Wege der Hoffnung - Jede Zeit hat ihre Träume - Alexandra von Grote - E-Book
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Wege der Hoffnung - Jede Zeit hat ihre Träume E-Book

Alexandra von Grote

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Beschreibung

Werden sie sich wiedersehen? Der bewegende Roman »Wege der Hoffnung – Jede Zeit hat ihre Träume« von Alexandra von Grote als eBook bei dotbooks. Einst setzte Maximilian von Paalsick alles daran, die Jüdin Annette vor den Nazis zu retten – nun sind sie sich wieder begegnet und ihre zarte Liebe von Neuem aufgeblüht. Aber kann diese Liebe die große Distanz zwischen Deutschland und Annettes neuer Heimat in Amerika überstehen? Währenddessen wächst Maximilians junge Halbschwester Vicky nicht weit von ihm in München auf – doch sie ahnt nicht einmal, dass es ihn gibt. Dafür hat ihre Mutter gesorgt, die berechnende Else, die ihre Vergangenheit ganz hinter sich lassen will. Doch je älter Vicky wird, desto mehr entfernt sie sich von Else, findet neue Freunde – und ohne es zu wissen, rückt sie ihrem Stiefbruder und der Wahrheit über die dunkle Vergangenheit der Paalsicks immer näher ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Schicksalsroman »Wege der Hoffnung – Jede Zeit hat ihre Träume« von Bestsellerautorin Alexandra von Grote ist der zweite Teil ihrer mitreißenden Familiensaga, die Fans von Tabea Bach und Claire Winter begeistern wird. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 378

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Über dieses Buch:

Einst setzte Maximilian von Paalsick alles daran, die Jüdin Annette vor den Nazis zu retten – nun sind sie sich wieder begegnet und ihre zarte Liebe von Neuem aufgeblüht. Aber kann diese Liebe die große Distanz zwischen Deutschland und Annettes neuer Heimat in Amerika überstehen? Währenddessen wächst Maximilians junge Halbschwester Vicky nicht weit von ihm in München auf – doch sie ahnt nicht einmal, dass es ihn gibt. Dafür hat ihre Mutter gesorgt, die berechnende Else, die ihre Vergangenheit ganz hinter sich lassen will. Doch je älter Vicky wird, desto mehr entfernt sie sich von Else, findet neue Freunde – und ohne es zu wissen, rückt sie ihrem Stiefbruder und der Wahrheit über die dunkle Vergangenheit der Paalsicks immer näher ...

Über die Autorin:

Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr. phil. Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin. Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt. Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.

Alexandra von Grote veröffentlichte bei dotbooks bereits eine Familiensaga mit den Bänden »Wege der Hoffnung – Die Geschwindigkeit der Stille« und »Wege der Hoffnung – Jede Zeit hat ihre Träume«, die Romane »Die Nacht von Lavara« und »Die Stunde der Schatten«, den Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle mit den Bänden:

»Die unbekannte Dritte«

»Die Kälte des Herzens«

»Das Fest der Taube«

»Die Stille im 6. Stock«

Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa:

»Mord in der Rue St. Lazare«

»Tod an der Bastille«

»Todesträume am Montparnasse«

»Der letzte Walzer in Paris«

»Der tote Junge aus der Seine«

»Der lange Schatten«

Die ersten drei Fälle von Kommissar LaBréa liegen auch als Sammelband unter dem Titel »Mord in Paris« vor.

Die Website der Autorin: www.alexandra-vongrote.de/

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Originalausgabe September 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/ilolab, Mikhail Markovskiy, TWINS DESIGN STUDIO und AdobeStock/Masson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98952-273-2

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Alexandra von Grote

Wege der Hoffnung – Jede Zeit hat ihre Träume

Roman

dotbooks.

»Die Welt ist ein Spiegel, aus dem jedem sein eigenes Bild entgegenblickt.«

William Thackeray

Erstes Buch

1952/1953

Erstes Kapitel

November 1952

Unschlüssig stand Maximilian von Paalsick am Ausgang der Bahnhofshalle. Er rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht, zog den Schal etwas fester, schlug den Kragen seines Regenmantels hoch und drückte die Baskenmütze tiefer in die Stirn. Ein Schwall Regenwasser ergoss sich über das Pflaster, verteilte sich zu großen Pfützen. Max überquerte den Bahnhofsvorplatz und ging zum Taxistand. Ein böiger Herbstwind blies ihm ins Gesicht, und Maximilian war froh, als er im Wagen saß.

Alles hatte sich geändert, seit er damals vor sieben Jahren zum ersten Mal in diese Stadt gekommen war. Nach seiner abenteuerlichen Flucht aus seiner Heimatstadt Rathenow 1945 hatte der siebzehnjährige Maximilian seinen einzigen noch lebenden Verwandten in Würzburg ausfindig gemacht. Onkel Carl, der Bruder seines im Krieg gefallenen Vaters, war hier mit Fanny Mockenhaupt verheiratet, der Tochter des reichen Brauereibesitzers Vinzenz Mockenhaupt.

Heute gab es keine schwüle Hochsommerhitze wie damals. Trotz des beschwerlichen Wetters atmete die Stadt den hoffnungsvollen Aufbruch in die neue Zeit, in die Zukunft des erwarteten Wohlstands und beschleunigten Vergessens. Die Trümmerberge der zerbombten Häuser waren weitgehend weggeräumt worden. Straßenbahnen fuhren, und die Auslagen der Geschäfte überboten sich an Fülle und Auswahl. Die zerstörten Brücken über den Main hatte man wieder aufgebaut, und der Pendelverkehr per Boot von Ufer zu Ufer gehörte der Vergangenheit an. Auch der Zug war pünktlich angekommen. Damals, als der Krieg gerade beendet gewesen war, fielen die meisten Züge aus, fuhren Umwege oder hielten auf freier Strecke.

Komisch, dass er ausgerechnet heute an diesen Sommertag damals denken musste! Bis 1950 war er noch regelmäßig hier gewesen. Onkel Carl hatte ihn in jenem Sommer aufgenommen und dafür gesorgt, dass er ein Internat besuchen konnte, um seinen Schulabschluss nachzuholen. Die Ferien hatte er stets in der Mockenhaupt-Villa verbracht, obgleich er sich mit Carls Ehefrau Fanny nicht gut verstand. Nach dem Abitur war er 1948 zum Studium nach München gegangen. Seit dieser Zeit hatte es nur gelegentliche Besuche hier gegeben, mehr eine Pflicht als ein Bedürfnis. Der heutige Besuch wäre der erste nach zwei Jahren, und er war wohlbegründet.

Nach gut zehn Minuten hielt der Taxifahrer vor der Toreinfahrt. Damals, in jenem Nachkriegssommer, hatte das dunkle Schieferdach der Villa in der Glut mittäglicher Hitze geglänzt. Heute rann der Regen in Bächen über die Schindeln. Vom Weinlaub, das schon immer die Fassade der weißen, herrschaftlichen Villa üppig umrankt hatte, waren nur kümmerliche, herbstliche Reste geblieben.

Max bezahlte den Fahrer und eilte zum Eingang. Erst nach einer Weile wurde die Haustür geöffnet.

»Ach, Sie sind es, was für eine Überraschung!«, sagte Frau Wendt, die alterslose, verhärmte Hausangestellte. Es klang wenig erfreut. Das Haar noch stärker ergraut, die Gestalt leicht gebeugt, trug sie immer noch ein dunkles Hauskleid und eine weiße Schürze. Wie damals, als sie ihn in seinen abgerissenen Kleidern mit abschätzigem Blick als bettelnden Flüchtlingsjungen eingestuft hatte, bevor Max seinen Namen nennen konnte.

»Die gnädigen Herrschaften sind in der Brauerei, werden aber zum Mittagessen zurück sein«, meinte Frau Wendt und ließ Max eintreten. »Gehen Sie doch rauf zu den Kindern, Sie haben sie ja lange nicht gesehen.«

Max verspürte wenig Lust dazu. Sohn Vinzenz, genannt nach Fannys inzwischen verstorbenem Vater, war bei Maximilians letztem Besuch zwei Jahre alt gewesen, die Tochter Elisabeth noch ein Säugling. Wie sollten sich die Kinder seines Onkels noch an ihn erinnern?

***

Annette Stern blickte auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde würde der Zug Frankfurt erreichen. Elisabeth Gläser, die Lektorin von Annettes deutschem Verlag, war bereits einen Tag zuvor angereist. Sie begleitete die Autorin auf ihrer Lesereise durch die junge Bundesrepublik. Die Veranstaltung am nächsten Tag war ausverkauft, die Vorberichte der örtlichen Presse hatten die Menschen neugierig gemacht. Annettes Roman Die Geschwindigkeit der Stille, in den USA bereits ein Bestseller, fand trotz des bedrückenden Themas auch in Deutschland seine Leserschaft. Vor allem Studenten interessierten sich für den autobiografischen Text einer jungen Jüdin, die den Holocaust überlebt und durch glückliche Umstände in Amerika ein neues Zuhause gefunden hatte.

Im Erste-Klasse-Abteil saß ein älteres Ehepaar. Die Frau strickte an einem zweifarbigen Pullover mit kompliziertem Muster. Das Geklapper der flink geführten Nadeln empfand Annette als ebenso monoton wie störend. Der Ehemann, mit Glatze und roter, poröser Knollennase, war darüber seit Langem eingeschlafen und schnarchte hin und wieder. Der linke Jackettärmel war oberhalb des Ellbogens mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Wo mochte der Mann im Krieg seinen Arm verloren haben? Wo war er gewesen, was hatte er getan? Seit Annette für kurze Zeit wieder zurück in ihrer alten Heimat war, stellte sie sich immer wieder diese Frage, wenn ihr deutsche Männer begegneten. Wie viele von ihnen waren Täter gewesen? Wächter in den Lagern? Folterer in den Gestapo-Gefängnissen? Selektionschefs an der Rampe von Auschwitz? Mörder und Verbrecher?

Sie schloss die Augen und dachte an Maximilian. Vor drei Tagen erst waren sie einander bei ihrer Münchner Lesung wiederbegegnet, nach all den Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit. Maximilian, der Sohn einer Nazi-Familie, hatte Annette im Jahr 1944 in seinem Elternhaus in Rathenow versteckt und ihr damit zunächst das Leben gerettet. Alles hatte er für sie riskiert, denn schon damals hatte er zu Annette eine tiefe Zuneigung empfunden, was auf Gegenseitigkeit beruht hatte. Dass später alles anders gekommen war, als die Gestapo Annette doch noch verhaftet und in ein Arbeitslager verschleppt hatte, war einer unglücklichen Verkettung von tragischen Zufällen geschuldet. Maximilians Onkel Carl und auch seine Stiefmutter Else von Paalsick hatten dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Vor drei Tagen in München hatten Max und Annette voneinander erfahren, was damals wirklich geschehen war. Beide waren von Carl und Else hintergangen und verraten worden. Kurz vor Kriegsende hatte Max jeden Kontakt zu seiner Stiefmutter abgebrochen. Nun suchte er die Gelegenheit, seinen Onkel in Würzburg mit der Wahrheit zu konfrontieren.

Nach weiteren Lesungen in Frankfurt, Köln und Düsseldorf würden Max und Annette sich erst zwei Wochen später in Hamburg wiedersehen, wo Annettes Lesereise endete. Sich danach von Maximilian zu trennen und zurück in die Staaten zu reisen, erschien ihr unvorstellbar. In den wenigen Stunden ihres Zusammenseins in München hatte sich das verfestigt, was beide in ihrer Jugendzeit bereits empfunden hatten: eine tiefe Liebe. Lang aufgestaute Gefühle und Sehnsüchte durften endlich Erfüllung finden. Das sichere Wissen, dass das Schicksal sie füreinander bestimmt hatte, würde sie für immer verbinden. Auch wenn sie auf zwei Kontinenten lebten, waren sie guten Mutes, in nicht allzu ferner Zukunft eine Lösung zu finden. Zusammenleben, eine Familie gründen, Hindernisse und Grenzen überwinden. Alles schien möglich in der neuen Zeit, die Welt stand ihnen offen! Only the sky is the limit, hatte Annette ihrem geliebten Max in der letzten Nacht zugeflüstert.

Zweites Kapitel

Fanny von Paalsick, geborene Mockenhaupt, ließ sich nicht anmerken, wie wenig willkommen der Neffe ihres Mannes in ihrem Haus war. Ihre Abneigung Max gegenüber hätte sie nur schwer begründen können. Es war eher das Gefühl, dass durch ihn immer wieder eine dunkle Seite aus Carls Vergangenheit hervorschimmerte. Irgendetwas musste damals im Krieg geschehen sein, das Carl ihr verheimlicht hatte. Nachdem Max seinerzeit in Würzburg aufgetaucht war, hatte sich wenig später Carls Schwägerin Else eingefunden, ausgerechnet am Tag von Fannys Verlobung mit Carl. Das ganze Fest war ruiniert worden, denn Else von Paalsicks plötzlicher Besuch hatte zu einem peinlichen Eklat geführt. Die genauen Hintergründe waren Fanny verborgen geblieben, doch der lautstarke Streit zwischen Else und Carl hatte den Schluss zugelassen, dass Eifersucht und verschmähte Liebe der Grund gewesen war.

Maximilian saß ihr gegenüber am Mittagstisch, ein großer, gut aussehender, doch eher schüchterner, in sich gekehrt wirkender junger Mann. Seine Augen jedoch blickten beinahe kalt und mit einer Spur von Verachtung. Carls höfliche Fragen nach seinem Physikstudium beantwortete er knapp und widerwillig.

Fanny lächelte ihm zu. Haltung und Höflichkeit waren etwas, das ihre brasilianische Mutter Ana ihr mit auf den Lebensweg gegeben hatte. Heutzutage lebte sie wieder in São Paulo, wo Vinzenz Mockenhaupt sie bei seiner Südamerikareise Anfang der Zwanzigerjahre kennen- und lieben gelernt hatte. Sie war ihm nach Europa gefolgt, und nach seinem Tod 1950 hatte sie sich nach ihrer Heimat São Paulo gesehnt, wo sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Joao die Kaffeeplantage ihrer Familie leitete.

»Noch etwas Gemüse, Maximilian?«

»Nein, danke.«

»Fährst du heute wieder zurück nach München?« Fanny hoffte es inständig.

»Ja, natürlich. Ich bin auch nur gekommen, um etwas mit Onkel Carl zu klären.«

Carl tupfte sich den Mund ab. »Was denn, Max? Ich habe nicht viel Zeit. Ich erwarte einen Geschäftspartner in der Brauerei.«

Aus der Tasche seines Jacketts holte Maximilian ein Buch hervor und legte es neben Carls Teller.

»Hier, ein kleines Geschenk für dich, Onkel Carl.«

»Aha, ein Buch! Was ist es denn?« Neugierig betrachtete er den Einband. »Die Geschwindigkeit der Stille, Roman von Annette Stern.« Verblüfft blickte er seinen Neffen an, dann traf ihn die Ahnung mit voller Wucht.

»Sag mal, das ist doch nicht etwa …«, murmelte er und strich sich hektisch die inzwischen spärlichen Haare aus der Stirn. Seine Augen flackerten, seine Hand zitterte leicht.

Unverwandt hatte Max ihn beobachtet.

»Doch, das ist sie, die Jüdin Annette Rosenthaler; heute allerdings ist ihr Name Stern. Sie hat überlebt, obwohl du alles dafür getan hast, sie in den Tod zu schicken.«

In die plötzliche Stille im Raum platzten zwei laute Schläge der Standuhr. Während Carl das Buch auf den Tisch fallen ließ und kein Wort hervorbrachte, fasste sich Fanny als Erste. Irritiert schüttelte sie den Kopf.

»Moment mal, Max, was behauptest du denn da?« Sie wandte sich an Carl. »Du hast doch dieses Judenmädchen damals gerettet und in Sicherheit gebracht!«

Max lachte kurz auf. »Ach, hat er dir das erzählt? Dann lies dieses Buch, Fanny, da steht alles drin über deinen Mann und das, was er getan hat. Pech für dich, Onkel Carl, dass Annette überlebt hat. Sie ist inzwischen amerikanische Staatsbürgerin und eine bekannte Schriftstellerin. Du musst damit rechnen, dass sie dich vor Gericht verklagen wird für alles, was du, und auch meine Stiefmutter, ihr damals angetan habt.«

Immer noch hatte Carl kein Wort gesagt. Fahrig wanderte sein Blick zwischen Max und seiner Frau hin und her.

»Sag etwas, Carl!«, bemerkte Fanny streng. »Stimmt das alles?«

Carl schüttelte den Kopf. »Ein Roman beweist noch lange nichts«, erwiderte er vehement. »Max hat doch keine Ahnung, in welche Situation er seine Familie damals gebracht hatte!«

Fanny spürte, wie Ärger und ein Anflug von Entsetzen in ihr hochstiegen. Carls Geschichte von der heldenhaften Rettung eines jüdischen Mädchens war offenkundig eine Lüge gewesen. Sie ahnte, was dies für ihr Leben, ihre Familie und den Ruf der Brauerei bedeuten könnte, sollte diese Annette ein Gerichtsverfahren anstreben.

Maximilian erhob sich.

»Danke für das Essen, Fanny. Und dir, Onkel Carl, wünsche ich, dass du eines Tages für alles geradestehen musst. Damit meine ich auch den Verrat an meinem Vater. Auf widerliche Weise haben meine Stiefmutter und du ihn damals betrogen. Nachdem er euch in flagranti erwischt hatte, sah er keine andere Möglichkeit, als sich freiwillig an einen Gefechtsabschnitt zu melden, der den sicheren Tod bedeutete.«

Carl sprang auf und knallte seine Serviette auf den Tisch. Sein Gesicht war rot angelaufen.

»Was erlaubst du dir! Wer hat dich denn nach dem Krieg aufgenommen? Wer hat es dir ermöglicht, dass du in München studieren kannst? Ist das der Dank dafür?«

»Das war wohl das Mindeste an Wiedergutmachung für deine schäbige Handlungsweise an Papa! Im Übrigen zahlst du für mein Studium keinen Pfennig.«

»Das wäre ja auch noch schöner, Max!« Fanny war ebenfalls aufgestanden. Ihre dunklen, exotischen Augen blitzten zornig, ihr blutrot geschminkter Mund verzog sich auf hässliche Weise. »Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst!«

Maximilian war bereits an der Tür. Als Letztes sah Fanny ein Lächeln der Genugtuung auf seinen Lippen. Als die Tür zugefallen war, ließ sie sich auf ihren Stuhl gleiten. Sekundenlang schlug sie die Hände vors Gesicht und stöhnte laut auf.

»Was bist du doch für ein Vollidiot, Carl!«

Wie ein Häufchen Elend stand er vor ihr.

»Es tut mir leid, Fanny, ich konnte doch nicht ahnen …«

»Ach ja? Du konntest nicht ahnen? Wieso hast du die Sache damals nicht zu Ende gebracht, wenn du dich schon in die Familienangelegenheiten deines Bruders eingemischt hast und ein jüdisches Mädchen aus dem Weg räumen wolltest?«

»Es war Elses Idee gewesen, diese Annette unschädlich zu machen.«

»Du meinst, sie zu töten!«

»Sie ist ja nicht tot, wie wir jetzt wissen. Und damals hat Else …«

»Schieb jetzt bloß nicht die ganze Schuld auf deine Schwägerin, mit der du zu allem Überfluss noch ein Verhältnis hattest! Wahrscheinlich habt ihr beide damals ein Komplott geschmiedet, und du hattest es in den Sand gesetzt. In was für einen Schlamassel bist du hineingeraten, und wir alle jetzt mit dir!«

»Damals, im Krieg, waren andere Umstände. Das kannst du nicht verstehen, denn ihr hier in Würzburg habt …«

»Nichts erlebt? Meinst du, nur die Menschen im Osten Deutschlands hätten was erlebt? Unsere Brauerei, das Lebenswerk meiner Familie und unsere Existenzgrundlage, war zerstört! Wäre mein Vater, Gott hab ihn selig, nicht so ein tatkräftiger Mann gewesen, stünden wir heute mit leeren Händen da. Das alles lasse ich mir von dir nicht kaputt machen!« Hektisch trank sie einen Schluck Wasser und murmelte: »Mein Vater hatte damals recht. Von dir hat er nie viel gehalten.«

Carl ging einen Schritt auf sie zu. In seinen Augen standen Wut und Verzweiflung. Er ballte die Faust.

»Wage es ja nicht, Carl«, sagte Fanny leise. Entschlossen straffte sie die Schultern. »Ich sehe nur eine Möglichkeit, wie du noch einigermaßen glimpflich aus der Sache herauskommen kannst. Du musst deine Schwägerin Else kontaktieren, und ihr müsst euch über das damalige Geschehen genau absprechen. Dann wird es schwer, euch irgendetwas nachzuweisen, falls es zu einer Anklage kommen sollte.« Sie sah Carl scharf an. »Einer Anklage wegen Mordversuchs, wenn ich das richtig sehe.«

Hilflos verzog Carl das Gesicht. »Wie soll ich Else denn kontaktieren? Ich weiß ja überhaupt nicht, was aus ihr geworden ist und wo sie heutzutage lebt!«

»Dann streng dich an und finde es heraus!«

Drittes Kapitel

Nach dem Mittagessen blieb Carl zu Hause, während Fanny zurück in die Brauerei fuhr. Den Termin mit einem Kunden hatte er nur vorgetäuscht, um den Besuch seines Neffen abzukürzen. Maximilian erinnerte ihn an die Vergangenheit, an das schwierige Verhältnis zu dessen Vater Heinrich, an all die unschönen Dinge, die damals in Rathenow geschehen waren. Das alles wollte er vergessen. Dass sein Neuanfang mit Fanny Mockenhaupt nach dem Krieg nicht so verlaufen war, wie er es erhofft hatte, lag vor allem an Fannys autoritärem Vater Vinzenz. Patriarch alter Schule, hatte er bis zu seinem Tod die Brauerei geleitet und seinen Schwiegersohn, der sich eine Geschäftsteilhabe erhofft hatte, nur mit unwichtigen Aufgaben betraut. Von verarmten Adeligen hielt Vinzenz senior nicht viel; Männer wie Carl betrachtete er allesamt als Nichtstuer und Mitgiftjäger. Auch die Geburt der beiden Enkelkinder kurz vor seinem Schlaganfall hatte den Alten nicht versöhnlich stimmen können. Die Ehe seiner Tochter mit Carl hatte er notgedrungen akzeptieren müssen, denn nach Rückkehr aus britischer Gefangenschaft war er vor vollendete Tatsachen gestellt worden.

In seinem Schlafzimmer legte Carl sein Jackett ab, lockerte die Krawatte und warf sich aufs Bett. Seit mehr als einem Jahr schliefen er und Fanny in getrennten Zimmern. Es war ihr Wunsch gewesen, und Carl hatte das akzeptiert. Schon lange wurde ihre Ehe nur noch durch die gemeinsamen Kinder zusammengehalten. Sicher, er hätte sich längst von Fanny scheiden lassen können, doch der Preis dafür wäre hoch gewesen, weil der alte Mockenhaupt für einen solchen Fall entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte. Als ehemaliger Berufsoffizier, ohne Studium oder Berufsausbildung, war Carl nach dem Krieg völlig mittellos nach Würzburg gekommen. Die Ehe mit Fanny sollte ihm ein sorgenfreies Leben im Wohlstand garantieren. Dass er finanziell von seiner auch im Privatleben dominanten Frau abhängig war, hatte sein Selbstbewusstsein geschwächt und verbitterte ihn zunehmend.

Durch Maximilians Besuch und die Tatsache, dass Annette Rosenthaler überlebt hatte, war er nun plötzlich mit dieser unseligen Geschichte aus dem Krieg konfrontiert. Kontakt mit Else aufnehmen, sich mit seiner damaligen Geliebten und Komplizin eine glaubhafte und entlastende Geschichte ausdenken – diese Vorstellung schien ihm unerträglich. Nachdem er ihr 1945 auf brutale Weise den Laufpass gegeben hatte, konnte er nicht hoffen, dass sie sich noch einmal mit ihm treffen würde. Else … warum hatte er sich damals mit ihr eingelassen? Vielleicht gerade deshalb, weil sie die Frau seines Bruders war. Der Reiz des Verbotenen, das Spiel mit dem Feuer … Zudem sah sie blendend aus und wusste, wie man bei einem Mann Leidenschaft und Begehren weckt. Eine Zukunft mit ihr und ihrer Tochter Vicky (das Kind seines Bruders!) hatte er nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Else war die Trophäe des Augenblicks gewesen, der günstigen Umstände. Sie hatte ihn geliebt, das wusste Carl. Er hingegen kannte das tiefe Gefühl der Liebe nicht. Auch Fanny liebte er nicht; er hatte sie als Baustein für seine Zukunft gebraucht.

Carl stöhnte, erhob sich vom Bett und strich seine Hose glatt. Vom Flur her drang das Lachen seiner Kinder. Liebte er sie, waren sie ihm wichtig? In diesem Moment hätte er keine Antwort darauf geben können. Er nahm das Buch, das Maximilian ihm mitgebracht hatte. Mit dunkler Vorahnung begann er zu lesen. Im Lauf der nächsten Stunden musste er entsetzt feststellen, dass Annette nichts ausgelassen und alle damaligen Vorkommnisse bis ins Detail festgehalten hatte. Personen- und Ortsnamen waren zwar verändert worden, doch die Geschichte hatte sich genau so abgespielt.

***

Als Maximilian am frühen Abend nach München zurückkehrte, lag Schnee. Mit der Straßenbahn fuhr er vom Bahnhof zur Schellingstraße, wo er bei der Witwe Sedlmayer zur Untermiete wohnte. Zwei Häuser vom Hauseingang entfernt gab es eine Telefonzelle. Max suchte Münzen aus seiner Geldbörse und wählte die Nummer von Annettes Hotel in Frankfurt. In knappen Worten berichtete er von seinem Besuch in Würzburg.

»Du hast deinem Onkel gedroht, ich würde möglicherweise vor Gericht gehen?«, sagte sie überrascht. »Das ist eigentlich nicht meine Absicht, Max.«

»Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen.«

»Das verstehe ich. Aber jetzt, wo du das erwähnt hast … sollte ich mir tatsächlich überlegen, ob ich mir diesbezüglich einen rechtlichen Rat einhole.«

»Ja, das solltest du. Moment – jetzt habe ich kein Kleingeld mehr. Viel Erfolg für heute Abend, ich liebe dich!«

»Ich liebe dich auch …« Dann klickte es in der Leitung.

In seinem Zimmer hatte Frau Sedlmayer den Ofen geheizt. Max war dankbar dafür, denn die Temperaturen zogen weiter an. Aus der Speisekammer holte er sich aus seinem Lebensmittelkörbchen ein Stück Leberwurst, Margarine und Brot. Hin und wieder kam es vor, dass Herta Sedlmayer ihm einen Teller Suppe oder eine Scheibe Leberkäse anbot. Doch heute hatte sie ihn nur knapp begrüßt und war sofort wieder in ihr Wohnzimmer verschwunden, wo sich ihre Freundinnen zum allwöchentlichen Strickkreis (und einem Gläschen Likör) versammelt hatten.

Nach dem bescheidenen Abendbrot vertiefte sich Maximilian in seine Lehrbücher. In fünf Tagen fand die Vordiplomprüfung statt. Danach wollte er mit seinem Professor das Thema der Diplomarbeit besprechen. Bereits während der ersten Semester seines Physikstudiums hatte er sich auf Astrophysik spezialisiert, und sein besonderes Interesse galt der Erforschung des Magnetfelds der Sonne und dessen Rolle bei der Sonnenaktivität. Gute Prüfungsnoten und eine anschließende Doktorarbeit über dieses Thema würden ihm viele Möglichkeiten eröffnen.

»Sehen Sie zu, dass Sie die englische Sprache umfassend beherrschen«, hatte ihm sein Professor vor längerer Zeit geraten. »Begabte junge Naturwissenschaftler wie Sie werden vor allem im Ausland gesucht!«

Diesen Rat hatte er beherzigt und einen Sprachkurs belegt. Um die Englischstunden finanziell stemmen zu können, musste Max sich stark einschränken. Das tägliche Austragen der Zeitung, so schwer es ihm in den dunklen Monaten morgens um vier Uhr auch fiel, war trotz des mageren Stundenlohns ein wichtiger Bestandteil seiner knappen Finanzen.

Viertes Kapitel

Inzwischen war der Regen in Schnee übergegangen. Der Rasen im weitläufigen Garten hinter der Villa in München-Grünwald schimmerte in zartem Weiß. Auf den sorgfältig gestutzten Buchsbäumen, die das Grundstück nach allen Seiten eingrenzten, formten die Flocken erste zaghafte Kreise, die wie Mönchstonsuren aussahen. Der verhangene Himmel dürstete nach Licht, bald würde der Schneefall dichter.

Else saß an ihrem Schminktisch und trug sorgfältig Make-up auf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass Vicky in zwanzig Minuten aus der Schule kam. Auch Elses Ehemann Philipp würde das Mittagessen zu Hause einnehmen. Der wunderbare Duft eines Schweinebratens, die Spezialität der Köchin Vroni und Philipps Leibgericht, durchzog das ganze Haus.

Zufrieden betrachtete Else ihr Gesicht im Spiegel und seufzte wohlig. Wie hübsch sie aussah! Achtundzwanzig Jahre war sie alt. Die großen, minzegrünen Augen hatten nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Das leicht gewellte, naturblonde Haar fiel locker bis auf die Schultern. Bereits in jungen Jahren hatte Else als Inbegriff der schönen, nordischen Frau gegolten, was während der Nazizeit von Vorteil gewesen war. Und auch jetzt, sieben Jahre nach Kriegsende, schien dies immer noch gültig zu sein.

Aus dem Kleiderschrank holte sie ihre Schmuckschatulle. Am Abend sollte es einen kleinen Empfang in der Villa geben. Kollegen ihres Mannes, einige Politiker, Beamte aus der Staatskanzlei und Professoren der Universität waren geladen. Else suchte die Saphirohrringe heraus, die Philipp ihr zum dritten Hochzeitstag geschenkt hatte. Dazu passend schien die Halskette aus Rubinen und Brillanten, ein Geschenk ihres ersten Mannes Heinrich, einziges Erbstück aus dessen adliger Familie. Beide Schmuckstücke harmonierten perfekt mit dem eleganten Cocktailkleid, das gestern aus dem Münchner Modehaus geliefert worden war.

Wie gut hatte das Schicksal es mit ihr gemeint! Aus äußerst bescheidenen Verhältnissen in Thüringen stammend, war Elses Leben in einer Abfolge von steilen Aufstiegen verlaufen. Sicher, es hatte harte Zeiten, Entbehrungen, große Enttäuschungen und Rückschläge gegeben. Doch das Glück hatte sich nie wirklich zurückgezogen, nur manchmal eine Pause eingelegt und abgewartet. Hatte Else mit Heinrich von Paalsick bereits in den Adel eingeheiratet, so war dies wenige Jahre nach Kriegsende durch ihre zweite Ehe in München noch übertroffen worden.

Als ihre große Liebe Carl sie gleich nach Kriegsende verlassen und eine reiche Brauereibesitzerstochter geheiratet hatte, war dies die größte Niederlage in Elses Leben gewesen. Ja, damals … ihre Gedanken eilten noch weiter in die Vergangenheit zurück. Ihre erste Liebesnacht mit Carl in dem romantischen Gasthof in der Nähe des Mütterheims, einige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Vicky. Dann die böse Überraschung bei der Heimkehr nach Rathenow, als Maximilian diese Annette im elterlichen Haus versteckt hatte … Etwas später war es Carls Idee gewesen, das Judenmädchen endlich wegzuschaffen, bevor die Familie ihretwegen in Gefahr geriet. Alles hatte sich zum Besten gefügt! Doch Carl, der geliebte Schwager … er hatte ihre Liebe mit Füßen getreten. Wie eine Wunde empfand sie in diesem Augenblick den Gedanken an ihn. Der Schmerz hatte im Lauf der Jahre immer mehr nachgelassen, doch gänzlich würde er vielleicht nie vergehen.

Nach der Flucht mit ihrer Tochter Vicky aus Thüringen in den Westen war Else 1947 nach München gezogen. Dort fand sie eine Stelle im Schwabinger Krankenhaus, als Sekretärin von Professor Doktor Philipp von Sass-Reynitz, seines Zeichens Chefarzt der Chirurgie und Spross eines bayrischen Grafengeschlechts. Philipp war ledig, kinderlos und fünfzehn Jahre älter als Else. Seine sonore Stimme mit dem bayerischen Akzent, seine schlanke Gestalt, sein Humor und Charme und besonders sein Name sowie sein gesellschaftlicher Status hatten Elses Aufmerksamkeit erregt. Bald stellte sie fest, dass Philipp keine Gelegenheit ausließ, mit ihr zu flirten, ihr Komplimente zu machen. Er hatte Feuer gefangen, und Elses Plan war ebenso klug wie zielgerichtet. Sie ließ Philipp lange zappeln. Wenn sie gemeinsam ausgingen, musste er sich vor ihrer Wohnungstür verabschieden. Sie hatte richtig kalkuliert, denn Philipp war kein Mann, der sich an eine Frau ohne Moral und feste Grundsätze binden würde. Nein, leicht hatte es Else ihm nicht gemacht, und das hatte sich ausgezahlt. Auch war sie nicht in eine Liebesfalle getappt. Geliebt hatte sie nur einmal in ihrem Leben, ihren Schwager Carl, und so würde es bleiben. Sind nicht die besten Ehen die, in denen Klugkeit und Vernunft die Oberhand behalten? Sie ließ Philipp im Glauben ihrer eigenen großen Verliebtheit, die Männern vorzuspielen immer ein Leichtes war. Eines kam zum anderen, und im Sommer 1948 fand die standesamtliche Trauung statt.

Nach einem kurzen Anklopfen wurde jetzt die Tür geöffnet.

»Mama, ich habe eine Eins im Rechnen!«, rief die achtjährige Vicky strahlend. »Als Einzige in der Klasse!«

Niemand hätte übersehen können, dass sich hier Mutter und Tochter gegenüberstanden. Dieselben minzegrünen Augen, das naturgewellte blonde Haar, bei Vicky etwas kürzer geschnitten. Von ihrem Vater Heinrich hatte das Mädchen nur die schmale, aristokratische Nase geerbt. Sie gab ihrer Mutter einen Kuss, und Else betrachtete sie wohlwollend.

»Ich bin sehr stolz auf dich, mein Schatz! Sag es nachher gleich Papa, damit er dir deine Mark gibt.«

Für gute Schulnoten bekam Vicky Geld, das sie in einer Sparbüchse sammelte. Sie wusste, dass der Mann ihrer Mutter nicht ihr richtiger Vater war. Deshalb trug sie auch nicht dessen Namen, sondern hieß Viktoria von Paalsick. Gleich nach der Heirat hatte Philipp Vicky adoptieren wollen, da er selbst keine Kinder zeugen konnte. Doch Else hatte es richtig gefunden, dass Vicky ihren adeligen Geburtsnamen zunächst behielt. Später, wenn sie älter war, sollte sie selbst entscheiden. So war Philipp zwar ihr »Papa« geworden, aber nicht ihr Adoptivvater. Dass es aus Heinrichs erster Ehe noch einen Sohn gab, hatte Else ihrem Mann verschwiegen. Auch Vicky wusste nichts davon.

Von draußen erklang das Schlagen einer Autotür.

»Da kommt Papa!«, sagte Else und schob Vicky zur Tür. »Wasch dir die Hände, gleich gibt es Mittagessen.«

Vicky lief in ihr Zimmer, das am Ende des Korridors lag. Else schlüpfte in ihre Pumps und ging hinunter in die Halle. Philipp klopfte den Schnee von seinem Lodenmantel und betrachtete seine Frau wohlwollend.

»Du siehst wie immer bezaubernd aus, Else!« Er küsste sie. »Ich war zwar stets dagegen, dass Frauen Hosen tragen, aber für diese halblange Gaberdinehose hast du einfach die perfekte Figur!«

Else dankte mit einem Lächeln, legte die Arme um Philipps Hals und erwiderte seinen Kuss.

»Fährst du nach dem Essen noch einmal in die Klinik?«

»Heute habe ich mir den Nachmittag freigenommen. Winterstein übernimmt die beiden noch anstehenden OPs.«

»Wie schön, Philipp! Gegen halb sechs kommen die Gäste.«

Else strahlte. Sie freute sich auf die Abendgesellschaft, bei der sie wie immer im Mittelpunkt stehen würde.

Fünftes Kapitel

Die Post in München-Grünwald wurde immer erst am Nachmittag ausgetragen. Heute lag auch ein Brief für Vicky im Postkasten, und die Haushälterin Fräulein Kaltenbach brachte Else die Briefe und Drucksachen. Während Vicky in ihrem Zimmer Schularbeiten machte, saßen Else und Philipp noch im Esszimmer bei einer Tasse Mokka. Dieses Ritual wurde bei den Grafen von Sass-Reynitz seit jeher gepflegt. Seit Jahrhunderten verschwägert und verwandt mit italienischen und österreichischen Geschlechtern, vermittelte der tägliche Mokka nach dem Mittagessen die Leichtigkeit eines Wiener Kaffeehauses und das südliche Flair Venedigs.

Mit skeptischem Blick betrachtete Else den Brief an ihre Tochter und runzelte die Stirn.

»Schon wieder von Isolde«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich möchte eigentlich nicht, dass Vicky sich so eng mit ihr anfreundet.«

Philipp trank den letzten Schluck Mokka und löffelte geräuschvoll den zuckrigen Satz aus der Tasse.

»Lass sie doch, Liebes. Sie ist acht Jahre alt und braucht Umgang mit Gleichaltrigen.«

»Sie hat doch ihre Schulfreundinnen!«

»Die meisten von ihnen kann sie aber nicht ausstehen.«

»Wenn sie sich nicht um deren Freundschaft bemüht? Diese Isolde ist kein Umgang für sie.«

»Weil sie ein Flüchtlingskind ist und weil ihre Eltern alles verloren haben? Das sind ordentliche Leute. Es kann deiner Tochter nicht schaden, das Leben der einfachen und armen Menschen kennenzulernen.« Es klang weniger tadelnd als liebevoll-nachsichtig.

Else seufzte. Ihr zweiter Ehemann besaß Geld und Reputation, da erschien Vickys Umgang mit dem Kind einer schlesischen Flüchtlingsfamilie mehr als unangemessen. Der Familienname »Przybek« deutete auf polnische Wurzeln hin, und die Bezeichnung »Polacken« lag nahe, obgleich Else sich hütete, das je auszusprechen. Angeblich waren die Przybeks ehemalige Besitzer eines Kaufhauses in Breslau gewesen und hatten bei der Flucht vor der Roten Armee alles verloren. Wie oft hörte man diese und ähnliche Geschichten, die sich nach dem Krieg zumeist nicht beweisen ließen.

Philipp unterbrach ihre Gedanken.

»Alma hält das Mädchen für begabt und intelligent. Sie wird dafür sorgen, dass Isolde übernächstes Jahr die höhere Schule in Murnau besuchen kann.«

Alma war Philipps jüngere Schwester. Sechsundzwanzig Jahre alt, lebte sie unverheiratet und kinderlos auf Schloss Reynitz, dem Stammsitz der Familie in Oberbayern. Als nach dem Krieg Ströme von Flüchtlingen nach Bayern kamen, waren Dutzende von ihnen auf Anordnung der Behörden auf dem Schloss einquartiert worden. Die Eltern und Großeltern von Philipp und Alma waren zunächst nicht begeistert von dieser Flut fremder, verstörter und mittelloser Menschen gewesen, doch Alma hatte sich von Beginn an tatkräftig und mitleidig gezeigt. Sie brachte die Flüchtlinge im Haupthaus unter, schaffte Platz in Nebengebäuden und verwaisten Stallungen, sorgte für Nahrungsmittel und ein geordnetes Miteinander. Die Flüchtlinge, zumeist Frauen, Kinder und Alte, hatten oft Schreckliches erlebt; Kinder waren auf der Flucht verloren gegangen, immer wieder hatten die russischen Soldaten die Flüchtlingstrecks beschossen. Massenvergewaltigungen an Frauen und Mädchen waren an der Tagesordnung gewesen, und im Winter 1945 waren auf Schloss Reynitz als Folge dieser Gräueltaten vier Kinder geboren worden. Eine der jungen Mütter hatte sich daraufhin das Leben genommen. Im Lauf der ersten Nachkriegsjahre waren die meisten Flüchtlinge dann weitergezogen. Manche jedoch waren geblieben und hatten Arbeit auf den Guts- und Wirtschaftsbetrieben der Familie von Sass-Reynitz gefunden. Unter ihnen auch Isoldes Eltern. Der Vater, Günther Przybek, wurde Chauffeur des alten Grafen Ludwig, seine Frau Maria Haushälterin der Adelsfamilie. Von den vier Geschwistern hatte nur Isolde die Flucht überlebt.

Else mochte ihre Schwägerin nicht besonders. Dies lag zum einen daran, dass Alma mit einem goldenen Löffel im Mund geboren war. Zum anderen kümmerte sie sich wenig um Konventionen. Im Alltag lief sie oft in Reitkleidung herum, denn eine ihrer Leidenschaften waren lange Ausritte auf den Ländereien ihrer Familie. Eine andere war die Malerei, der sie sich mit Engagement widmete, seit sie 1944 die Schule im Internat Schloss Salem beendet hatte. Ihre Landschaftsbilder orientierten sich an den Künstlern der Moderne. Für das kommende Jahr plante eine Münchner Galerie eine erste große Ausstellung ihrer Bilder.

Alma liebte es, durch moderne und kühne Ansichten zu provozieren. Warum durften Frauen ohne Einwilligung ihres Mannes keiner Arbeit nachgehen, kein Bankkonto eröffnen, keinen Führerschein machen? Als Familienoberhaupt oblagen dem Mann alle Entscheidungen hinsichtlich des Ehelebens und der Kindererziehung. Frauen hatten nach dem Krieg das Land wieder aufgebaut, Väter und Männer waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Kaum waren sie von dort zurückgekehrt, hatten sie die Frauen aus dem öffentlichen Leben wieder weitgehend verdrängt. Kinder, Küche, Kirche – viel mehr wurde den Frauen nicht zugestanden.

Mit Erfolg hatte sich Alma gegen alle Versuche ihrer Familie gewehrt, sie unter die Haube zu bringen, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Kurzum, Alma war ein Freigeist, lebte ein ungebundenes und finanziell unabhängiges Leben. Die Drohungen ihrer Familie, sie zu enterben, nahm sie nicht ernst. Es gab auch nie Bemühungen, sie auf diese Weise zu disziplinieren. Zu ihrem Bruder Philipp hatte sie ein inniges Verhältnis, während Franz-Joseph, der älteste Sohn und Schlosserbe, seine Schwester oft kritisierte und ihren Lebensstil missbilligte. Franz-Joseph hatte eine langweilige und blutleere Frau aus verarmtem ungarischen Landadel zur Frau genommen, die ihm zwei Kinder geboren hatte. Alma mochte Kinder, doch das Bedürfnis, eigene in die Welt zu setzen, verspürte sie nicht. Mit ihrem schwarzen, welligen Haar, den dunklen Augen und dem sinnlichen Mund (dies alles verdankte sie einem venezianischen Vorfahren) war sie eine schöne Frau, die von vielen Männern verehrt und begehrt wurde. Doch bisher war sie nie eine engere Verbindung eingegangen, und es schien unklar, ob es je dazu kommen würde.

Normalerweise hätte Else den Brief an ihre Tochter sofort geöffnet. Doch in Philipps Beisein wagte sie es nicht, denn er hielt nicht viel davon, Kinder zu sehr zu kontrollieren. So nahm sie Isoldes Schreiben, um es Vicky in ihr Zimmer zu bringen. Ein Umweg auf die Toilette gab ihr die Gelegenheit, die Zeilen zu lesen. In ihrer akkuraten Kinderschrift berichtete das Mädchen von kleinen und größeren Ereignissen auf dem Schloss, von Lehrern und Mitschülern der Dorfschule, wo sie als Klassenbeste glänzte; insgesamt banale Alltagsbegebenheiten. Zum Schluss schrieb sie, wie sehr sie sich auf die Weihnachtsferien freute, wenn sie Vicky endlich wiedersehen würde. Seit Jahren verbrachte Vicky sämtliche Ferien auf Schloss Reynitz. Obgleich nicht blutsverwandt mit der Familie, galt sie als Tochter von Elses adeligem ersten Mann als standesgemäße und ebenbürtige Spielkameradin für Franz-Josephs Kinder, was Else mit Genugtuung erfüllte. Dass Vicky sich mehr zu Isolde hingezogen fühlte, würde sich mit der Zeit erledigen.

Sechstes Kapitel

Zwei Wochen später, es war Anfang Dezember.

Im Büro des Sachbearbeiters auf dem Einwohnermeldeamt in Hamburg knackte die Heizung. Draußen peitschte der Wind die Äste der kahlen Bäume, die vom Dauerregen der letzten Tage wie mit Öl poliert glänzten. In New York, Annettes Lebensmittelpunkt seit vier Jahren, lag bereits Schnee, und über die Weite New Mexicos, wo ihre Adoptiveltern wohnten, zog unter einem tiefblauen Himmel die erste Kältewelle des Winters heran. Sehnsüchtig dachte Annette an ihre neue Heimat Amerika, wohin sie ein glückliches Schicksal nach ihrer Befreiung 1945 geführt hatte. In wenigen Tagen ging ihr Flug zurück nach New York.

Jetzt zog der Sachbearbeiter eine Karteikarte aus dem umfangreichen Registerkasten, den er aus dem Archiv geholt hatte.

»Hier ist es. Adolf-Hitler-Straße 24. Inzwischen ist die Straße natürlich längst umbenannt.« Der etwa vierzigjährige Mann mit Halbglatze und dicker Brille hob den Kopf. In seinem Blick lag etwas Verlegenes, es konnte auch Unsicherheit sein. »Sie heißt nun Winterstraße. Das Haus wurde jedoch im Januar 1945 bei einem Fliegerangriff komplett zerstört. Jetzt steht dort ein mehrstöckiger Neubau.«

»Es gab acht Parteien, daran erinnere ich mich genau«, sagte Annette. »Unsere Wohnung lag im ersten Stock. Gibt es noch Hinweise auf weitere Bewohner, die damals dort gemeldet waren?«

»Hier stehen die Namen aller damaligen Hausmitbewohner.«

Der Mann reichte Annette die Karteikarte. Es war ein beklemmendes Gefühl, in der zweiten Zeile die Namen ihrer Familienmitglieder zu lesen: Dr. Otto Rosenthaler, Frieda Rosenthaler, Annette Rosenthaler und Raimund Rosenthaler. Eltern und Bruder waren als Juden ins Vernichtungslager transportiert worden, und nur durch Zufall hatte Annette als Einzige überlebt.

Sie schluckte und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Dann las sie die anderen Namen.

»Liebenauer!« Sie tippte auf die Karteikarte. »Sie wohnten über unserer Wohnung. Die Tochter war einige Jahre älter als ich, und unsere Mütter waren befreundet. Falls sie noch lebt, weiß sie vielleicht etwas über die Umstände, unter denen meine Eltern damals von der Gestapo abgeholt wurden.«

Der Sachbearbeiter fühlte sich sichtlich unwohl. So schnell wie möglich wollte er die Besucherin loswerden, die so unangenehme Fragen nach der Vergangenheit stellte. Er selbst war niemand, der zurückblickte. Schließlich hatte er in diesem Krieg die Knochen hingehalten und war mit viel Glück vom Tod, einer schweren Verwundung und der Gefangenschaft verschont geblieben.

»Ich sehe rasch nach. Moment, das haben wir gleich.«

Er öffnete einen großen Aktenschrank und suchte nach Karteikästen mit dem Buchstaben »L«.

»Da gibt es mehrere Personen mit dem Namen Liebenauer. Erinnern Sie sich an irgendwelche Vornamen?«

Annette dachte angestrengt nach.

»Hier haben wir eine Luise Liebenauer«, fuhr der Mann fort. »Dann Anton, Dr. Klaus-Peter, Marlies, Wilhelm, aber alle mit anderen Anschriften. Und als Letzte … Dora Liebenauer, Adolf-Hitler-Straße 24.« Fragend blickte er zu Annette.

»Ja, Dora Liebenauer! So hieß die Mutter.« Ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

»Hier steht auch ihre heutige Adresse.«

Annettes Gedanken eilten zurück. Wie ein Puzzle fügten sich kleine Erinnerungsstücke aneinander. Dora Liebenauer, schlank, sehr groß und mit einer Behinderung am Bein. Sie hatte rotes Haar und helle Augen. Ihren Mann hatte sie früh durch Krankheit verloren, und die Tochter war ihr einziges Kind, ebenfalls mit roten Haaren. Als die Behörden Annettes Vater seine Tätigkeit als Rechtsanwalt verboten hatten und die Familie Rosenthaler immer mehr in ihrem Lebensbereich eingeschränkt wurde, hatte sich Dora Liebenauer nicht von der allgemeinen antijüdischen Hetze mitreißen lassen. Nachdem der Bechstein-Flügel von Annettes Mutter, früher Konzertpianistin, requiriert worden war und zunächst kein Ersatz gekauft werden konnte, durfte Frieda Rosenthaler in der Liebenauer-Wohnung ein bis zwei Stunden am Tag auf dem dortigen Klavier spielen. Oft steckte Dora Annette und ihrem jüngeren Bruder Raimund Süßigkeiten zu. Sie verhielt sich nicht wie nahezu alle früheren Freunde und Bekannten, die sich von den Rosenthalers abgewandt hatten, weil sie den gelben Stern tragen mussten. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, doch plötzlich schien es Annette, als sei das alles erst vor wenigen Tagen geschehen.

Sie bedankte sich bei dem Sachbearbeiter, nahm den Zettel mit der Adresse von Dora Liebenauer und ging durch den dichten Regen zurück in ihr Hotel. Neben dem Eingang stand ein kleiner, geschmückter Christbaum. In der Tristesse dieses nasskalten Tages und angesichts ihrer Recherchen zum Schicksal ihrer Familie erschien Annette eine weihnachtliche Stimmung unpassend und befremdlich.

Nach einem frühen Mittagessen im Hotelrestaurant bestellte Annette ein Taxi. Im Telefonbuch war keine Nummer von Dora Liebenauer verzeichnet. So fuhr sie auf gut Glück nach Hamburg-Volksdorf in die Gartenstraße Nummer 4. Das Haus entpuppte sich als Backsteinbau im norddeutschen Stil mit kleinen Fenstern und Reetdach. Unvermindert fiel der Regen. Nachdem sie den Taxifahrer bezahlt hatte, eilte Annette zum Hauseingang und drückte den Klingelknopf. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten, doch nicht vor Kälte an diesem ungemütlichen Tag. Die Frau, die kurz darauf die Tür öffnete, hatte sich nicht wesentlich verändert. Sie mochte Mitte vierzig sein. Spärliche graue Strähnen durchzogen ihr rotes Haar. Ihre hellen Augen blickten müde und mit einer Spur von Beschwernis. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Stock, und Annette erinnerte sich, dass schon damals ihr linker Fuß in einem klumpigen Schuh gesteckt hatte. Unfähig, ein Wort zu sagen, blickte sie Dora Liebenauer an, bis ein Erkennen über das Gesicht der früheren Nachbarin huschte und sie die Hand vor den Mund schlug.

»Mein Gott, das ist doch …« Ungläubig schüttelte die Frau den Kopf. »Annette! Wie sehr du deiner Mutter ähnelst! Wie kommst du hierher, wie hast du überhaupt …« Ihre Stimme brach ab, und in ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen.

»Entschuldigen Sie, dass ich hier so einfach aufkreuze. Aber ich hatte keine Telefonnummer von Ihnen.«

Dora griff nach Annettes Arm.

»Jetzt komm erst einmal herein. Du liebe Güte, ich kann es noch gar nicht fassen!« Ihr Gesicht war vor Aufregung rot angelaufen.

Seit zwei Stunden saßen sie am warmen Kachelofen im Wohnzimmer, dessen Fenster zum Garten hin lagen. Der Raum war klein, und die Einrichtung wirkte überladen. Auf einer wuchtigen Kredenz standen gerahmte Fotografien der Familie. Soeben hatte Dora Liebenauer eine neue Kanne Tee aufgebrüht.

Inzwischen hatte Annette von ihrer Fluchtgeschichte und der Adoption durch das jüdisch-amerikanische Ehepaar Stern erzählt und Dora ein signiertes Exemplar ihres Romans Die Geschwindigkeit der Stille überreicht. »Alle Einzelheiten sind im Buch festgehalten«, hatte sie hinzugefügt. Dora zeigte sich beeindruckt von Annettes neuem Leben in Amerika, von ihrem Erfolg als junge Schriftstellerin. Noch immer konnte sie es nicht fassen, dass die einzige Überlebende der Familie Rosenthaler plötzlich in ihrer Guten Stube saß.

»Wie ist es Ihnen denn damals ergangen, Frau Liebenauer?«

»Nachdem wir im Januar 1945 ausgebombt wurden, kamen wir zunächst bei Verwandten im Alten Land unter«, berichtete Dora. »Ich fand Arbeit bei einem Bauern, was insofern großes Glück war, weil wir nicht hungern mussten wie Tausende anderer. Du erinnerst dich doch an meine Tochter? Mechthild erkrankte 1946 schwer, hat es aber gut überstanden. Heute ist sie in Bremen verheiratet, und ich habe drei Enkelkinder!« Ein Lächeln huschte über Doras Gesicht. »Wenn sie nächstes Wochenende kommt und ich ihr von dir erzähle … das glaubt sie sicher nicht! Es ist ja auch das reinste Wunder!«

Annette nickte. Auch für sie war es lange Zeit ein Wunder gewesen. Immer wieder litt sie unter Schuldgefühlen, dass sie überlebt hatte und ihre Familie nicht. Jetzt war der Zeitpunkt für Fragen gekommen, so schwer ihr diese auch fielen und sosehr sie sich davor fürchtete.

»Bitte erzählen Sie mir, was damals mit meinen Eltern geschehen ist«, sagte sie mit belegter Stimme.

Dora setzte sich im Sessel zurecht und zündete sich eine Zigarette an.

»Viel kann ich dir nicht erzählen, Annette«, begann sie. »Und leicht fällt es mir auch nicht. Ich weiß nur, was an jenem Morgen passiert ist. Es war gegen vier, halb fünf. Ich wurde durch heftiges Gepolter im Treppenhaus wach. Sofort war mir klar, was das bedeutete. Eure Familie war die einzige jüdische in unserem Haus, und deine Eltern hatten immer damit gerechnet, dass die Gestapo eines Tages vor der Tür stehen würde. Du warst ja zum Glück nicht zu Hause.«

»Weil ich mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus lag.«

»Ja, daran erinnere ich mich. Noch im Treppenhaus haben die Gestapoleute immer wieder herumgebrüllt und gefragt, wo die Tochter ist. Doch deine Eltern haben nichts verraten. Ich dachte mir damals, die finden sowieso heraus, wo du bist, und dann …«

Sie hielt einen Moment inne und senkte den Blick. »Aber zum Glück ist es ja anders gekommen, dem Herrn sei Dank! Doch nun zu dem, was passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich dir wirklich alles erzählen soll, Annette. Es war ganz furchtbar, und das ist vielleicht für dich …«

»Nein, Frau Liebenauer, ich möchte alles genau wissen!«

Dora zögerte kurz und schenkte Tee nach.

»Also gut … Aber es fällt mir nicht leicht, glaub mir.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Dein kleiner Bruder hat die ganze Zeit fürchterlich geweint. Vergeblich hat dein Vater versucht, ihn zu beruhigen. Raimund hatte so schreckliche Angst, dass er sich sogar …« Sie sprach nicht zu Ende, doch Annette wusste, was sie sagen wollte. Es schnürte ihr die Kehle zu, und erneut zitterten ihre Hände.

»Was war mit den anderen Nachbarn?«, fragte sie leise.