Glasvulkan - Funken & Flamme - Silvia Hildebrandt - E-Book

Glasvulkan - Funken & Flamme E-Book

Silvia Hildebrandt

0,0
5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

München, Berlin, Budapest, Dublin – Das sind die Schauplätze dieser schillernden Saga über die Goldenen Zwanziger Franz ist ein gefeierter Schauspieler in Hollywood. Die Welt liegt ihm zu Füßen. Doch da erfasst eine Wirtschaftskrise das Land und zwingt ihn in die Knie. Derweil behauptet seine Schwester Blanka sich als emanzipierte, starke Frau und möchte Kinderpsychiaterin werden. Ihr Ehemann Richárd ringt mit seinem Autismus. Während den Menschen das Geld und die Arbeit ausgeht, müssen sich Franz, Blanka und Richárd immer stärker gegen rechte Kräfte behaupten. Denn die N.S.D.A.P. kommt in der Mitte der Gesellschaft an. Können die drei aller Widrigkeiten zum Trotz für ihre Träume einstehen? Der zweite Band der dramatischen München-Saga – divers, atypisch, anders

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Dramatis Personnae

Teil I

Teil II

Teil III

Epilog

Glasvulkan – Funken & Flamme

Klappentext:

München, Berlin, Budapest, Dublin – Das sind die Schauplätze dieser schillernden Saga über die Goldenen Zwanziger

Franz ist ein gefeierter Schauspieler in Hollywood. Die Welt liegt ihm zu Füßen. Doch da erfasst eine Wirtschaftskrise das Land und zwingt ihn in die Knie. Derweil behauptet seine Schwester Blanka sich als emanzipierte, starke Frau und möchte Kinderpsychiaterin werden. Ihr Ehemann Richárd ringt mit seinem Autismus.

Während den Menschen das Geld und die Arbeit ausgeht, müssen sich Franz, Blanka und Richárd immer stärker gegen rechte Kräfte behaupten. Denn die N.S.D.A.P. kommt in der Mitte der Gesellschaft an.

Können die drei aller Widrigkeiten zum Trotz für ihre Träume einstehen?

Der zweite Bandder dramatischen München-Saga – divers, atypisch, anders.

Copyright © 2024 Silvia Hildebrandt

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung Renée Rott, Dream Design Cover and Art

Dies ist eine fiktive Geschichte basierend auf historischen Hintergründen. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Gegenbenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die geäußerten Meinungen im Roman entsprechen nicht der persönlichen Meinung der Autorin.

Die Charaktere sind Kinder ihrer Zeit und handeln dementsprechend.

Impressum: Silvia Hildebrandt, Fichtenstr. 10, 72461 Albstadt

Glasvulkan – Funken & Flamme

Ich glaube, daß wir einen Funken jenes ewigen Lichts in uns tragen,

das im Grunde des Seins leuchten muß

und welches unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können.

Diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen

und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.

Johann Wolfgang von Goethe

Herab, herab komm' ich, wie Phaeton,

Der Lenkung falscher Mähren nicht gewachsen.

Im niedern Hof? Wo Kön'ge niedrig werden,

Verrätern horchen und sich hold gebärden.

Im niedern Hof? Herab, Hof! König, nieder!

Denn Eulen schrein statt froher Lerchen Lieder.

William Shakespeare, Richard II

Feiwel, männlicher jüdischer Vorname. Leitet sich etymologisch vom Griechischen Φοῖβος Phoibos ab. Im Lateinischen unter Phoebus – der Leuchtende, der Glänzende – bekannt.

Dramatis Personnae

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet

Ferenc Levente Molnár, genannt Franci, geb. als Feiwel Lazer Menachem, Künstlername Franz Morolt

Eszter Molnár, seine Mutter

Blanka Féodor, geb. als Bitja Sosanna Menachem, Francis Schwester

Richárd Féodor, Blankas Ehemann

Árpád Féodor, Richárds Onkel/Vater

Viktor Féodor, Richárds Cousin/Halbbruder

Rosemarie Féodor, Viktors Ehefrau

Ludwig Eduard Hoffmann, ehemaliger Regisseur im MLK Filmatelier, Francis langjähriger Partner

Benjamin Feldmann, Doktorand

Fritz Berger, Doktorand der Kinderheilkunde

Leonard Weinheimer, Schriftsteller

* Friedrich Wilhelm Murnau, Regisseur von Nosferatu und Doktor Faust

* Ernst Röhm, Nationalsozialist, Führer der SA

* Alfred Rosenberg, Nationalsozialist, Chefredakteur beim Völkischen Beobachter

* Pola Negri, Schauspielerin

* Miklós Horthy, Staatsoberhaupt Ungarns (Titel Reichsverweser)

* Magdolna Horthy, seine Frau

Teil I

Sonnengold

1 Hava Nagila

Hollywood Roosevelt Hotel, Los Angeles, USA

Mai 1929

Die Düfte von Parfums stiegen Franci in die Nase. Carons En Avion. Park Royal. Fleurs de Tabac. Die orientalisch-schweren Aromen kitzelten ihn, pochten in seinem Kopf, vermischten sich auf seiner Zunge mit dem Geschmack des saftigen Bratens, der serviert wurde.

Im Bankettsaal des Hotels glitzerte und funkelte es. Diamanten, Strass und Edelsteine blitzten im Kopfschmuck der Damen, in ihren Colliers, in den Armbändern. Die Brillantine, mit der die Frisuren der Männer edel und modern zurückgekämmt waren, glänzte im Kerzenschein der Tischleuchten. Blumen, Girlanden und Lampions hingen von der Decke. Die Kleider der Frauen raschelten unter den reich gedeckten Tischen, die Männer waren schwarz-weiße Tupfer in dieser künstlichen Landschaft, die auch genauso gut eine Filmkulisse hätte sein können.

Als das Licht im Saal flackerte, hörte das Gemurmel, das Gesumme der Anwesenden schlagartig auf. Franci erstarrte. Jetzt war es so weit. Der große Moment war gekommen. Unter seinem Hemd prickelte es auf seiner Haut. Sein Eau de Toilette, Maderas de Oriente – eigentlich ein Frauenduft, aber er fand, dass die holzig-herbe Note gut zu ihm passte –, vermischte sich mit dem süßlichen Duft seines eigenen Körpers. Als wäre er eine Meile gelaufen und hätte sich unglaublich angestrengt. Aber wozu diese Nervosität?

Er wusste ganz genau, dass er den ersten Award als Bester Hauptdarsteller nicht gewinnen würde. Emil Jannings würde die kleine Statuette von Douglas Fairbanks entgegennehmen, das stand bereits seit Monaten fest. Trotzdem war da ein kindlicher Funken Hoffnung: vielleicht doch? Vielleicht würde er doch gewinnen, alles war ein Missverständnis, und Franci wurde doch für seine Rolle als junger Moses ausgezeichnet. Schließlich hatten ihm das seine Bewunderer zugerufen, als er vorhin mit der schwarzen Limousine vor das Hotel gefahren wurde. So viele waren vor dem Eingang aufgereiht gewesen, hinter den roten Kordeln der Metallabtrennungen gedrängt. Sie jubelten ihm zu, sie weinten, als sie ihn sahen und ihre Hände nach ihm ausstreckten.

»Morolt! Franklyn! I love you!« Das Kreischen war immer noch in seinem Ohr.

Und er hatte gewunken, seinen Rücken gestreckt, ein lässiges Lächeln aufgesetzt. Kurz bevor er in das Hotel verschwunden war, steigerte sich das Gekreische noch.

Jetzt saß er im Saal des Roosevelt Hotels und wartete darauf, dass Fairbanks den Gewinner des Akademie-Preises bekannt gab. Die Anhimmelung hatte ihm die Illusion gegeben, dass er der Gewinner war, aber nun konnte er sich nicht mehr länger belügen. Fairbanks auf der Empore räusperte sich und setzte zum Sprechen an. Manche behaupteten, Franci sähe Fairbanks Sohn, der ebenfalls Schauspieler war, sehr ähnlich. Lächerlich! Er sah doch um einiges besser aus!

Franci konnte den Anblick nicht mehr ertragen, er blickte um sich. Dort saß Charlie Chaplin; der würde einen Ehrenpreis bekommen. An einem anderen Tisch tummelten sich Leute eines großen Filmstudios, die ausgezeichnet wurden für einen der ersten Tonfilme, die tatsächlich wohlklingend für das Ohr waren. Janet Gaynor; sie würde den Preis als beste Hauptdarstellerin mit nach Hause nehmen; eine Frau, die ihn optisch an seine Schwester Blanka erinnerte. Gerade als Francis Blick auf Friedrich Wilhelm Murnau fiel, den Regisseur von Nosferatu und Faust, da verlas Fairbanks, dass Emil Jannings die Auszeichnung für den besten Hauptdarsteller in Empfang nehmen würde.

Oh Gott, ausgerechnet Jannings! Er hatte vor Jahren den Mephisto in Murnaus Faust gespielt, eine Rolle, die Murnau zuerst Franci angeboten hatte, die er aber ausgeschlagen hatte.

Verdammt!

Er biss sich auf die Unterlippe. Was für ein Ärgernis! Er hätte da oben stehen können!

Noch mehr zwang er sich zu einem Lächeln, zu einem Klatschen. Jannings nahm den Preis von Fairbanks entgegen und Franci hoffte, dass man ihm nicht anmerkte, wie neidisch er war.

Nachdem er sich durch die restliche Zeremonie quälte, die insgesamt nur fünfzehn Minuten dauerte, und dann an die Bar hastete, bestellte er ein Wasser; Alkohol gab es ja in den Staaten nicht. Insgesamt war er von der Vorstellung enttäuscht; kaum dass sie begonnen hatte, war sie bereits zu Ende gewesen. Da erblickte er den Regisseur Murnau, der ein ehemaliger Liebhaber Francis war, und sah, wie er auf ihn zukam.

»Moses, hm?« So begrüßte Murnau ihn und Franci nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

»Nun ja«, antwortete Franci. »Es war meine beste Rolle. Ich hätte schwören können, dass sie mir den Preis geben. Und mit weniger als mit preisverdächtigen Rollen gebe ich mich nicht mehr zufrieden.«

»Sag doch nichts so etwas.« Murnau deutete auf den freien Barstuhl neben Franci und er nickte. »Du bist jung, da kommen schon noch Rollen, für die man Preise einheimsen kann. Und das Publikum ist noch nicht bereit, dass auch der Film, genauso wie Bücher oder das Theater, monumentale Geschichten erzählen kann. Hast du das mit Metropolis vor zwei Jahren nicht mitbekommen? Solch eine Genialität, aber keiner wollte ihn anschauen.«

Franci blies den Rauch seiner Zigarette aus und zuckte mit den Achseln. »Aber Moses! Moses! Was kann denn noch Besseres kommen?«

»Hattest du das nicht bei deinem König Tut schon gesagt?« Friedrich winkte dem Barmann und bestellte zwei Coca-Cola. »Dieses Getränk sollte es auch bei dir in Deutschland geben, findest du nicht, Franz?«

»Na.« Nun, Deutschland war eigentlich nicht Francis Heimat. Er war zwar in München geboren, hatte aber lange Zeit in Österreich-Ungarn gelebt, wo sein Vater Ádám Sámuel Molnár ein Motorenwerk-Imperium für Automobile und Flugzeuge aufgebaut hatte. Nach der Schule war Franci dann von seinem Elternhaus weggelaufen und hatte in München ein neues Leben und seine Schauspielkarriere begonnen. Je älter er wurde, umso mehr hatte er sich für seine jüdische Herkunft interessiert. Francis Vater hatte ihn katholisch taufen lassen, als Franci vier Jahre alt gewesen war und noch auf den Vornamen Feiwel gehört hatte, und den Familiennamen von Menachem in Molnár geändert.

»König Tut …« Franci seufzte, als er sich an seinen ersten erfolgreichen Film erinnerte. Damals, 1923, im Jahr der Inflation war das gewesen. Ein Erfolg, der ihm unter dem Namen Franz Morolt Ruhm und Reichtum beschert hatte. »Ja, das ist schon lange her. Und damals dachte ich wirklich, ich könnte nicht an den Erfolg anknüpfen.«

»Und nun«, Friedrich breitete die Arme aus und auf seinem Gesicht machte sich ein liebevoll-sentimentales Lächeln breit, »bist du in Hollywood!«

»Ich reise nächste Woche wieder ab über den Großen Teich.«

»Schade.« Friedrich Murnau berührte mit seinem kleinen Finger Francis Hand, als er nach seinem Glas griff. Franci konnte nicht sagen, ob das beabsichtigt war oder nicht. »Sag einmal«, fuhr Friedrich fort, »vielleicht hast du ja einen Tipp für mich. Ich würde gerne etwas in Aktien investieren. Mit Filmemachen allein lässt sich immer weniger verdienen und die Werke verschlingen immer mehr Geld. Ich brauche Investitionen. Hättest du da was?«

»Na sicher. Kauf doch Aktien der Bremsmotorenwerke AG.«

»Sind das nicht die, welche die alte Firma deines Vaters geschluckt haben?«

»Genau die!« Franci zeigte mit seiner Zigarettenspitze, die er zwischen die Finger geklemmt hatte, direkt in Murnaus Gesicht. »Machen verdammt schnelle Motoren!« Und er grinste dabei. »Ich kann Wertpapiere für dich kaufen, wenn ich wieder in München bin. Hab da Beziehungen. Ach, München! Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue, wieder ein gutes Bier zu trinken. Hier ist man ja frommer als in einer katholischen Mädchenschule. Ich kann es kaum erwarten, wieder in einem Münchner Biergarten zu sitzen.«

»Dann ist das unsere letzte Chance, einen Abend miteinander zu verbringen? Ich hätte gerne noch ein wenig mehr Zeit mit dir gehabt.« Friedrich sah ihm lange in die Augen, Franci spürte eine Hand auf seinem Oberschenkel.

»Du hattest Zeit genug, dich mit mir zu treffen.« Es kam angesäuerter heraus als beabsichtigt.

»Aber ist es nicht romantischer, wenn man sich am letzten Abend trifft, bevor man wieder eine halbe Weltreise voneinander entfernt ist?« Friedrich Murnau hatte sehr leise gesprochen und Franci brauchte eine Weile, um sich zu vergewissern, dass Murnau dies tatsächlich gesagt hatte. Franci hatte sich doch geschworen, sich nicht mehr auf solche Eskapaden einzulassen. Zu Hause, in seiner Bauhausstil-Villa in Grünwald bei München wartete Ludwig, Francis Partner, auf ihn. Lange hatte er gebraucht, um zu bemerken, wie viel Ludwig und diese Beziehung ihm bedeutete. Schon immer war Franci der Lebemann gewesen, der nichts anbrennen ließ, aber das hatte sich mit Ludwig nach und nach geändert.

Sollte er nun also …? Oder sollte er das neu entdeckte Konzept der Treue weiterverfolgen? Aber mit anderen zu schlafen, erleichterte ihn, er brauchte es, wenn es ihm nicht gut ging. Frustriert genug war er ja, weil er den ersten Award nicht hatte einheimsen können. Der Beischlaf hätte ihm Erleichterung verschafft, ihm das gestohlene Selbstwertgefühl wieder zurückgebracht.

Er grübelte noch immer, als er mit Murnau den Korridor des Hotels zu ihren Zimmern entlang lief, nachdem die meisten der Gäste und Preisträger bereits gegangen waren und sich eine Stille in den Zimmerfluchten ausbreitete. Murnau lief neben ihm, immer mal wieder berührten sich ihre Hände. Franci war ausnahmsweise einmal klar im Kopf – diese verdammte Prohibition! – und der Gedanke, dass sie sich nun wieder lange Zeit nicht sehen konnten und er eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen konnte, ließ ihn unruhig werden.

Dann kam er an der Tür seines Hotelzimmers an. Friedrichs Hand war in seinem Rücken, er streichelte Franci. Dieses Gefühl genießend, kramte er den Schlüssel aus seiner Westentasche. Die Vorfreude wallte in ihm auf. Er würde wohl eine Zigarette rauchen, auf dem Balkon, zusammen mit Friedrich, über alte Zeiten erzählen. Es war heiß wie in der Wüste; sie waren ja in einer Wüste, so erinnerte er sich. Und er fühlte sich nassgeschwitzt in seinem Anzug. Den ihm Friedrich aber schon bald vom Körper reißen würde. Hollywood in Kalifornien erinnerte ihn an die ungarische Steppe, die er lange als sein Zuhause betrachtete hatte. Furztrocken war es da gewesen, von Mai bis Oktober. Und die heiße Luft hatte seine Libido sogar noch zusätzlich angestachelt.

»Franz.« Murnau sprach leise und seine Stimme war sanft. »Oder soll ich lieber sagen: Franklyn. Ich bin sicher, du wirst ganz bald schon deinen ersten Award bekommen. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Aber noch bist du eben der Schönling-Schauspieler. Du bist noch zu hübsch, zu begehrt, zu jung, um einen wirklich anspruchsvollen Preis zu gewinnen. Das kommt mit der Lebenserfahrung, die sich in deinem Gesicht und in deinem Schauspiel abzeichnen wird. Schon bald.«

Franci stoppte in seiner Bewegung, der Schlüssel klimperte im Schloss, der Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Diese Affenhitze! Ließ ihn nicht mehr denken, ließ ihn nicht mehr bewegen.

Ach, was soll’s! Man lebte nur einmal! Auf einen Juden wie ihn würde sowieso nicht der Himmel warten. Also musste er sich auf Erden alle Früchte pflücken, die niedrig am Baum hingen. Er drehte sich zu Friedrich Murnau um, die Tür zu seinem Hotelzimmer sprang auf, und Franci grinste.

Nun war es an Murnau, erstaunt zu erstarren. Und dann trat der einen Schritt auf Franci zu, wie choreographiert bewegten sie sich in das Zimmer. Und als die Tür ins Schloss fiel, nahm Friedrich Francis Gesicht zwischen seine Hände, küsste ihn. Franci wollte nur noch, dass Friedrich ihm die Kleider vom Leibe riss. Wie in einem Tanz, rundherum und rundherum, wie ein jüdischer Hochzeitsreigen, bewegten sie sich im Zimmer, bis sie schließlich auf dem Bett landeten.

»Sei versichert, Franz, keiner war je so wie du. Keiner!«, wisperte Friedrich in sein Ohr und dann vergaß Franci alle guten Vorsätze.

Es dröhnte, als der Schnelldampfer aus dem Hafen von Manhattan auslief, trotzdem hörte man das Kreischen der Möwen, das Schnattern, Lachen und Weinen der Menschen, die sich vom Hafen New Yorks verabschiedeten. Ein Ruck ging durch die Menge, für eine kurze Weile verlor Franci das Gleichgewicht, schnappte nach der Reling und fing sich schnell wieder. Über ihm dröhnten einige kleinere Flieger, die in der Bay ihren Tag genossen. Franci wusste, dass sie von den Hamptons aus starteten, über das Meer, die Wolkenkratzer und das Hinterland flogen. Schon allein der Gedanke daran fühlte sich wie Unsterblichkeit an. Nach langem Zögern hatte Franci seinen Flugschein gemacht und nun wollte er das Fliegen nicht mehr missen. Ein Mal in der letzten Woche war er von den Hamptons aus gestartet. Dort war er bei einem reichen Ölmagnaten eingeladen worden, der einen Flieger besaß. Von oben sah diese riesige, diese so lärmende Stadt aus wie ein Spielzeugbausatz für Kinder. Die Sky Scrapers glichen viereckigen Streichholzschachteln, die unzähligen Kutter, Boote und Dampfer erinnerten an Miniatur-Modellbausätze, mit denen ein kleiner Junge in der Badewanne spielte. In der Luft und auf dem Meer schien noch mehr Verkehr zu herrschen, als sowieso schon in den Boulevards und Avenues. Gegen New York fühlte sich selbst das quirlige Berlin wie die tiefste Provinz an.

Die Freiheitsstatue, die vielen Brücken der Landzunge im Hintergrund wurden kleiner und kleiner und Franci erinnerte sich an Friedrichs Worte von heute Morgen: »Warum willst du denn nach Deutschland zurück? Normalerweise flüchten die Leute von dort hierher in die Staaten.«

»Weißt du«, hatte er entgegnet, »ich kann selbst nicht genau erklären, was mich dort hält, aber es ist so. Es ist einfach … mein Zuhause.«

Und nun ging er also, nach einem Jahr in Hollywood, wirklich zurück, mit dem festen Plan im Gepäck, auch in der Heimat den Tonfilm zu etablieren.

Als Manhattan in der Ferne verschwand und der Horizont nur noch aus blauem Himmel bestand, machte er sich auf, um unter Deck in seine Kabine zu gehen. Während er die Treppen hinunterstieg, seine Hand an dem kalten Metall des Geländers entlang fuhr, hörte er die flüsternden und verwunderten Stimmen der anderen Passagiere, die seinen Weg kreuzten:

»Ist er es wirklich?«

»Ist das nicht der Schauspieler, dieser Franz Morolt?«

»Der ist aber groß, ich dachte, er sei kleiner.«

»Schau dir mal dieses Gesicht an, der Wahnsinn! Wie schön er ist!«

So ging es drei Tage lang. Die meisten von ihnen redeten Deutsch, aber es gab auch einige amerikanische Stimmen, was ihn ungemein erfreute. Obwohl er den Preis der Akademie doch nicht hatte einheimsen können, fühlte er sich nun gegenüber Jannings überlegen. Er kreuzte hier international über den Atlantik, er wurde erkannt, ihm galten die aufgeregten, verliebten Kommentare hinter vorgehaltener Hand.

Die Tage auf See verbrachte er mit süßem Nichtstun. Er nahm jeden Abend andere exotische Speisen aus aller Herren Länder ein, hielt sich im Ballsaal im Hintergrund. Tagsüber, wenn das Wetter es zuließ und der Wind nicht allzu sehr über das Deck blies, sonnte er sich in einem bequemen Liegestuhl und las das Buch von Howard Carter, in dem dieser von der Entdeckung des Tut-Anch-Amun berichtete. Zwischendurch spielte er an den Billardtischen im Freizeitdeck und einmal wurde er sogar vom Kapitän in der Kommandozentrale eingeladen, wo der ihm erklärte, wie so ein Schiff funktionierte und zu steuern war. Franci zeigte sich höflich begeistert.

Am vierten Tag hatte er sich mit einem Fotografen verabredet. Ein unglaublich beseelendes Gefühl trug ihn in die Kabine, in der der Fotograf bereits seine Ausrüstung aufbaute und einrichtete. Dann ging es Schlag auf Schlag; ehe Franci wusste, wie ihm geschah, waren ein paar Dutzend Aufnahmen im Kasten. Er auf dem Sofa, an einem Tisch, am Bullauge des Schiffes, in verschiedenen Anzügen, die er sich ab- und überstreifte, als wären sie selbst nur Kulissen aus Pappe. Die Scheinwerfer erhitzten seine Stirn. Die Schminke, die er sich alle paar Minuten erneuerte, ließ seine Haut trocken werden, das Blitzlicht der Fotokamera machte ihn kurzzeitig halb blind. Nach zwei Stunden fühlte er sich, als ob er in einem Ozean aus Hitze, Licht und Schichten von Klamotten ersoff, aber es war, als wäre er ein König. Er regierte diesen Dampfer, auf dem man sich alle paar Meter nach ihm umdrehte, ihn lichtete man ab, ihm tuschelte man hinterher: »Oh, ich werde ohnmächtig! Das ist tatsächlich Franz Morolt!«

So ging es ununterbrochen.

Gegen Abend klebte sein Anzug an seiner Haut, die Scheinwerfer des Fotografen hatten ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben, weswegen er sich erst einmal in seine Kabine zurückzog, um ein Bad zu nehmen und sich wieder frischzumachen. Das war er, der Glanz der Berühmtheit; ständig schwitzte man sich die Seele aus dem Leib, weil diese verdammten heißen Scheinwerfer pausen los auf einen gerichtet waren. In seiner Kabine zog er erst einmal Schuhe und Socken aus, seine Füße schmerzten vom stundenlangen Eingeklemmtsein. Ein stechender Schmerz zog sich von seiner linken Sohle über die Wade in den Oberschenkel hinein. Er fühlte sich langsam alt, obwohl er noch nicht einmal dreißig war.

Rauschend floss das Badewasser in die Wanne, nachdem er den Hahn aufgedreht hatte. Er las noch einige Briefe, die seine Fans ihm geschrieben hatten und die er aus Amerika mitgebracht hatte, köpfte eine Champagnerflasche Moet, die ihm ein Matrose gebracht hatte und feierte sich selbst, als er die säuselnden, furchtbar verliebten Ergüsse der jungen Damen las, die ihm schrieben, wie sehr sie sich nach ihm sehnten, wie er sie für die Männerwelt verdorben hatte, weil sie nun so hohe Ansprüche hatten, die kein Normalsterblicher je erfüllen konnte. Ha! Wenn sie wüssten, wie er wirklich war!

Nach dem Bad wurde er ein wenig schläfrig und genehmigte sich an seinem Bugfenster bei Sonnenuntergang eine Zigarette, eingewickelt in so einen weichen Bademantel, wie er ihn in Hotels nicht gefunden hatte. Seine Haare waren noch nass und das Wasser tropfte auf den Teppichboden, noch immer war es brüllend heiß und die cremefarbene Einrichtung der Kabine verlieh ihm das Gefühl, er befände sich auf einem Klappstuhl am Strand, in der Ferne kreischten die Möwen, das Meer rauschte immer wieder zu seinen Füßen, gluckerte und sprudelte in nahegelegenen ausgehöhlten Felsformationen.

Frisch umgezogen, wollte er sich in ein neues Drehbuch vertiefen, da hörte er ein verhaltenes, aber dennoch stakkatoartiges Pochen und Stampfen aus dem Saal über ihm. Etwas angesäuert – immerhin störte man ihn bei seiner Arbeit, ihn, um den sich gerade alle Planeten drehten! –, ging er die Treppen wieder hinauf, in die Festhalle des Kreuzfahrtdampfers. Noch bevor er die doppelflügelige Tür öffnete, schallte ihm der Chorus eines Hochzeitsreigens entgegen. Im Saal lehnte er sich unauffällig gegen die Wand, beobachtete Braut und Bräutigam, die Gäste, die das Paar auf ihre Hände hoben und sich mit ihnen im Kreis drehten. Zuerst schneller und schneller, während das Festorchester die Fideln spielen ließ, wie in einem Fiebertraum, in dem sich der Raum immer schneller drehte. Dann, urplötzlich, verlangsamte sich die Musik, der Tanz, die Braut wurde wieder zu Boden gelassen. Sie war die erste, die Franci in der Ecke erblickte. Ein wenig geriet sie ins Stolpern, löste sich aus dem Reigen, der daraufhin eine Pause einlegte. Die Musik wurde gemächlicher und auch die anderen Gäste schienen diese Unterbrechung als eine willkommene Abwechslung zu begrüßen. Schließlich fasste die Braut ihren frisch Angetrauten bei der Hand und beide kamen etwas schüchtern auf Franci zu.

Auch die Stimme der jungen Frau war scheu und leise. »Sind Sie nicht … Sie sind doch …«, stammelte sie atemlos.

»Der Schauspieler? Franz Morolt«, vervollständigte der Bräutigam den Satz seiner Frau.

»Ja, der bin ich.« Nun stand auch Franci beinahe schüchtern vor dem Paar, verhakte die Finger ineinander, als ginge es um eine wichtige Prüfung.

»Ich … Ich …« Die Frau war wirklich niedlich, wie sie herumdruckste, puterrot anlief und zu stottern begann, sobald sie ihm in die Augen sah. »Ich habe alle Ihre Filme gesehen, Herr Morolt. Wir waren sogar einmal in München und da habe ich Sie im Theater gesehen, aber ich saß in der hintersten Reihe und habe kaum etwas erkennen können.«

»Oh, das tut mir sehr leid. Das war wohl kein Genuss.« Franci suchte in den Taschen seines Jacketts nach seinem Zigarettenetui, spielte damit herum, ohne es herauszunehmen. »Frisch vermählt, wie?«, fragte er dann das Offensichtliche und deutete in den Raum, auf die Hochzeitsgesellschaft.

»Ja«, antwortete der Ehemann, ein Herr in mittleren Jahren, mit Rundbrille und lichtem Haar unter der Kippa. »Sagen Sie einmal, Herr Morolt …« Und nun blickte er auf seine kleine, zierliche Frau, deren Lippen zu beben begannen, deren Augen auf Franci klebten. »Dürfte ich Sie bitten, dass Sie meiner Neta einen Tanz schenken? Das wäre ein wirklich schönes Hochzeitspräsent und sie würde es ihr Leben nicht vergessen.«

Franci ließ das Zigarettenetui los, lächelte das noch halbe Mädchen an, das nun wirklich Tränen in den Augen hatte, und griff nach ihren Händen. »Natürlich. Dürfte ich bitten, Teuerste?«

Und dann führte er sie auf die Tanzfläche. In Windeseile hatte auch der letzte Idiot bemerkt, wer da in die Hochzeitsgesellschaft hineingeplatzt war und die Menschen um sie herum wurden zu bewegungslosen Statuen, die ihn mit offenen Mündern anstarrten.

»Fahren Sie auch nach Deutschland weiter?«, fragte Franci, bevor diese Neta zu einem vollendeten Nervenbündel wurde.

»Ja, aber nur … für eine Weile.« Man verstand ihre piepsige Stimme fast gar nicht. »Meine Großeltern besuchen. Aber nach einem Monat gehen wir weiter nach Palästina. Dort wollen wir uns ein neues Leben aufbauen.«

»Palästina? Wo ist denn das?«

»Na, ins Gelobte Land natürlich.«

»Oh. Aha. Ach was.« Er hatte keine Ahnung, wo das sein sollte und warum sie überhaupt das schöne Deutschland, nach dem er sich immer mehr sehnte, so schnell wieder verlassen wollte. »Nun, dann wünsche ich Ihnen ganz viel Glück in Ihrem Palästina.«

»Vielen Dank«, piepste sie noch einmal und bevor ihr Herz stehen bleiben konnte, war der Tanz, Francis Geschenk an dieses Pärchen, zu Ende.

Nach ein paar Tagen auf dem Atlantik legte das Schiff schließlich in Hamburg an. Franci ging von Bord, um mit der Bahn weiter nach Berlin zu reisen. Auf jeder seiner Reisestationen jubelten ihm die Menschen in Scharen zu, riefen seinen Namen, kreischten, die Mädchen weinten, in den Augen der Männer erkannte er tiefste Bewunderung. Und er sonnte sich in seinem Ruhm, so sehr, dass er sich manchmal vor sich selbst ekelte.

In Berlin feierte er die Premiere seines Films Moses im Ufa-Filmpalast am Tempelhofer Feld, einem riesigen Bau mit Platz für über zweitausend Zuschauer. Inmitten von allem, was Rang und Namen hatte, sah er sich selbst auf der Leinwand, das dutzendste Mal bestimmt. Da war er, mimte den Moses, der die Hände nach dem Pharao ausstreckte, bittend, flehend, aber standhaft und bestimmend. In seinen dunklen Augen das Leid und der Stolz von Hunderten von Jahren Sklavenleben, als er sagte: »Oh mein Pharao, lass mein Volk ziehen!«

Nach dem Premierenbuffet schlich er sich aus dem Kinosaal und ließ sich zum Eldorado fahren, einem bekannten Transvestitenlokal. Zu dieser späten Nachtstunde war der Raum bereits proppenvoll. Paare drängelten sich auf der Tanzfläche und an der Bar, man konnte gar nicht sagen, in welcher Konstellation sie hier zusammen waren. Männer, die wie Frauen gekleidet waren und mit ebensolchen Männern tanzten oder auch mit Männern, die wirklich wie Männer aussahen. Oder als Männer verkleidete Frauen, die mit Frauen oder Transvestiten tanzten. Es juckte keinen. Eintänzer warteten an der Bar auf ihre Kundschaft, vorrangig auf einsame Frauen ohne Begleitung, aber je nach vorgerückter Stunde konnte es jeder sein.

Die Musik und der Geruch nach Leidenschaft und erhitzten Körpern übertönte und überlagerte alles, als ob Franci beim Eintreten gegen eine Wand lief. Eine Weile beobachtete er die Szenerie, dann schlich er sich zur Musik-Band, nahm dem Schlagzeuger die Schlagstöcke aus den Händen und spielte einen lauten Tusch. Als das Stimmengewirr verebbte, und alle zu ihm blickten, verkündete er lautstark: »Was ist das für eine Trauerveranstaltung hier? Auf der Beerdigung meiner Großmutter ging es ja fröhlicher zu! Die nächste Runde Schnaps geht auf mich!«

Daraufhin brandete tosender Jubel aus, der Schlagzeuger überschlug sich fast mit seiner Jazz-Improvisation, als er seine Stöcke wiederbekam. Die Temperatur im Raum stieg in wenigen Sekunden um mehrere Grad und auch hier genoss Franci das Bad in der Menge, die ihn liebte, feierte und vergötterte.

Als die Uhr vier am Morgen anzeigte, hatte er bereits mit einem Dutzend Leute den Shimmy getanzt und geschäkert, ob männlich oder weiblich war ihm egal. Er hatte bereits davon gehört, dass sich manche in Berlin bei Herrn Doktor Magnus Hirschfeld Geschlechtsoperationen unterzogen.

Irgendwann kam auch Franci außer Puste, setzte sich in eine ruhigere Ecke und wollte sich ein letztes Bier als Absacker genehmigen, bevor es ins Hotel und ein paar Stunden später endgültig nach München in die Heimat gehen würde. Da bemerkte er, wie sich ihm ein Schatten näherte und wenig später setzte sich ein wohlbeleibter Mann in Uniform neben ihn.

»Franz! Sie san doch der Morolt Franz, der Schauspieler! Kennens’ mich noch?«

Franci blickte auf, schaute in das vernarbte, teigige Gesicht des Mannes. Woher …? Dann fiel ein Blick auf die Hakenkreuzbinde auf dessen Oberarm und er erinnerte sich. »Der Röhm Ernst? Du hast mich in dein Quartier in der Schellingstraße geführt, vor Jahren.«

»Ah. Erinnerst dich!« Er rutschte näher an Franci heran. »Und ich weiß noch, du host d’Wanduhr so schön gfundn. Du host gsogt, sie erinnert dich an Bahnhöf und du mogst Bahnhöf.«

»Ja.« Franci rückte etwas von ihm weg. »Die Uhr!«

»Bist länger in Berlin?«

Noch einmal brachte er etwas mehr Abstand zwischen sich und Ernst. »Oh, ich muss in ein paar Stunden los. Muss mich dringend aufs Ohr legen. Ich komme aus Amerika, habe seit etwa drei Tagen nicht anständig geschlafen.« Er stürzte sein Bier hinunter und stand dann auf, aber bevor er weggehen konnte, packte ihn Ernst am Handgelenk. »Bitte, Franzl, seh’n ma uns amoi wieder in München?«

Franci schenkte ihm ein erzwungenes Lächeln. »Das könnte sein«, sagte er dann. Plötzlich wollte er nur noch fort von hier. Die Anwesenheit dieses schmierigen Antisemiten bereite ihm beinahe körperliche Pein.

Er nahm sich für die wenigen verbliebenen Stunden ein Zimmer im Adlon, dann, nach einem ausgiebigen Frühstück, machte er sich endlich auf den Weg zum Bahnhof.

Mit jedem Meter, den er seiner eigentlichen Heimat München näherkam, wurde die Sehnsucht nach drei Menschen schier übermächtig: nach Richárd, seinem besten Freund; nach Blanka, seiner Schwester, die er so schmerzlich vermisste, wenn sie getrennt waren, und die ihn so enervierte, wenn sie zusammen waren; und vor allem war da die Sehnsucht nach Ludwig, seinem Partner, den er bereits ein Jahr nicht mehr gesehen hatte.

Auch bei der Einfahrt seines Zuges in den Münchner Hauptbahnhof, und vor allem da, jubelten ihm die Menschen in Scharen zu, drängten sich an den Waggon, ihre Hände gegen die Scheiben gepresst, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sie drückten sich die Nasen und kreischenden Münder platt. Die Polizei bahnte einen Weg für Franci, damit dieser überhaupt aussteigen konnte. Etwas überwältigt von diesem Willkommensgruß in seiner Heimatstadt winkte Franci den Männern und Mädchen, schüttelte hier und da Hände, bevor die Polizei sich zwischen ihn und das Publikum stellte, ehe noch etwas passierte.

Und dann sah er ihn. Ludwig. Der sich gegen die Wand des Bahnhofsgebäudes gestellt hatte, beinahe mit den Steinen verschmolz, sich unsichtbar machen wollte, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ihre Augen trafen sich, Ludwig lächelte ihn verhalten an, ehe er wieder zu Boden sah.

Franci schenkte dem Publikum noch eine Stunde von seiner Zeit, dann machte er den Polizisten deutlich, dass er nun gehen wollte und sie die Menschen auf Abstand halten sollten. Ludwig war sich zu einem unauffälligen Seiteneingang gegangen, dort wartete er mit seinem Automobil auf Franci. Sie gaben sich die Hand, als wären sie Geschäftspartner, aber Franci spürte, wie Ludwigs Hände nass vom Schweiß waren. Ludwig öffnete ihm die Tür der Beifahrerseite und wenig später fuhren sie hinaus aus München, nach Grünwald, wo Franci eine Villa von Le Corbusier hatte erbauen lassen.

»Wie war es in Amerika?«, brach Ludwig schließlich das unangenehme Schweigen. Sie hatten sich ein Jahr lang nicht gesehen, es war, als sei der Große Teich noch immer zwischen ihnen. Zwar hatte es des Öfteren Perioden gegeben, in denen Franci für mehrere Wochen aufgrund seiner Filmprojekte verreist war, er war bereits zwei Mal in Hollywood gewesen, aber nie ein gesamtes ganzes Jahr.

»Och, sehr schön. Aber jeden Abend habe ich Heimweh nach München verspürt.«

»Vor allem Heimweh nach einer frisch gezapften Halben, was?«

Franci zog eine Schnute, als Ludwig grinste. Er hatte seinem Partner eigentlich sagen wollen, dass er ihn in Hollywood sehr vermisst hatte und dass er wollte, dass Ludwig das nächste Mal mitkam. Eine Gefühlsregung und ein Bekenntnis der Treue, das Franci selten über die Lippen kam, aber Ludwig hatte schon wieder alles vermasselt.

»Nicht nur nach dem Trinken hatte ich Sehnsucht, was denkst du denn von mir?«, empörte er sich, konnte aber nicht lange ernst bleiben. »Nun ja, gleich das erste, was ich tun werde, ist es, mir ein frisches Bier zu gönnen. Taugt der Eisschrank denn etwas, denn ich gekauft habe, bevor ich weg bin?«

»Nun, ich und deine Mutter haben ihn erst drei Mal benutzt. Frisches Eis ist teuer, vor allem im Sommer.«

»Und? Geld ist doch kein Problem bei mir.«

»Man muss es ja schließlich nicht ganz so kopflos ausgeben, nicht wahr?«

Franci verdrehte die Augen, aber ein warmes Gefühl machte sich ihn ihm breit. Bei aller Genervtheit, die Ludwigs biedere Worte bei ihm auslösten, so verursachte seine Stimme bei ihm doch ein vertrautes Gefühl von Geborgenheit. Noch nie in seinem Leben war er so lange mit einem Menschen zusammen gewesen, nicht einmal ansatzweise. Fast achteinhalb Jahre waren es inzwischen, sie näherten sich einer Dekade Partnerschaft.

»Hast du in Amerika eigentlich etwas vom Blutmai mitbekommen?«, fragte Ludwig daraufhin.

»Blutmai? Nein, was war denn das? Hat es Blut vom Himmel geregnet?«

»Beinahe«, grummelte Ludwig. »Es gab Ausschreitungen bei den Maikundgebungen. Einige Menschen starben, etliche wurden verletzt. Es nahm kein Ende. Also verhängte der Berliner Polizeipräsident ein Verkehr- und Lichtverbot über der Hauptstadt. Es ging tagelang drunter und drüber, jeden Tag gab es Tote.«

»Wenn ich einmal nicht im Land bin, passiert so was.«

»Ganz ehrlich, Franci, über das macht man keine Witze. Das Land ist seit Jahren politisch auf der Kippe und kommt nicht zur Ruhe.«

Es kratzte an seinem Ego, dass Ludwig ihn gerügt hatte, aber er schüttelte das Gefühl schnell ab. Was kümmerten ihn irgendwelche politischen Prügeleien in Berlin? Das hatte er seit dem Ludendorff-Hitler-Putsch hinter sich gelassen.

Zuhause musste er erst einmal ein Anstandsessen mit seiner Mutter über sich ergehen lassen. Seit Vaters Tod hatte sie sich bei ihm in der Villa Morolt eingenistet. Francis Familie hatte einmal eine bedeutende Motorenbaufirma für Flugzeuge und Automobile gehört, aber nachdem beide Inhaber, Francis Vater und sein Schwager Anton Klapka, gestorben waren, war die Firma an die Bremsmotorenwerke AG in München gegangen. Und Mutter hatte sich von einem Leben als Funktionärin zu einer alles beherrschenden Hausdame gemausert, die stillschweigend akzeptierte, dass Ludwig die Villa in Ordnung hielt, wenn Franci auf Geschäftsreise war.

»Dein Butler ist sehr fleißig, Ferenc«, sagte sie nun zu ihm, nachdem sie sich einen Klecks Soße vom Mundwinkel getupft hatte, und benutzte dabei seinen alten Namen, der noch aus der Zeit stammte, als sie in Österreich-Ungarn gelebt hatten. »Der Garten war noch nie so tipptopp in Schuss wie heute. Ludwig hat einige neue Fliederarten gepflanzt. Wahrlich, vorher war der Garten so karg. Was hast du dir beim Bau nur dabei gedacht? Nicht einmal Rosenstöcke hattest du!«

»Mutter. Das nennt sich puristisch-modern. Eine Rasenfläche, geometrische, eckige Formen, Beton, sonst nichts. Ich wollte es so, ohne olles Blumen-Tralala«, sagte er mit einem schalen Blick auf die frisch gepflanzten Sträucher. Jetzt sieh sich einer dieses kitschige Bild vor der Fensterwand des Esszimmers an! Das ganze Design des Grundstücks war dahin! Er schielte noch einmal zu Ludwig, aber der zuckte nur mit den Achseln, wieder sein Grinsen auf den Lippen. »Frau Molnár wollte es aber mit Blumen und Farben, also haben wir das Projekt Garten in Angriff genommen, letzten Sommer, kurz nachdem du nach Hollywood aufgebrochen bist. Immerhin müssen wir hier leben, du bist ja ständig auf Reisen.«

Mutter legte zart ihre Hand auf Ludwigs Schulter und drückte dann fest zu. »Er liest mir wirklich jeden Wunsch von den Augen ab, dein Butler Ludwig.«

»Was für ein Schmonzes!«

Nachdem das Essen abgetragen wurde, folgte das obligatorische Kaffee-und-Kuchen-Essen, das sie auf der Terrasse einnahmen.

»Siehst du, Ferenc«, sagte seine Mutter und zeigte auf die neuen Büsche, Blumen und Stauden, »nun ist das hier kein toter Ort mehr. Alles ist beseelt, mit Bienen und Blumen und man hört allerorten Vögel.«

Franci verschluckte sich fast an seinem Kaffee, weil er gerade in diesem Moment an etwas ganz anderes denken musste, etwas, das er mit Ludwig machen wollte, wenn sich Mutter endlich in ihre Einliegerwohnung zurückzog. Er konnte es beinahe nicht mehr aushalten, die Vorfreude, das Kribbeln in ihm wurde übermächtig, und diese Frau, seine Mame, hatte die Nerven, ständig von ihren komischen Pflanzen zu erzählen, wann sie blühten und wie und wann man sie zurückschneiden musste. Irgendwann dröhnte Franci der Kopf und er stöhnte auf.

Augenblicklich sprang Ludwig mit einem »Ach, verzeih!« vom Stuhl und wenig später kam er mit einem Glas Bier, dessen Schaumkrone sich so einladend wölbte, und in dessen Gold sich die Sonne so glitzernd brach, dass Franci ihm beinahe das Glas aus der Hand riss und einen ersten, riesigen Schluck nahm.

Mit Bier war auch der restliche Nachmittag und Abend mit Mutter halbwegs erträglich, obwohl es Franci nicht behagte, wie sie Ludwig schöne Augen machte. Der war zwar schon um einiges älter als Franci – dreißig Jahre Unterschied waren zwischen ihnen, das vergaß er manchmal –, aber dennoch musste sich Mutter nicht so an ihn ranschmeißen. Franci fand es höchst erstaunlich, dass eine starke Eifersucht in ihm aufglühte.

Und endlich begab sich Mutter in ihre Gemächer. Kaum war Franci mit Ludwig alleine im Salon, da wollte Ludwig eine Flasche Wein öffnen, aber er kam nicht so weit. Franci nahm ihm die Flasche aus der Hand, legte sie auf einen Beistelltisch, beugte sich zu Ludwig und begann, nachdem er dessen Hemd aufgeknöpft hatte, damit, Ludwigs Brust mit Küssen zu bedecken. »Du hast meiner Mutter also mit den Bienchen und den Blumen und den Vögeln geholfen, ja?«

»Nicht das, was du denkst.«

Franci spürte, wie sich Ludwigs Mund zu einem Lächeln verzog.

»Deine Mutter ist so eine einsame, alte Frau. Und ich dachte …«

»Ah geh! Sie ist ein alter Drachen, der uns Schuldgefühle einredet. Wegen allem. Und jetzt reden wir nicht mehr von meiner Mutter, sonst geh ich ohne dich ins Bett!«

Die Entfernung voneinander, die lange Zeit ohne einander, all das hatte Franci gutgetan. Er genoss es wieder in vollen Zügen, mit Ludwig zu schlafen, obwohl man ihm das Alter immer mehr anmerkte. Aber nach ihrem Liebesakt war Franci so erfüllt und zufrieden, dass er wenige Augenblicke später einschlief.

Es musste wohl mitten in der Nacht sein, selbst die heulenden Hunde und die maunzenden Katzen waren eingeschlafen, da wachte Franci von einem eigenartig scharrenden Geräusch auf.

Sein Kopf dröhnte, als er sich im Bett aufsetzte. Hatte er es nach einem Jahr Prohibition wohl doch zu sehr mit dem Bier und Wein übertrieben? Er hatte sich keine Möglichkeiten gesucht, illegal durch irgendwelche Gangster-Banden an Alkohol zu kommen. Tatsächlich hatte er die ein oder andere Gelegenheit dazu gehabt, sie aber nicht wahrgenommen. Um sich noch eingehender in die Rolle des Moses in der Wüste hineinzuversetzen, hatte er sich eine Abstinenz vom Alkohol selbst auferlegt. Diese Methode zu schauspielern – Method Acting genannt – war von russischen Künstlern in New York City eingeführt worden.

Im Schlaf musste er seine Decke weg gestrampelt haben, denn er fror erbärmlich. Der Maimond schien fahl durch das Fenster und er tastete nach seiner Unterhose, fummelte am Bändchen herum, um es mühsam zusammenzuknoten, bevor er sich schließlich den Morgenmantel überwarf.

In seinen Pantoffeln schlürfte er eine Etage tiefer. Sein Haus besaß keine Treppen, stattdessen gab es größere und kleinere Rampen, die an Garagenauffahrten erinnerten. So hatte er den Automobilen der Familienfirma doch irgendwie Tribut gezollt, obwohl er sie nicht, wie es Vaters Wunsch gewesen wäre, als Geschäftsmann übernommen hatte, sondern Schauspieler geworden war.

In der Küche stürzte er eine Flasche Wasser hinunter. Und da war es wieder, dieses Geräusch. Er hätte gedacht, es sei die Heizung gewesen oder eine Taube am Fenster, aber nun hörte er es in der Küche umso lauter. Es kam aus dem Garten.

Und als er aus dem überdimensionalen Küchenfenster, das den oberen Bereich einer ganzen Wandseite einnahm, hinausblickte, da blieb ihm beinahe das Herz stehen. Draußen, im Garten, da war ein Mann. Franci sah nur dessen Rücken. Der Mann beugte sich in regelmäßigen Abständen hinunter und wieder hoch. Und dann erkannte Franci es; dieser Mann schaufelte ein Loch in den Boden.

Aber das konnte nicht der Gärtner sein, denn diesen hatte Franci bereits vor zwei Jahren entlassen.

Nachdem Franci den ersten Schreck verdaut hatte, öffnete er das Fenster und hoffte, dass Ludwig nicht aufwachte, als er schrie: »He, wer sind Sie? Was wollen Sie auf meinem Grundstück?«

Aber unbeirrt schaufelte der Mann sein Loch. Und Franci beobachtete ihn. Wie eine Marionette, wie eine Maschine, schaufelte er weiter und weiter.

Jetzt reichte es! Die Angst ebbte etwas ab, Franci streifte sich zusätzlich seinen Sommermantel über und ging über die Terrasse in den Garten. Seine Schritte wurden aber langsamer, je näher er diesem Mann kam. Den schien das nicht zu stören, im Gegenteil, unbeirrt führte er sein Werk fort, hielt nicht einmal kurz inne, als Francis Schuhe über den Kies knirschten.

Lange blieb Franci hinter ihm stehen, blickte nur ungläubig die Schulter des Mannes an, deren Muskeln sich im Takt der Bewegung rollten. Weiter und weiter grub er, aber das Loch wurde nicht größer.

Da fiel es Franci wie Schuppen von den Augen. Es mochte eine Halluzination sein. Eine, die er öfter hatte. Seit er als Jugendlicher an der Spanischen Grippe erkrankt war, sah er hin und wieder Dinge, die nicht da waren. Und seit er einmal während eines Unfalls einen mittellosen Kriegsinvaliden überfahren hatte, um den sich im Weiteren niemand mehr gekümmert hatte, war es immer wieder dieser eine Kriegsinvalide ohne Beine gewesen, in seiner verschlissenen Soldatenuniform der Kaiserlich-Königlichen, den Franci halluzinierte.

»Sie da!« Franci tippte ihm auf die Schulter und endlich hörte der Mann mit seinen Bewegungen auf, drehte sich langsam um. Dann sah Franci in sein zerschundenes Gesicht. Er hatte nur noch ein heiles Auge, das andere war zu einem tumorartigen, wulstigen Gebilde zusammengeschmolzen, das sich nach vorne wölbte. Überreste der Augenbraue, des Lids, der Höhle hatten sich zu einem Hautklumpen zusammengeknüllt. Ja, das war dieselbe Halluzination, nur dieses Mal hatte die Erscheinung Beine. »Was treiben Sie denn da in meinem Garten?«, fragte Franci, obwohl er nun genau wusste, dass es eine Halluzination war und sie sich am besten in Luft auflöste, wenn er sie ignorierte.

»Wir schaufeln uns das Grab, weil der deutsche Hauptmann es uns befiehlt«, antwortete der Mann und Franci fuhr der Schreck noch einmal so durch Mark und Bein, dass er blindlings quer durch seinen Garten stolperte, durch diese furchtbaren, neu angelegten Büsche und Stauden, mit zitternden Händen die Terrassentür verschloss und sich wie ein kleines Kind wieder ins Bett, unter seine Decke flüchtete.

Ludwig drehte sich auf die Seite, murmelte etwas, das Franci kaum verstand, dann legte er seinen Arm über Francis Brust, drückte ihn an sich und sein Atem wurde wieder regelmäßiger.

Franci machte die verbliebene Nacht kein Auge mehr zu.

Bis zum Morgengrauen hörte er das stetige Schaufeln.

2 Herr Berger

Wien, Österreich

Mai 1929

Blanka hatte diesen Fritz von Anfang an unsympathisch gefunden, schon als sie ihm für dieses Projekt zugeteilt worden war. Sie hatte seine überhebliche Art, sie von oben herab zu behandeln, nicht ertragen können, ja nicht einmal, wie er seine Brille auf der Nase immer richtete. Alles an ihm ging ihr auf den Geist. Aber er war der einzige gewesen, der sich für ihr Semesterabschlussprojekt gemeldet hatte. Nun saßen sie zusammen, und obwohl sie studierte, behandelte er sie wie seine Assistentin.

»Überprüfen Sie, ob alle Daten ihre Richtigkeit haben! Und tippen Sie mir diese Tabellen heute Abend ab!« Er schob ihr eine Blättersammlung über den Tisch, ohne sie anzusehen. Blanka schäumte vor Wut. Das hatte er jetzt nicht ernsthaft von ihr verlangt!

»Noch heute, wenn ich bitten dürfte, Fräulein!«

»Ich bin kein Fräulein und auch nicht ihre Tippse, Sie Wichtigtuer!«, sagte sie und drehte demonstrativ an ihrem Ehering herum, so sehr, dass ihr kurz daraufhin der Finger weh tat. Wie sehr sie ihren Mann vermisste, ihren Richárd, der an seiner Habilitation in München saß.

Vor Jahren hatte sie eine Karriere als Jazz-Sängerin angestrebt. Das war ihr großer Traum gewesen, seit sie das erste Mal mit dieser Musik in Berührung gekommen war. Sie hatte sogar ein paar recht erfolgreiche Auftritte und Achtungserfolge vorzuweisen gehabt, aber schon bald war ihre Karriere ins Stocken geraten. Der Durchbruch ließ auf sich warten, die Aufträge blieben aus, ihr Gesang kam einfach nicht an. Empfand man ihre raue, tiefe Stimme zu Anfang noch als etwas Anderes, Neues, so ebbte die Begeisterung schnell ab und schon bald kamen Kommentare wie »Ihr Aussehen ist uns zu jüdisch, das lässt sich schlecht verkaufen.« Also liebäugelte sie wie ihr Mann Richárd mit einer akademischen Karriere und entdeckte die Kinderheilkunde für sich. Sie hatte sich bewusst für Wien entschieden, da sie sich auch für die Freud’schen Studien begeisterte. Hier blühte sie auf, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Eigene Kinder zu haben – das war ein Graus für sie und sie achtete stets darauf, nicht schwanger zu werden. Aber mit Kindern zu arbeiten, zumal mit neuen Krankheiten des Gemüts und des Gehirns, wie in dieser Abteilung, das erfüllte sie ungemein. Sie würde also schon bald ihr Studium abschließen, dann ihren Doktor machen und Psychiaterin werden.

Drei Tage in der Woche lebte und arbeitete sie in Wien an der Universität, drei Tage getrennt von ihrem Ehemann, was das beste war, was ihnen passieren konnte. Denn Richárd besaß die Eigenart, schreiende Anfälle zu bekommen und daraufhin deprimiert in sich zusammenzusinken, wenn er allzu lange mit anderen Menschen zusammen war, selbst mit seiner Frau. Und auch Blanka genoss es, unabhängig in Wien ihr eigenes kleines Leben aufzubauen. Aber sie schäumte auch jeden Donnerstag über vor Freude, wenn sie wieder in den Zug nach München – zurück zu Richárd – stieg. Seit sie ihr Leben so arrangierten, hatte Richárd keinen seiner seltsamen Anfälle mehr gehabt. Und diese Woche freute sie sich umso mehr, wieder nach Bayern zu fahren, denn ihr Bruder Franci, der bekannte Schauspieler Franz Morolt, kam endlich aus Hollywood zurück. Dort hatte er einen äußerst erfolgreichen Film gedreht, in dem er den Moses mimte.

»Fräulein! Wird’s bald!« Die Stimme von Fritz schnitt schmerzhaft in ihre Gedanken.

»Pah. Tippen Sie Ihre Liste doch selber, Herr Berger. Sehen Sie denn nicht, dass ich gerade in eine Lektüre vertieft bin?«

Er blickte kurz zu ihr auf, sein Blick war stechend und kalt. »Frauen sollten nicht so viel lesen«, fuhr er sie an. »Besonders keine jüdischen.«

»Jetzt reicht es aber, Sie … Sie …« Blanka suchte nach einem besonders eindrucksvollen jiddischen Schimpfwort. Aber sie sprach nur Ungarisch und Deutsch und war, seit sie denken konnte, katholisch erzogen worden. Ihre Eltern hatten sie und ihren Bruder getauft und sich assimiliert, um nur ja nicht als jüdisch durchzugehen. Mit sichtlich mäßigem Erfolg. Jiddisch schnappte sie von anderen auf, aus dem jüdischen Ghetto, von dem sich ihre Eltern immer hatten fernhalten wollen. »Sie … Kaffer!« Nun, es war nicht das beste Wort, aber immerhin jiddisch!

»Ich bin ein was?«

»Also. Dieser Fall hier.« Sie überging seine Frage. »Männlicher Patient, zehn Jahre alt. Diagnose bitte. Folgende Symptome sind evident: kaum Blickkontakt; wenn dieser erzwungen wird, schreit der Patient. Er spricht nicht, versteht aber alles. Oft beobachtet man eine immer wiederkehrende Geste, die den Patienten offensichtlich beruhigen soll. Zugleich summt er vor sich hin. Er wiegt sich vor und zurück. Das einzige, mit dem er spielt, sind Schrauben. Diese ordnet er zu geometrischen Gebilden an. Also: Diagnose bitte!«

»Und«, Fritz hob überheblich seinen Blick, »haben Sie auch beobachtet und ausgewertet, in welchen konkreten Situationen der Patient sich vor und zurück wiegt?«

»Nun.« Blanka schluckte. Ihr brach der Schweiß aus. »Das … müsste ich noch machen.«

»Sehen Sie. Dieses Hin-und-Her-Wiegen ist so ein schwerwiegendes Symptom und Sie kommen nicht auf die Idee, dieses näher zu beleuchten und systematisch zu analysieren?«

»Ich …« Fieberhaft suchte sie nach einer Erwiderung. Dann kam sie ihr, wie ein Retter in der Not: »Ich wollte zuerst sichergehen, dass ich alle Symptome gesammelt habe, auch die eher seltenen. Bevor ich diese in einem zweiten Schritt näher auswerte.«

»Aha.« Fritz Berger schien sprachlos und Blanka triumphierte bereits im Innern, aber dann sagte er: »Ich wusste ja, Frauen in der Medizin. Das ist Blödsinn. Sie sollten beim Kinderkriegen bleiben.«

So ein Schmock! Genau, das war das Wort gewesen, das sie gesucht hatte. Aber es ihm jetzt an den Kopf zu werfen, würde sie hysterisch erscheinen lassen, genau das, was er wollte. Also ignorierte sie ihn und las ihren Aufsatz weiter. Dies trieb ihn schließlich zur Weißglut.

Er stand auf, machte unter Zähneknirschen das nächste Projekttreffen aus und verabschiedete sich nicht einmal, als er ging, ja, fast vor ihr flüchtete. Blanka machte drei Kreuze – gemäß ihrer katholischen Erziehung –, dass sie diesen arroganten Fritz Berger nicht erwürgt hatte. Sie sah ihm nach, er schüttelte beim Gehen den Kopf, wohl wegen ihr.

In ihrem kleinen Studentinnenzimmer packte sie ihre wenigen Habseligkeiten ein, Kleidung und Bücher, in die sie sich in der Heimat vertiefen wollte, und eilte zum Hauptbahnhof.

Schier endlos, wie immer, erschien ihr die Heimfahrt. Als der Zug in München einfuhr, erblickte sie Richárd und augenblicklich schlug ihr das Herz schneller. Er stand immer an der selben Stelle. Einmal hatte er sogar jemanden von dieser Stelle vertrieben. Immer diese eine Stelle, das musste sein, dort musste er stehen, sonst ging es ihm schlecht.

»Und, Frau Doktorin?«, hatte er daraufhin schmunzelnd gefragt. »Welche Diagnose stellen Sie mir aufgrund dieses Symptoms?«

»Ach, Richárd.« Wie sehr liebte sie ihn in diesem Moment, vergötterte ihn! »Erstens bin ich noch nicht Frau Doktorin. Und zweitens bist du kein Kind. Ich studiere doch Kinderheilkunde.«

Und nun stand er wieder an seiner heißgeliebten Stelle am Hauptbahnhof und wartete auf sie. Sie stieg aus, hastete auf ihn zu, schleppte ihren schweren Koffer voller Bücher hinter sich her. Bei ihm angekommen, warf sie sich ihm um den Hals, und er legte, nach anfänglichem Zögern, seine Arme um sie. Was sich nicht ganz leicht gestaltete, denn sie war einen halben Kopf größer als er, auf Absätzen noch größer.

Richárd war bereits ihr zweiter Ehemann. Ihr erster, Anton Klapka, ein Unternehmer, war von den Eltern ausgesucht worden. Kurz nach der pompösen Hochzeit hatte Anton die Familienfirma M.A.S. als Leiter übernommen. Vollkommen überarbeitet war Anton vier Jahre zuvor gestorben und nach dem Trauerjahr heiratete Blanka endlich Richárd, in den sie sich bereits als junge Frau verliebt hatte, trotz aller Widerstände ihrer Mutter.

»Üdv újra, doktor úr!«, begrüßte Richárd sie in ihrer beider Muttersprache Ungarisch, jedes Mal mit denselben Worten. »Willkommen zurück, Frau Doktorin.«

Und stets antwortete sie: »Ach, wie habe ich dich vermisst, du Spinner!«

Zusammen gingen sie zur Elektrischen, die sie bis zu ihrer Wohnung in der Schellingstraße bringen würde. Richárd humpelte noch immer ein wenig. Dies war einer Verletzung geschuldet, sie er sich vor sechs Jahren zugezogen hatte. Damals hatten die Anhänger der N.S.D.A.P., einer furchtbar dilettantischen, aber auch furchtbar gewalttätigen Partei, versucht, gegen die Regierung zu putschen. Einer dieser Anhänger hatte Richárd ins Bein geschossen.

Den heutigen Tag widmete Blanka ganz Richárd, obwohl sie darauf brannte, ihren Bruder Franci nach einem Jahr wiederzusehen und alles über Hollywood von ihm zu erfahren. Aber jeden Donnerstag liebte sie es so, ihren Ehemann neu zu entdecken, als würde sie sich Woche für Woche neu in ihn verlieben. Sie liebte alles an ihm. Seine schönen, grauen Augen unter den schweren, verträumten Lidern. Seine sinnlichen Lippen. Sein außergewöhnliches Lächeln. Seine leidenschaftliche Stimme, wenn er über Literatur redete. Seine Art, die Menschen so zu nehmen, wie sie waren und nicht zu urteilen. Die Ruhe, die er ausstrahlte. Seine Feinsinnigkeit, seine Güte und sogar seine gelegentliche Schreckhaftigkeit bei lauten Geräuschen. Seine Gesten, wenn er dozierte. Ja, sogar die Art, wie er mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte und schlurfte, liebte sie an ihm. Seine Marotten, die sie liebgewonnen hatte, wie wenn er etwa das Essen auf seinem Teller nach Formen, Farben und Größe ordnete. Das machte er erst, seit sie verheiratet waren. Und es ließ sie oft vergessen, wie sehr sie sich selbst manchmal vor Essen ekelte.

Nachdem sie sich zu Hause im Schlafzimmer geliebt hatten, noch nebeneinander im Bett lagen und sie ihre Zigaretten rauchten, fragte er, neben ihr liegend: »Ist dieser eine Herr Berger noch immer so garstig zu dir?«

»Ach, garstiger denn je!« Wieder wallte die leidenschaftliche Wut über den Kerl in ihr auf. »Wir haben eine ganze Reihe von Patienten, auf deren Symptome wir uns keinen Reim machen können. Das wurmt ihn und er lässt es an mir aus.«

»Was für ein frustrierter Dummkopf.«

»Sag ich doch!«

»Welche Symptome sind das?«

Also ratterte sie ihm die Liste herunter und dann stoppte sie, als sie merkte, wie er schmunzelte. »Was? Was ist denn, Richárd?«

»Nun, einige dieser Dinge erinnern mich daran, wie ich als Kind war.«

»Oh.« Sie schmiegte sich an ihn. »Dann solltest du vielleicht auch einmal mit mir nach Wien an die Kinderklinik kommen.«

»Nein, danke«, erwiderte er nüchtern. »Ich bleibe bei meiner Literaturwissenschaft.«

Und dann war es endlich so weit. Am Tag darauf besuchte Blanka mit Richárd ihren Bruder Franci in dessen furchtbar kahler und modern eingerichteter Villa. Er sammelte Unmengen von Möbeln an, die angeblich ein Vermögen kosteten, aber aussahen wie von einem Kind gebastelt.

Franci sah gar nicht nach einem Schauspieler aus, der gerade seine Karriere in Hollywood vorantrieb. Seine Augen wirkten müde, waren rotgerändert, seine Haare zerzaust und nicht wie immer mit Brillantine zurückgekämmt, seine Haut fahl.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte sie ihn. »Grämst du dich noch immer, dass du diesen einen Filmpreis nicht bekommen hast?«

»Ach was«, antwortete er. »Das ist Schnee von gestern. Ich habe nur schlecht geschlafen.«

Francis Partner Ludwig servierte ihnen Kaffee. Mutter war nicht zugegen. Sie und Blanka redeten kaum ein Wort mehr miteinander, seit Blankas erster Ehemann Anton gestorben war. Mutter machte sie für dessen Tod und die Übernahme der Familienfirma durch die Bremsmotorenwerke verantwortlich.

»Meine innere Uhr ist durcheinander. Normalerweise wäre es jetzt mitten in der Nacht für mich«, ergänzte Franci dann noch und zeigte sein bekanntes verschmitztes Lausbubenlächeln.

»Deine innere Uhr war immer schon durcheinander, Franci«, erwiderte Richárd in seiner nüchternen Art. Er kannte Franci fast genauso gut wie Blanka, noch aus der alten Heimat Österreich-Ungarn, hatte er doch mit ihm zu Studienzeiten zusammen gewohnt.

»Ja, man lebt nur einmal«, entgegnete Franci rotzig und zog an seiner Zigarette, als wäre der Teufel hinter ihm her. »Keine Zeit zu verschwenden, auch noch an so etwas wie an Schlaf!«, schob er hinterher. Unter seinen Augen hatten sich tiefe Schatten gebildet. Sicher war es erschöpfend, aus einer anderen Zeitzone zu kommen, nach einem harten Jahr Arbeit. Wobei sich Blanka nicht vorstellen konnte, dass es sonderlich anstrengend war, sich bejubeln zu lassen. Da wallte so etwas wie Eifersucht in ihr auf, obwohl sie sich eigentlich für ihren heißgeliebten Bruder freute. Aber es schmerzte sie immer noch, dass aus ihrer eigenen Gesangskarriere nichts geworden war. Obwohl sie ihr Studium der Kinderheilkunde sehr genoss, musste es herrlich sein, wenn man so bekannt und beliebt war wie Franci.

Aber ehe sie ihre Gedanken dahingehend vertiefen konnte, ging die Tür auf und Mutter wagte sich schließlich doch noch in ihre Nähe. Ein kurzer kalter Blick, eine daher gemurmelte Begrüßung, dann setzte sich Mutter neben Franci und tätschelte seine Wange. »Du siehst ein wenig krank aus, Ferenc. Bekommt dir die Umstellung nicht?« Und zu Ludwig gewandt: »Ach, seien Sie bitte so gut und bringen Sie uns eine Runde Cognac, ja, lieber Ludwig?«

»Mutter«, wandte Franci mürrisch ein.

»Schon gut.« Ludwig stand sogleich auf und verbeugte sich auch noch unnötigerweise vor Mutter. »Ich mache das gerne.«

In schier endloser Stille warteten sie also, bis Ludwig allen Cognac eingeschenkt hatte. Nach dem ersten Schluck Alkohol ertrug Blanka die garstige Atmosphäre, die Mutter verbreitete, etwas besser. Selbst als diese sagte: »Und nun, Ferenc, da du wieder da bist, denkst du nicht daran, dir einmal eine Frau zu suchen? Ich meine, für was dieses große Haus?«, da konnte Blanka ihre Wut herunterschlucken.

»Oh, Mutter, Sie füllen sämtliche Räume mit Ihrer Anwesenheit allein, da bleibt kein Platz mehr für eine andere Frau«, lästerte Franci. Blanka musste sich ein Grinsen verkneifen, als Mutter ihn irritiert anblickte. Schon immer hatte sie den spitzfindigen Humor ihres Bruders geliebt.

Und dann fiel Mutters Blick auf sie. Unweigerlich beäugte ihre Mame sie von oben bis unten und ihre Augen blieben an ihrem Bauch kleben. »Von deiner Seite aus kommt auch nicht viel. Kümmerst dich um andere Kinder, ohne ein eigenes zu haben. Schon der zweite Ehemann und noch kein Kind. Da muss es wohl an dir liegen, nicht wahr? Hast du dich schon einmal untersuchen lassen? Ich meine, immerhin arbeitest du doch in einem Krankenhaus«, säuselte Mutter in einer gefährlich ruhigen Tonlage.

»Aber, Frau Molnár«, mischte sich jetzt auch Richárd, der bis dahin geschwiegen hatte, in das Gespräch ein, »Blanka war bereits schwanger, sie hat das Kind wegmachen lassen und achtet penibel darauf, dass es nicht wieder passiert, denn sie kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als Mutter zu werden.«

Dieser Idiot! Blanka konnte es nicht verstehen, warum er so etwas machte! Warum er nicht verstand, dass man bestimmte Dinge in bestimmten Situationen nicht sagen durfte. Sie schämte sich in Grund und Boden, sah, wie Mutter rot anlief und sich Franci ein Grinsen verkneifen musste, ehe er zur Rettung einschritt und von seiner Zeit in Hollywood erzählte, um abzulenken.

Kaum waren sie wieder zurück in ihrer Wohnung, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, da fuhr Blanka Richárd an: »Warum musstest du das mit meiner Schwangerschaft verraten?«

Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn und seinen Hut an den Garderobenständer im Flur und zuckte mit den Achseln. »Aber es stimmt doch.«

»Und? Das war in dem Augenblick wirklich unangemessen und hat mich in eine furchtbare Lage gebracht.«

»Aber wenn es doch die Antwort auf die Frage deiner Mutter war! Sie meinte, dass es an dir läge, dass du nicht schwanger wirst. Tut es aber nicht. Das ist doch eine erfreuliche Sache.«

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen, sodass ihr Kiefer schmerzte. Sonst hätte sie ihm Unverzeihliches an den Kopf geworfen. Eine erfreuliche Sache! Ha! Er hatte leicht reden. Er war als Mann auch nicht hin- und hergerissen zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und dem eigenen Wunsch nach Unabhängigkeit. Lange hatte sie es ihm verschwiegen, was sie mit ihrem gemeinsamen Kind gemacht hatte, aber im letzten Jahr konnte sie nicht anders als mit der Sprache herauszurücken. Länger zu schweigen hätte sich wie Verrat angefühlt.

»Du verstehst es wirklich nicht.« Sie ließ es dabei bewenden. Richárd hatte manchmal diese überaus naive und schwer erklärbare Art, manche Dinge einfach nicht zu begreifen, dass es wenig Sinn hatte, mit ihm darüber zu streiten.

»Dann erklär es mir bitte.« Er hob fragend die Augenbrauen, aber Blanka ging nur auf ihn zu und tätschelte ihm die Wangen. Sie wollte nicht mit ihm streiten. Er war eben ein weltfremder Akademiker, der sich in Rittersagen vertiefte. Oder vielleicht lag es auch an ihr, dass sie die Dinge falsch auffasste. Aber sie wollte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden. »Ist schon gut. Menschen verhalten sich manchmal seltsam.«

»Bist du mir böse?«

Sie verharrte ein wenig, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nein, wirklich nicht.« Sie war so unendlich müde. Dabei hatte sie sich gefreut, Franci wiederzusehen, aber Mutters ständige Kommentare hatten alles verdorben.

Sie wartete den Abend ab. Als Richard sich ins Bett legte, harrte sie noch eine weitere Stunde aus. Schließlich schlich sie auf leisen Sohlen ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser laufen. In ihr hatte sich so viel Wut, Enttäuschung, Selbsthass und Ekel angesammelt, der wie ein Brandherd, wie ein Geschwür in ihr aufflammte. Zitternd beugte sie sich über die Klosettschüssel, steckte ihren Finger in den Hals, zuerst vorsichtig, dann mit einem Stoß, bis sie würgen und sich erbrechen musste. Erst als sie buchstäblich leer war, da entleerte sich auch ihr Gehirn aller ekelhaften Empfindungen, die sich anfühlten, als wäre sie todkrank.

Und über allem stand das Gesicht der Mutter und ihre vergiftenden Worte: »Dann muss es wohl an dir liegen. Du bist schuld!«

Als Blanka ihren Bruder zwei Tage später in aller Ruhe in einem Café wiedersah, fragte sie Franci: »Wann sagst du Mutter eigentlich, dass Ludwig dein Lebenspartner ist? Damit sie nicht nur mich piesacken kann.«

»Ach.« Franci winkte grinsend ab. »Er macht sich doch ganz gut als Butler. Und als Gärtner. Hat mir mit Mutter meinen schönen Bauhausstil-Garten auf den Kopf gestellt. Jetzt sieht alles aus wie in einem französischen Lustgarten. Ständig macht sie Ludwig schöne Augen und denkt, sie hätte Chancen bei ihm. Und er tut alles für sie, sie muss nur mit dem kleinen Finger schnipsen. Neulich wollten sie losziehen und Teppiche kaufen. Teppiche! In meiner Villa. Das reinste Irrenhaus ist das, sage ich dir!« Franci schien gar nicht zu merken, dass Mutter ihn und Ludwig scheinbar mehr akzeptierte als Blanka und Richárd. Mit ihrem Ehemann hatte Mutter kaum ein Wort gewechselt seit der Hochzeit. Sie duldete ihn nur stillschweigend.

»Schön, dass auch du leidest. Teppiche sind natürlich etwas ganz anderes als ausbleibende Schwangerschaften.«