre Bürger zu ernähren.

Und in einer Gegend, in der die meisten Menschen für Möbelfabriken arbeiten, möchte auch niemand die alten Schränke des Novák-Hauses kaufen, mögen sie noch so wertvoll und massiv sein. Alles sieht also immer noch so aus, als würde Tiberiu darauf warten, dass die Nováks vom katholischen Gottesdienst nach Hause kommen, an dem er als rumänisch-orthodoxer Mann nicht teilnehmen konnte.

Fast so wie immer, aber ohne menschliche oder tierische Geräusche. Das Haus der Nováks, seine Wahlheimat, ist zu einem Friedhof geworden.

Um nicht durch die Stille verrückt zu werden, schaltet er den Fernseher ein. In der Speisekammer findet er noch eine alte Dose Bier. Abgesehen von den Wiederholungen der fünfminütigen Ankündigung des Trauertags und Werbung für rumänische Urlaubsorte am Schwarzen Meer ist heute nicht viel im Fernsehen zu sehen. Doch kurz bevor er ihn ausschalten will, hört er einen Erzähler moderieren: »… Attila Novák. Ein wahrer rumänischer Diener des Staates.«

Tiberiu starrt ungläubig auf den Dokumentarfilm, der sich vor seinen Augen entfaltet.

Und dann, nach fünf Minuten, in denen man nur Aufnahmen von Attila gezeigt hatte, flimmert ein Interview über den Bildschirm. Er blickt direkt in die Kamera, man sieht seine typischen krummen Zähne, während er die Lippen schürzt. Liegt es an der schlechten Übertragung oder an etwas anderem, aber ist das nicht eine AIDS-Läsion, die da aus seinem Kragen schielt?

»Meine Genossen und Mitbürger.« Attilas Stimme geht Tiberiu durch Mark und Bein, er spricht langsam und nachdenklich, wie immer, wenn er Rumänisch sprach. Sein ungarischer Akzent ist überdeutlich: »Ich bin stolz darauf, meinem Land so zu dienen, wie ich es tue. Ich bin stolz darauf, die Last auf meiner Schulter zu tragen, in den Abgrund unserer Nation zu blicken und die bösartigen Tumore herauszuschneiden, damit unsere Gesellschaft gesund bleibt und gedeiht. Ich werde Ihnen die hässlichen Details ersparen, die ich jeden Tag sehe, aber seien Sie versichert, dass Sie wegen mir und meiner Abteilung nachts beruhigt schlafen können.«

»Mistkerl«, rülpst Tiberiu und schaltet schließlich den Fernseher aus.

Okay, vielleicht sollte er wirklich zum Friedhof gehen und die Gräber der jüngeren Novák-Kinder besuchen. Es ist seine Pflicht als Freund Attilas und Liebhaber Ánnás, seine Pflicht als ehemaliges Armeemitglied, seine Pflicht als Rumäne am Trauertag. Und die Erfüllung seiner Pflichten ist eine fast heilige Aufgabe für alle Rumänen. Also kauft er zwei Plastikrosen – eine rote für Ánná und eine weiße für Attila – in dem kleinen Eckgeschäft zwischen der katholischen Kirche und dem Rathaus in der Strada Victoriei. Alle Straßen tragen nun stolz die Ereignisse vom Dezember 1989 in ihrem Namen.

Als er ihre Gräber immer noch mit Haufen von Blumen geschmückt vorfindet, ist er außer Atem. Es ist ein Doppelgrab wie das eines Ehepaares, aus Granit geschnitzt, so dass es wie ein offenes Buch aussieht. Eine Seite für Novák Ánná Katalin, geboren 1957, gestorben am 11. November 1989. Die rechte Seite für Novák Attila András, geboren 1962, gestorben am 22. Dezember 1989, als das kommunistische Regime gestürzt wurde. Die Aura des schweren katholischen Weihrauchs hängt noch in der gefrorenen, bitterkalten Luft. Tiberiu fügt seine kitschigen, billigen Rosen zu den Ornamenten hinzu und kniet nieder, ohne zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen soll.

Wie lächerlich und sinnlos es ist, hier zu sein, aber er beginnt trotzdem zu beten. Zuerst ist es nur eine Stimme in seinem Kopf, dann öffnet er die Lippen und hat den Mut, die Worte laut auszusprechen: »Ihr habt es gewagt, mich in diesem Durcheinander allein zu lassen, nicht wahr? Ihr Feiglinge. Jetzt seht euch an, wie ihr in diesen Blumenbeeten in Frieden ruht, während ich mir den Arsch abfriere. Ist das nicht lustig?« Er seufzt und verdreht die Augen. Oh Gott, das ist wirklich erbärmlich. »Ähm … übrigens, eure Eltern sind in Sicherheit. Sie sind über Ungarn nach Deutschland ausgewandert. Hm … was noch …?« Er steht auf und zündet sich eine Zigarette an. »Ah, Atti. Einer deiner kleinen Schnuckis hat mich besucht. Er hat auch diese Krankheit. Er wollte natürlich Geld. Es geht immer ums Geld. Ich habe ihm etwas gegeben, ist das okay? Hast du ihn geliebt? War er ein Schatz für dich? Was soll ich jetzt tun?« Er keucht, er spürt Tränen, die ihn würgen. »Nein, ganz im Ernst. Was zum Teufel soll ich jetzt tun?«

Vom Stadtzentrum aus sieht er das Feuer und den Rauch in der Luft kreisen. Und er weiß, welches Haus in Flammen steht. Er muss nicht dorthin, weil er sofort versteht. Da ist es: Sein Leben, seine Kindheit, seine Pflegefamilie, alles, was das Novák-Haus darstellte, geht in Flammen auf. Es gibt keine Erlösung, kein Zurück. Die ganze Zeit, die er dort mit Attila, mit Ánná verbracht hat, alles ist verloren.

Er fühlt nichts, nur ein tiefes Loch in seinem Herzen, zögert nicht, sondern steigt in Attilas Auto, startet den Motor und fährt schnell aus Mihailsdorf nach Osten. Weg von der Vergangenheit, weg von der westlichen Grenze.

Er hat sich eine Sache geschworen.

Egal was passiert, egal wie schwer sein Leben wird, egal wie sehr er es wünscht: Er will nie in den Westen. Das ist er den Menschen, die fliehen wollten und stattdessen in Rumänien gestorben sind, schuldig. Er kann nicht frei sein, wenn ihre Seelen im Osten auf alle Ewigkeit gefangen sind.

Kapitel 3

Tizza führt ihren Hengst in den Pferdestall und wirft ihm einen Apfel zu. Sie streichelt seine blonde Mähne und drückt ihren Kopf in die Nähe des warmen Atems, der aus seinen Nüstern kommt. Dieser Duft tröstete sie immer. Nachdem sie noch einmal überprüft hat, ob die Tür wirklich verschlossen ist, nimmt sie ihr Fahrrad und folgt der Straße nach Bărdești, einem Vorort von Târgu Mureș in Transsylvanien. Die Kneipe in der Nähe des Traktoristen-Restaurants ist seit fast einem Jahrhundert der Stolz ihrer Familie, einer der ältesten székely-ungarischen Familien Siebenbürgens. Als sie das Restaurant betritt, wird sie wie eine Königin begrüßt.

»Hey, Tizza, du siehst heute großartig aus.«