Die Stunde der Schatten - Alexandra von Grote - E-Book
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Die Stunde der Schatten E-Book

Alexandra von Grote

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Beschreibung

Eine Reise in die Vergangenheit: Der dramatische Familiengeheimnisroman »Die Stunde der Schatten« von Alexandra von Grote als eBook bei dotbooks. Isabelle wollte für immer Stillschweigen bewahren – doch nur die Wahrheit kann ihr Frieden schenken ... Die Reporterin Claire Dolbré stammt aus einer deutsch-französischen Familie, die über Generationen mit dem Tuchhandel reich geworden ist. Als ihr Onkel Gustave stirbt, findet sie im Keller seines Hauses ein Tagebuch, das von einer rätselhaften Reise der Dolbrés zum französischen Zweig der Familie kurz vor dem zweiten Weltkrieg erzählt. Aber warum leugnet seine Schwester, Claires Tante Isabelle, dass ein solcher Besuch je stattgefunden hat? Von Neugier gepackt beschließt Claire, nach Frankreich zu fahren und selbst nachzuforschen. Was ist damals geschehen, das Isabelle um jeden Preis verbergen will? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Familiengeheimnisroman »Die Stunde der Schatten« von Alexandra von Grote – Fans von Kate Morton und Claire Winter werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 258

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Über dieses Buch:

Isabelle wollte für immer Stillschweigen bewahren – doch nur die Wahrheit kann ihr Frieden schenken ... Die Reporterin Claire Dolbré stammt aus einer deutsch-französischen Familie, die über Generationen mit dem Tuchhandel reich geworden ist. Als ihr Onkel Gustave stirbt, findet sie im Keller seines Hauses ein Tagebuch, das von einer rätselhaften Reise der Dolbrés zum französischen Zweig der Familie kurz vor dem zweiten Weltkrieg erzählt. Aber warum leugnet seine Schwester, Claires Tante Isabelle, dass ein solcher Besuch je stattgefunden hat? Von Neugier gepackt beschließt Claire, nach Frankreich zu fahren und selbst nachzuforschen. Was ist damals geschehen, das Isabelle um jeden Preis verbergen will?

Über die Autorin:

Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr. phil. Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin. Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt. Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.

Alexandra von Grote veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane »Die Geschwindigkeit der Stille«, »Die Nacht von Lavara«, den Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle mit den Bänden »Die unbekannte Dritte«, »Die Kälte des Herzens«, »Das Fest der Taube« und »Die Stille im 6. Stock«. Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa mit den Bänden »Mord in der Rue St. Lazare«, »Tod an der Bastille«, »Todesträume am Montparnasse«, »Der letzte Walzer in Paris«, »Der tote Junge aus der Seine« und »Der lange Schatten«. Die ersten drei Fälle von Kommissar LaBréa liegen auch als Sammelband unter dem Titel »Mord in Paris« vor.

Die Website der Autorin: www.alexandra-vongrote.de/

***

Originalausgabe Februar 2023

Copyright © der Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/artem evdokimov; AdobeStock/Galina Zhigalova

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-477-7

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Alexandra von Grote

Die Stunde der Schatten

Roman

dotbooks.

Für M. in großer Dankbarkeit

»Die Wahrheit, wie das Licht, blendet.«

Albert Camus

»Sie bringen einen um, die Erinnerungen.«

Samuel Beckett

Erstes Kapitel

Isabelle empfand die plötzliche Stille im Haus ungewohnt und beängstigend. Mit ihrer Kaffeetasse ging sie in den Wintergarten. Der leere Schaukelstuhl am Fenster erschien ihr wie ein Überbleibsel; etwas, das der Tod vergessen hatte mitzunehmen. Hier hatte ihr Bruder Gustave jeden Vormittag gesessen, die Zeitung gelesen, Kreuzworträtsel gelöst und die Meisen beobachtet, die während der kalten Jahreszeit zwischen dem Walnussbaum und dem Vogelhäuschen hin- und herschwirrten.

Sie ließ sich auf einen Sessel gleiten, weit genug vom Schaukelstuhl entfernt, und blickte hinaus. Es regnete heftig, und deshalb flogen keine Meisen das Futterhäuschen an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr älterer Bruder Gustave …

Schon als Junge war er stolz auf seinen französischen Vornamen. Er sah sich in der Nachfolge und Tradition seiner hugenottischen Vorfahren, die vor mehr als dreihundert Jahren ihre Heimat im Süden Frankreichs verlassen mussten. Dass der Großvater Wilhelm den ursprünglichen Namen d’Olbré halbwegs eingedeutscht hatte, empfand Gustave als Verrat an den Vorfahren. Sie hatten das Wissen und die Fertigkeiten ihres Tuchmacherhandwerks und ihren Namen mit in die Fremde genommen, die ihnen zur neuen Heimat wurde. Der Accent aigu auf dem e blieb nur deshalb erhalten, damit die Betonung des neuen Namens Dolbré korrekt verlief.

Isabelle betrachtete ihre schmale, mit Altersflecken übersäte Hand, deren knochige Finger die Kaffeetasse umklammert hielten. Gustaves Hand war bereits erkaltet, als Isabelle heute Morgen sein Schlafzimmer betrat. Wie friedlich er in seinem Bett lag! Die Ärmel seines seidenen Pyjamas schlossen ordentlich an den Handgelenken ab, als hätte er sie kurz vor seinem Hinscheiden noch zurechtgezupft. Seine dunklen Augen, die Augen der Dolbrés, die sich seit Stammvater Jean d’Olbré von Generation zu Generation weitervererbt hatten, blickten starr und ausdruckslos. Gab es ein Leben nach dem Tod? Gustave hatte dies stets bezweifelt. Isabelle hingegen glaubte an Gott. Doch mit zunehmendem Alter war sie oftmals unsicher, ob das Jenseits, das den Menschen in Aussicht gestellt wurde, wirklich existierte.

Als sie entdeckte, dass Gustave tot war, empfand sie zunächst nichts. Keinen Schrecken, keine Trauer. Nur eine große Leere, wie ein Innehalten, als stünde die Welt für einen Moment still. In dieser Stille lauschte sie ihren eigenen Atemzügen und dem Pochen ihres Herzens. Minutenlang stand sie an der Tür, unschlüssig, als wartete sie auf etwas. Dann setzte sie sich auf Gustaves Bettkante, schloss ihm die Augen und nahm seine Hand. Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, stiegen ihr Tränen in die Augen.

In einer Abfolge von schnellen Bildern zog Gustaves Leben vorüber: die Hallen der alten Tuchfabrik in Guben. Der kleine Gustave, wie er sich alle Maschinen genau ansah, die Stoffe und Tuche zwischen seinen Fingern rieb, ihre Bezeichnungen auswendig kannte. Sein Vortrag als Dreizehnjähriger bei Tisch über Kettfaden und Schussfaden; über den Unterschied zwischen Streichgarn und Kammgarn; über die Qualität von Gabardine, Cottondrell, Döskin oder Piqué als angemessene Uniformtuche, wie sie die Wehrmacht in den Dreißigerjahren bei Dolbré in Auftrag gab. Ihr Vater hatte damals applaudiert, und die Mutter hatte stolz gemeint: »Der Junge hat eben Tuch im Blut, ein echter Dolbré!« Diese Geschichte erzählte man sich lange Zeit in verschiedenen Ausschmückungen, deshalb erinnerte sich Isabelle auch so gut daran. Sechs Jahre später wurde Gustave Juniorchef der Tuchmanufaktur. Ein gut aussehender junger Mann, der ein Menjoubärtchen trug und seine Anzüge von einem der besten Schneider Berlins anfertigen ließ. Später als andere seines Jahrgangs musste er erst 1943 in den Krieg. Als Hersteller von Uniformstoffen galt die Tuchmanufaktur Dolbré als kriegswichtiger Betrieb. Deshalb war es dem Juniorchef in den ersten Kriegsjahren erspart geblieben, sein Leben für Führer und Vaterland aufs Spiel zu setzen. Isabelle dachte an ihre Flucht aus dem zerbombten, brennenden Guben, den Tod von Vater und Mutter, und die quälende Sorge um Gustave. Erst später stieß er zu Isabelle in Freiburg, wohin sie unter unsäglichen Strapazen gelangt war, um bei einem Cousin ihrer Mutter Unterschlupf zu finden. Im Januar 1946 heiratete Gustave dann Mathilde Senff. Neun Monate nach der Hochzeit wurde Gustaves einziger Sohn Viktor geboren. In Freiburg fand Gustave rasch in einer Wäschefabrik Arbeit, wo man sein detailliertes Wissen über die Herstellung von Baumwollstoffen zu schätzen wusste und ihm Aufstiegsmöglichkeiten bot. Als er mit fünfundsechzig Jahren in Rente ging, hatte er es bis zum stellvertretenden Firmenchef gebracht. Ein arbeitsreicher Werdegang, ganz in der Tradition der d’Olbrés und der Dolbrés, Tuchmacher in der fünfzehnten Generation.

Isabelle strich über die Bettdecke, die sie noch vor wenigen Tagen frisch bezogen hatte. Sie duftete nach Lavendel und Gustaves herbem Rasierwasser. Friedlich war er von dieser Welt gegangen, ohne Kenntnis der Ereignisse, die Isabelle in ein zersplittertes Leben gestürzt hatten. Jetzt wusste sie, dass sie damals recht daran getan hatte: Die Geheimnisse der Vergangenheit lagen für alle Zeiten wohlverwahrt in ihrem Herzen. Viele Male hatte sie Gott um Vergebung gebeten, aber sie hätte nie anders handeln können. In jedem Fall wäre ihr Seelenfrieden für immer dahin gewesen. Also hatte sie sich entschieden, die schwere Schuld auf sich zu nehmen in der Gewissheit, dass sie niemals davon erlöst würde.

Erneut begann sie zu weinen.

Auf der Terrasse vor dem Wintergarten trieb der Wind das nasse Laub zusammen. Am Walnussbaum hingen die letzten Blätter, und der Stamm glänzte, als wäre er gewachst.

November.

Zeit der Schwermut, des Todes und der Totengedenktage. Zeit der Erinnerung und des furchtsamen Blicks nach vorn. Wie lang würde die Frist sein, die ihr noch blieb? Je älter man wurde, desto kürzer wurde sie. Während sie im Sessel saß und ihr von Tränen verschleierter Blick sich in den dunklen, dahinfliehenden Wolkenbahnen verlor, faltete sie ihre Hände. Sie betete für das Seelenheil ihres Bruders und ihre eigene Seele.

Dann zündete sie sich einen Zigarillo an und betrachtete einen Moment lang die Packung. La flor de la Isabela. Eine Tabakmarke, die es nur in Frankreich zu kaufen gab. Wehmut überkam sie und eine unendliche Traurigkeit, die nichts mit Gustaves Tod zu tun hatte. Wie so oft in ihrem Leben drängten sich schmerzvolle Erinnerungen in Isabelles Gedanken. Heftig stieß sie den Rauch aus. Früher hatte sie auf Lunge geraucht, doch seit vielen Jahrzehnten paffte sie nur noch. Dennoch unterlief ihr hin und wieder ein Lungenzug, so wie einem ein vorschnelles Wort entweicht. Dies geschah auch jetzt, doch sie bemerkte es nicht.

Zweites Kapitel

Als Claire auf die Stadtautobahn einbog, fing es heftig an zu regnen. Schwarze Wolken taumelten über den Horizont. Dunstschwaden, die bald in Nebel übergehen würden, beeinträchtigten die Sicht, und schon verblasste die Silhouette des Funkturms im dichten Grau. Wie lange würde die Fahrt dauern? Bei diesen Wetterverhältnissen mindestens acht Stunden. In höheren Lagen fiel bereits der erste Schnee, viel zu früh für die Jahreszeit.

Überstürzt war sie vor einer guten halben Stunde aufgebrochen.

»So plötzlich?«, hatte ihr zuständiger Redakteur am Telefon ärgerlich gemeint. »Und länger als eine Woche willst du wegbleiben? Wie stellst du dir das vor? Wir haben einen festen Sendetermin!« Bei der Vergabe der nächsten Aufträge für freie Mitarbeiter würde er sie übergehen, das ahnte Claire.

Sie schaltete die Nebelleuchte ein. In zwei Kilometern kam die erste Baustelle.

Wie viel Zeit war vergangen, seit Martin die Tür hinter sich geschlossen hatte? Ein leiser und unspektakulärer Abgang. Kein lautes Wort, keine Schuldzuweisungen, keine dramatische Abrechnung. Claire hatte ihm keine Szene gemacht. Nur seinen knappen Worten gelauscht, seiner angenehmen, melodischen Stimme, die er nie erhob und die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Die freundliche Teilnahmslosigkeit, mit der er zuerst seine Kaffeetasse leerte und Claire dann aus seinem Leben kickte, war verletzender als sein Geständnis selbst.

»Ich wollte es dir schon lange sagen, Claire. Ich habe eine andere Frau kennengelernt. Ich liebe sie und will mich von dir trennen. Es tut mir leid, aber so ist es nun mal. Wir beide haben uns doch längst auseinandergelebt.«

Wie ein bedächtig dahinziehender Fluss, der seine tückische Strömung geschickt unter der Wasseroberfläche hält, glitten seine Worte auf sie zu. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es in seinem Leben eine andere Frau gab, Martin hatte sie vollkommen überrumpelt. Er wirkte selbstsicher und entschlossen, aber nicht feindselig.

»Wer ist sie?«

»Eine Kollegin in meinem Referat.«

»Jung?«

Er druckste ein wenig herum und lächelte.

»Sechsundzwanzig.«

Vierzehn Jahre jünger als Claire.

Die Autobahnstrecke, die vor ihr lag, war sie oft mit Martin gefahren. Viele ihrer gemeinsamen Urlaube hatten sie in Frankreich verbracht. Weintouren nach Burgund unternommen, die Schlösser der Loire besichtigt und beim Badeurlaub am Atlantik faul am Strand gelegen. Lange Zeit hatte Martin auf eine Heirat gedrängt. Jetzt war Claire froh, dass es nie dazu gekommen war. Es vereinfachte die Trennung, die er ihr aufgezwungen hatte. Keine Scheidung, keine Kinder und das Pokern um ihr Sorgerecht. Nun würde Martin seinen Wunsch nach Trauschein und Kindern mit seiner Kollegin verwirklichen, dachte Claire und lächelte bitter. Doch vielleicht stand dieser jungen Frau gar nicht der Sinn nach einer festen Bindung, und sie benutzte Martin nur für ihr berufliches Fortkommen? Claire wünschte es ihm von Herzen.

Heftiges Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken bemerkte sie, dass sie auf dem schmalen Fahrstreifen an der Baustelle zu weit nach links gekommen war. Der Fahrer des kompakten BMW, der sie mit überhöhter Geschwindigkeit überholte, zeigte ihr den Mittelfinger und hätte beinahe die Leitplanke gestreift.

»Idiot!«, sagte Claire laut und trat kurz auf die Bremse.

Es schmerzte, an Martin und das, was er zerstört hatte, zu denken. Vielleicht war es weniger der Verlust von etwas Vertrautem, das Claire empfand, sondern eher die Verletzung ihres Stolzes. Wer verlassen wird, erfährt eine tiefe Kränkung. Sie wollte nicht gekränkt werden, am allerwenigsten von dem Menschen, mit dem sie beinahe sechs Jahre ihres Lebens geteilt hatte.

»Einfach so, mal eben nach dem Frühstück, beendest du unsere Beziehung? Nach all den Jahren gibst du uns nicht die geringste Chance?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Die Schale war leer, Claire. Lass uns Freunde bleiben, das sind wir uns schuldig.«

»Schuldig bin ich dir gar nichts!« Sie vernahm die Kälte in ihrer Stimme, während sie spürte, wie eine hektische Röte ihre Wangen überzog. »Wie lange geht die Sache schon?«

»Seit vier Monaten.«

Die Stunden auf der Autobahn reihten sich aneinander wie die Glieder einer Kette. Auf der Höhe von Kassel begann es zu schneien. Bald lagen die hügeligen Felder und Wiesen unter einer dünnen, weißen Decke. An den Steigungen stauten sich die Lastwagen. Zahlreiche Baustellen und Absperrungen sorgten für stockenden Verkehr.

Claire rieb sich die Augen. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, und trotz voll aufgedrehter Heizung fröstelte sie. Noch mehr als vierhundert Kilometer Fahrt lagen vor ihr. Erneut kreisten ihre Gedanken um das Geschehen am Morgen.

»Dann pack deine Sachen und verschwinde.«

»Das hatte ich sowieso vor. Ich ziehe zu Eva. Keine Sorge, die Wohnung kannst du vorerst allein nutzen.« Martins Blick schweifte umher, und seine ausgestreckte Hand unterstrich mit großzügiger Geste seine folgenden Worte. »Ich überlasse dir alles. Möbel, die gesamte Einrichtung. Außer meinen persönlichen Sachen nehme ich nichts mit.«

Seine verdammte Stimme, so leise und so verständnisvoll! Doch seine Augen signalisierten Claire, dass er wegstrebte. So schnell wie möglich wollte er es hinter sich bringen und mit beiden Händen nach der Zukunft greifen. Mit einer Reisetasche verließ er kurz darauf die Wohnung, wobei er vorher sorgsam seinen Schlüssel auf die Flurkommode legte. Eine Geste wie von einem Gast, der einige Tage zu Besuch gewesen war.

»Irgendwann hole ich meine restliche Kleidung und Wäsche«, rief er Claire an der Haustür zu.

Kurz darauf kam der Anruf aus Freiburg. Als ob eine Hiobsbotschaft an diesem Tag nicht genügt hätte.

Claires Handy klingelte, und es meldete sich Julia, Martins Schwester. Sie arbeitete als Anwältin in einer Kanzlei für Steuerrecht und verdiente einen Haufen Geld. Claires Verhältnis zu ihr war nicht besonders eng.

»Claire? Ich hab’s schon auf eurem Festnetz versucht.«

»Ich bin gerade auf der Autobahn.«

»Fährst du weg?«

»Ja.«

»Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut.«

»Was tut dir leid?«

»Das mit Martin und dir«, fuhr Julia fort. »Ich finde es nicht richtig von ihm, dass er einfach ausbricht.« Hatte sie tatsächlich »ausbricht« gesagt? Wie ein im Käfig gehaltenes Tier oder ein Strafgefangener, der in die Freiheit strebt? »Aber das ist eine Sache zwischen euch. Es betrifft nicht mein Verhältnis zu dir.«

»Du hast es also gewusst, Julia«, erwiderte Claire brüsk und spürte, wie die Wut in ihr aufstieg.

»Ja, er hat es mir vor ein paar Wochen erzählt.«

»Anscheinend bin ich die Letzte, die es erfahren durfte!«

»Du glaubst gar nicht, wie sehr ihn das belastet hat! Vor lauter Schuldgefühlen wusste er nicht ein noch aus.«

»Wie rührend. Und deshalb wolltet ihr mich schonen? Sehr rücksichtsvoll!«

»Ich dachte, es ist besser, wenn Martin es dir selbst sagt. Und das hat er ja heute endlich getan.«

»Was willst du, Julia?«

»Na, hör mal, er macht sich Sorgen, hat er vorhin am Telefon gemeint. Er hätte nicht gedacht, dass du so schroff reagierst. Könnt ihr euch denn nicht zusammensetzen und in Ruhe über alles reden?«

»Da gibt es nichts mehr zu reden. Mach’s gut.« Claire drückte das Gespräch weg und knallte das Handy auf den Beifahrersitz.

Als sie gegen zwanzig Uhr die Autobahn verließ, war die Dunkelheit lange hereingebrochen. Immer dichteres Schneetreiben hatte Claire in den letzten Fahrtstunden begleitet, und sie kam später an als gedacht.

Drittes Kapitel

Das alte Backsteinhaus mit Erkern, Türmchen und einem großen Garten lag in einer ruhigen Gegend. Claire parkte ihren Wagen vor dem Hauseingang, stellte Motor und Scheinwerfer aus und verharrte einen Moment auf dem Fahrersitz. Auf Straße und Bürgersteig glitzerte der Schnee. Es herrschte die typische Stille eines verschneiten Winterabends, an dem die Menschen sich in die schützenden Häuser und Wohnungen zurückzogen und die Zeit stillzustehen schien. Die Luft roch nach Holz und Rauch. Claire stieg aus. Ihre Großtante Isabelle Dolbré öffnete soeben die Haustür.

»Ich hab das Motorengeräusch gehört«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. Von hinten beschien das Flurlicht ihre Gestalt und ihren weißen Haarkranz, unter dem ihr Gesicht im Schatten lag.

»Gott sei Dank, dass du da bist«, fügte sie leise hinzu und nahm Claires Hand. »Komm rein.«

Isabelle war ein gutes Stück kleiner als ihre Großnichte, eine zarte, mit zunehmendem Alter immer schmaler gewordene Frau. Als Claire sie umarmte, fühlte sich ihr Körper leicht und fragil wie ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges an. Dezent duftete ihre Haut nach dem Parfüm, das sie seit Jahrzehnten benutzte. Ihr Bruder Gustave hatte es ihr jedes Jahr zu Weihnachten geschenkt.

»Es tut mir so unendlich leid«, flüsterte Claire und spürte, wie Isabelle zitterte und leise zu weinen begann.

Lange blieben beide so stehen. Claire zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und gab es ihrer Großtante. Nach einer Weile sagte sie:

»Ich habe Theo eine Mail nach New York geschickt, Tante Isa, und ihn informiert. Ich glaube aber kaum, dass er zur Beerdigung kommen wird.«

»Das verstehe ich. Gustave hätte es deinem Bruder nicht übel genommen.« Isabelles Schultern strafften sich. »Du hast sicher Hunger, Claire. Ich habe uns etwas vorbereitet.«

Häuser und Wohnungen verströmen ihren eigenen, unverwechselbaren Geruch, der sogleich Erinnerungen wachruft. Im Haus der Geschwister Dolbré war es eine Mischung aus Bienenwachs, mit dem die Eichenmöbel eingerieben wurden, dem würzigen Flair von Isabelles Zigarillos und dem süßlich morbiden Duft getrockneter Rosensträuße, die überall im Haus auf Tischen und Konsolen lagen, von Zeit zu Zeit erneuert wurden, um wieder zu welken und zu verblühen. Es gab Silberschalen mit Rosenköpfen, die vor langer Zeit abgeschnitten worden waren und durch den Prozess des Vertrocknens ihre Farben verändert hatten. Wie oft hatte Claire als Kind ihre Tante gefragt, warum sie den Rosen die Köpfe abschnitt und die Blumensträuße verdorren ließ? Eine Antwort darauf erhielt sie nie, nur ein wehmütiges Lächeln, als gäbe es darum ein großes Geheimnis. Heute kam zu dem vertrauten Duftgemisch der heimelige Geruch eines Kaminfeuers. Auf dem Weg ins obere Stockwerk sah Claire durch die geöffnete Salontür die prasselnden Holzscheite. Während Isabelle das Essen vorbereitete, wollte Claire ihre Reisetasche auspacken und sich im Bad ein wenig frisch machen.

Wenig später begab sie sich wieder ins Erdgeschoss.

»Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie es Martin geht«, rief Isabelle ihr aus der Küche zu.

Claire zögerte einen Moment, dann erwiderte sie: »Er hat mich verlassen. Heute Morgen hat er mir erzählt, er hätte sich neu verliebt.«

Isabelle steckte den Kopf durch die Tür. Ihre Miene wirkte bestürzt.

»Ach du liebe Güte! Das tut mir leid, Claire. Wie kam das denn so plötzlich?«

»Ich möchte im Moment nicht darüber reden, Tante Isa. Das verstehst du hoffentlich.«

»Ja, natürlich.« Sie warf ihrer Nichte noch einen prüfenden Blick zu, dann verschwand sie wieder in der Küche. »Geh ruhig schon mal in den Salon. Ich bin gleich so weit.«

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Claire.

»Nein, nein. Behalte nur das Feuer im Auge, und leg gegebenenfalls Holz nach.«

Dies erschien nicht notwendig, denn gleichmäßig züngelten die Flammen um die beiden Birkenscheite, die zuoberst lagen. Als Claire den Blick durch den Raum schweifen ließ, überfiel sie ein Gefühl von Trauer und Wehmut. Viele Male hatte sie hier mit ihrem Großvater, Tante Isabelle und auch mit Martin vor dem Kamin gesessen. Nun waren Gustave und Martin, jeder auf seine Weise, aus Claires Leben entschwunden.

Der Deckel des Klaviers war geschlossen; die Notenhefte auf dem Ständer zugeschlagen. Seit ihrer Kindheit spielte Isabelle, und noch im hohen Alter verfügte sie über eine erstaunliche Geschmeidigkeit der Finger. Wenn sie spielte, tauchte sie in eine Welt ein, die Claire, die nie ein Instrument erlernt hatte, verschlossen war.

Sie ging zu dem kleinen Schreibtisch nahe am Fenster, wo mehrere Familienfotos in Silberrahmen standen. Schwarz-Weiß-Bilder von Richard Dolbré und seiner Familie damals in Guben. Die Kinder standen links von ihren Eltern, die steif auf einem Kanapee saßen und ernst und würdevoll blickten. Gustave im Alter von etwa acht Jahren, bekleidet mit Matrosenbluse und kurzen Hosen; neben ihm Isabelle und Joachim, der Älteste, beide ebenfalls fein herausgeputzt. Es gab Fotos aus späteren Jahren. Gustave mit Menjoubärtchen, pomadisierten Haaren; in einem Nadelstreifenanzug posierte er an der Seite eines Arbeiters vor einem der riesigen Webstühle in der Tuchmanufaktur. Isabelle im geblümten Sommerkleid auf einer Wiese, im Hintergrund ein See. Sie lachte in die Kamera, ein unbekümmertes junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren, dessen jugendliche Schönheit deutlich ins Auge stach. Auch Fotos von Claires Eltern und von ihrem in New York lebenden Bruder Theo standen auf dem Schreibtisch sowie ein Bild von ihr und Martin, aufgenommen an einem Sommertag im Garten dieses Hauses. Am rechten Rand der Bildergalerie befand sich ein kleines Porträtfoto in einem abgewetzten Lederrahmen. Es zeigte Gustaves und Isabelles älteren Bruder Joachim im Alter von etwa neunzehn Jahren. Er trug die Uniform der Waffen-SS. Das herausfordernde Lächeln auf Joachims Lippen und der forsche Blick seiner dunklen Augen, der Augen der Dolbrés, ließen auf einen selbstsicheren jungen Mann schließen, der sich seines guten Aussehens bewusst war. Am Rahmen seiner Fotografie steckte, solange Claire zurückdenken konnte, ein schwarzer Trauerflor. Joachim Dolbré war während des Zweiten Weltkriegs in Russland verschollen. Sie wusste nicht viel über ihn, nur so viel, dass er als Ältester die Tuchfabrik nicht übernehmen wollte. In früheren Jahren hatte sie von ihrem Großvater einmal Näheres über ihn erfahren wollen, doch dieser hatte nur mit den Schultern gezuckt.

»Was soll ich dir groß erzählen, Claire? Wir haben uns nie sehr nahegestanden. Außerdem liegt alles schon so lange zurück.«

Sie hatte sich damit zufriedengegeben, wohl deshalb, weil sie sich nicht wirklich dafür interessierte.

Viertes Kapitel

Wenig später saßen sie am Kamin. Isabelle hatte eine Spinatquiche gebacken, doch Claire verspürte keinen großen Hunger und nahm nur ein kleines Stück. Ihrer Tante ging es ebenso. Nachdem Claire eine Flasche Elsässer Riesling entkorkt hatte, tranken sie auf das Wohl von Gustave.

»Möge er in Frieden ruhen!«, sagte Isabelle mit brüchiger Stimme und Tränen in den Augen. »Du weißt, er glaubte nicht an Gott. Dennoch fühlte er sich als Nachfahre unserer hugenottischen Ahnen. Deshalb soll er auch mit meinem Kreuz begraben werden.«

Claire wusste, was sie meinte. Seit ihrer Konfirmation trug Isabelle ein kleines, goldenes Hugenottenkreuz um den Hals, ein Geschenk ihres Vaters.

»Du trennst dich davon?«, fragte sie erstaunt. »Das hätte Gustave sicher nicht gewollt!«

»Aber ich will es, Claire. Es ist mir ein Bedürfnis.«

Schweigend aßen sie eine Weile. Das Feuer im Kamin loderte. Isabelles Wangen glänzten leicht gerötet, vielleicht vom Feuer, vielleicht vom Wein.

»Gestern Abend haben wir noch eine Partie Streitpatience gespielt«, sagte sie plötzlich. »Er war so aufgeräumt, so gut gelaunt, obgleich er verloren hatte!« Ein Schluchzlaut, der auch ein kurzes, hilfloses Lachen hätte sein können, entwich ihrem Mund. »Nun bin ich allein. Die Letzte aus der alten Generation, jetzt, wo Gustave gegangen ist.«

Einen Moment lang hingen beide Frauen ihren Gedanken nach. Dann stieß Isabelle einen tiefen Seufzer aus.

»Je älter man wird, desto intensiver erinnert man sich«, meinte sie und lehnte sich im Sessel zurück. »Gustave und ich haben in den letzten Jahren viel über die früheren Zeiten gesprochen. Über unsere Jugend, die Zeit im Krieg, den Tod unserer Eltern auf der Flucht und Gustaves Gefangenschaft bei den Amerikanern. Viele Begebenheiten, die wir schon vergessen wähnten, traten plötzlich messerscharf hervor.« Ein bitterer Zug umspielte jetzt ihre Lippen. »Und die Fehler und Versäumnisse, die wir Menschen im Lauf unseres Lebens begehen, sind nie wieder gutzumachen.«

»Was meinst du damit?«, erwiderte Claire vorsichtig und nippte an ihrem Glas.

Isabelles Blick streifte sie flüchtig, dann schlug sie die Augen nieder.

»Das meine ich ganz allgemein«, bemerkte sie rasch, und es klang ausweichend. »Der Mensch ist unvollkommen, aber das ist eine Binsenweisheit. Wer das Ende seines Lebens in greifbarer Nähe sieht, legt sich Rechenschaft ab. Ich tue das im stillen Kämmerlein. Mein Bruder hat es offener getan. In vielen Gesprächen mit mir. Zum Beispiel im Hinblick auf deinen Vater.«

Sie blickte auf. Der Schein des Feuers spiegelte sich als winziger Lichtpunkt in ihren vom Alter verblassten Augen, die früher einmal strahlend blau gewesen waren. Claire wartete, dass sie fortfuhr.

»Nach dem Tod deiner Eltern ist er seinem Sohn gegenüber viel milder geworden. Du weißt, dass die beiden sich nie verstanden haben. Kein Wunder – sie hätten nicht unterschiedlicher sein können.«

Claire nickte.

»Als er die Nachricht von Viktors und Karins Tod erhielt, habe ich Gustave zum ersten Mal seit Mathildes Ableben weinen sehen. Er hatte Schuldgefühle und machte sich Vorwürfe, dass er so unnachgiebig gegen seinen Sohn gewesen ist und die links-alternative Lebensweise eurer Eltern nie akzeptiert hat. Ich hätte toleranter sein sollen, sagte er mir. Jetzt ist es zu spät, Viktor um Verzeihung zu bitten.«

Claire antwortete nicht.

Isabelle hielt einen Moment inne und schenkte sich Wein nach. Ihre Hand zitterte.

»So ist das Leben!«, seufzte sie mit einem Schulterzucken. »Wie ich eben schon sagte: Fehler und Versäumnisse lassen sich meistens nicht wieder gutmachen. Wir müssen mit dem Gefühl der Schuld leben.«

Abrupt stand sie auf und stellte die Teller zusammen.

»Ich bringe das schnell in die Küche. Dann zeige ich dir etwas.«

Claire legte einige Scheite Holz nach. Als Isabelle wieder zurückkam, trug sie einen Karton unter dem Arm. Was er wohl enthalten mochte? Alte Familienfotos? Persönliche Dinge ihres Großvaters?

Isabelle setzte sich in den Sessel und klappte den vergilbten Deckel auf, dessen Ränder sich steif nach außen wölbten. Sie legte ein in ein seidenes Tuch eingeschlagenes Päckchen auf ihre Knie. Zum Vorschein kam ein dickes Buch mit einem ledernen Einband. Er sah sehr alt, speckig und abgegriffen aus.

»Das hier, Claire, ist das alte Musterbuch von Jean d’Olbré, unserem Urahn aus Nîmes.«

Sie schlug die erste Seite auf. Claire sah zwei grobe Stoffmuster, die auf dickem Papier aufgeklebt waren. Ihre Tante blickte sie an.

»Da staunst du, was? Jean d’Olbrés Sohn Vincent hat es damals aus Nîmes mit auf die Flucht nach Preußen genommen und so vor der Zerstörung gerettet. Es wurde von Generation zu Generation jeweils an den ältesten Sohn der Familie weitergegeben. Mit einer Ausnahme: Joachim war zwar der Ältere meiner Brüder, doch er interessierte sich nicht für die Tuchmacherei. Deshalb hatte es Gustave bekommen, als zukünftiger Chef der Fabrik. Es ist mir zu verdanken, dass es damals aus Guben gerettet wurde. Eigentlich hätte es dein Vater irgendwann bekommen sollen, als einziger männlicher Nachkomme. Durch seinen schrecklichen Tod …« Sie stockte einen Moment. »Abgesehen davon bezweifle ich, dass er es wertgeschätzt hätte.«

Vorsichtig blätterte sie weiter, zu anderen Webmustern in verschiedenen Größen und verblichenen Farben. Unter jedem Stück Stoff stand in gestochener, geschwungener Handschrift eine kurze französische Bezeichnung und eine Jahreszahl. Claire las Begriffe wie Crêpe satin und Duchesse satin, Faille und Cor du Roy.

»Das sieht aus wie Samt«, sagte sie zu Isabelle und deutete auf das rotgelbe Stoffmuster Cor du Roy.

»Richtig, Claire. Daher kommt das Wort ›Cord‹. Eine Abart von Samt mit variabler Florhöhe. Hier sieht man die verschiedenen Florhöhen nur ganz schwach.«

Isabelle hielt einen Moment inne, bevor sie die nächste Seite aufschlug.

»Sieh mal. Das ist ein Muster der berühmten Urform des Jeansstoffes. Hat dir Gustave nicht mal was davon erzählt?«

Claire sah ein grobes Gewebe aus bläulichem Garn, das nur sehr entfernt dem heute bekannten Stoff einer klassischen Bluejeans glich.

»Ja, da ging ich noch zur Schule und war in den Ferien bei euch. Er meinte, dass unsere Vorfahren den Jeansstoff erfunden hätten.«

»Das stimmt. Das Material, aus dem auch heute noch Jeans hergestellt werden, nannte man früher Serge de Nîmes. Diese Bezeichnung wurde dann später, als dieser Stoff zuerst nach Italien, dann nach Amerika exportiert wurde, um Arbeitshosen daraus zu schneidern, einfach verkürzt. Man sagte de Nîmes, aus Nîmes. Und daraus wurde der Begriff ›Denim‹, den jeder kennt. Jedenfalls war Jean d’Olbré einer der Ersten, der solche Stoffe webte.« Isabelles Worte klangen nicht ohne Stolz.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was es für deinen Großvater bedeutet hat, dass ich das Musterbuch beim Zusammenbruch mit auf die Flucht genommen habe«, fuhr Isabelle fort. »Als er Weihnachten fünfundvierzig aus amerikanischer Gefangenschaft kam, lag es für ihn unter dem Weihnachtsbaum.«

»Leicht ist es ja nicht gerade«, bemerkte Claire. »Und ziemlich sperrig. Wie hast du das damals geschafft, es zu retten?«

»Als wir kurz vor Kriegsende aus Guben flüchten mussten, habe ich das Buch quer durch Deutschland in meinem Rucksack mitgeschleppt. Mein Vater hätte Guben nie ohne das Musterbuch verlassen! Du weißt ja, dass er auf der Flucht am Herzinfarkt starb. Meine Mutter hat ihn nur um wenige Wochen überlebt.«

Behutsam klappte Isabelle das alte Buch zu. Claire half ihr, dieses kostbare Familienerbstück ins Seidentuch einzuschlagen und im Karton zu verstauen.

»Nach meinem Tod gehört es dir oder Theo«, sagte Isabelle. »Aber ihr müsst euch einigen, wer es nimmt.«

Sie stellte den Karton beiseite, rieb ihre Hände, als wären sie kalt, und zündete sich einen Zigarillo an. Eine Weile sprachen beide kein Wort. Gedankenversunken starrte Claire ins Kaminfeuer. Als Erste durchbrach sie die Stille.

»Wann haben die Dolbrés denn seinerzeit damit angefangen, Uniformstoffe herzustellen?«

»Ach, das war schon sehr früh!« Isabelle zog ein letztes Mal an ihrem Zigarillo und warf den Rest ins Feuer. »Während der Befreiungskriege im 19. Jahrhundert wurde die Tuchmanufaktur Dolbré zu einem der Hauptlieferanten von Uniformtuchen für das Preußische Heer. Das war ein äußerst einträgliches Geschäft.«

»Und im Zweiten Weltkrieg? Habt ihr da auch Uniformstoffe hergestellt?«, wollte Claire wissen.

»Ja, und zwar ausschließlich. Wir produzierten Soldaten- und Offiziersuniformtuche. Dein Vater hat Gustave deshalb oft heftig angegriffen und uns alle als Helfer der Nazis bezeichnet.«

Eine wegwerfende Handbewegung unterstrich ihre Missbilligung.

»Für uns waren Uniformtuche damals lebensnotwendig. Alle Manufakturen in Guben bekamen ihre Aufträge von der Heereskleiderkammer zugeteilt. Es wäre schwer gewesen, sie abzulehnen. Na ja, natürlich wussten wir, dass einige jüdische Tuchfabrikanten von den Nazis enteignet und verschleppt worden waren. Aber wir hatten nichts damit zu tun.«