Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Hochspannung für alle Frankreich-Fans – entdecken Sie den fesselnden Kriminalroman „Die unbekannte Dritte“ von Alexandra von Grote jetzt als eBook bei dotbooks. Unter mysteriösen Umständen wird eine Deutsche in der Provence erschossen. Die Berliner Kommissarin Florence Labelle wird von ihren französischen Kollegen um Unterstützung gebeten. Zu den Hauptverdächtigen gehört die bekannte Chanson-Sängerin Cathérine Volet, Nichte des französischen Präsidenten. Doch sie war die Geliebte der Ermordeten. Hatte sie wirklich ein Motiv? Florence findet noch andere potenzielle Täter, denn die Tote hatte viele Geheimnisse und eine dunkle Vergangenheit ... Die Presse über Alexandra von Grotes Kriminalromane: „Alexandra von Grote schreibt spannende Krimis, sie vermittelt ein Lebensgefühl voller Intensität und Leichtigkeit.“ Freie Presse – „Spannung, detailverliebte Milieuschilderungen und stimmige Figuren sind die Zutaten eines Krimi-Menüs, das jedem Fan des Genres munden wird.“ Fränkische Nachrichten Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die unbekannte Dritte“ von Alexandra von Grote – der Auftakt der Krimi-Reihe um Kommissarin Florence Labelle. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über dieses Buch:
Unter mysteriösen Umständen wird eine Deutsche in der Provence erschossen. Die Berliner Kommissarin Florence Labelle wird von ihren französischen Kollegen um Unterstützung gebeten. Zu den Hauptverdächtigen gehört die bekannte Chanson-Sängerin Cathérine Volet, Nichte des französischen Präsidenten. Doch sie war die Geliebte der Ermordeten. Hatte sie wirklich ein Motiv? Florence findet noch andere potenzielle Täter, denn die Tote hatte viele Geheimnisse und eine dunkle Vergangenheit ...
Die Presse über Alexandra von Grotes Kriminalromane: »Alexandra von Grote schreibt spannende Krimis, sie vermittelt ein Lebensgefühl voller Intensität und Leichtigkeit.« Freie Presse »Spannung, detailverliebte Milieuschilderungen und stimmige Figuren sind die Zutaten eines Krimi-Menüs, das jedem Fan des Genres munden wird.« Fränkische Nachrichten
Über die Autorin:
Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr. phil. Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin. Seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt. Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich.
Bei dotbooks erschienen bereits die Romane »Die Geschwindigkeit der Stille«, »Die Nacht von Lavara«, »Die Stunde der Schatten«, der Kriminalroman »Nichts ist für die Ewigkeit« sowie die Provence-Krimi-Reihe um Florence Labelle: »Die unbekannte Dritte« »Die Kälte des Herzens« »Das Fest der Taube« »Die Stille im 6. Stock«
Zudem veröffentlichte Alexandra von Grote bei dotbooks die Krimi-Reihe um Kommissar LaBréa: »Mord in der Rue St. Lazare« »Tod an der Bastille« »Todesträume am Montparnasse« »Der letzte Walzer in Paris« »Der tote Junge aus der Seine« »Der lange Schatten«
Mehr Informationen über Alexandra von Grote finden Sie auf ihrer Website: http://www.alexandra-vongrote.de
***
eBook-Neuausgabe März 2023
Copyright © der Originalausgabe Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1998
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von shutterstock/ GranTotufo, ixpert, OlegRi
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95520-769-4
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die unbekannte Dritte« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Alexandra von Grote
Die unbekannte Dritte
Ein Provence-Krimi
dotbooks.
Als Gilbert Cosme die Dorfstraße entlanggeht, ist es fünf Uhr dreißig.
Noch immer brütende Hitze. Seit Wochen ist kein Tropfen Regen gefallen. In einzelnen Kommunen des Départements muß das Wasser bereits rationiert werden. Mittags fahren Aluminiumtankwagen in die Dörfer, und die Menschen stehen mit Eimern und Plastikkanistern Schlange. Da hat man hier in Blans noch Glück.
Die Kinder des Dorfes schlagen in der Mittagshitze rohe Eier auf die Straße. Nach vier Minuten wird das Eigelb hart.
Blans hat nicht mehr als hundert Einwohner. Noch Anfang der fünfziger Jahre waren es fast dreimal soviel. Etliche Häuser stehen leer und verlassen. Die Fensterläden sind verriegelt, und auf ausgetretenen Steinstufen wuchert wilde Minze. Dazwischen liegen zerbrochene Ziegel, die der Mistral im Lauf der Jahre von den Dächern gefegt hat.
Eine Kapelle aus dem 12. Jahrhundert oder eine kleine Tropfsteinhöhle als Touristenattraktion – das gibt es in Blans nicht. Das hat dazu geführt, daß sich nur selten Fremde in den Ort verirren. Selbst zur Hochsaison, obwohl Blans keine zwanzig Kilometer von Nîmes entfernt ist und man zum Meer nur eine gute Stunde braucht.
Der staubige Platz in der Dorfmitte liegt bereits zur Hälfte im Schatten. Einige alte Männer in blauen Arbeitshosen und schmuddeligen Unterhemden spielen Boules.
An der Längsseite des Platzes befindet sich das Café Embuscade, die einzige Kneipe am Ort. Elise Lamarque, die Wirtin, wischt gerade einen der Tische ab, die auf dem Bürgersteig stehen, und nimmt dann die Bestellung eines jungen Pärchens entgegen, die einzigen Gäste.
Wahrscheinlich Touristen, denkt Gilbert, und seine Vermutung wird bestätigt durch den vor dem Café parkenden Peugeot 404, Baujahr 78 oder 79, mit holländischem Kennzeichen.
»Bonjour, Madame Lamarque!« Gilbert ist vor dem Café angekommen.
»Salut, Gilbert.« Elise hält Gilbert ihre Wangen hin, und die beiden begrüßen sich mit den drei üblichen Küßchen.
Elise geht zurück ins Café, wo sie sich hinter der Bar zu schaffen macht und zwei Perrier-Menthe vorbereitet. Gilbert folgt ihr.
»Sollte Claire heute nicht kommen?«
»Nein, morgen erst«, antwortet Elise. Dann schaut sie Gilbert prüfend an. »Sag mal, hast du wieder Ärger zu Hause?«
Gilbert antwortet nicht. Er betrachtet die Fingernägel seiner rechten Hand. Sie sind bis auf das Nagelbett abgebissen.
»Einen Kaffee?« Elise stellt eine Tasse unter die Espressomaschine. Während der Kaffee durchläuft, legt sie zwei Stück Zucker auf die Untertasse.
»Hier«, sagt sie und schiebt den fertigen Espresso über den Tresen. »Du könntest wahrscheinlich eher einen Pastis gebrauchen. Aber ich weiß ja, daß du keinen Alkohol mehr trinkst.«
Elise nimmt das Tablett mit den beiden Perrier-Menthe und geht nach draußen an den Tisch der holländischen Touristen.
Gilbert rührt die beiden Zuckerstücke in den Kaffee.
Schon als kleiner Junge hatte er sich immer eine Mutter wie Elise Lamarque gewünscht. Er hatte Claire stets um ihre Familie beneidet, vielleicht weil es keinen Ehemann und Vater im Haus gab. Und Philippe, Claires älterer Bruder, war auch wie ein älterer Bruder für Gilbert. Die Lamarques hatten ein richtiges Zuhause. Als Gilbert und Claire noch zur Schule gingen (sie waren in derselben Klasse), aß Gilbert zwei- bis dreimal in der Woche bei den Lamarques zu Abend, froh, der eigenen häuslichen Misere zu entrinnen.
Seit Jahren hat er einen immer wiederkehrenden Traum: Er kommt in die Küche seines Elternhauses. Die Küche ist riesengroß, viel größer als in Wirklichkeit. Dort steht sein Vater mit dem Rücken gegen die Wand. Von allen Seiten stürzen Raubtiere auf ihn zu und reißen ihn in Stücke. Panisch rennt Gilbert aus der Küche, den Todesschrei seines Vaters im Nacken. Als er in den Hausflur kommt, sieht er in einer Ecke auf einem Kehrblech den abgeschnittenen Kopf seiner Mutter. Die Augen leben noch, sie verfolgen ihn. Er rennt aus dem Haus und wacht auf, noch ehe er die Straße erreichen kann.
Gilbert leert seine Tasse mit einem Zug, legt ein paar Francstücke auf den Tresen und verläßt das Café. An der Tür stößt er fast mit Elise zusammen, die ihm nur noch nachrufen kann:
»Versuch's morgen abend. Dann ist Claire sicher da!«
»Ja, ja«, antwortet er und dreht sich kurz um.
»Vielleicht hat sie irgendwann mal Lust, nachts mit mir rauszukommen. Saturn beobachten!«
»Bestimmt!« antwortet Elise. Dann schüttelt sie den Kopf und verfolgt Gilbert einen Moment lang mit ihren Blicken, wie er über den Platz geht.
Ein Kindskopf, denkt sie. Will einfach nicht erwachsen werden. Und das mit sechsundzwanzig Jahren. Seine Mutter, die arme Madeleine, muß zwei Kerle durchfüttern, die ihr auf der Tasche liegen. Dabei hat sie seit Jahren schwere Rückenprobleme, und der Putzjob, mit dem sie die Familie über Wasser hält, ist Gift für sie.
Aber irgendwie hat Gilbert natürlich auch seine liebenswerten Seiten. Die gibt es bei jedem Menschen, egal, ob er es im Leben mal zu etwas bringt oder nicht. Außerdem ist er ein Freund ihrer Tochter Claire.
Ja, ein Freund, weiter nichts. Gott sei Dank hat das Schicksal Elise davor bewahrt, jemanden wie Gilbert zum Schwiegersohn zu bekommen. Das muß man Claire lassen: Sie hat Instinkt für Menschen und einen kühlen Kopf in Sachen Liebe.
Mit einem zärtlichen Lächeln für ihre Claire geht Elise hinter den Tresen zurück.
Gilbert lenkt seine Schritte auf ein geräumiges Haus mit lila Fensterläden. Am Eingang ein Schild: Poterie.
Vor dem Haus parkt ein Mercedes 500, silbermetallic, mit deutschem Kennzeichen. Gilbert kennt den Besitzer. Er ist ein Geschäftspartner von Tommy, dem Töpfer. Ein stinkreicher Knopf aus München. Inhaber eines Antiquitätengeschäftes und einer Keramikboutique. Einer von Tommys besten Kunden. Gilbert durchquert den dunklen Flur und erreicht den dahinter liegenden Innenhof der Poterie.
Die Doppelglastür zum Atelier steht offen, und Gilbert tritt ein.
Tommy räumt gerade den Brennofen aus, der in der Mitte des Ateliers steht. Als er Gilbert sieht, hält er ihm eine frischgebrannte Keramik entgegen.
»Wie findest du das?«
»Na ja ...«
Gilbert wirft nur einen kurzen Blick darauf. Dann zuckt er mit den Schultern. Was soll das sein? Eine Art Hut, Damenhut mit Krempe, Farbe Türkis, mit bunten Blumen darauf. Er findet Tommy insgesamt in Ordnung, aber mit den Keramiken kann er nichts anfangen. Töpfersachen müssen Gebrauchsgegenstände sein. Tommys Arbeiten haben keinerlei Nutzwert. Die Leute hängen sich die Dinger an die Wand oder stellen sie in eine Vitrine. Wozu? Wenn er Geld hätte, würde er sich bestimmt nicht so einen Firlefanz kaufen.
»Kommst du heute nacht mit raus?« fragt er Tommy. »Es wird eine klare Nacht. Und heute steht Saturn in Opposition zur Sonne.«
Tommy nickt vage mit dem Kopf. »Vielleicht«, sagt er und betrachtet stolz seine Keramiken. »Wenn ich nicht zu müde bin. Ich hab unheimlich geackert in den letzten Tagen, damit Werner die Sachen heute abend mit nach München nehmen kann.«
»Genau«, sagt eine männliche Stimmt mit ausländischem Akzent.
Aus dem angrenzenden Raum, vom Atelier durch eine Tür und eine große Fensterscheibe getrennt, betritt ein gutgekleideter Mann Ende Dreißig das Atelier. Er streckt Gilbert lachend die Hand hin.
»Salut.«
»Salut«, sagt Gilbert etwas unsicher.
Er mag Werner nicht. Dieser Deutsche schwimmt im Geld. Er kann sich sicher nicht vorstellen, wie es ist, wenn man von seinen Eltern und vom Sozialamt abhängig ist.
»Schade, daß ich heute abend zurück nach München muß«, sagt Werner. »Sonst wäre ich mal mit dir rausgegangen auf deine Sternwarte.«
»Ja, schade«, antwortet Gilbert und ist froh, daß aus dieser Idee nichts wird. Das fehlte noch! Dieser Typ hat so viel Geld, daß er sich ein 300er Schmidt-Cassegrin kaufen könnte, während er sich seit Jahren mit diesem 100er Secondhand-Refraktor ohne vollautomatische Steuerung behelfen muß. Das ist so, als ob ein Konzertpianist auf einem verstimmten Flügel spielen müßte ...
Na ja, eines Tages wird sich Gilbert dieses Superteleskop aus den USA bestellen, mit computergesteuerter Koordinateneinstellung und der entsprechenden Software. Und dann wird der Andromedanebel nicht nur als milchiger Punkt zu sehen sein, sondern in seiner wahren Form einer Spiralnebelgalaxie.
Gilbert verabschiedet sich und beschließt, auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen. Dort wird er sich zum hundertsten Mal in den Prospekt des 5000 Dollar teuren Schmidt-Cassegrin-Teleskops vertiefen. Was gibt es Schöneres, als von etwas zu träumen, das man eines Tages wie durch ein Wunder zu besitzen erhofft?
Früher als geplant kommt Cathérine aus Paris zurück und parkt ihren staubigen Landrover auf dem Kiesweg im Park.
Sie geht durch die Pforte, die in den quadratischen Innenhof führt, und überquert ihn Richtung Herrenhaus. An den Stallungen bleibt sie einen Moment stehen. Aus einer der Boxen hört sie Miras Schnauben. Sie öffnet den oberen Teil der Stalltür, und Mira streckt ihren Kopf heraus. Cathérine streicht mit ihren Händen über Miras Nüstern, sagt ein paar beruhigende Worte und geht weiter.
Cathérine ist eine große Frau, Anfang Fünfzig, die trotz zunehmenden Alters ihre schlanke Figur behalten hat. Der ideale Körper für maßgeschneiderte Hosenanzüge, die sie früher bevorzugte. Feinste englische Tuche. Glencheck, dunkelblauer Nadelstreifen. Leinenstoffe.
Heute trägt sie eine dünne weiße Gabardinehose und eine karierte kurzärmelige Hemdbluse. Ihre braungebrannten Arme haben zwar an den Innenseiten ein paar Falten und schlaffe Hautstellen, aber dennoch: Cathérine ist eine attraktive Frau, die ihr Alter besser und erfolgreicher in den Griff bekommen hat als andere.
Früher, als sie noch auf der Bühne stand, waren ihre blonden Haare lang bis auf die Schultern, glatt geschnitten mit Pony. Ihr Markenzeichen sozusagen. Doch seit vielen Jahren sind die Haare nun kurz, was ihren androgynen Typ noch unterstreicht.
Vor der Freitreppe parken Monikas gelber Clio, ein schwarzer Golf Cabrio und der beige R4 von Emmanuelle, der Haushälterin.
Kein menschlicher Laut ist zu hören. Nur das Schreien der Zikaden in den Bäumen der Pinienallee durchbricht die Stille.
Cathérine benutzt den Seiteneingang, durch den früher Dienstboten und Lieferanten kamen, und betritt einen Flur. Er ist kühl und dunkel. Für einen Moment schließt Cathérine die Augen. Der Kontrast zu dem gleißenden Licht der Nachmittagssonne ist so stark, daß kleine schwarze Flecken vor ihren Pupillen auf- und abtanzen.
Am Ende des Flurs erstreckt sich die Eingangshalle, von der aus diverse Türen in die Salons und Kaminzimmer führen.
Die Tür zum venezianischen Salon steht einen Spalt offen. Cathérine geht darauf zu und will gerade etwas sagen, da sieht sie durch den Türspalt Monika und Lucienne.
Die beiden stehen mitten im Raum. Lucienne hat Monika mit beiden Armen umschlungen. Monika hält Luciennes Gesicht in ihren Händen, und die beiden küssen sich. Sie haben die Augen geschlossen. Ihr Kuß wird immer heftiger, und Cathérine sieht, wie Monikas linke Hand jetzt Luciennes rechte Brust umschließt.
Cathérine dreht sich weg. Geräuschlos entfernt sie sich und öffnet die Tür zur Bibliothek. Als sie sie hinter sich geschlossen hat, steht sie eine Weile reglos da und starrt auf den Lichtstreifen, der durch den geschlossenen Fensterladen ins Zimmer fällt.
Also doch! denkt sie, ich habe es geahnt. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich geändert hätte. Das haben die beiden ja schön eingefädelt ... Cathérine atmet tief durch und gibt sich einen Ruck. Jetzt hat sie endlich den Beweis. Betont leise geht sie zurück zum venezianischen Salon und beobachtet die beiden durch den Türspalt. Monika liegt inzwischen in einem der Sessel, Lucienne beugt sich über sie.
»Sag mir, daß du mich liebst.« Luciennes Stimme ist fordernd.
»Ich liebe dich«, flüstert Monika, und Lucienne preßt ihre Lippen auf ihren Mund. Monika schlingt ihre Arme um Lucienne und zieht sie an sich. Lucienne legt sich auf sie, ohne von ihren Lippen zu lassen. Mit ihrem Knie zwingt sie sanft Monikas Beine auseinander, aber die öffnen sich nur allzu bereitwillig. Lucienne bewegt sich rhythmisch zwischen Monikas Schenkeln.
»Begehrst du mich?« fragt Lucienne, und der Druck ihrer kreisenden Bewegungen wird immer stärker.
»Ja. Hör nicht auf!«
Lucienne dreht sich jetzt abrupt zur Seite, um mit der rechten Hand nach Monikas Schoß zu greifen. Monika stöhnt laut.
»Tut das gut? Willst du es so?«
»Ja«, flüstert Monika heiser und bewegt sich auf und ab.
Angewidert und mit einer grenzenlosen Leere im Herzen verläßt Cathérine ihren Beobachtungsposten.
***
Zum zweiten Mal klingelt das Telefon. Als er den Hörer abnimmt, wird wieder aufgelegt.
François Berrière, Politiker und Präfekt des Départements, ist ein Mann, der viel Wert auf seine äußere Erscheinung legt, selbst dann, wenn sein offizieller Tag beendet ist und er keinerlei Repräsentationspflichten mehr hat, sondern seinen Feierabend zu Hause verbringen kann. Von großer und schlanker Statur, trägt er gutsitzende Calvin-Klein-Jeans, ein dunkelgrünes Polohemd und hellbraune Mokassins. Seine von grauen Strähnen gleichmäßig durchzogenen schwarzen Haare, voll und leicht gewellt, sind noch naß vom Duschen.
Komisch, ständig diese anonymen Anrufe. Zu unterschiedlichen Tageszeiten, aber fast täglich klingelt das Telefon, und am anderen Ende wird sofort aufgelegt, wenn er sich meldet.
François Berrière will gerade den Salon verlassen, als das Telefon zum dritten Mal läutet. Im selben Augenblick wird die Tür geöffnet. Chantal, seine Frau, lächelt ihn flüchtig an.
»Laß mich mal rangehen.« Sie nimmt den Hörer ab, sagt: »Hallo?«, wirft ihrem Mann einen kurzen Blick zu und dreht sich dann mit dem Rücken zu ihm.
»Ja? Ach so, nein, nein, Sie stören nicht«, sagt sie zögernd und nimmt den Hörer nervös in die andere Hand. Wieder wendet sich ihr Blick rasch dem Präfekten zu. Der spürt, daß er offenbar unerwünscht ist, und verläßt den Raum. Als er die Tür schließt, vernimmt er gerade noch Chantals Lachen. Es klingt so, als sei sie mit dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung vertraut, als kenne sie ihn schon lange und ...
Auf halbem Wege zu seinem Arbeitszimmer hält der Präfekt plötzlich inne. Der Gedanke, den er zu Ende denkt, ist zwar ungeheuerlich, aber er ist die einzige Erklärung für die fortwährenden Anrufe.
Ja, richtig: Ihr Lachen klingt, als habe sie auf diesen Anruf gewartet.
François Berrière dreht seinen Kopf Richtung Salon, lauscht, doch es ist nichts zu hören.
In einer schnellen Abfolge von Bildern dringen die letzten Monate in seine Erinnerung: Chantal, die mehr und mehr eigene Wege geht; die von einer Stagnation in der Beziehung mit ihm redet; die die Idee hat, sich eine eigene kleine Wohnung zu mieten, als Arbeitsplatz, wie sie sagt, um nicht nur zu Hause an ihren Übersetzungen zu arbeiten, zur Zeit eine Neuübertragung sämtlicher Werke von Joyce.
Der Präfekt hat das alles geduldet und versucht, Verständnis dafür aufzubringen. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, was sie weniger zu bedauern schien als er. Die einst eher schüchterne, introvertierte Tochter aus einflußreicher Familie, deren Elternhaus für ihn das Sprungbrett zu seiner Karriere war, hatte sich zunehmend emanzipiert. Chantal begnügte sich nicht mehr damit, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und in Waisenhäusern zu repräsentieren. Sie vertrat zunehmend eindeutige politische Standpunkte. Letzten Monat empfing sie eine Delegation bosnischer Frauen, unterschrieb eine Petition an den Präsidenten, in der zum Eingreifen Frankreichs im Bosnienkonflikt aufgefordert wurde. Vor wenigen Tagen demonstrierte sie sogar zusammen mit einer Gruppe von Atomkraftgegnern vor der Präfektur gegen die neuen atomaren Versuche auf Mururoa.
Der Präfekt steht regungslos da, seine Augen starren ins Leere.
Und jetzt? Diese ständigen Telefonate und die Tatsache, daß aufgelegt wird, wenn er den Hörer abnimmt?
Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen. Die zunehmende Selbständigkeit seiner Frau muß einen Grund haben, und zwar einen, der weit über politisches Engagement und den Wunsch nach einem eigenen Arbeitsplatz hinausgeht. Etwas ganz Privates steckt dahinter.
Entschlossen geht der Präfekt in sein Arbeitszimmer, nimmt behutsam den Hörer des Telefons ab und lauscht am Zweitapparat den letzten Gesprächsfetzen. Das, was er hört, verwirrt und irritiert ihn, doch es bestätigt seine Vermutung, wenn auch auf völlig andere Weise, als er gedacht hat.
***
Monika öffnet den Knopf ihrer Leinenhose. Sie hat zuviel gegessen, aber was soll's, sie kann es sich leisten. Seit Jahren hält sie ihre Figur, egal wieviel sie ißt. Lucienne findet das beneidenswert, denn die vier Zucchini-Crêpes, die sie selbst verdrückt hat, werden morgen früh sicher auf der Waage zu Buche schlagen.
Monika sieht Lucienne an, die ihr gegenübersitzt. Ihr halblanges schwarzes Haar reflektiert das flackernde Kerzenlicht. Ihre Augen sind blau, aber das verspielt sich in der Dämmerung des Raumes.
Monika spürt noch die flirrende Intensität ihrer mittäglichen Liebesstunde. Niemals hat sie eine Frau so begehrt wie Lucienne. Zum ersten Mal in ihrem Leben gibt sie sich einer Frau richtig hin, läßt sich fallen und ist nicht selbst diejenige, die ihre Gefühle und die Inszenierung der Liebesstunde unter Kontrolle hat. Lucienne mit ihrem weiblichen Körper. Nie hätte Monika gedacht, daß ihr das gefallen könnte. Luciennes Brüste sind voll und groß, ganz anders als die von Cathérine. Bisher dachte Monika immer, daß sie sich nur in große, schlanke Frauen verlieben könnte. Lucienne ist das genaue Gegenteil davon. Sie ist das, was Männer im allgemeinen ein »Vollweib« nennen.
Sie sei ein maßloser Mensch, behauptet Lucienne gern von sich selbst. Maßlos und unersättlich in allem ... Schade, daß Cathérine schon wieder zurück ist. Sie müssen vorsichtig sein und erfindungsreich ...
Monika legt Messer und Gabel auf den Teller und wischt sich mit der Serviette den Mund ab.
»Das war phantastisch, Cathérine!«
»Danke.« Cathérine verzieht keine Miene. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den ersten Rauch mit einer schnellen Bewegung senkrecht in die Luft.
Monika trinkt einen Schluck Rosé.
»Wieso bist du eigentlich früher zurückgekommen?«
Cathérine wirft ihr einen flüchtigen, abschätzenden Blick zu.
»Weil das, was ich zu erledigen hatte, schneller ging als erwartet.«
»Hoffentlich hört das irgendwann auf, dieses ewige Hin- und Herfahren nach Paris. Bei der Hitze!«
Wie geschickt sie sich verstellt! Cathérine muß sich beherrschen, um ihr nicht ins Gesicht zu schleudern, wie sehr sie ihr Spiel durchschaut hat.
»Was macht ihr denn mit dem Rest des Abends?« Cathérines Stimme klingt kühl und sachlich.
»Ich fahre nach Nîmes. In die Spätvorstellung«, erwidert Lucienne schnell.
»Was gibt es denn?« fragt Monika.
»Der englische Patient mit Juliette Binoche.«
»Hab ich schon gesehen. Ich hab dir doch neulich von dem Film erzählt.«
»Ja, stimmt.« Lucienne nickt zerstreut.
»Und du?« Monikas Blick wandert zu Cathérine, die ihr Weinglas mit beiden Händen umfaßt hält, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sie schüttelt den Kopf.
»Ich bin müde von der Fahrt und leg mich früh schlafen.«
Monika faltet ihre Serviette zusammen und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich bringe Tommy frisches Gemüse und gehe danach kurz mit ihm zu diesem Gilbert auf seine Sternwarte. Heute nacht ist irgendwas mit Saturn.«
»Ich denke, du bist Sternzeichen Skorpion?« Lucienne leert ihr Glas mit einem Zug.
»Saturn ist ein Planet.« Monika lächelt. »Und die Sternzeichen bestehen, wie der Name schon sagt, aus Sternen. Das ist ein Unterschied.«
Lucienne winkt ungeduldig ab. »Ja, ja, so genau interessiert mich das nicht.«
Sie legt ihre Hand auf Monikas Arm, zieht sie jedoch sofort zurück, als sie Cathérines Blick wahrnimmt.
»Ich würde ja gern mitkommen, aber ...«, meint Cathérine.
»Nein, nein, laß nur«, sagt Monika schnell und sieht erneut auf die Uhr. »Ich fahre lieber allein.«
»O. K.« Cathérine steht auf. »Ich wünsche euch einen schönen Abend, ob im Kino oder auf der Sternwarte. Also – wer räumt ab?«
»Ich«, sagt Lucienne lustlos.
»Ich helfe dir.« Monika berührt kurz Luciennes Hand und beginnt dann, die Teller zusammenzuräumen.
Cathérine verläßt mit großen Schritten den Raum, als ob sie in Eile wäre.
***
Monika parkt ihren zitronengelben Clio, dessen Schiebedach geöffnet ist, vor der Poterie. Kurz nach zwanzig Uhr, und noch immer steht die Hitze.
Vom Rücksitz nimmt sie einen Korb mit Gemüse: Zucchini, Tomaten, grüne Bohnen und Auberginen. Sie wirft einen kurzen, aber desinteressierten Blick auf den metallicfarbenen Mercedes und geht ins Töpferatelier. Ihre beigefarbene, gutgeschnittene Leinenhose und das ärmellose grüne Trägerhemdchen betonen ihre schlanke, fast mädchenhafte Figur.
Das Auffälligste an Monika sind ihre Haare; braunrote, bis auf die Schultern fallende Naturlocken. Jetzt sind sie wegen der Hitze zu einem Seitenzopf geflochten.
Im Atelier ist Tommy damit beschäftigt, seine Keramikhüte in einer Kiste mit Holzwolle zu verstauen. Als er Monika sieht, blickt er kurz auf und lächelt. »Salut, Monika.«
»Salut. Ich hab dir was mitgebracht. Mit schönem Gruß von Cathérine.« Sie stellt den Korb mit dem Gemüse auf den Ateliertisch und umarmt Tommy.
»Danke.« Tommy gibt ihr drei Küßchen.
Vorsichtig nimmt Monika jetzt einen der noch nicht eingepackten Keramikhüte, betrachtet ihn von allen Seiten und hält ihn an den Kopf, als wolle sie ihn anprobieren.
Tommy lacht. »Dafür ist er zu klein. Aber er würde dir stehen!«
»Er ist unheimlich schön.« Ihre Bewunderung ist echt.
»Ich habe zwanzig Stück gemacht. Für ein Geschäft in München. Und jeder Hut ist anders.«
Monika gibt Tommy den Hut. Der packt ihn zu den anderen in die Kiste.
»Wie geht's bei euch oben?«
»Gut. Cathérine ist gerade wieder aus Paris zurückgekommen.«
»Ich dachte, sie wollte die ganze Woche bleiben?«
»Ja, das dachte ich auch.« Monika hat es plötzlich eilig. »Du, ich muß vorher noch was erledigen. Soll ich dich nachher abholen?«
»Nein.« Tommy überlegt. »Ich bin vielleicht schon oben bei Gilbert, wenn du kommst. Treffen wir uns doch gleich draußen auf der Lichtung.«
Kaum hat Monika die Tür ins Schloß fallen lassen, kommt Werner aus dem hinteren Raum ins Atelier. Er pfeift leise durch die Zähne.
»Wer war denn das?«
Tommy sieht ihn spöttisch an.
»Zu spät. Ich hätte dich vorstellen können.«
»Ich habe euch durch die Glasscheibe beobachtet. Spitze, die Kleine. Sag mal, sind die roten Haare echt?«
»Ich glaub schon.«
»Die sehen so nach Henna aus. Na, ist auch egal. Die Frau weiß jedenfalls, was ihr steht.«
»An der verbrennst du dir die Finger.«
Werner sieht Tommy erstaunt an, dann grinst er.
»Wieso?«
Tommy hat keine Lust, ihm das groß zu erklären. Werner ist sein Geschäftspartner, weiter nichts. Seine Ansichten über Politik und Frauen gehen Tommy auf die Nerven. Daß sie sich duzen, war Werners Idee.
Er wechselt das Thema.
»So, ich wäre jetzt fertig. Wir können alles in deinen Wagen laden, wenn du willst.«
»Ja, sofort. Aber erst sagt du mir, wer die Kleine ist.«
»Du kannst einen wirklich nerven.«
»Ach, komm, tu mir den Gefallen. Nicht jeder ist schließlich so ein Asket wie du, mein lieber Tommy.«
Tommy überhört diese Bemerkung und sagt kühl:
»Also gut, die Kleine heißt Monika.«
»Eine Deutsche?«
»Ja.«
»Macht sie Ferien hier? Doch nicht etwa allein?«
Tommy sieht Werner direkt in die Augen. Habichtsaugen, denkt er. Obwohl sie blau sind. Werner versucht, Tommys Blick standzuhalten, doch nach ein paar Sekunden gibt er auf. Schon stellt er die nächste Frage:
»Wo wohnt sie? Hier im Dorf? Mann, spann mich doch nicht so auf die Folter!«
Tommy sieht Werner verächtlich an.
»Der Jäger auf der Fährte, was? Gut, daß ich Vegetarier bin. Ich kann dich nur bedauern.«
»Du, sie ist genau mein Typ. Außerdem bin ich seit zwei Wochen solo.«
Tommy weiß, daß Werner nicht eher lockerlassen wird, bis seine Neugierde befriedigt ist. Also gut, dann gib dem Affen Zucker ...
»Sie wohnt auf Les Oliviers. Das ist ein Anwesen, davon kannst du nur träumen. Ein alter Herrensitz mit 2000 Hektar Land, und – wie der Name schon sagt – Olivenhainen. Beeindruckt dich das nicht?« Der Sarkasmus in Tommys Stimme ist kaum zu überhören.
»Doch, und wie«, antwortet Werner. »Gehört das alles ihr?«
»Ende der Durchsage. Laß die Finger davon. Beladen wir jetzt den Wagen oder nicht?«
»Na klar!« Werner lacht sein jungenhaftes Lachen und klopft Tommy auf die Schulter. »War doch nur Spaß, Tommy. Du mußt das Leben ein bißchen lockerer nehmen. Vielleicht stellst du mich ihr mal vor, wenn ich das nächste Mal komme, hm?« Werner sieht auf die Uhr. »So, beeilen wir uns. Ich muß los. Wenn ich durchfahre, bin ich morgen früh in München.«
***
Lucienne wirft einen Blick auf die Uhr und wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sucht sich einen Tisch in der Ecke. Als der Kellner kommt, bestellt sie sich einen Kaffee.
Es ist eine schwüle Nacht. Lucienne ist dankbar für den leichten Windhauch, der ab und zu ihre Arme streift, auch wenn er keine Kühlung bringt. Sie schließt die Augen.
Das Leben hat es gut mit ihr gemeint. Beruflich hat sie Erfolg. Demnächst soll sie für Harper's Bazaar eine Artikelserie schreiben mit dem Titel Nachsaison an der Côte. Das wird ihr Sprung ins internationale Geschäft sein, endlich!
Der Kellner bringt den Kaffee, und Lucienne trinkt ihn schwarz und heiß.
Und, was mindestens ebenso wichtig ist, sie hat Erfolg bei Frauen. Sie kennt ihr Geheimnis diesbezüglich nur allzugut. Lucienne hat die Fähigkeit, zuzuhören und Verständnis zu entwickeln, das hat sie schon von Berufs wegen gelernt. Aber das ist nicht alles. Hinzu kommt, daß Lucienne eine gute Liebhaberin ist, was ihr bisher immer wieder bestätigt wurde. Insbesondere ihre letzte Eroberung ... Lucienne seufzt wohlig. Sie ist verliebt in die Liebe. Es erregt sie, eine Frau verrückt zu machen, sie zu beherrschen. Eine Frau zu erobern ist wie ein Kartenspiel, das immer neu, aber auf immer dieselbe Weise gemischt wird. Ein Spiel, das sie immer gewinnt.
Lucienne trinkt den letzten Schluck Kaffee, legt ein paar Münzen auf den Tisch und steht auf. Sie weiß, daß es noch zu früh ist. Langsam schlendert sie den großen Boulevard entlang, der voller Leben ist mit seinen vielen Cafés und Restaurants.
Hin und wieder bleibt sie vor einem Schaufenster stehen. Nach einer halben Stunde biegt sie in die Gasse ein.
***
Gilbert steckt den Schlüssel in das Vorhängeschloß und sperrt die Tür auf. Den Holzschuppen am Rande der Lichtung, etwa einen Kilometer außerhalb von Blans, hat er vor Jahren selbst gebaut. Das Waldstück gehört der Kommune. Nach längerem Hin und Her hatte der Bürgermeister ihm schließlich die Genehmigung zum Bau der Hütte erteilt.
Gilbert trägt Teleskop und Stativ aus dem Schuppen, plaziert das Stativ an einem markierten Punkt und schraubt den Tubus auf. Mit dem bloßen Auge sucht er prüfend den Himmel ab.
Milliarden von Sternen, Nebeln, Sternhaufen und fernen Galaxien. Die Unendlichkeit in ihrer unvorstellbaren Größe ... Ob es irgendwo da oben Leben gibt? Bestimmt. Einige der vielen Sonnen werden sicher auch Planeten haben, auf denen dieselben günstigen Bedingungen für die Entstehung von Leben existieren wie auf der Erde. Wie weit mögen sie dort sein? Gibt es schon Menschen? Hausen sie noch in Höhlen wie bei uns in der Steinzeit? Oder erleben sie bereits die Vorboten des Untergangs ihres Sonnensystems: verwüstete Landstriche, Temperaturen von über achtzig Grad Celsius im Dezember? Werden schon Kriege geführt wegen Wassermangels? Ob wir Menschen das jemals in Erfahrung bringen werden? Gilbert ist überzeugt davon. Eines Tages wird es möglich sein, die riesigen Entfernungen des Weltalls zu überwinden und zu anderen Galaxien aufzubrechen ...
Kein Planet ist zu sehen. Venus ist bereits untergegangen, Jupiter zeigt sich erst in den frühen Morgenstunden, Saturn wird gegen dreiundzwanzig Uhr zehn am Südosthimmel aufgehen.
Gilbert hat ein paar Dosen Cola mitgebracht und öffnet jetzt eine. Er holt einen verbeulten Metallhocker aus dem Schuppen, setzt sich hin und wartet.
Wie schwül es ist! Ob ein Gewitter kommt? Doch noch ist der Himmel klar. Die Zikaden schreien in den Bäumen, und allerlei Insekten und Nachtfalter sind unterwegs.
Gilbert greift nach seinem Walkman, den er in der Brusttasche seines Hemdes trägt. Er setzt den Kopfhörer auf und schaltet so die nächtlichen Außengeräusche einfach ab.
Nach einigen Minuten sieht er den Strahl einer Taschenlampe.
»Salut. Ich bin hier«, ruft er in die Dunkelheit. Er nimmt den Walkman ab. Es ist Monika, allein.
»Ich hab uns was mitgebracht.« Sie reicht Gilbert eine Flasche Rosé und dreht sich suchend um.
»Ist Tommy noch nicht hier?«
»Nein. Ich dachte, ihr kommt zusammen?«
Monika schüttelt den Kopf. »Er kommt sicher gleich. Der Wein ist sogar noch kalt. Schenkst du uns was ein?«
»Danke«, sagt Gilbert, »aber ich bleibe bei Cola.«
Er steht auf und holt aus dem Schuppen ein Wasserglas. Aus der Tasche seiner Jeans zieht er sein Taschenmesser, klappt den Korkenzieher raus und öffnet den Rosé.
Er schenkt Monika ein, reicht ihr das Glas und sagt: »Noch ein paar Minuten Zeit, bis Saturn herauskommt. Hoffentlich verpaßt Tommy den Zeitpunkt nicht.« Sein ausgestreckter Finger zeigt zum Himmel und malt ein Dreieck in die Luft. »Wega in der Leier, Deneb im Schwan und Atair im Sternbild Adler. Das Sommerdreieck.«
Monika hat ihren Kopf nach hinten gebogen und sieht nach oben.
»Ja, sieht tatsächlich aus wie ein Dreieck. Sommerdreieck, sagst du? Und was ist im Winter?«
»Da ist nur noch Deneb zu sehen, tief am Nordhimmel. Die anderen Sterne sind dann auf der Südhalbkugel der Erde sichtbar. In Australien zum Beispiel.«
Gilbert betrachtet Monika von der Seite. Sie hat immer noch den Kopf nach hinten gebogen und blickt in den Sternenhimmel.
Er mag sie. Ihr Interesse an den Sternen ist echt, das spürt er. Neben Claire und Tommy ist sie die einzige, die schon mit hier draußen gewesen ist.
Gilbert berührt Monika jetzt leicht am Arm und zeigt mit der Hand nach Süden.
»Da unten, der riesige, rötlich schimmernde Stern, das ist Antares im Skorpion.«
»Ich bin Sternbild Skorpion.«
»Tatsächlich?«
Gilbert öffnet eine zweite Dose Cola. Mit einer Kopfbewegung deutet er auf den Metallhocker.
»Setz dich doch. Es geht gleich los. Heute nacht steht Saturn in Opposition zur Sonne, das heißt, da ist er besonders gut zu beobachten. Eine Saturnopposition gibt es nur einmal im Jahr. Genauer gesagt: alle 378 Tage.«
»Woher weißt du das eigentlich alles?«
»Tja, Astronomie ist eben mein Hobby«
»Hättest du so was nicht beruflich machen können?«
Das ist sein wunder Punkt. Natürlich hätte er Astrophysik studieren können, wenn sein Physiklehrer auf der Schule seine Begabung erkannt hätte, statt ihn ständig vor der Klasse bloßzustellen. Und wenn er ein anderes Elternhaus gehabt hätte ... Wenn Geld und Verständnis für ihn dagewesen wären.
Gilbert läßt Monikas Frage unbeantwortet und steht auf. Er geht zum Teleskop und stellt die Koordinaten für Saturn ein. Er weiß sie auswendig. Das Teleskop dreht sich und zeigt mit der Tubusöffnung genau nach Südosten. Gilbert stellt den Nachführungsmotor an. Dann holt er aus einem Pappkarton ein Okular, steckt es in die Okularhülse. Er kneift das linke Auge zu, mit dem rechten sieht er durchs Fernrohr und dreht am Schärfeneinstellknopf.
Nach einer Weile blickt er auf.
»Wahnsinn! Sieh ihn dir an. Aber berühr nicht mit dem Auge das Okular, sonst wackelt es.«
»Ich weiß, das hast du letztes Mal schon gesagt.«
Monika sieht durch das Fernrohr.
»Ist es scharf?« fragt Gilbert.
»Ja, ich glaube schon. Ich kann die Ringe sehen. Und das Schwarze in der Mitte.«
»Das nennt man die Cassini-Teilung.«
Gilbert steht jetzt direkt hinter Monika. Die ganze Zeit schon hat er ihr Parfüm gerochen. Frauen mit starkem Parfümgeruch erregen ihn. Die Nutte auf dem Wohnwagenstrich zwischen Nîmes und Arles hatte auch so ein intensives Parfüm, nur schwerer und süßlicher. Tagelang kriegt man so was nicht aus den Kleidern heraus. Die Frauen nehmen wahrscheinlich deshalb so starkes Parfüm, damit man sich länger an sie erinnert.
Gilberts Augen ruhen auf Monikas Nacken. Neben dem Duft ihres Parfüms fällt ihm noch etwas auf. Komisch, daß er das vorher nie gesehen hat ...
Als spüre sie seinen Blick, hebt Monika schnell ihren Kopf.
»Wirklich, sehr beeindruckend. Bloß schade, daß das Ganze nur so ein winziges Scheibchen ist. Nach einer Weile ist es ein bißchen anstrengend. Du, ich muß jetzt gehen. Ich bin ein bißchen sauer, daß Tommy nicht gekommen ist.«
Doch Gilbert hat bereits ihre Schultern von hinten umfaßt und will Monika an sich ziehen. Mit einer schnellen Bewegung macht sie sich frei, tritt einige Schritte zurück und zwingt sich zu einem Lachen.
»Na hör mal, Gilbert!«
Gilbert fühlt, wie er rot wird. Monikas Körper versetzt ihn in eine plötzliche Erregung.
Monika nimmt ihre Taschenlampe. Zu blöd, daß Tommy nicht gekommen ist, dann wäre sie nicht in diese Situation geraten. Weitab vom Dorf, allein mit diesem Gilbert, der offensichtlich mehr von ihr will, als ihr nur die Sterne zu zeigen ... Monika ist es unbehaglich. Sie beschließt jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und gelassen zu bleiben.
»Dann werde ich mal gehen. Danke, Gilbert, bis bald!«
Ohne große Eile schlendert sie über die Lichtung Richtung Blans. Als sie Gilberts Blicken entschwunden ist, beschleunigt sie ihre Schritte, und ihr klopfendes Herz schlägt wieder gleichmäßiger.
Gilbert, der sein Geschlecht steif und pulsierend in seiner Jeans spürt, sieht ihr nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hat und der Strahl ihrer Taschenlampe schwächer und schwächer wird.
Es ist wie Weltuntergang, denkt Claire und lenkt ihre Ente mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Kilometern in der Stunde über die Landstraße. Das Wasser steht mindestens zehn Zentimeter hoch, und der Regen ist so heftig, daß Claire keine drei Meter Sicht hat. Hoffentlich hält der Scheibenwischer durch.
Schon seit einer Stunde tobt das Unwetter. Blitze folgen dicht aufeinander, und Donner und Regen geben eine Geräuschkulisse ab, die Claire Angst macht. Aber im Wagen ist sie sicher, das weiß sie.