Trümmerland - Silvia Hildebrandt - E-Book

Trümmerland E-Book

Silvia Hildebrandt

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1941. Das nationalsozialistische Rumänien zu Beginn des Ostfeldzugs. Der Jungoffizier Ion »Nelu« Nicolescu bereitet sich auf den Kampf gegen die Russen vor. Bevor er an die Front versetzt wird, schwört er, seine Jugendliebe Andrada nach seiner erfolgreichen Mission zu heiraten. Aber Nelus Einheit wird unter das Kommando des deutschen Oberfeldwebels Schmidt gestellt, der seine rumänischen Untergebenen schikaniert. Aus Monaten werden Jahre und Nelu wird in der Schlacht um Stalingrad gefangen genommen. Während er in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager gefoltert wird, verliebt sich Andrada in den Bauern Cristian. Als Rumänien im Sommer 1944 die Fronten wechselt und nach und nach zu einem sozialistischen Staat umgebaut wird, werden aus alten Verbündeten Feinde, aus ehemaligen Feinden notwendige Partner. Für welche Seite entscheidet sich Nelu? Kann Andrada mit Cristian glücklich sein, während ihr Herz immer noch an einem gebrochenen Kriegsgefangenen hängt?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 495

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



TRÜMMERLAND

SILVIA HILDEBRANDT

1. Auflage 2020

ISBN 978-3-947706-24-2 (Taschenbuch) ISBN 978-3-947706-25-9 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund Korrektorat: Jana Oltersdorff - Dietzenbach Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler Konvertierung: Sabine Abels - Hamburg Karte: Wikimedia Commons

SILVIA HILDEBRANDT

TRÜMMERLAND

Zum Buch

1941. Das nationalsozialistische Rumänien zu Beginn des Ostfeldzugs. Der Jungoffizier Ion »Nelu« Nicolescu bereitet sich auf den Kampf gegen die Russen vor. Bevor er an die Front versetzt wird, schwört er, seine Jugendliebe Andrada nach seiner erfolgreichen Mission zu heiraten.

Aber Nelus Einheit wird unter das Kommando des deutschen Oberfeldwebels Schmidt gestellt, der seine rumänischen Untergebenen schikaniert. Aus Monaten werden Jahre und Nelu wird in der Schlacht um Stalingrad gefangen genommen. Während er in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager gefoltert wird, verliebt sich Andrada in den Bauern Cristian.

Als Rumänien im Sommer 1944 die Fronten wechselt und nach und nach zu einem sozialistischen Staat umgebaut wird, werden aus alten Verbündeten Feinde, aus ehemaligen Feinden notwendige Partner. Für welche Seite entscheidet sich Nelu? Kann Andrada mit Cristian glücklich sein, während ihr Herz immer noch an einem gebrochenen Kriegsgefangenen hängt?

Rumänien 1940

TEIL I

RUINEN 1941 – 1946

Kapitel 1

Mai 1941, Mihailsdorf, Kreis Timiș, Königreich Rumänien

Warum will Nelu unbedingt, dass ich mir die Augen verbinde?«

Andrada konnte es nicht lassen, an dem Stück Stoff herumzuzupfen, das ihr ihre Schwester um den Kopf legte. Für einen kurzen Moment blieb ihr die Luft weg, als sich das Leinen gegen ihre Nasenlöcher presste. Sie zerrte am kratzigen Fetzen und mit noch verschwommenem Blick schielte sie auf ihre Schuhe.

»Weiß ich nicht. Er sagte mir nur, dass ich es tun solle. Jetzt komm. Ich sehe ihn schon auf der Straße. Gleich ist er da.« Damit zerrte Nina ihre Schwester durch das geöffnete Hoftor. Ihre Hände gruben sich hart in Andradas Schultern, und sie kreischte ein »He, lass das!«, da wurde ihr die Binde auch schon wieder abgenommen.

Andrada brauchte erst einmal eine Sekunde, bis sie verstand, was sie da vor sich sah. Das Erste, dessen sie gewahr wurde, war das verschmitzte, jungenhafte Lächeln, das sie so gut kannte. Daraufhin huschten ihre Augen zu dem neuen Haarschnitt, der sich unter der Soldatenmütze abzeichnete. Und dann erkannte sie das gesamte Bild. Die Uniform, die blank polierten Stiefel, den Adler auf der Brust.

Nelus Augen wurden größer und größer, er schien etwas von ihr zu erwarten, doch ihr fehlten jegliche Worte. Endlose Sekunden verstrichen. Dann ertönte Nelus Stimme mit der weichen und herrschaftlichen Bestimmtheit, die ihm so eigen war: »Na? Hab ich dir zu viel versprochen? Du sagst ja gar nichts.«

»Ich …«, stammelte sie und trat versöhnlich einen Schritt auf ihn zu. Als wären sie ein Weltwunder, fuhren ihre Hände über die Schulterklappen, den Kragen, die Anstecknadel mit dem Hakenkreuz. »Es ist …«

»Fesch, nicht wahr?«, schmunzelte Nelu und packte sie am Ellenbogen.

»Ja … wirklich«, erwiderte sie unsicher. Irgendetwas regte sich in ihrem Gehirn. Ein nicht ausgereifter Gedanke. Ein gefährlicher, ein schmerzhafter Gedanke. Sie wollte nicht wahrhaben, was ihr Unterbewusstsein ihr zu sagen hatte.

»Komm«, bat, nein, befahl er ihr mit einem Lächeln und zog sie am Arm mit sich fort. Einen letzten Blick auf Nina werfend, trippelte sie hinter Nelus forschen Schritten her. Er bewegte sich in seiner Soldatenuniform so ganz anders als noch gestern, als sie sich in dem Wirtshaus in die Augen geblickt hatten, über drei Tische hinweg, die beiden reichsten Familien des Dorfes. Ihre Liebschaft war ein offenes Geheimnis, das die Einwohner verfolgten, als wären sie das Kronprinzenpaar.

»Nelu? Was machst du?«, fragte sie, als sie das Ortsschild ›Mihailsdorf‹ passierten und an der Straße aus Timișoara vorbei in die Wiesen und Felder einbogen.

»In einer Woche bin ich auf dem Weg nach Bessarabien. Doch bis dahin gehöre ich ganz dir.« Dieses Lächeln, wie nur er es konnte. Und diese Stimme, die ihr mit ihrem Timbre Gänsehaut bereitete, egal was er auch sagte. Er besaß nicht denselben gedehnten Akzent der anderen Rumänen im Banat, seine Worte klangen kristallklar. Er verschluckte keine einzige Silbe, so wie es die Arbeiterschicht gerne tat. Er kürzte keine Wörter ab, wie es in der rumänischen Sprache üblich war. »Astăzi« wurde bei ihm nie zu »Azi«, »este« nie zu »e«.

Bei einem Baum in der Nähe des Flusses machte er abrupt halt, und sie, überrascht von der plötzlichen Bewegung, fiel beinahe vom Fahrrad. Er schien dies geplant zu haben, denn sogleich schlossen sich seine Hände um ihre, und er zog sie an sich. Die Soldatenmütze fiel ihm vom Kopf, als er sich mit ihr auf den Boden plumpsen ließ, sie rollte einen halben Meter zur Linde und blieb dort achtlos liegen. So ein Verhalten geziemte sich für einen Soldaten der rumänischen königlichen Armee wohl nicht.

»Du bist so schön, weißt du das?«, flüsterte er und blickte mit diesen undurchdringlichen Augen in ihre.

»Wie hast du das gemacht? Das sieht aus wie ein Rasen«, lachte sie verlegen, streichelte über sein kurzgeschorenes Haar, um vom Thema abzulenken.

»So macht man das, wenn man in den Krieg aufbricht.« Auch er strich sich nun über den Kopf, setzte sich auf, und sie lehnte sich gegen ihn an seine Schulter. »Ungeziefer hat da keine Chance im Feldeinsatz.«

»Ich dachte, alles sei organisiert. Wie Arbeit. Man steht morgens auf, geht in die Schützengräben, kämpft ein paar Stunden, und dann wäscht man sich und kann sich wieder in sein Feldbett in der Kaserne schlafen legen. Wieso sprichst du jetzt von so etwas Hässlichem wie Ungeziefer?«

»Hm, nicht ganz, Mädel.« Das war das Einzige, was sie nicht an ihm mochte. Dass er sie so nannte. Mädel. Und er benutzte auch noch das deutsche Wort dafür. Da wurde er ganz zu einem von denen, verlor seinen rumänischen Stolz, den sie doch so an ihm liebte.

»Ach, egal. Ich möchte gar nicht wissen, was ihr da so macht. Das geht mich alles nichts an, und ich verstehe ja doch nichts von dem Männerkram. Sag, wann bist du wieder zurück?«

»Ich werde nicht lange weg sein. Vor Weihnachten bin ich wieder da.« Ein Kuss. Seine Lippen waren so weich, so wunderschön. »Was soll ich dir von Russland mitbringen?«

»Diese Eier, kennst du die? Die Zarenfamilie hat sie mal gesammelt. Voll mit Juwelen und Edelsteinen. Wenn man die besitzt, ist man eine Prinzessin.«

Er strich ihr über das Haar, wickelte eine Strähne um seine Finger. Mit diesem Blick sah er selbst wie ein Prinz des Ostens aus. Ihre Freundinnen sprachen so oft von seinen hohen Wangenknochen, seinen aristokratischen Augenbrauen, und das brachte sie immer zum Lachen. »Wangenknochen? Augenbrauen? Du meine Güte!«, prustete sie dann immer los, woraufhin sich ihre Freundinnen neidisch mokierten: »Du weißt ja gar nicht, was du an Ion Nicolescu hast.«

»Eier mit Juwelen und Edelsteinen?«, grinste er sie an. »Wirklich? Dafür soll ich die Tausende von Kilometern zurücklegen?« Als er seine Lippen neckisch verzog, bildeten sich diese Grübchen auf seinen Wangen. Ja, da könnte sie eine Idee davon bekommen, warum alle Frauen im Dorf neidisch auf sie waren. Dann salutierte er. »Natürlich. Für meine Prinzessin tue ich alles. Die bekommst du zu Weihnachten. Selbst, wenn ich dafür noch nach Moskau marschieren müsste. Obwohl es eher ein Geschenk für Ostern ist, nicht?« Das machte er immer. Sie ohne Vorwarnung küssen. Einfach so. Ein so nobler Unteroffizier wie er. »Und dann werden wir nächstes Jahr heiraten, ja? Andrada«, sprach er sie dann an, ernster, ein Glimmen in seinen Augen, »ich liebe dich. Das weißt du doch hoffentlich? Ich freue mich so auf meinen Einsatz in Russland. Freue mich, unseren Führern, Mareșal Antonescu und Herrn Hitler, zu dienen. Freue mich, es den Russen zu zeigen. Aber alle Ehren, die ich bekommen werde, alle Orden und Auszeichnungen, die widme ich nur dir, Andrada.«

Das machte sie ganz verlegen. Sie spürte, wie ihre Wangen aufflammten. Du meine Güte, Nelu konnte wirklich ein Charmeur sein. Wenn er wollte. »Aber was mache ich all die Monate ohne dich?«

»All die Monate ohne mich? All die Monate?« In seinem Lächeln lagen Liebe und Spott und diese so eigenartige Wut, die bei ihm manchmal durchkam. Ja, die Rumänen waren ein temperamentvolles Volk. Launisch wie das Wetter in ihrem Land, ihre Geschichte so wechselvoll wie die Gewässer der Donau. »Ich sagte doch, ich bin lange vor Weihnachten zurück. Alle sagen, im Oktober werden wir den Russen eingenommen haben. Und es ist ja bereits Mai. Du glaubst doch nicht etwa, dass wir länger brauchen?«

Ein getrockneter Grashalm pikste sie am Ohr, die Sommerhitze der Flachebene der banatischen Puszta trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, verklebte sie mit Nelu.

»Nein, das glaube ich nicht. Aber einen Tag von dir getrennt zu sein, ist schon ein Tag zu viel.«

»Vai, Mädel«, grinste er dann, in seinem deutsch-rumänischen Kauderwelsch, »aber du gönnst mir doch meinen Ruhm, nicht? Mein ganzes Leben schon träume ich von diesem Tag. Mich zu beweisen, etwas Großes zu leisten.«

»Ich weiß. Ich bin auch sehr stolz auf dich«, seufzte sie. »Ich möchte lieber heute als morgen schon Frau Nicolescu Andrada heißen.«

»Hm«, lächelte er, strich ihr das Haar hinter die Ohren. »Das wirst du auch bald. Nicolescu Andrada. Frau Nicolescu. Und nicht Nicolescova, wie es der Russe will. Dafür werde ich sorgen. Dass du eine stolze Rumänin bleibst, meine Frau. Niemand wird uns das Rumänische nehmen. Weder Moskau noch Berlin.«

»Und? Ihr habt doch …, nicht wahr? Erzähl mir nichts. Ich weiß ganz genau …«

Andrada schnitt Nina das Wort mit einem Winken ihrer Hand ab. Das hatte sie von Nelu gelernt: Dummes Geschwätz im Keim ersticken. Niemand konnte das so gut wie er. Er brauchte kein Wort, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Und in so einem Dorf wie dem ihren redeten die Leute sehr viel, wenn zwei junge Menschen sich ineinander verliebten.

Als sie jedoch in ihrem Zimmer allein war, befielen sie eine dumpfe Leere und Traurigkeit. Weswegen? Irgendwie schmerzten sie Ninas Worte. Nicht, weil sie so aufreizend und aufdringlich waren, nein. Sondern weil sie der Wahrheit entsprachen. Wie gern würde sie … ach nein, jetzt dachte sie schon wie diese furchtbaren Frauen vom Rande des Dorfes, wie diese Zigeunerinnen, die für jeden Mann die Beine breit machten. Nein, sie war nicht so eine. Sie gehörte dem alten Adel von Mihailsdorf an, eine Baronstochter mit einem riesigen Gehöft und etwa zehn Untergebenen. Aber die Vorstellung, heute mit Nelu …

Schon wieder brannten ihre Wangen.

Nächstes Jahr, vertröstete sie sich. Nächstes Jahr ist der Russe zurückgedrängt, der Krieg aus. Nächstes Jahr würden sie heiraten und dann hoffentlich schon bald ihr erstes Kind erwarten. Mit einem tiefen Seufzen blätterte sie den Wandkalender, der neben ihrem Schminkspiegel hing, durch. Juni, Juli, August, September, Oktober, November, Dezember und dann Januar. Ein neues Jahr. So schnell ging das. Kein Grund, ungeduldig zu sein.

»Drada? Kommst du essen, Drada?«, rief ihre Mutter sie aus der Küche heraus.

Seitdem sie und Nelu ein Paar geworden waren, hasste sie ihren Spitznamen, der dadurch entstanden war, dass sie sich als Kleinkind selbst so benannt hatte. Nie hatte Nelu sie so genannt, es auch nie in Erwägung gezogen. Für ihn war sie immer »Andrada«, keine Silbe weniger. Jeder einzelne Buchstabe glitt ihm sorgfältig über die Lippen, wie alle Worte der rumänischen Sprache. Dafür war er über die Grenzen ihres Dorfes bekannt, ja, manchmal wurde er dafür sogar verspottet.

»Ich komme«, rief sie herunter und klappte ihr Tagebuch zu. Nicht viel hatte sie darin geschrieben. Nur immer wieder ein und denselben Namen, in verschiedenen Varianten. Nelu. Ionel. Ion. Ioane. Nicolescu Ion Valerian.

Es gab Gemüsesuppe mit Hackfleischbällchen, egal ob im Sommer oder im Winter, immer gab es Suppe. Ciorbă de perișoare. Der Baron, ihr Vater, war einer der wenigen, die noch Fleisch zugeteilt bekamen im Krieg. Sie wusste, sie müsste dankbar dafür sein, aber langsam hing ihr die warme Brühe zum Hals heraus.

Sie beteten schon lange nicht mehr, stumm löffelten sie ihre Suppe aus. Vater war im Heimeinsatz, unterstützte in der großen Stadt Timișoara den Nachrichtendienst der Armee.

»Und? Wie war dein Tag, Drada?«, fragte ihre Mutter sie.

»Gut«, antwortete Andrada mit vollem Mund.

»Sie hat Nelu getroffen«, platzte dann Nina heraus.

»Du Biest!«, zischte sie.

»Ich sag ja nur.«

»Mädchen. Bitte. Nicht streiten.« Ihre Mutter hob beide Hände und beschwichtigte sie damit. Wieder schweigendes Suppenlöffeln. Andradas Wangen waren inzwischen in Flammen aufgegangen. »Es ist wahr«, bestätigte sie schließlich. Es wusste ja doch jeder hier im Dorf, dass sie miteinander verbandelt waren. Und es war ja nicht so, als sähe man es nicht gern. Die Baronstochter und der noble Erbe einer Offiziersfamilie. Was gab es Besseres? »Nelu sendet dir seine Grüße, Mama«, fügte sie dann diplomatisch hinzu.

»Sag ihm, es hat mich gefreut.« Auch die Wangen ihrer Mutter glühten. Niemand konnte dem Charme des jungen Nicolescu entfliehen. »Wie geht es ihm? So kurz vor seinem Kriegseinsatz?« Es hatte sich bereits herumgesprochen. Nelu selbst war auf dem Marktplatz aufgetaucht, stolz in seiner Paradeuniform, hatte alle über seinen Einsatzbefehl informiert. Mit zweiundzwanzig Jahren war es auch höchste Zeit.

»Gut. Es geht ihm ausgezeichnet. Er brennt darauf, sich zu beweisen. Wette, er kommt als Colonel zurück. Oder zumindest als Maior.«

»Mit zweiundzwanzig?« Ihre Mutter hob die Augenbraue. »Eher unwahrscheinlich.«

Andrada wusste nicht viel über die Ränge im Militär. Was war mehr wert? Colonel oder Maior? Wen kümmerte es schon, wenn Nelu so schön lächelte, so adrett in seiner Uniform aussah, ihr die Sterne vom Himmel versprach?

»Aber ich werde für ihn beten, dass er heil zurückkehrt«, fügte ihre Mutter noch hinzu.

»Er möchte mich nächstes Jahr heiraten«, brachte sie dann heraus.

»Wirklich? Hat er das gesagt?«, blökte Nina.

»Er sagte, ich werde bald Frau Nicolescu. Und nicht Nicolescova, wie es der Russe gern will. Dafür sorge er. Das waren seine Worte.« Andrada reckte ihre Nase in die Luft.

»Was hat er nur gegen die Russen? Als ob der werte Herr Hitler der Messias wäre.«

»Nina!« Empört erhob ihre Mutter die Stimme.

»Ich sag ja nur. Diese Theorie von den Sowjets … ich muss schon sagen, das hat was.«

»Nina«, tadelte sie Mutter. »Du bist genauso wie Cristi.«

Cristi – Georgescu Cristian – war ihr Cousin zweiten Grades. Und er machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für den Sozialismus. Und Nina machte keinen Hehl aus ihrer Schwärmerei für Cristian.

»Was findest du nur an diesem Kerl?«, fragte Andrada später, als sie und Nina den Abwasch erledigten, während ihre Mutter im Hof Holz für den nächsten Tag hackte.

»Cristi?« Nina sah auf, blickte verträumt zu den Kacheln der Küche, als wäre es das Schönste der Welt.

»Ja, der.«

»Nun, er ist sehr zuvorkommend, arbeitet hart, widmet sich einer Sache voll und ganz. Manchmal spielt er mir auf seiner Gitarre etwas vor. Wer kann da schon widerstehen? Er ist einer dieser seltenen Männer, die ihre Freundin auf Händen tragen würden. Und er hat Humor. Was man von deinem Nelu nicht gerade behaupten kann.«

»Nelu macht keine albernen Sachen, das ist unter seiner Würde«, verteidigte Andrada ihren Freund. Aber es kam mürrischer heraus als beabsichtigt. Einige Male waren sie zu viert im Jagdhaus etwas trinken gewesen. Sie mit Nelu und Nina mit Cristian. Während Nelu stumm da saß, seine Hand in Andradas Schenkel krallte, machte Cristi den Abend mit seinen lebendigen Erzählungen zu einem unvergesslichen Erlebnis. Sie hatte Tränen gelacht.

»Würde …«, murmelte Nina. »Tatsächlich ist Nelu sehr würdevoll, aristokratisch. Und er sieht verdammt gut aus. Aber ich habe ihn lieber auf ein paar Meter Entfernung. Möchte nicht wissen, wie es ist … wenn man ihm zu nahe kommt«, kicherte sie.

Erst nach ein paar Augenblicken verstand Andrada, was Nina andeuten wollte, und spritzte sie mit dem Schaumwasser voll.

»Du Biest! Weißt du was, ich kann es kaum erwarten, dass wir uns zu nahe kommen. Wenn er erzählt, dass er unbedingt einen Sohn haben möchte, und zwar bald, dann …«

»… dann läuft es dir kalt den Rücken herunter. Ja, kann ich verstehen.«

»Nein, dann krieg ich so ein wohliges Gefühl im Bauch. Und alles ist so leicht und so süß. Als würde ich schweben.«

»Du bist tatsächlich in ihn verliebt. Na ja, wenigstens heißt Mama deine Beziehung zu ihm gut. Du würdest nicht unter deinem Stand heiraten, hm?«

»Sagt sie das wegen Cristi?«

Nina blies sich eine Locke, die ihr ins Gesicht fiel, von der Stirn. »Er gehört nun mal dem berühmt-berüchtigten ärmeren und abtrünnigen Zweig der Familie an.«

»Aber in der Vergangenheit ist es schon öfter vorgekommen, dass jemand aus unserer Familie jemanden der Georgescus geheiratet hat. Mamas Schwester ist mit einem verheiratet.«

»Deswegen ist sie ja auch die komische Schwester.«

Andrada seufzte schwer. »Ach, mach dir nichts draus. Es ist ja ohnehin so lächerlich. Als wären wir Mitglieder der Königsfamilie. Dabei ist das hier nur ein kleines Dorf.«

»Cristi sagt, wenn sich der Sozialismus durchsetzt, dann gibt es das nicht mehr. Stände und Klassenunterschiede. Dann sind wir alle gleich. Keine Herrscher und Beherrschten, nur Genossen.«

»Pst!« Andrada wedelte wild mit den Armen herum. »Bist du verrückt geworden? Warum sagst du so etwas Gefährliches? Das darf man doch nicht!«

»Was?«, spöttelte Nina. »Verpfeifst du mich jetzt an Nelu?«

»Was, wenn ich das mache?«

Zuerst lächelte Nina noch schüchtern, dann gefror ihr Lächeln zu einem starren Ausdruck der Angst. Die Luft in der Küche wurde heißer und stickiger. Die Anspannung war so dicht, dass man sie hätte mit einem Messer schneiden können. Doch dann prustete Andrada los. »Du hast ernsthaft geglaubt, ich mach das? Meine Schwester verpfeifen. Oh, Nina!« Sie umarmte sie, drückte sie an sich, schüttelte lachend den Kopf.

Nina jedoch blieb regungslos stehen, sah ihre Schwester nicht an.

Sie ging früh zu Bett an diesem Tag, ohne noch Gute Nacht zu sagen.

»Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Ich musste in der Militärpräfektur etwas erledigen.«

»Ach, das macht doch nichts. Jetzt bist du ja da«, winkte sie Nelu ab.

Andrada war erboster, als sie zugeben wollte. Drei Stunden hatte er sie warten lassen, und das machte er sonst nie. Glühend vor Wut und auch vor Eifersucht war sie in ihrem Zimmer auf- und abmarschiert, hatte jede Minute aus dem Fenster auf die Straße gestarrt, war nach zwei Stunden auf den Gehweg gewechselt und hatte die Strada Carpatii hinab gestarrt, wie die alten babele, die sich auf ihren Stühlen, das Kinn auf ihren Spazierstock gestützt, positionierten und die Einwohner des Dorfes beobachteten. Aber wie er da vor ihr stand, sie aus treuherzigen Augen ansah, über sein Fahrrad gebückt wie ein kleiner Welpe, der wusste, dass er etwas angestellt hatte, da verflog ihre Empörung. Er trug wieder seine Uniform. Sicher musste er darin in Timișoara Rapport geben und sich zeigen. Jeder Faden in jedem einzelnen Knopfloch saß, die Mütze gerade auf seinem Kopf, als könnte kein Windstoß sie hinab fegen. Wie ein Prinz. Und so nannte man Nicolescu Ion Valerian auch. Der Kronprinz von Mihailsdorf. Der begehrteste Junggeselle im Banat. Und er gehörte ihr, Andrada. »Du bist doch nicht etwa nach Timișoara geradelt?«

»Nein, Mädel. Dafür wird man vom Militärwagen abgeholt«, antwortete er, und das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Jetzt war er wieder der tadelnde Vater. Hatte sie etwas Dummes gesagt? Sie wollte ihn doch nur erheitern, einen Witz machen. Dann wieder der schillernde Ton zwischen Lachen und Befehlen, zwischen Schwarm und Freund, so vielschichtig wie die Farbe seiner Augen: »Komm. Setz dich hinten auf.«

Sie klemmte ihr rot geblümtes Kleid zwischen die Knie, als sie sich auf den Gepäckträger setzte. Mit ihren Händen seinen Bauch zu umschließen, fühlte sich ein wenig wie Sünde an. Er jedoch drückte ihre Hände fester an sich, und dann fuhr er mit einem Ruck los. Sie hatte sein Parfüm in ihrer Nase. Kölnisch Wasser. Das gab es nur in der Stadt.

Gerade, als es unangenehm wurde, auf dem Träger zu sitzen, erreichten sie ein Jagdrestaurant außerhalb des Dorfes. Nelu nahm sie bei der Hand, zärtlich, aber fordernd, jedem zeigend, dass sie ihm gehörte. Er manövrierte sie zu einem Tisch, den er offensichtlich reserviert hatte. Es waren kaum Leute zugegen, dennoch hatte er es nicht drauf ankommen lassen.

Sich setzend wie ein General in voller Würde, nahm er seine Mütze ab und winkte einen Kellner herbei. Nelu fragte sie nicht, was sie wollte. Bestellte für sich ein Bier und für sie ein Glas Wasser. Nun, sie hätte gerne etwas anderes getrunken als Wasser, aber sie liebte seine männliche, bestimmende Art. Doch dann, als der Kellner ihre Bestellungen brachte, leuchteten ihre Augen auf. »Mineralwasser!«

»Ja, was denkst denn du? Dass ich für dich nur simples Brunnenwasser bestelle? Das kriegst du auch daheim.«

Die Perlen blubberten in ihrem Mund, kribbelten im Hals. Wenn sie die Augen schloss und den harzigen Geruch des Waldes einatmete, konnte sie so tun, als würde sie Schaumwein trinken.

»Das ist der einzige Laden, wo man ausdrücklich nur Rumänen und Deutsche bedient«, murmelte er, die Zigarette in seinem Mundwinkel wippte auf und ab. »Eine Schande. Dieses Ungarnpack muss auch überall antanzen.«

Sie hatte nicht viel mit den Ungarn zu tun, also zuckte sie nur mit den Achseln. Die bozgorii, wie man sie auch abschätzig nannte, wohnten in der Nähe des Parks Elisabeta, und es gab keinen anderen Weg als durch ihr Viertel, wenn man etwas im Grünen flanieren wollte. Dann musste man durch den Kinderlärm ihrer Großfamilien hindurch. Egal was sie auch sagten, ihre Sprache hörte sich immer wie Kriegsgeschrei an. Andrada waren die Ungarn nicht geheuer.

»Aber ich sag dir, schon bald wird hier aufgeräumt«, fuhr er fort. »Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, beseitigen wir die Trümmer und ordnen das Land neu. Dann gibt es nur noch uns Rumänen. Und, na ja, die Deutschen. Aber keine Ungarn, keine Zigeuner und sicherlich keine Juden mehr. Meine Söhne sollen in einem freien und sauberen Rumänien aufwachsen.«

Dazu konnte sie nicht viel sagen. Die verschiedenen Nationalitäten ließen sich weitestgehend in Ruhe, also hatte sie nicht viel mit denen am Hut.

Er rückte mit seinem Stuhl näher an sie heran und drückte seine Hand gegen ihren Bauch. Es tat ein wenig weh. »Im Januar heiraten wir. Und dann kommt hoffentlich bald unser erster Sohn zur Welt, nicht wahr? Lass uns keine Zeit verschwenden.«

Sie lachte lauthals auf. »Oh, und hast du auch schon einen Namen für unseren ersten Sohn, du?«

»Tiberiu«, erwiderte er, und sie brauchte einige Zeit, um zu merken, dass er es ernst meinte.

»Wie bitte?«, stammelte sie, ihr Mund war plötzlich trocken. Seine Hand drückte sich fester in ihren Körper, schnürte ihr die Luft ab. Es war nicht unangenehm.

»Tiberiu«, wiederholte er. »Ich habe diesen Namen schon länger ausgesucht. Ein Name von Kaisern und Königen. Jeder soll wissen, dass er einen Nicolescu vor sich hat. Wir sind nicht irgendwer.«

Verlegen sah sie zu Boden. »Meinetwegen.«

»Noroc«, prostete er ihr zu und erhob sein Bierglas.

Mit glühenden Wangen trank sie ihr Wasser in einem Zug halb aus.

Sie musste sich an die Worte ihrer Mutter erinnern: »Du bist wunderschön. Du kommst aus einem noblen Elternhaus. Du bist klug und gebildet, bist in Timișoara zur Schule gegangen. Höre nicht auf das Gerede der anderen Mädchen. Auch wenn du mit achtzehn noch nicht verheiratet bist, das macht nichts, solange du nur Nicolescus Frau wirst. Niemand Geringerer als er ist deiner würdig.«

Seit sie denken konnte, hatte sich ihre Mutter an die Fersen der Nicolescu-Familie geheftet, sie in der Kirche gegrüßt, ihr breitestes Lächeln gezeigt, wenn sie sich zufällig in der Stadt trafen. Hatte ihren Arm besonders lange zum Hitlergruß erhoben, sobald sie Nelu und seine Eltern irgendwo getroffen hatte. Sie wusste ja nicht, dass sie nicht die Kupplerin zu spielen brauchte. Längst waren sich Andrada und Nelu nähergekommen. Zuerst in Timișoara, nach der Schule, als sie über die Piața Operei schlenderten, und dann hatten sie sich auch an den Wochenenden in ihrem Dorf miteinander verabredet. Als spielende Kinder, dann als verliebte Jugendliche. Als sie den ersten Flaum auf Nelus Oberlippe erblickt hatte, konnte sie nächtelang nicht mehr schlafen, musste nur an ihn denken, und etwas wühlte sie in ihrem Inneren auf, verursachte eine angenehme Übelkeit.

Den ersten Kuss gab es vor einem Jahr, zum Herbstball. Er hatte sie vor allen beiseite gezogen, war durchs Mondlicht mit ihr spaziert. Und dann drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen, fast geschäftsmäßig. Doch sie hatte das Gefühl gehabt, als müsse sie vor Freude zerspringen. »Ich werde dich heiraten, Andrada«, verkündete er, seine Hand hatte sich in das Fleisch ihres Armes gegraben. »Du wirst meine Frau. Aber ich kann dich nicht jetzt schon heiraten, nicht bevor ich mich bewiesen habe als junger Offizier.«

»Wir gehen jetzt, Andrada.« Seine Stimme riss sie aus ihren Tagträumen.

»Ja, sicher«, stammelte sie und erhob sich.

Den gleichen Weg zurück, an den Feldern der Bauern entlang, der Eisenbahnlinie folgend, fuhr Nelu Richtung Friedhof. Er hätte auch einen anderen, einen weniger unheimlichen Weg nehmen können, aber jedes Mal fuhr er an den Gräbern vorbei, bog dann an der ungarischen und rumänischen Kirche auf die Hauptstraße und hielt vor ihrem Anwesen in der Strada Adolf Hitler, die früher Königstraße hieß.

»Du verabschiedest dich doch noch von mir? Morgen ist mein letzter Tag, dann bin ich auf dem Weg nach Russland«, sagte er, die Hände lässig in den Hosentaschen seiner Uniform.

»Sicher«, bestätigte sie, versteckte ihr erhitztes Gesicht hinter ihren Händen. Morgen war es also so weit. Ein Abschied auf Zeit. Sie vermisste ihn jetzt schon, seine Abwesenheit grub ein tiefes Loch in ihr Innerstes, auch wenn er noch vor ihr stand.

»Sei vor dem Rathaus um null achthundert.«

»Null achthundert?«

»Acht Uhr in der Früh.« Er hob eine Augenbraue, blickte sie an, als ob sie ein Kind wäre.

»Null achthundert. Verstanden. Ich werde da sein, Nelu.«

Er salutierte. Dann schwang er sich jedoch noch nicht gleich aufs Rad, sondern sah sie eindringlich an. Was ging in seinem Kopf vor? Das fragte sie sich andauernd. Und dieses Unnahbare machte auch die Faszination des Nicolescu Ion aus. Er hatte den Zauber einer lebend gewordenen Statue, ein Mensch, nicht von dieser Welt. Selbst wenn er witzelte und lächelte, wirkte er wie ein Mitglied der Königsfamilie, wie jemand, der nicht einfach so mal grinst. Der nicht geht, sondern schreitet. Nicht redet, sondern rezitiert.

»Andrada.« Das war sein Abschiedsgruß.

»Nelu«, hauchte sie und winkte ihm zu, bis er hinter dem Rathaus verschwand.

* * *

Cristian wurde von der brennenden Sonne aufgeweckt. Seine Knochen schmerzten, als er sich reckte und aufstehen wollte. Die Schirmmütze rutschte von seinem Kopf, und da knallte ihm das Leuchten der Sonne mit voller Wucht ins Gesicht.

Wie konnte man nur so dumm sein! Er war in der Schaufel seines Traktors eingeschlafen wie in einem Bett, der Oberkörper entblößt, ohne den schützenden Schatten eines Baumes hatte er sich hingelegt – nur für fünf Minuten! – und war dann weggepennt. Wie lange mochte er geschlafen haben? Nun, lange genug. Denn als er seine Hände auf seine Brust legte, schmerzte seine gerötete Haut. Die Hitze hatte ihn erwischt, und als er aufstand, drehte sich alles um ihn herum.

Torkelnd wankte er zum Brunnen, kippte einen Eimer Wasser über seinen Kopf und musste sich gegen den Brunnenrand lehnen, um sich nicht zu übergeben.

Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Krümmte sich, schüttelte den Kopf, die Tränen stiegen ihm in die Augen. Er winkte seinen Kameraden – Genossen, wie sie sich heimlich nannten – zu, als er sie am Wegesrand von ihrer Mittagspause kommen sah, die Mistgabeln und Schaufeln über die Rücken tragend.

»Heh, Cristi, was ist so witzig? Wir wollen auch mitlachen«, rief ihm Octavian, sein Freund, zu.

»Was so witzig ist? Guck mich doch mal an«, gluckste er.

»Ah, sehe schon. Mal wieder eingeschlafen. Na, was willste denn machen?« Octavian kramte eine Flasche Schnaps aus seinem Rucksack, schenkte ihm und Cristian je ein kleines Glas ein. Cristian nahm die Erfrischung dankbar an. Die glasklare Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, ließ seine Haut noch mehr aufflammen und linderte den Schmerz gleichzeitig. Țuică. Schmerz und Glück. Das rumänische Nationalgetränk, brutal und tröstend zugleich. Ein schmaler Grat zwischen feuchtfröhlicher Heiterkeit und aggressiver Melancholie.

»Hab gehört, morgen brechen die Soldaten nach Bessarabien auf«, sagte Octavian und ließ den Brunneneimer wieder ins Wasser knallen.

»Hm, und?« Cristian hasste das Thema. Die Schwester seiner Freundin Nina war in einen der Wehrmachtssoldaten verliebt, in diesen Nicolescu, den arroganten Schnösel. Und trotz der Familienbande war die Wehrmacht der ideologische Feind, wenn auch der heimliche.

»Hast ganz schön geschwindelt mit deinem Bein, als die zur Musterung da waren, ne?« Octavian knuffte ihn in die Seite.

»Ach wo, die Schweine verdienen es nicht anders, als dass man sie betrügt. Nie werde ich für die Braunen kämpfen, ich bin ein Roter durch und durch«, flüsterte er, wohlbedacht, dass die andere Gruppe Bauern nicht mitbekam, was er sagte. Er konnte sich beinahe sicher sein, dass auch sie die sozialistische Bewegung unterstützten, jedoch – was war schon sicher? Tag für Tag musste er seine Hoffnung irgendwie aufrechterhalten, dass die Wehrmacht in Russland scheiterte, dass sich Stalin doch noch als Sieger in diesem Krieg hervortat und die Staaten nach und nach sein Regierungsmodell als Vorbild nahmen. Die Revolution würde auch noch auf Rumänien übergreifen, dessen war er sich sicher, auch wenn die lackierten Nazi-Affen noch so stolz durchs Dorf marschierten und ihre geleckten Stiefel herzeigten.

»Ich musste dir fast das Knie brechen, damit sie dich nicht einziehen«, lachte Octavian. »Wie blöd kann man denn sein?«

»Blöd? Das nenne ich nicht blöd. Das ist klug. Für die Weltrevolution ist mir kein Risiko zu hoch.«

»Und tust du für die Weltrevolution auch noch etwas anderes, als dich grün und blau schlagen zu lassen?« Octavian kramte aus seiner Tasche eine Streichholzschachtel und eine Packung Zigaretten heraus, bot eine Cristian an. Wie brüderliche Genossen teilten sie sich die Ausgaben für die Genussmittel. Nichts gehörte jemandem allein. Man kaufte für die Gemeinschaft ein, konsumierte nichts allein im stillen Kämmerchen. Alles blieb verschlossen an einem Ort, der allen gehörte.

»Und was haben die davon? Wette, nicht einmal die Hälfte kommt lebend zurück. Oder noch mit allen Gliedmaßen.«

»Du wirst immer so unvorsichtig, wenn du trinkst. Weißt du nicht, was man mit denen macht, die so dumm daherreden wie du?« Octavian riskierte einen Blick auf die Bauern, die sich nun an den Kartoffelacker machten.

»Was soll mit denen schon passieren? Krieg ich halt ’ne Ohrfeige, und wenn schon.«

»Sei dir mal nicht so sicher. Komm.«

Der Sonnenbrand schmerzte den ganzen Tag über, sodass er sich doch noch sein Hemd überstreifen musste. Am Abend war er reif, sich mit all seinen verschwitzten Klamotten aufs Bett zu werfen, aber er hatte noch seine wöchentliche Pflicht zu erledigen. Das Treffen in Octavians Haus. Die Versammlung des sozialistischen Komitees, wie sie es nannten.

»Genossen.«

Die Anrede entflammte seine Leidenschaft, brannte wie guter Schnaps in seinem Körper. So sollte es sein. Das war das Leben. Die Befreiung des Proletariats und der Bauern. Nicht mehr unter einer Fuchtel stehen, weder den Monarchisten noch diesem hässlichen Mareșal Antonescu dienen. Sein eigener Herr sein. Niemand hat mehr die alleinige Macht und Unmengen von Kapital für sich allein. Niemand erhebt sich mehr über den anderen. Ein freies Rumänien.

»Darf ich bitte unseren nächsten Redner, den allseits geschätzten Genossen Tănase, ans Rednerpult bitten?«

Vorsichtiger Beifall brandete auf. Trotz allem waren die Wände dünn, die Fenstergläser durchlässig, der Verrat, den sie den Nazis zufolge mit ihrer Versammlung begingen, drang durch alle Ritzen nach draußen. Jemand mochte genau im falschen Moment vorbeilaufen, das falsche Wort aufschnappen. Und doch verzichtete man nicht auf die Anrede, auf den Stolz. Sollte das Nazipack doch kommen. Was vermochten die ihnen schon anzutun? Mehr als herumstolzieren wie ein eitler Pfau konnten die ja nicht.

»Durch meine Beziehungen zu einem befreundeten Ukrainer«, begann also Genosse Tănase seine Rede und ordnete etwas nervös seine Blätter auf dem Tisch vor sich, den man als Pult bezeichnete, »bin ich zu einer Einschätzung des weiteren Kriegsverlaufs durch die russische Nachrichtenbehörde gekommen. Der geplante Ostfeldzug wird wohl katastrophal für uns enden. Nie und nimmer sind sie bis zum Winter zurück. Aber an Überheblichkeit mangelt es keinem. Soldaten werden nicht mit genug warmer Kleidung ausgestattet. Sie werden im kalten russischen Winter erfrieren, nicht einmal richtige Stiefel stellen Hitlers Generäle für sie bereit. Die Soldaten werden in Pferdewagen durch die Steppe gekarrt. Nichtsdestotrotz schließen sich unsere Männer noch immer der elften deutschen Armee an und werden auf Sewastopol zumarschieren. Das muss aufhören. Man wollte uns die letzten Monate etwas anderes weismachen, nämlich dass Deutsche und Rumänen siegreich Seite an Seite jubeln würden. Aber dem ist nicht so. Hitler sieht unsere Regierung nicht als Verbündete, sondern als Fußvolk, Sklaven. Wie viel sind wir noch bereit, Hitler zu opfern? Wie lange können wir es noch zulassen, dass der Deutsche unser Volk verheizt?«

Ein Raunen erhob sich in der Gruppe. Man hatte es geahnt, aber dass es so schlimm kommen konnte, das hatte man verdrängt.

»Ist das nicht Propaganda von russischer Seite aus?«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund. Liviu, der Student, der dachte, er wüsste alles besser, nur weil er in Timișoara auf die Universität ging. Alles hinterfragen, selbst die eigene Existenz. Das sah den Schlaubergern ähnlich.

»Gut möglich. Aber manche Augenzeugenberichte können nicht täuschen«, fuhr Tănase ernst fort und schmiss einige verwackelte Photographien auf den Tisch. »Diese Bilder beschreiben solche Gräueltaten, von denen Răzvan immer erzählt.«

»Răzvan ist der Dorfidiot, und außerdem ist der Rumänisch-Ungarische Krieg schon Jahre her«, meldete sich wieder Liviu zu Wort. »Sieh ihn doch einer an, wie der manchmal vor dem Dorfladen liegt, sabbelt und bettelt.«

»Aber erst seit er aus dem Krieg zurück ist«, murmelte Cristian so, dass nur Octavian es hören konnte. Dieser schnaubte verächtlich, und Cristian wusste, wem dieses Schnauben galt: Liviu. Schon seit er zum ersten Mal Interesse an den Treffen ihrer Gruppe bezeugt hatte, kam er ihnen verdächtig vor.

»Aber was soll man tun?«, fragte ein Bauer aus dem Nachbardorf, den Cristian kaum kannte. »Rumänien ist Nazi-Land. Wir sind verbündet mit Hitler. Unsere Freunde, unsere Nachbarn, ja, manchmal sogar unsere Söhne tragen das Hakenkreuz auf der Brust. Wir sind umzingelt vom Feind. Ja, eigentlich sind wir der Feind in unserem eigenen Land.«

Und da brandeten die Empörung, die Verzweiflung, die Angst und die Hilflosigkeit, die seit dem Anschluss das Land vergiftet hatten, durch die Versammlung. Tănase hatte alle Mühe, wieder Ruhe und Ordnung unter die Anwesenden zu bringen: »Genossen. Genossen, ich bitte euch. Denkt an unsere gemeinsame Sache. Bitte. Genossen!«

Langsam wurde es stiller. Tănase räusperte sich, seine Hände krampften sich um seine Blätter. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Tatsächlich war es noch am Abend schwül, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht, die zusammengepressten Lippen, die gesenkten Augen, die pochende Ader an der Schläfe, verrieten Tănase. Er war nervöser, als es den Anschein hatte. Sein Anliegen erforderte mehr Opfer, als er zugeben wollte. »Wir befinden uns in einer sehr heiklen, ja gefährlichen Mission. Sollte jemand wissen, was wir hier tun, sind wir geliefert. Sie schrecken vor nichts zurück. Wenn einer eurer Söhne ein Nazi ist, so glaubt mir, er wird euch verraten.«

»Aber …«, hörte man vereinzelt.

»Nichts aber. Es wird so sein. Das sind eiskalte Mörder. Sie verraten die eigenen Eltern, die eigene Liebste liefern sie an den Galgen.«

Auf einmal war es totenstill im Raum.

»Nur eine Sache bleibt uns noch. Die denkbar schwerste Lösung. Aber wenn ihr morgen noch leben wollt, dann müssen wir diesen schweren Weg gehen.« Tănase biss sich auf die Lippen. »Wir müssen ihnen zuvorkommen. Sie mit den eigenen Waffen schlagen. Seid wachsam und seid auf der Hut. Wir müssen unsere eigene Verteidigungsarmee an der Heimfront auf die Beine stellen. Diejenigen, die uns Böses wollen, mundtot machen.«

»Dann sind wir nicht besser als sie«, warf Liviu ein.

»Dann soll es so sein. Es ist reine Notwehr. Wir müssen ein Informations-Netzwerk auf die Beine stellen. Uns gegenseitig unterstützen. Immer die Augen offenhalten. Eine Armee ist wichtig, aber wir sind noch zu wenige, bis der Russe endlich den Deutschen besiegt. Bis dahin brauchen wir unsere eigene Sicherheitsorganisation. Ich bitte euch, Genossen. Dies ist unser Krieg in der Heimat. Dies ist unser Dienst am Vaterland.«

So wechselvoll wie das Wetter auf dem Balkan, so launisch reagierte das Publikum heute, als man zum ersten Mal nicht nur irgendwelche Theorien über die Verteilung von Ackerflächen und Feldern diskutierte, die irgendein Deutscher mal in einem Buch aufgestellt hatte. Dies war eine ernste Sache. Und Tănases Vorschlag wurde mit Applaus begrüßt, mit Tränen in den Augen, es wurde auf den Tisch gehauen, zugeprostet.

Doch obwohl Octavian begeistert Beifall klatschte und ihn immer wieder dazu aufforderte, nun endlich auch etwas zu tun, hielt Cristian die Arme vor der Brust verschränkt.

Etwas an diesem Abend war ihm nicht ganz geheuer. Er konnte nur noch nicht sagen, was.

»Heh, bist du nur ein Kriegsdienstverweigerer und eine Schlafmütze oder ein echter Genosse?«, neckte ihn Octavian auf dem Nachhauseweg, als die Grillen zirpten, der dampfige Dunst eines Sommertages noch in der Luft lag und es im Zentrum nach Motoröl roch. »Oder bist du einer von den christlichen Königsanhängern, hm? Immerhin heißt du ja so wie deren Gott, nicht wahr?«

»Ich bin kein Christ!«, gab Cristian empört zurück. »Warum denkst du so etwas von mir, wenn ich nicht alles von Tănase abnicke?«

»Wir leben in gefährlichen Zeiten, Cristi. Ich sorge mich nur um dich.«

»Das, was Tănase vorschlägt, das sind Nazi-Methoden. Seinen Nächsten ausspionieren, verraten, ans Messer liefern. Dann tun wir das Gleiche wie sie.«

»Jetzt hörst du dich wie Liviu an«, lachte Octavian und nahm ein wenig von der Spannung des Abends. Vorsichtig gab er Cristian einen freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. »Komm, trink ein Bier und leg dich dann ins Bett. Der Sonnenbrand hat dir wohl das Hirn vernebelt.«

»Ja, du-te Dracu!« Cristian spuckte auf den Boden, kramte in seinen Hosentaschen nach den Schlüsseln, als er vor dem Tor seines Hauses ankam. »Sehe dich morgen«, verabschiedete er sich von seinem Freund und verschwand dann in seinen Hof, überschwänglich vom Bellen seines Hundes begrüßt. Und zu Hause tat er genau das, was Octavian ihm geraten hatte: Ein Bier trinken und sich dann ins Bett legen. Eine Weile klimperte er noch auf seiner Gitarre herum, aber eine schöne Melodie wollte ihm heute nicht einfallen. Und die Worte, die er in seiner Müdigkeit und seiner Angetrunkenheit erfand, wollten ebenfalls nicht passen. »Es gibt sie nicht mehr, die freien Berge und Täler, das freie Meer und die freien Städte. Die Flüsse fließen nicht mehr durch unser Land, die Sonne ist verdunkelt. Wer schiebt sie weg, die Wolken, wer bricht den Damm, wer nur, wer?«

Den Militärwagen mit den Wehrmachtssoldaten beobachtete Cristian aus der Ferne, auf seine Mistgabel gestützt, in der Ebene seines Feldes. Mit einem Grummeln hob er seinen Flachmann in Richtung des tuckernden Gefährts. »Auf Nimmerwiedersehen, ihr Bastarde«, prostete er ihnen zu und nahm einen Schluck seines Schnapses. Obwohl er wusste, dass dieser Nelu unter ihnen war, hatte er weder für ihn noch für Andrada Mitleid übrig. Endlich wurde der brüderliche Feind außer Landes gekarrt, endlich hatte man das Haus wieder für sich allein.

Gegen Mittag drehte Cristian noch eine Runde durch das Dorf, kam an dem Laden vorbei, vor dem die hysterischen alten Weiber wieder die Vorräte aufkauften. Ohne anzuhalten und das Tempo noch steigernd, brauste er durch das Viertel der Ungarn und setzte sich auf eine Bank im Park Elisabeta, nahe der Brücke und den Schaukeln, deren Quietschen ihn irgendwie hypnotisierte. Erst nach einer Weile sah er sie aus dem Augenwinkel. Da brach ihm kalter Schweiß aus. Hatte sie ihn bereits entdeckt? Wunderte sie sich, warum er sie nicht begrüßt hatte, dachte sie, er würde sie schneiden? Schöpfte sie Verdacht, dass er sie mied, nur weil sie mit dem Nazi Nelu verbandelt war?

Tănases Rede hatte bereits Früchte getragen.

Seid stets wachsam. Sogar eure Mutter könnte euch verraten.

Größeren Schaden vermeidend – oder, bei seiner Ungeschicklichkeit, diesen erst heraufbeschwörend – näherte er sich dann doch Andrada, die einsam und verloren unter der Statue der Jagdgöttin Diana auf- und abmarschierte.

»Einen schönen Tag.« Lächelnd tippte er sich an die Schiebermütze. Ist dieser Geck Nelu endlich fort?, fügte er in Gedanken noch hinzu.

»Cristi.« Von ihm aufgeschreckt, schnappte sie nach Luft.

»Entschuldige. Ich wollte nicht … Stör ich dich? Es tut mir leid, ich verschwinde ja schon.«

Er schob sein Fahrrad noch ein paar Meter weiter. Als er aufsitzen wollte, hörte er ihre Stimme: »Cristi? Warte.«

Er blickte nach hinten. Sie näherte sich ihm mit trippelnden, sorgenvollen Schritten.

»Ich wollte dich nicht verjagen. Es geht mir nur nicht so gut heute. Entschuldige. Es ist nicht deine Schuld.«

»Nelu ist jetzt fort, nicht wahr? Auf dem Weg in den Osten.«

Sie nickte, senkte den Blick. Und so sehr er diesen Kerl hasste, so sehr berührte ihn Andradas traurige Gestalt. »Heh, ich bin sicher, er kommt heil zurück. Ich meine, wir sprechen hier nicht von irgendeinem Soldaten. Das ist immerhin Ion Valerian Nicolescu.« Er sprach den Vornamen unüblicherweise zuerst aus, was ihn noch abgehobener machte.

Und da blitzte ein kleines Lächeln in ihrem Mundwinkel auf. »Ja, du hast recht. Ich vermisse ihn trotzdem ganz schrecklich.«

»Es wäre ja auch schlimm, wenn du das nicht tun würdest.«

»Ein halbes Jahr«, wisperte sie mit leiser Stimme. »Ein halbes Jahr. Das ist so lang.«

»Vielleicht …« Es bereitete ihm Schmerzen, das auch nur zu denken, aber er konnte nicht anders, als er ihre Augen in Tränen schwimmen sah. »Na, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er früher zurückkommt. Dieser Haudegen erobert Bessarabien im Alleingang, nicht?«

Erst jetzt merkte er, dass sie zusammen ein Stück gegangen waren, aus dem Park heraustraten auf die Hauptstraße, durch das kleine Eisentor hindurch, hinter dem niemand diese Anlage vermuten würde. Andrada hatte ihm mal erzählt, dass ihr der Park Elisabeta immer wie etwas Märchenhaftes, Verwunschenes vorgekommen sei, ein Zauberland. Wenn man nicht würdig war, lief man einfach am Eingang vorbei. Er wusste noch ganz genau, wann das gewesen war. Als sie mal zu viert ausgegangen waren, mit ihrer Schwester und Nelu. Und Cristian hatte sich gefragt, wie so ein Maschinengewehr von einem Mann nur an solch eine Fee herankam und was sie aneinander fanden.

»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte er sie.

»Hast du nicht auf dem Feld zu tun?«

»Das kann warten«, lächelte er. »Ich arbeite, wann ich will. Leg ich halt noch mal am Abend eine Schicht ein. Es ist sowieso zu heiß jetzt. Sieh mich doch an. Die Sonne hat mich gestern erwischt. Ich seh aus wie der Dorftrottel Răzvan. Heh, erzähl es nicht weiter, aber ich bin in der Schaufel des Traktors eingeschlafen. Wie so ein betrunkener Idiot.«

Noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, lachte sie laut auf. Bis vor einigen Augenblicken hatte sie noch Trübsal geblasen, und jetzt leuchteten ihre Augen wieder so schön. Es berührte ihn zutiefst.

»Das ist Pech, Cristi.«

»Das ist Blödheit«, grinste er.

»Nun ja … Doch, das ist es«, schallte ihre Stimme glockenhell über den Platz. Und dann wurde sie wieder ernster: »Aber ich möchte noch nicht nach Hause. Dort muss ich mich nur von Nina verspotten lassen wegen meines Liebeskummers. Du musst deiner Freundin mal sagen, dass nicht jeder so ein Glück hat wie sie …« Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, sah er, wie sie die Lippen zusammenpresste. Als hätte sie etwas gesagt, was sie eigentlich nicht hätte sagen wollen.

Er zuckte mit den Achseln. »Sie kann manchmal so sein. Möchtest du etwas trinken gehen? Ich meine nicht, dich zusaufen, um den Kummer zu vergessen, so wie wir Männer es tun. Aber … dennoch, hm?«

Er sah, wie sie zögerte. Die Arme vor der Brust verschränkte, mit sich rang. Doch dann nickte sie.

»Komm, steig hinten auf und halt dich an mir fest. Zum Jagdhaus ist es nicht so weit.«

Doch dann trat sie einen Schritt zurück. »Nein, nicht das Jagdhaus. Nicht dorthin. Woanders.«

»Woanders? Wohin denn dann?«

Nun sah sie ihn herausfordernd an, blinzelte unter ihren langen Wimpern hindurch. »Timișoara?«

Was für ein … Mädchen!

Cristian ärgerte sich bei aller Liebe dann doch, dass er einen ganzen Wochenlohn für den Zug ausgeben musste. Im Bahnhof stand sie abseits von ihm, betrachtete die verschiedenen Plakate, die für die Wehrmacht und für das Café Opera in Timișoara warben. Nicht im Traum fiel es der Baronstochter ein, selbst dafür zu sorgen, dass sie an zwei Fahrkarten herankamen. Als wäre er ihr Lakai.

Aber dann schüttelte er seine Gedanken von sich ab. Sie war es bestimmt nicht anders gewohnt, hatte keinen blassen Schimmer, dass man am Wochenende knapp bei Kasse sein konnte. Ihr Vater und dieser Nelu hatten ihr wahrscheinlich jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Also warum ihr böse sein, zumal sie ihren Freund am heutigen Tag in den Krieg ziehen lassen musste?

»In einer halben Stunde geht es los.«

»So lange noch?«

Und offensichtlich wusste sie auch nicht, dass man manchmal noch zwei Stunden nach der Ankündigung des Zuges warten musste. Oder dass er manchmal auch gar nicht kam. Immerhin herrschte Krieg.

Doch heute hatten sie Glück. Es gab nicht einmal unvorhergesehene Vorkommnisse auf der Fahrt, keine Kontrollen bei der Einfahrt in den Bahnhof der altehrwürdigen Stadt, die sich noch immer ihren österreich-ungarischen Anstrich bewahrt hatte, trotz des Anschlusses an Rumänien. Noch immer hörte man überall das vertraute »Temesvár« und nicht den Zungenbrecher »Timișoara«. Auf vielen Schildern prangten nach wie vor die deutschen und ungarischen Bezeichnungen, die rumänischen fehlten.

Sie nahmen die Tram Richtung Zentrum und stiegen direkt an der Oper aus.

Sie schlenderten zusammen – mit einem Anstandsabstand von einem Meter – über den Corso, den Bulevard auf der Piața Operei, der der oberen Schicht vorbehalten war und an den nobleren Geschäften vorbeikam. Im Café Opera bestellten sie den Wiener Kaffee, den es nun wieder im Land gab, und die österreichischen Mehlspeisen und waren peinlich berührt von dem Geigenspieler, der nicht von ihnen ablassen konnte und wohl dachte, sie seien ein Paar.

Es war bereits gegen Nachmittag, als Andrada plötzlich aufschreckte. »Musst du denn nicht zurück? Zur Arbeit auf dem Feld?«

Er streckte seine Beine auf der Bank nahe der gerade in diesem Jahr fertiggestellten Orthodoxen Kathedrale aus, atmete den Duft der Sonnenblumen auf dem Grün ein, der sich mit dem Gestank des Motoröls der Straßenbahn mischte. »Ach wo. Die halten auch einen Tag ohne mich aus. Wir unterstützen uns gegenseitig. Falls der eine mal verhindert ist, springt der andere ein.«

Trotz allem schien sie sich auf einmal unwohl zu fühlen, also stand er auf und gab ihr somit stumm das Zeichen zum Aufbruch.

Auf dem Rückweg hatten sie mit dem Zug nicht so viel Glück. Ganze drei Stunden warteten sie auf den angekündigten Waggon, nahmen noch einmal einen – deutlich wässrigen – Kaffee im Restaurant Ambassador in der Donaustraße ein. Die Haut brannte von der Sonne, als sie sich schließlich in ein freies Zugabteil setzten. Es roch nach Lederstiefeln, dem letzten Abschiedshauch der abgereisten Soldaten. Nach sauren Äpfeln und Früchten, Zigaretten und dem süßlichen Kirschschnaps. Und trotz allem roch es immer und überall nach Kartoffeln. Der Möchtegern-weltmännische Charme dieser Stadt, der kleinen Schwester von Wien.

Cristian beobachtete Andrada, die verträumt aus dem Fenster sah. Eine Haarsträhne flatterte in der Zugluft, aber es störte sie nicht weiter. Die platte Ebene der Puszta zog an ihnen vorbei, hier und da unterbrochen von den Dörfern, die sich bis zur Grenze aneinanderreihten wie Zwillingsperlen auf einer Schnur. Beim Anblick der mächtigen Paläste von Skékely László im Stadtzentrum war er ins Träumen geraten. Wie schön wäre es, wenn die Arbeiter, Bauern und Bürger gemeinsam in diesen Gebäuden in einer Kollektive leben würden. Kein Palast gehört nur einer Familie allein, durch Geburtsrecht oder durch das Recht des Kapitals, ganz gleich, es war beides nicht gerecht. Man baute keinen Palast für eine Familie, die aus vier Mitgliedern bestand, und staute seine Dienerschaft irgendwo in kleinen Kämmerchen auf dem Dachboden. Nein, alles, was man tat, wofür man arbeitete, sollte der Gemeinschaft dienen. Dann würden alle davon profitieren, dann gäbe es keine Bettler mehr auf der Straße, keine Kinder, die in Lumpen in irgendwelchen Pfützen spielen mussten.

Hoffentlich verreckt Hitlers und Antonescus Wehrmacht in Russland, und dann können wir endlich unsere Weltrevolution auch hier in Rumänien Wirklichkeit werden lassen.

»Cristi? Was ist mit dir?«

»Was? Oh … Nichts … nichts«, schüttelte er den Kopf. Vorsicht, sie ist die Verlobte eines Nazis, lass dich ja nicht von ihr blenden. Auch sie könnte eine Spionin sein, dachte er, während er sie anlächelte.

Er begleitete sie noch bis zu ihrem Haus und war bereits auf dem Sattel seines Fahrrads, das er hier abgestellt hatte, als sie ihm nachrief: »Möchtest du denn nicht mit hineinkommen und Nina sehen?«

Er bremste scharf ab. Trotz der Hitze lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Nina. Zu jeder anderen Zeit hätte er es getan, hätte keine Gelegenheit für ein Treffen ausgelassen. Heute jedoch verspürte er das seltsame Bedürfnis, allein zu sein.

»Nein«, antwortete er, »ich muss doch dringend aufs Feld. Arbeit nachholen.« Und damit tippte er sich an die Schirmmütze als Abschiedsgruß, bevor Nina mitbekam, dass er vor dem Haus war.

Natürlich tadelte ihn Octavian, schimpfte ihn einen schlechten Genossen, der sich nicht um das Gemeinwohl scherte, der nur seinen individuellen Interessen nachging.

»Und das noch wegen eines Mädchens!«, beendete Octavian seine Tirade.

»Sei doch nicht so. Meine Eskapaden sind wohlkalkuliert. Das ist meine geniale Tarnung, um vor den Nazis nicht aufzufliegen.«

»Du Arsch!«

Abends lag er noch lange wach, was ihm gar nicht ähnlich sah und ihm sogar etwas peinlich erschien. Wie so ein Backfisch. Um zwei Uhr gab er das Hin- und Herwälzen schließlich auf, nahm seine Gitarre und stimmte einige Akkorde an.

»Mag doch alles so bleiben, wie es gestern war. Möge dieser Tag niemals enden, die Sonne niemals hinter den Wiesen untergehen. Mögest du niemals aufhören, mich so anzusehen. Mögen wir niemals alt werden. Mögen wir niemals auseinandergehen …«

Kapitel 2

Juni 1941, Bessarabien, ehemals Moldauische SSR 11. deutsche Armee, 4. rumänische Armee, Operation München

He, Escu. Wo geht’s hier lang?«

Nelu biss sich auf die Zähne. Nur nichts anmerken lassen. Das ging schon seit Tagen so. Die Deutschen im Gefolge machten sich einen Spaß draus, die Rumänen zu drangsalieren. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, sich über sie lustig zu machen. Und aus irgendeinem Grund war dieser so weit verbreitete Namenszusatz besonders amüsant.

»Ich war noch nie hier«, antwortete er so sachlich, wie es seine Wut zuließ.

»Sieht doch alles gleich aus. Wo versteckt sich der Russe jetzt?«

»Ich kann nicht für den Russen sprechen.«

»Ihr Leute aus dem Osten denkt doch eh alle gleich, nicht? Weswegen haben wir euch denn sonst erobert?«

»Ich denke nicht wie ein Russe. Ich bin Nationalist.« Was auch immer das für einen Rumänen wie mich heißen soll.

Sie nahmen in den ersten Wochen Bessarabien ein, tilgten die Moldauische SSR von der Landkarte und wurden von der Bevölkerung als Befreier bejubelt und begrüßt. Hundert Kilometer vor der Ukraine schlugen sie ihr Lager in irgendeinem Dorf auf. Und die Deutschen hatten ja recht: Dies könnte genauso gut Voiteg, das Nachbarsdorf seines Zuhauses sein. Die einstöckigen, bunten Langhäuser, die Tore, der fest gestampfte Gehweg davor, die breite Straße. Das alles gab es auch zu Hause.

»Escu. Komm mal her.« Oberfeldwebel Schmidt scherte sich kein einziges Mal darum, ihn mit seinem eigentlichen Titel, geschweige denn mit seinem richtigen Nachnamen anzusprechen.

Mit zusammengebissenen Zähnen, die Hand um den Riemen seines Rucksacks gekrallt, stampfte Nelu nach vorne, salutierte und sah seinem Vorgesetzten fest in die Augen. »Jawohl, Herr.«

Schmidt deutete mit der einen Hand auf das Schild vor ihm und nestelte mit der anderen an seiner Karte herum. »Wie heißt dieses Kaff hier?«

»Ich weiß es nicht, Herr. Ich kann kein Russisch lesen.« Das Ortsschild war noch immer nur in Russisch geschrieben, die Russen hatten bewusst den alten moldauischen Namen nicht mit aufgeführt.

»Kein Russisch lesen?« Schmidt stieß ein bellendes Lachen aus, und dabei fielen einige Tropfen schleimiger Spucke auf Nelus Gesicht. »Was für ein Ostmann kann kein Russisch?«

»Ich habe mich stets geweigert, die Sprache des Feindes zu lernen.«

»Oh!«, grunzte Schmidt. »Na, sieh mal einer an. Was für ein schlaues Kerlchen, nicht? Denkst du, damit bringst du es weit? Wenn man die Sprache des Feindes nicht kennt, hat der bereits gewonnen. Merk dir das, Romani. Was für unbrauchbare Landkarten habt ihr Rumänen eigentlich, auf denen ist nichts eingezeichnet. Keiner weiß irgendetwas. Dann frag einen dieser Burschen, wie ihr gottverdammtes Dorf denn vorher hieß.«

»Jawohl, mein Herr.« Mit einem Stechen in der Brust presste Nelu die Zähne zusammen, um keine Widerworte zu geben. Es widerte ihn an, so angesprochen zu werden. Wie ein Zigeuner, derer sie sich doch entledigen wollten. Trotz allem – dem Anschluss Rumäniens, dem Pakt zwischen Hitler, Antonescu und König Mihai I. – war er nur ein schmutziger Köter für sie. Kanonenfutter.

Während die Offiziere im Rathaus ihr Lager aufschlugen, mussten sich die Unteroffiziere erst einmal ihren Platz verdienen und die Bevölkerung aus ihren Häusern vertreiben, ehe sie dort ihren Nachtplatz vorbereiten konnten. Die einfachen Soldaten bauten um das Dorf ihre Zelte auf, gründeten innerhalb eines Tages um das bestehende Dorf ein neues aus provisorischen Planen und improvisierten Unterständen. Manche schliefen auch unter freiem Himmel. Zu einladend war der Sommer Osteuropas für die kältegeplagten Nordlichter.

Nelu teilte sich mit einem anderen Jungoffizier aus der achten Division ein einfaches, verlassenes Bauernhaus, aus zwei Räumen bestehend. Er ergatterte ein Zimmer für sich allein, während der andere mit den Sesseln in der Küchenstube vorliebnehmen musste.

Nachdem er seine Stiefel ausgezogen und sich über einer Waschschüssel rasiert hatte, nahm er die Bilder der Familie, die hier einst gewohnt hatte, eines nach dem anderen in die Hand. Da gab es ein älteres Paar. Und da gab es einen erwachsenen Sohn mit ernstem Ausdruck auf dem Gesicht. Als Neugeborenes im Taufkleid, als Kindergartenkind, als Schüler, als Soldat. Und dann nur noch eine einzige Photographie der Eheleute, über Nacht gealtert, der Lebenswille aus den Augen erloschen.

Nelu schluckte und schüttelte den Kopf. Solche Haushalte gab es zu Tausenden, seitdem sich Hitler und Stalin die Köpfe einschlugen.

Am nächsten Tag marschierte die Hälfte der dritten Armee weiter Richtung Osten, während die andere den Befehl bekam, auf unbestimmte Zeit die Stellung zu halten und die Grenze zu sichern.

»Die Stellung halten … Pah! Vor wem sollen wir die Grenze sichern? Der Ukrainer ist weit weg und der Russe auf dem Rückzug.« Rot und schnaubend vor Wut zog Nelu an seiner Zigarette. Er ahnte, dass er sich seine Tabakrationen gut einteilen musste. Dennoch: Diese Demütigung musste er erst einmal verdauen. Und das ging ohne Zigaretten nicht.

»Wir rücken bestimmt nach, Nicolescu«, erwiderte Gicanian Marius, der Unteroffizier aus der achten Division. »Und dann haben wir weniger Arbeit, weil die anderen uns bereits den Weg frei gemacht haben und uns den roten Teppich ausrollen. Wir verwalten den Sieg.«

»Ich möchte keinen roten Teppich. Ich möchte keine Verwaltung. Ich bin hier, um zu kämpfen.«

»Băi.« Gicanian setzte sich auf einen Stuhl neben dem Esstisch und platzierte seine schlammigen Stiefel demonstrativ auf der bestickten Decke des Sofas. »Ce să faci? N-ai ce să faci.«

»Und das nimmt man einfach so hin? Wie so ein ungarischer Bauer? Was soll man machen? Da kann man nichts machen. Das sagen doch immer die Ungarn bei uns.«

»Befehl ist Befehl. Wer sind wir, um den in Frage zu stellen? Sonst …« Nun mischte sich auch Ungläubigkeit, ja, Entsetzen, in Gicanians Augen. Mit einer Handbewegung deutete er ein Messer an, das an seinem Hals vorbeischrammte.

Seufzend stemmte Nelu seine Arme gegen die Wand, klopfte mit seinem Kopf dagegen, um die brennende Wut verebben zu lassen. Aber was ihm sonst half, seine Gedanken zu ordnen, funktionierte heute nicht.

»Weißt du was, Nicolescu? Siehst so aus, als bräuchtest du mal wieder einen ordentlichen Fick, nicht? Bevor du komplett anfängst, wie ein Verräter zu klingen.«

»Hm«, brummte er. Sein Kiefer schmerzte bereits, so angespannt war er. »Hast wohl recht. Aber ich nehm’ keine moldawische Schlampe, die vorher vor den Russen gekuscht hat.«

»Macht doch nichts. Hier gibt’s genug Deutsche.«

»Ich nehm auch keine Deutsche. Gib mir eine ordentliche, stolze Rumänin.«

»Hm, du bist anspruchsvoll.«

»Immerhin bin ich Offizier und kein einfacher Soldat.«

Gicanian stieß ein Pfeifen aus. »Eine Moldau-Rumänin anstatt einer Deutschen? Wenn du meinst.«

»Nun, man muss Zugeständnisse machen im Krieg. Da nehme ich etwas Schnelles auswärts zu essen ein. Zu Hause wartet dann meine richtige, banatische Mahlzeit auf mich.«

»Du Schwein.« Gicanian lachte laut auf, klopfte auf Nelus Schulter. »Ich weiß genau das Richtige für dich. In der Nähe des Rathauses gibt es da so eine Einrichtung. Mädels, die sich bei den Offizieren etwas dazuverdienen wollen. Die tolerieren das, solange sie davon profitieren. Was meinst du? Lust auf einen Abstecher?«

Nelu strich sich über seine kurzgeschorenen Haare und setzte seine Mütze auf. »Das hört sich gut an.«

»Hoh. So ein fescher Kerl. Aber, ach, was muss ich denn da sehen?« Das Mädel nahm seine Hand in ihre, strich mit ihren schönen Fingern und den knallroten Nägel über seine eigenen. »Du kaust drauf herum? Mhm, böser Junge«, lächelte sie, und er zog die Hand von ihr fort, versteckte sie in seiner Hosentasche. Kramte einige Geldscheine hervor und knallte sie auf den Tisch. »Dreißig Prozent obendrauf, wenn du artig bist und dich nicht widersetzt. Egal, was ich verlange.«

»Du weißt, was du willst«, schepperte sie in ihrem harten Akzent, der seinem gedehnten aus dem Westen Rumäniens so unähnlich war. »Das mag ich. Ein Mann, der nicht lange rummacht. Gleich zum Höhepunkt kommt.«

Und das tat er schließlich auch. Und genoss es im Nachhinein sehr, sogar noch mehr als den eigentlichen Akt, dass sie bewegungslos in den Kissen nach Luft schnappte, während er sich anzog. Eine so erfahrene Frau wie sie, die mit diesem Geschäft ihr Geld verdiente, sprachlos zu machen, das bereitete ihm ein unvergleichliches Vergnügen. Wenn er dann im nächsten Jahr mit Andrada verheiratet war, musste er wohl manchmal in die Stadt fahren, um diesem speziellen Vergnügen noch nachgehen zu können. Dieser edlen Dame, seiner Ehefrau, wollte er das nicht zumuten.

Langsam setzte sich die Prostituierte auf, und ihr Gesicht verzerrte sich im Schmerz.

»Öfter mal was Neues, nicht?«, grinste er ihr zu.

Sie rümpfte die Nase. »Verschwinde!«, kreischte sie, heulte beinahe.

»Mädel. Ich wär an deiner Stelle vorsichtig.« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, drückte gegen ihre Wangen, sodass es ihr schwerfallen musste zu reden. »Du schreist mich nicht so an. Niemand schreit einen Nicolescu an, als wäre er ein einfacher Bauer.« Damit ließ er sie los, schleuderte sie zurück aufs Bett. »Was hast du eigentlich? Du hast einen Bonus einkassiert. So großzügig sind wenige.«

Er sah, wie ihr eine Erwiderung auf den Lippen brannte, doch sie schluckte sie herunter. Er machte seine Hose mit den Trägern fest, strich die Uniformjacke glatt, streichelte jeden der Knöpfe.

Mit einem Salutieren verließ er sie und wartete im Vorraum auf Gicanian. Dieser kam erst nach einer halben Ewigkeit.

»Na? Hast wohl keinen hochgekriegt, was?«

Gicanian spuckte auf den Boden, suchte in seinen Taschen nach einer Zigarettenpackung. »Ich bin ein Genießer. Ich schling mein Essen nicht so hinunter wie du.«

»Beleidigst du mich?«, fragte Nelu, einen nervösen Unterton in der Stimme, den er hasste.

»Heh, wir sind Rumänen. Wir beleidigen uns andauernd gegenseitig. Beruhig dich. Sei nicht immer so ernst.«

»Ich habe keinen Nerv für solche kindischen Spielereien.«

Gicanian stöhnte. »Ah, siehst du. Das meine ich. Hättest halt doch langsamer machen müssen. Dann wärst du jetzt entspannter.«