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Wer sich mit der Erde befasst, nimmt eine symbiotische Kette in den Blick: die Kette des Lebendigen in ihren unzähligen Ausprägungen. Menschen, Tier- und Pflanzenarten, Mikroben, Bakterien und Viren, anorganische Körper und Mineralien sowie technische Geräte und andere künstliche Apparaturen sind deren untrennbare Teile. Aber auch alle unsichtbaren Kräfte, Genien, Geister und Masken gehören dazu. Auf der Grundlage dieses unergründlichen, dem afrikanischen Denken entlehnten Reichtums entwickelt Achille Mbembe in diesem Essay eine grundstürzende Reflexion über die Erde, ihre Zukunft und vor allem über die Art von Gemeinschaft, die sie mit den belebten und unbelebten Arten bildet, die sie bewohnen, auf ihr Zuflucht gefunden haben und sich auf ihr aufhalten. Er zeigt, wie unsere eigentliche Beziehung zur Erde nur die der vorübergehenden Bewohner und Passanten sein kann. Als solche nimmt sie uns auf und beherbergt uns, sie pflegt die Spuren unseres Aufenthalts, die in unserem Namen sprechen und daran erinnern, wer wir im Umgang mit anderen und mitten unter ihnen waren. Eine solche Beziehung ist die letzte aller Utopien, der Grundstein für ein neues planetares Bewusstsein.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DIE TERRESTRISCHE GEMEINSCHAFT.
ACHILLE MBEMBE
TECHNIK, ANIMISMUS UND DIE ERDE ALS UTOPIE
Aus dem Französischen von Jörg Theis
Vorbemerkung
Die Erprobung der Grenzen
Grundlegender Umbruch
Die Wiederverbindung mit den Kräften des Kosmos
Einleitung
Das Fest der Aussaat
Die Kräfte des Werdens
Mutierende Mächte
Drei Paradoxien
1 Die inerte Produktion
Das Phantom einer reinen Sprache
Allgemeine Ökologie
Der Nomos der Erde und der rassische Nomos
Räumliche Rissbildung
Dialektik von Vitalität und Mobilität
2 Landnahmen
Metamorphe Macht
Der zerstückelte Körper
3 Die zweite Schöpfung
Das Weltenei
Elastizität und Formbarkeit
Miniaturisierung und Digitalisierung
Die magische Totalität
4 Die Leben-Waage
Technische Wesen und lebendige Objekte
Über das Kapital als magnetisches Feld
Technisch-molekularer Kolonialismus
Die Dialektik des Ineinandergreifens und der Trennung
Leben und Mobilität
Die Vernunft auf dem Prüfstand
5 Durch den Spiegel
Fangen
Zeitenwanderung
Planetare Struktur
Die Gemeinschaft der Ungleichen
Recht auf Zukunft
6 Die letzte Utopie
Planetares Bewusstsein
Die All-Welt
Sehnsucht nach Brutalität
Von der All-Welt zum planetaren Ganzen
Schluss
Samenkorn und Lehm
Die Reparatur der Welt
Anmerkungen
DIESER ESSAY BILDET den letzten Teil einer Trilogie, die mit Politik der Feindschaft (2016) begann und mit Brutalismus (2020) fortgeführt wurde. Ziel der Trilogie ist es, eine verständliche Bestandsaufnahme der wichtigsten Kräfte der Transformation des Lebendigen im Zeitalter der Planetarisierung vorzulegen. Lange Zeit haben der Planet und die Gesamtheit seiner Bewohner tatsächlich im Rhythmus eurozentrischer Gewissheiten gelebt. Die meisten dieser Gewissheiten, Vorurteile in Wahrheit, wurden, um der Sache willen, in den Deckmantel dessen gehüllt, was der Philosoph Souleymane Bachir Diagne den »überwölbenden Universalismus« nennt.1Seitdem lässt der Rest der Welt, im Gegenzug, nicht nach, eine Dezentrierung einzufordern, die erlauben würde, die unterschiedlichen Zeugnisse des menschlichen Geistes sichtbar zu machen und anderen Vorstellungen vom Kosmos Geltung zu verschaffen.2Man sollte annehmen, dass diese Epoche mittlerweile längst vergangen ist, auch wenn, auf beiden Seiten, viele noch Mühe haben, alle Konsequenzen aus dieser Verschiebung zu ziehen.
Die erste Konsequenz aus dieser Verschiebung ist, dass nichts von dem, was man verloren hat, erneut wieder eingesetzt werden dürfte. Einige Verluste sind nicht nur unberechenbar, sondern auch unwiederbringlich. Das Unberechenbare und das Unwiederbringliche schließen jedoch weder die Forderung nach Sorgfalt und Wahrheit aus noch untersagen sie diese, umso weniger die nach Gerechtigkeit. Sie unterstreichen vielmehr deren Dringlichkeit und fortwährenden Charakter. Es könnte im Übrigen sein, dass das Unberechenbare und das Unwiederbringliche letztlich die Art von Schuld begründen, die zugleich unbezahlbar und unendlich ist, auf der jede Gemeinschaft beruht, die dieser Bezeichnung würdig ist, jede Gemeinschaft jenseits von Identität, Nationalstaat und Vertrag. Die zweite Konsequenz aus dieser Verschiebung ist, dass im Grunde alles neu zu erschaffen und zu erfinden ist, erdenken und benennen bilden den Ausgangspunkt jeglicher Neuerfindung. Benennen aber heißt auffordern, um nicht zu sagen, persönlich erscheinen zwecks eines Urteils, das heißt zwecks einer Entscheidung. Das Erscheinen vor Gericht ist das Gegenteil von Vergessen und Schweigen. Es bestätigt eine Pflicht, die Pflicht der Anwesenheit, und ist ein Zeichen für eine Verpflichtung, die Verpflichtung zu antworten. Und da wir schon immer mit anderen hier sind, dies ist die Benennung der Existenz selbst, wird die Neuerfindung mit ihnen, in der Beziehung zu ihnen, erfolgen.3 Die dritte Konsequenz aus dieser Verschiebung ist, dass die Erde unser Herkunftsort ist. Sie mag nicht notwendigerweise unser Bestimmungsort sein, doch ist sie in ihrer Materialität etwas Vorgegebenes, das unserer Existenz notwendigerweise vorausgeht und uns überleben wird. Andererseits ist uns die Existenz notwendigerweise gemeinsam. Ohne die Erde ist nichts anderes möglich. Zwar eint und trennt sie, doch immer wird uns ein Verhältnis des Teilens von ihr auferlegt, was letztendlich das spezifische Merkmal der Beziehung ist.
IN DER GEGENWÄRTIGEN BESCHLEUNIGUNG und Verflechtung der Zeiten und der Zusammenziehung der Räume als Folge der planetaren Ausweitung der digitalen Technologien, pflegen weiterhin sehr viele Mächte der Welt im militärischen und wirtschaftlichen Bereich ihre Beutegreifer-Reflexe. Doch unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung von Zeichen, die in die Zukunft weisen, hören sie nicht auf, den Eindruck zu erwecken, sich im Kreis zu drehen. In den meisten Fällen verbinden sich imperialistische Umtriebe nun lediglich mit einer nostalgisch verklärten Vergangenheit.1Dies ist so, weil das Zentrum unheilbar von dem übersteigerten Verlangen nach Grenzen und der Furcht vor dem Zusammensturz zernagt ist; daher stammen die kaum verhüllten Aufrufe wenn auch nicht zu einer Eroberung als solcher, so doch zu einer Abschließung, ja sogar zu einer Abspaltung.2
Wenn die Gemütslage zum Rückzug und zur Einzäunung neigt, dann ist dies so, weil viele den Glauben an die Zukunft verloren haben. Sie erwarten nichts mehr, es sei denn das Ende selbst. Ansonsten kann man noch so sehr behaupten, die technologische Beschleunigung und der Übergang zu einer computerisierten Zivilisation bildeten den neuen Weg zum Heil, dennoch geschieht alles so, als sei die kurze Geschichte der Menschheit schon jetzt zu Ende. Die Aufgabe des Denkens bestünde von nun an nur noch darin, dies zur Kenntnis zu nehmen, die Katastrophe vorherzusehen und sie anzukündigen.3 Daher der aktuelle Anstieg der Wirkmacht aller Arten von Endzeiterzählungen. In der Tat drohen diese, die kommenden Jahrzehnte zu beherrschen. Sie breiten sich auf dem Boden von Angst und Panik aller Art aus. Im Übrigen ist das Leben am Rand der Extreme im Begriff, der uns allen gemeinsame Zustand zu werden. Alle Studien deuten darauf hin, dass die Konzentration des Kapitals in wenigen Händen noch nie zuvor ein Niveau, wie man es heute kennt, erreicht hat. Eine unersättliche Plutokratie betrügt ohne Unterlass in globalem Maßstab, um überall das Vermögen der gesamten Menschheit zu erbeuten, und wird bald schon die Gesamtheit der natürlichen Ressourcen in Beschlag genommen haben.
Gleichzeitig droht ganzen Schichten die wachsende Gefahr eines schwindelerregenden Abstiegs. Vor nicht allzu langer Zeit hatten sie die Möglichkeit, ihren Status zu stärken, ja sogar die Erfahrung gewisser Aufstiegschancen zu machen. Sobald jedoch die Abwärtsspirale einsetzt, sehen sie sich darauf beschränkt, wenn nicht ums Überleben, so doch wenigsten um den Erhalt des Wenigen, was ihnen bleibt, zu kämpfen. Doch anstatt ihr Unglück dem System, das es verursacht, zuzuschreiben, wenden sie sich gegen jene, denen es noch elender als ihnen ergeht, gegen eine Klasse, die bereits jetzt in ihrer materiellen Existenz und Würde benachteiligt ist, der schier alles geraubt wurde und der gegenüber sie jetzt mehr Härte einfordern.4
Die Zunahme von Ängsten ist im Übrigen vor dem Hintergrund einer schärferen Bewusstwerdung unserer räumlichen Endlichkeit als zuvor erfolgt. Die Erde zieht sich unaufhörlich zusammen. Sie, ein in sich endliches System, hat ihre Grenzen erreicht. Einige werden diese Erfahrung der Grenzen und die Aneinanderreihung extremer Situationen, die die Erde hervorruft, früher gemacht haben als andere. Aus dem Unlebbaren Leben zu erschaffen, mag für sehr viele Regionen im Süden der Welt ein seit Jahrhunderten andauernder Zustand gewesen sein. Das Neue ist, dass wir von nun an die Erfahrung der Extreme mit vielen anderen teilen, die in Zukunft keine Mauer, keine Grenze, keine Blase oder eine Enklave schützen können wird.
Die Wirklichkeit der Zusammenziehung und das Kippen in Richtung der Grenzen zeigen sich nicht nur in der schwindelerregenden Ausbeutung der natürlichen Ressourcen oder der fossilen Energie und der Metalle, die dazu dienen, die materielle Infrastruktur unserer Existenz aufrechtzuerhalten. Sie werden gleichermaßen offenbar durch die Giftigkeit des Wassers, das wir trinken, und sogar der Luft, die wir atmen. Sie werden ebenso spürbar durch die Art der Transformationen, die unsere Biosphäre erfährt, sowie durch Phänomene wie die Übersäuerung der Ozeane, die Zerstörung komplexer Ökosysteme, kurz, das Kippen des Klimas und den Wettlauf zum Exodus für diejenigen, deren Lebensräume verwüstet wurden. In Wahrheit ist das Ernährungssystem der Erde selbst erkrankt und damit vielleicht auch die Fähigkeit der Menschen, Geschichte zu machen.
ES GIBT KAUM EINE ZEITVORSTELLUNG, bis hin zu der von uns allgemein akzeptierten, die nicht infrage gestellt worden wäre. Während die Geschwindigkeiten explodieren und die Entfernungen überwunden werden, ist die materielle Zeit, diejenige des Körpers der Erde und ihrer Atmung und diejenige der Sonne, die altert, nicht mehr ins Unendliche dehnbar. Im Grunde ist die materielle Zeit für uns gezählt. Wir stehen mit beiden Beinen mitten im Zeitalter der Verbrennung der Welt. Daher müssen wir uns der Notlage stellen. Nun werden viele Völker auf der Erde die Erfahrung von Notlagen, Anfälligkeit und Verwundbarkeit vor uns gemacht haben, im Verlauf von zahlreichen Katastrophen, die ihre Geschichte getaktet haben, ihre Geschichte der Auslöschungen und anderer Genozide, der Massaker und der Enteignung, die lange Aneinanderreihung kolonialer Verheerungen.
Die Möglichkeit eines grundlegenden Umbruchs schwebt daher über der Hülle der Welt selbst. Er wird einerseits durch die technologische Eskalation und die Intensivierung des Brutalismus vorangetrieben und andererseits durch die Logik der Verbrennung und ihrer langsamen und unbegrenzten Erzeugung von Aschewolken aller Art. Streng genommen ist das Zeitalter der Verbrennung der Welt ein posthistorisches Zeitalter. Der Anblick eines solchen Ereignisses hat zu einem Wiedererstarken alter Wettläufe geführt, beginnend mit dem Wettlauf um eine neue Aufteilung der Erde. Er hat auch alte Träume wieder aufleben lassen, angefangen mit dem Traum der Aufteilung der menschlichen Gattung in unterschiedliche Arten und ausgeprägte Varietäten, jede durch ihre klar von anderen unterschiedenen Besonderheiten geprägt.
Vielleicht erklärt dies das weltweite Wiedererstarken der Praktiken der Selektion und des Aussonderns, die die Geschichte der Sklaverei und der Kolonisation geprägt hatten, zweier Kulturbrüche damals getragen vom Stahlgewitter ebenso wie vom Rassismus, welcher der Treibstoff der Moderne war. Wie in diesen Zeitaltern stützt sich der neue Selektionstrieb auf die Technologie. Dieses Mal handelt es sich jedoch nicht um Maschinen, sondern um etwas noch viel Gigantischeres, um etwas ohne Grenzen, am Zusammenfluss von mathematischem Verfahren, Zellen und Neuronen, und um etwas, das die Erfahrung des Denkens selbst herausfordern wird.
Übrigens ist die Idee eines grundlegenden Umbruchs, der zugleich tellurisch, geologisch und beinahe techno-phänomenal ist, auch grundlegend für das Denken der modernen afrikanischen Diaspora. Sie ist besonders gegenwärtig in den beiden Denkströmungen des Afropessimismus und Afrofuturismus. Tatsächlich werden, außerhalb des Kontinents, das Schwarze Schreiben und das Schwarze künstlerische Schaffen durch das Motiv der Suche nach den Ursprüngen, den Spuren und auch der Rückkehr beherrscht. Da der Rest der Welt die Neger1 unaufhörlich daran erinnerte, dass sie nicht bei sich seien oder nichts anderes als die Exilierten der Geschichte, verbreitete sich die Überzeugung, die Erde sei lediglich ein großes Gefängnis, ein gigantischer Ort der Verbrennung und Einäscherung von in Abfall verwandelten Leben, da wo das Menschliche auf das Objekt trifft.
Zudem machte die moderne Vernunft aus Afrika und aus dem Neger, auf dem Höhepunkt des rassischen Pessimismus, die Vorzeichen für die Krematoriumszukunft der Menschheit.2 Wenn der Neger mit Gewalt von der Menschheitsgeschichte ausgeschlossen wurde, dann weil sein Eintritt in diese automatisch ihr Ende zu besiegeln drohte. Als altes Fossil und Rohstoff, den man abbaute und verbrannte, um Kraft und Energie zu erzeugen, wurde er hingegen dem geologischen Schicksal der Erde zugerechnet und war, auf dieser Ebene, unverzichtbar für das Leben der Menschen, einer Kategorie, zu der er keineswegs gehören sollte. Um sich dieser Erzählung entgegenzustellen, überhöhten die Neger ihrerseits Afrika und betrachteten es als ihre Bleibe, aber auch als ihr Bollwerk, den einzigen Ort auf der ganzen Erde, wo sie berechtigterweise nach Ruhe trachten und eventuell wieder in die Menschheit aufsteigen könnten. Daher die Wichtigkeit des Themas der Rückkehr zu sich und der Rückkehr nach und zu Afrika im afrikanischen Schreiben.
Andere hingegen werden in Afrika lediglich einen zur Ausbeutung vorbestimmten Vorrat sehen. In unterschiedlichen Spielformen von Afrofuturismus und Afropessimismus repräsentiert Afrika das offensichtliche Symbol für all die Körper, denen die Luft geraubt wird, für das Fleisch und die Muskeln, die ausgezehrt werden, für die Knochen, die zermalmt werden, innerhalb eines weitreichenden Programms der Verbrennung bis auf die letzte Körperzelle, vor der Einäscherung. Dies erklärt den im Afrofuturismus so prägnanten Wunsch nach Auswanderung, die Suche, nicht nach anderen Galaxien und anderen Planeten, die es zu erobern und zu bewohnen gälte, sondern danach, die Verbindung zu den Elementarkräften und kosmischen Elementen wiederherzustellen, die Wiederverankerung mit den Kräften des gesamten Universums, jenen, die imstande sind, zur Totalität des Lebens zu stehen und den Tod zu transzendieren.
IN WIRKLICHKEIT WAR AFRIKA NIEMALS außerhalb der Welt. Jenseits der tödlichen Dimensionen seiner Geschichte war Afrika immer Träger des Lebendigen. In dieser kritischen Phase der Zukunft des Planeten ist Afrika dazu verpflichtet, das Schicksal des Lebendigen wieder zum vorrangigen Gegenstand intellektueller Suche und geistiger Schöpfung zu machen. Es ist nicht notwendig, dass Afrika, wie andere, das Lebendige in Begriffen des Weltenendes und des Verlusts der Beherrschung der Welt zugunsten der Technologie begreift. Vielmehr wird es gewinnbringend für Afrika sein, das Lebendige als Potenzialitäten zu denken, als das, was per definitionem das Unberechenbare und das Nicht-Anzueignende ist. Ansonsten hat Afrika keine Wahl. Afrika muss die Zukunft offenhalten, während eine zeitliche Verschiebung von großer Bedeutung im Gang ist. Afrika muss die Zukunft für alle offenhalten, selbst wenn sich erweisen sollte, dass die Menschheit dem Untergang geweiht ist. Oder dass die Welt erneut zu einem Kampf ohne Gnade aller gegen alle gezwungen wird. Der Glaube an die Zukunft wäre also Afrikas Beitrag zur Totenfeier der Menschheit, die, über den Umweg ihres Dahinscheidens, zu ihren kosmischen Ursprüngen zurückgeführt werden würde, nicht zum Universellen oder dem Universalismus, sondern zum Universum, in dem sie ein Element unter anderen ist.
Doch wie kann man den Glauben an die Zukunft als Versprechen aufrechterhalten, wenn sie sich ständig entzieht und schwindet? Indem wir von der Fülle des Lebens ausgehen, von den Leben, die als gering erachtet werden, die von den zu Anfälligkeit führenden Kräften bedroht werden. Indem wir die zahlreichen kleinen Alternativmöglichkeiten, die überall zu beobachten sind, aufwerten.1 Denn diese Alternativmöglichkeiten geben viele Antworten, manchmal sehr unbeständige, auf das Kippen des Klimas, auf den Verlust der Biodiversität, auf die Zunahme von Ungleichheit und politischen Spannungen, die fortwährend den Krieg zum Sakrament unserer Epoche machen. In diesen kleinen Alternativmöglichkeiten und Mikrowelten lassen sich die bedeutsamsten Praktiken finden, um sich von den Anfälligkeiten zu befreien. Sie zeigen, dass die Zukunft nicht im Vorhinein bestimmt wird. Sie deuten darauf hin, dass das Los Afrikas und der Erde in unseren Händen liegt und dass die Zukunft von unserer Fähigkeit, an diese Welten anzuschließen, die sich beständig auflösen und sich wieder erzeugen, abhängen wird, das heißt davon, die abgebrochenen Verbindungen wieder zu reparieren.
Dieses Buch wurde nicht in einem Wurf geschrieben. Als Werk eines Webers war es Gegenstand einer regelrechten Komposition im Verlauf vieler Jahre. Die Anfänge des Werks findet man im Schluss von Ausgang aus der langen Nacht über den Umweg folgender drei zentraler Motive: der Imperativ der Öffnung oder »die Politik des Aufstiegs zum Menschsein« oder auch das »Projekt eines erfüllten menschlichen Lebens«, der Akt der »Gemeinschaftsbildung«, insofern er am »Willen zum Leben« teilhat, und der Aufruf zur »Erfindung eines alternativen Imaginären des Lebens, der Macht und des Gemeinwesens«.2
Die Bedingungen der Möglichkeit für diese »Gemeinschaft« als Polis werden in der Kritik der schwarzen Vernunft untersucht. Es handelt sich von Beginn an um eine Polis jenseits der Grenzen von Rasse, Staat und sogar der Diasporas – entsprechend der Welt. »Denn tatsächlich gibt es nur eine Welt. Sie ist ein Ganzes, das aus zahllosen Teilen besteht. Aus aller Welt. Aus allen Welten.« Doch befasst man sich mit der Welt, befasst man sich in Wirklichkeit mit dem Leben in seiner Gesamtheit, wie man es dann in der Vorstellung gegenwärtig hat. Das Lebendige als Methode, aber auch als Anliegen. Denn »wenn die ganze Menschheit sich selbst in die Welt delegiert und von ihr die Bestätigung ihres eigenen Seins, aber auch ihrer Zerbrechlichkeit erhält, dann ist der Unterschied zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Nichtmenschen kein äußerlicher Unterschied mehr. Denn letztlich manifestiert sich die Wahrheit dessen, was wir sind, in unserem Verhältnis zur Gesamtheit des Lebendigen.«3
Bereits in Ausgang aus der langen Nacht wurde sehr früh auf die Begriffe des Nächsten und der Gemeinsamkeit eingegangen.4 Das Bestreben richtete sich damals darauf, die Debatten über Identität, Differenz und Alterität hinter sich zu lassen. Diese Debatten haben nicht nur einen wichtigen Teil der französischsprachigen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Sie haben auch im post- und antikolonialen Denken unauslöschliche Spuren hinterlassen und dabei dessen Fähigkeit, das Ganze zu denken, geschwächt. Es war daher nötig, anderen Blickwinkeln Vorrang einzuräumen. Es war nötig, alle Verluste, alle Schulden und Niederlagen in Erinnerung zu rufen. Es war nötig, ohne Zugeständnisse an die Verpflichtung zur Reparation, Restitution und Gerechtigkeit zu erinnern.5
Die Grundüberzeugung war, dass das »Denken dessen, was kommen soll, notwendig ein Denken des Lebens, der Lebensreserven, dessen, was nicht geopfert werden darf«, ist.6 Entgegen der Philosophien der Identität, Differenz und Alterität, handelte es sich also darum, geltend zu machen, dass das Miteinandersein vom Teilen abhängig ist. Dies vorausgesetzt, wird was kommt nicht nur auf einer Ethik der Begegnung gegründet sein, sondern gleichermaßen auf dem Teilen von Singularitäten und darauf, dass die einen und die anderen lernen, fortan einander ausgesetzt zu leben. Was kommt, wird sich auf der Grundlage einer klaren Unterscheidung zwischen »Universalität« und »Miteinander« aufbauen, Universalität »impliziert den Einschluss von etwas, das, oder einer Entität, die es bereits gibt«, und Gemeinsamkeit setzt »zwischen vielfältigen Singularitäten ein Verhältnis gemeinsamer Zugehörigkeit« voraus.7
In der Konklusion von Kritik der schwarzen Vernunft werden die Grundlagen für das Nachdenken über das Miteinander, die Gemeinschaft als solche, gelegt. »Die Frage der universellen Gemeinschaft stellt sich daher per definitionem in Begriffen des Im-Offenen-Wohnens, der Sorge um das Offene – was etwas ganz anderes ist als ein Vorgehen, das in erster Linie darauf zielt, sich abzuschließen und eingeschlossen in dem zu bleiben, was gewissermaßen mit uns verwandt, was uns ähnlich ist.«8
Während es bis dahin vor allem um die Frage nach der »Welt« und der »Weltbeziehung« ging, erscheint mit Politik der Feindschaft das Motiv der »Erde« an sich und nicht nur als »das, was uns gemeinsam ist, unsere gemeinsame Situation«, sondern auch als ein »Zeitalter«, das »Zeitalter der Erde«.9 Es ist bezeichnend, dass das In-Erscheinung-Treten dieses Zeitalters mit dem doppelten Motiv der Sprache und des Schreibens verbunden ist: »Im Zeitalter der Erde werden wir in der Tat eine Stimme brauchen, die unablässig bohrt, durchbohrt und gräbt, die es versteht, zu einem Geschoss zu werden, gleichsam eine absolute Fülle, ein Willen, der die Realität unermüdlich anbohrt. Ihre Aufgabe wird es sein, nicht nur Riegel zu sprengen, sondern auch das Leben vor der drohenden Katastrophe zu bewahren. Alle Fragmente dieser Erdensprache werden in den Paradoxien des Körpers, des Fleischs, der Haut und der Nerven wurzeln. Um der Gefahr der Fixierung, der Einschließung und der Erstickung, der Dissoziation und Verstümmelung zu entgehen, müssen Sprechen und Schreiben sich ständig in die Unendlichkeit des Draußen projizieren, sich aufrichten, um den Schraubstock zu öffnen, der den Unterworfenen und seinen Körper aus Muskeln, Lungen, Herz, Hals, Leber und Milz bedroht, den entehrten Körper, von zahllosen Schnittwunden gezeichneten Leib, den teilbaren, geteilten Körper, im Kampf mit sich selbst liegenden Körper, seinerseits aus mehreren Körpern bestehend, die einander in ein und demselben Körper gegenüberstehen – auf der einen Seite der Körper des Hasses, eine fürchterliche Last, der falsche Körper der von Schändlichkeit erdrückten Schmach; und auf der anderen der ursprüngliche, aber von Anderen gestohlene und grässlich entstellte Körper, den es in einem Akt echter Genese buchstäblich wiederzuerwecken gilt.«10
In Die terrestrische Gemeinschaft greife ich, fast Stein für Stein, zahlreiche grundlegende Intuitionen und andere Ansätze, die in vorausgegangenen Werken in Form von Entwürfen erschienen, wieder auf. Ich wiederhole, entwickele, erweitere sie und erzeuge vor allem Resonanzen mit neuen Fragmenten, neuen Einwürfen, Beobachtungen und Anmerkungen, die nach und nach methodisch in zahlreichen Begegnungen, im Zeichen des Zuhörens, Austauschens, Wiederlesens und Meditierens angehäuft wurden. Die wichtigsten haben im Rahmen der Ateliers de la pensée in Dakar und des alljährlichen Seminars, das ich an der European Graduate School leite, stattgefunden. Wie alle meine vorausgegangenen Bücher greift das vorliegende, manchmal wortwörtlich, Eingebungen und Teile von Betrachtungen, die ich hier und da begonnen habe, in Texten, die an ein größeres Publikum gerichtet sind, wieder auf. Die Fragmente sind Gegenstand der Fortschreibung, das heißt der »Erweiterung«, im Rahmen meist fachübergreifender Argumente, die durch einen vielschichtigen kritischen Apparat, Anmerkungen und Belege von bemerkenswertem Reichtum gestützt werden. Dies sind, zumindest hoffe ich es, die Bedingungen der Möglichkeit eines wahrhaft offenen Denkens, in beständigem Schaffensprozess, stets im Begriff, sich selbst zu denken.
DIE FOLGENDEN ÜBERLEGUNGEN richten sich in allgemeiner Weise auf die Erde, ihre Zukunft und vor allem auf die Art von Gemeinschaft, die sie mit der Mannigfaltigkeit des Belebten und des Unbelebten, mit allem, was auf ihr wohnt, Zuflucht gefunden hat oder sich dort aufhält, bildet.
Die Geschichte der Erde schreibt sich in die weiter gespannte Geschichte des Universums und seiner Ausdehnung ein. Sie ist zugleich ein untrennbarer Teil der Geschichte des Lebendigen, angefangen bei der Sonne, dem nach ihr benannten System, ebenso wie der Molekülwolke, der Gasscheibe (Wasserstoff, Helium) und dem Staub metallischer Oxyde von Silikaten, Kohlenstoff und Eis, die die ursprünglichen Konstituenten waren. Die Geschichte der Erde ist außerdem eng mit der Geschichte der Ozeane und der Bakterien verbunden.
Zwar versorgen die Pflanzen die Tiere mit Nahrung, indem sie die Energie der Sonnenstrahlung nutzen. Doch die Tiefen der Ozeane, wo das Sonnenlicht nie hingelangt, beherbergen auch Oasen des Lebens. So berichtet Michel Rouzé, dass »diese Oasen des Lebens Bakterien enthalten, die in der Lage sind, ausgehend von Mineralien, die Warmwasserquellen entströmen, organische Materie zu synthetisieren«. Indem sie anderen Organismen als Nahrung dienen, »bilden diese Bakterien das erste Glied einer Nahrungskette, die von Weichtieren über andere wirbellose Tiere bis zu den Wirbeltieren führt«.1 Der für das Leben auf der Erde unverzichtbaren Sonnenenergie muss also die kalorische Energie hinzugefügt werden. Sie, die zu einem sehr großen Teil auf der Nahrungsfunktion der Bakterien beruht, macht aus der Geschichte der Erde eine Geschichte der Bio-Symbiose.
Diese Geschichte wird unterteilt in Äonen, Weltalter, Perioden, Epochen und Zeitalter. Sie reicht von der höllischen Zeit der Ursprünge bis zur Schaffung der kontinentalen Erdkruste; vom Aufbau der Plattentektonik bis zur Oxydation der äußeren Hüllen, wie sie zum Beispiel die Ozeane und die Atmosphäre bilden; von den weltweiten Vergletscherungen über das Auftreten der ersten größeren Faunen und ihrer Gemeinschaften makroskopischerer Tiere bis zu den grundlegenden Gestaltwerdungen des Lebens.2
Als Resultat eines Akkretionsprozesses wird der Körper des Planeten von einer Energie, die er in Form radioaktiver Atomkerne ansammelt und in Form von Wärme abgibt, bewegt. Dieser Körper, ein kugelförmiges Gebilde, wird gebildet aus einem Kern, bestehend aus einer Metalllegierung, einem von mehr oder weniger massigen Atomen gebildeten Mantel, einer Kruste, einer Atmosphäre und einem magnetischen Feld. Doch wenn wir behaupten, dass die Erde eine Geschichte hat und dass diese verbunden ist mit der Geschichte des Lebens, bedeutet dies auch, dass sie ein Ende haben wird. Genauso wie ihre Geburten spielen sich ihre Tode im Maßstab geologischer Zeiträume ab. Das ist der Grund dafür, dass ihre Tode genauso wie ihre Geburten jedes Mal eine kosmische Bedeutung haben werden. Denn die Sonne wird, nachdem sie allen Wasserstoff in ihrem Kern verbraucht hat, erlöschen.
Diesem Erlöschen wird eine Steigerung ihrer Leuchtkraft vorausgehen, gefolgt von mehr und mehr unerträglichen Temperaturen. Die Produktion von Sauerstoff wird nicht mehr möglich sein. Die Formen der Oxydation auf der Erde werden zum Ende der Sauerstoffvorräte führen. Die Beschleunigung des Treibhauseffekts wird die Oberfläche des Planeten vollkommen verwandeln. Sie wird zu schmelzen beginnen. Das Altern der Sonne wird die Rückkehr der Erde zu einem völlig mineralischen Planeten verursachen. Im verflüssigten Zustand wird die Erde dann von einer Gluthitze zu einer extremen Kälte übergehen. Und schließlich wird die Nacht der Erde ein für alle Mal die Gesamtheit der Schöpfung umhüllen.
Unterdessen sollten wir, wenn wir uns mit der Erde befassen, uns bewusst sein, dass sie eine symbiotische Kette, in Wirklichkeit die Ausweitung des Lebendigen und seiner unzähligen Gestaltwerdungen, ist. Die Menschen, die Arten der Tiere, Pflanzen und Minerale, die Mikroben, die Winde, die Tornados und die Orkane, die Bakterien und die Viren ebenso wie die Meere und die Ozeane, die Himmel, das Klima, die technologischen Mittel und andere künstliche und äußerliche Apparaturen gehören untrennbar dazu. Ganz zu schweigen von den Böden und Gletschern, dem steinigen Gemisch, das die Flüsse ablagern, den geriffelten Hügeln, dem Lehm, dem Stein und den Statuen.3
ZUMINDEST IN DEN ANIMISTISCHEN METAPHYSIKEN der alten Afrikaner gilt dies auch für die unsichtbaren und unerklärlichen Kräfte, für alle Wesen, Ahnen und ihre Stellvertreter, genauso wie für Geister und Masken, rote Fasern, Kleidung und Schmuck, Gürtel aus Kaurimuscheln, Kalebassen mit langem Stiel und Sesamkörbe, Tänze und Zeremonien, Begräbnisse und Feste, es gilt für die unendliche Fülle des Lebens.1
Alle diese Kräfte gehören nicht der gleichen Art an, und es handelt sich, genau genommen, um unterschiedliche Wesenheiten. Doch sind sie, jede auf ihre Weise, Entwürfe des Lebendigen. Sie tauschen unter sich alle Arten von Strömen und Energie aus. Einige haben das Vermögen, sich auszudehnen und sich wechselseitig zu modifizieren. Andere befinden sich im Wettstreit. Doch im Allgemeinen unterliegen sie dem Wandel, und das Überleben der einen hängt vom Überleben aller anderen ab. Sie bilden ein Gewebe, besser, eine Gemeinschaft: die Gemeinschaft der Bewohner der Erde.
In einem 1952 veröffentlichten Roman mit dem Titel Der Palmweintrinker entwirft Amos Tutuola ein umfassendes Bild dieser Metaphysik, dieser Arten und Weisen, anders zu denken, etwas anderes zu denken, anders als wir zu denken, was viele, vor nicht allzu langer Zeit, zu Unrecht »unterentwickelten Gesellschaften« zugeschrieben haben. Wir lernen dort zuerst, dass zwischen den lebendigen Formen, die durch den Kreislauf der Ströme und Energien bestimmt sind, keine undurchlässige Trennwand existiert. Damit die lebendigen Formen sich den beständig wandelnden Bedingungen ihrer Umgebung anpassen können, bedienen sie sich der Übertragung, des Austauschs und der Neuzusammenfügung von Materialien und Beiwerk aller Art. Vor dem Hintergrund unendlicher Variation, entlang von Abstammungslinien, die oft sehr weit voneinander entfernt sind, leihen sich die Menschen etwas von den Pflanzen, die ihrerseits die Gestalt von Tieren annehmen, die wiederum nicht zögern, sich die Maske der Ahnen anzulegen.
Dort lernen wir dann, dass ein höchster Verwalter des Lebens auf der Erde nicht existiert. Denn wie die Erde selbst ist das Leben ein großes Mosaik. Jede Lebensform ist selbst eine Kraft. Sie enthält und birgt Facetten, um nicht zu sagen Reste anderer Lebensformen, gemäß dem Prinzip andauernder Verschränkung und Teilung. Jedes Seiende, einschließlich der Menschen, ist nicht nur ein zusammengefügtes Subjekt, die relative Summe zahlreicher Zusammenfügungen zu einem gegebenen Zeitpunkt. Jedes Subjekt ist auch, weil es das Ergebnis von Neuzusammenfügungen, Umbrüchen und mannigfaltigen Übertragungen ist, per definitionem offen für die Unvollständigkeit und das Unerforschte.
Die Unterteilung der Welt in eine Welt der Menschen und eine Welt der Dinge ist relativ. Wie die menschliche Person wohl kaum im Namen des Dings sprechen kann, weiß das Ding wiederum nicht, im Namen des Menschen zu sprechen. Bei näherer Betrachtung sind Berge, Flüsse und Ströme, Tiere und Pflanzen natürliche Personen. Sie unterscheiden sich von den menschlichen Personen. Sie benötigen keinen Schutz durch Wesen, die die Vormundschaft übernehmen. Vielmehr sind es die Menschen, die Vormünder und Stellvertreter benötigen. Dies gilt für die Ahnen. Sie sind es nämlich, die der Vermittlung bedürfen. Ihre Fürsprecher werden sie häufig außerhalb ihrer eigenen Art finden. Die menschliche Person ist, was sie selbst betrifft, eine grundsätzlich durchlässige Wesenheit. Sie geht und kommt, sie wird geboren, wächst heran und vergeht. Sie befindet sich grundsätzlich auf der Durchreise. Andere Wesenheiten hingegen haben Bestand und überdauern.
Bezeichnend ist die Art und Weise, wie das Lebendige Ereignis wird. Das Ereignis zu erkennen, zu verstehen und zu entziffern, bedeutet, zumindest zu einem Teil, Unterscheidungen zwischen dem Möglichen, dem Wahrscheinlichen und dem Überzeugenden zu treffen. Dies ist zum Beispiel die Funktion der Weissagung.2 Dank der Techniken der Weissagung ist es möglich, die Zukunft zu enthüllen und Beziehungen zu den Geistern der Toten zu unterhalten. Um ein Orakel zu erstellen, werden unterschiedliche Vorgehensweisen verwendet. Der Weissager füllt zum Beispiel kleine Kieselsteine in ein Antilopenhorn. Er fügt Überreste eines getrockneten menschlichen Leichnams hinzu, ein wenig getrockneter Baumrinde und versteckt das Ganze an einer Wegkreuzung. Er kann gleichermaßen einige Zwiebelpflanzen verwenden. Dies gilt besonders für jene, die Blüten tragen. In diesem Fall kaut er Maiskörner, gibt den so erhaltenen Brei auf den Boden, bevor er einen kleinen Stab einer Raphiapalme und einen Stachel eines Stachelschweins, den er mit verschiedenen Zeichen versieht, ergreift. Das Ganze bedeckt er mit einem umgedrehten Korb. Unter dem Korb sind Zikaden eingesperrt. Der Weissager wiederholt die gestellte Frage und kehrt zu sich nach Hause zurück. Während der Nacht werden die Insekten den Bambusstab und den Stachel des Stachelschweins in Unordnung bringen. Am nächsten Morgen geht es darum, die Position des Stabes und des Stachelschweinstachels zu entziffern, je nachdem, ob die Zeichen zur Erde weisen oder nicht.3 Die Weissager sind diejenigen, die die Nacht sehen.4 Sie, Entzifferer der Vorzeichen, sind auch die Kundigen im Zeichnen, in der Platzierung der Stäbchen und der Lektüre. Vor das Nest einer Spinne gestellt, trägt jedes Stäbchen eine besondere Markierung und einen Namen. Innerhalb des »Paradigmas der Spinne« unterscheidet man nicht weniger als acht so unterschiedliche Namen wie »Weg«, »Signaltrommler«, »Rücken«, »Buschmesser«, »Hüttenpfosten«, »Schlange« oder »Kopf des Menschen«. Wenn die Spinne ihr Nest verlässt, bringt sie zwangsläufig Unordnung in die Stäbchen. Wenn sie sich mit der Vorderseite dem Boden zugekehrt wiederfinden, ist die Vorhersage günstig.5
In der von Tutuola beschriebenen Welt ist wahr, was Grund zum Staunen gibt. Das Wahre offenbart sich durch Zeichen. Es gibt, a priori, keine Universalität der Zeichen. Sie variieren häufig. Das in einer Region verwendete Zeichen kann in einer Region nicht verwendet oder anders gedeutet werden. Jedes Zeichen hat ein Inneres und eine äußere Begrenzung. Auch der Wert der Zeichen ist veränderlich.6 Im Allgemeinen hängt die Kunst der Weissagung auch mit der Zahlensymbolik zusammen, und Letztere unterhält eine enge Verbindung mit der Wirklichkeit des Geheimnisses. Daher kommt zum Beispiel der Begriff der »geheimen Zählung« in den Mythen der Bambara. Zusammengesetzt aus einer ersten Gruppe von acht Zeichen, bildet diese Zählung die sieben ersten Zahlen, die sich dem Raum im Augenblick der Bildung des Universums eingeprägt haben, ab. Die bildliche Darstellung der Zahlen, arithmetischer Ausdruck der Gesamtheit der Schöpfung, erfolgt, in den meisten Fällen, vermittels vertikaler Striche. Sie können auch in einem Kreis oder horizontal gekreuzt angeordnet werden.7 Die numerischen Zeichen können anlässlich unterschiedlichster Ereignisse geschrieben werden, mag es sich um die Geburt von Zwillingen handeln oder um den Einsturz eines Speichers. In einigen Fällen ist das Leisten eines Eids auf gewisse Zahlen gängige Praxis.
Was ist, wird jedoch nur wirklich, das heißt belebt und zum Erzeuger von Wirkungen, wenn es mit anderen existierenden Dingen in Beziehung gesetzt wird. Dieses Wirklich-Werden ist ein beständiger Prozess. Es benutzt fast niemals die gleichen Formen und führt fast niemals zu einem endgültigen Abschluss. Mit anderen Worten, nichts wird ein für alle Mal geschaffen, und alles ist empfänglich für Veränderung. Unerwartete Ereignisse ereignen sich. Andere, die mutmaßlich kommen sollen, ereignen sich nicht oder sie ereignen sich zu einem Zeitpunkt, an dem sie niemand erwartet. Im Grunde verbietet nichts ausdrücklich das Wirklich-Werden, von was auch immer. Im Gegenzug ist auch nichts mehr jemals gesichert oder beständig.8 Alles kann sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt verändern. Eine absolute Unmöglichkeit existiert nicht. Die Wahrscheinlichkeitsskala ist gleichsam unendlich. Für die in das Schauspiel der Existenz verwickelten Akteure zählt nur eines, nämlich zu einem gegebenen Zeitpunkt anders zu werden, als man es vorher war.
Des Weiteren ist nichts, menschliche Personen, Gegenstände, sichtbare und unsichtbare Wesenheiten, passiv. Nichts ist beständige Wiederholung des Gleichen. Alles verbleibt von Grund aus im Ungefähren. Keine Wesenheit, kein Subjekt für sich genommen, hat die vollkommene Herrschaft über seine Freiheit und sein Schicksal und noch weniger über Freiheit und Schicksal anderer. Alles wird ausgehandelt. In ihrem Urgrund hat die Zeit weder Anfang noch Ende. Sie hat eine unbegrenzte, unerschöpfliche Ausdehnung, doch sie ist auch aus Segmenten gebildet, aus unterschiedlichen Verästelungen. Das Lebendige hat baumartige Form. Das Lebendige, Ergebnis ineinander verschachtelter und unentwirrbarer Vergangenheiten und angereichert durch mannigfaltige Gegenwarten, wird aus einer Vielzahl möglicher Zukünfte gebildet. Es ist nicht nur aus Unwägbarkeiten gewebt. Vielmehr ist das Zufällige Teil seines Stoffs, seiner »Eizelle«. Das Lebendige ist Würfelspiel und beständig dem Zerfall ausgesetzt. Da jede Gefahr sich beständig in eine Todesgefahr zu verwandeln droht, ist derjenige ein lebendiges Subjekt, der sich darauf verstanden hat, den Tod zu täuschen, indem er, wenn er musste, die Identität wechselte. Er ist zu ständigen Mutationen bereit und fähig, Zustand oder Lage zu verändern, vor allem im schicksalhaften Augenblick.
Ohne Beziehung untereinander ist jedes der Kollektive, jede der Wesenheiten und jedes der Objekte, die das Lebendige bilden, vergänglich, verweslich, der Beendigung des Lebens unterworfen, und jedes der Ereignisse ist flüchtig und vorübergehend. Zusammengefügt, einander aufgepfropft hingegen sind alle diese Entwürfe fähig, ihre Kraft zu vervielfachen, sich in dynamische Verbindungen zu verwandeln. Nachdem sie ihr Leben verstärkt und ihre Kraft vervielfacht haben, verwandeln sie sich in ebenso viele Spiegel der Erde und offenbaren ihre Fähigkeit, fortzubestehen. Da sie offen und füreinander bestimmt sind, gewähren sie der Erde die Eigenschaften einer Schwingungskammer, die zugleich der Sonne, der Nacht und dem Mond angehörige Bühne, das Bindemittel, das den Übergang von einer Form zur anderen, die Metamorphose, ermöglicht.9 Die Erde weist also, weiterhin im Sinne dieser Metaphysiken, in Schwingung versetzende, körperliche, sensorische und fleischliche Eigenschaften auf. Diese Eigenschaften bestehen bereits vor den Menschen, die, in Wahrheit, die Letztgeborenen des Kosmos sind. Der Körper und das Fleisch der Erde bilden die Entsprechungen zu dem Körper und dem Fleisch der Vielheit der Wesen, aus denen die Erde besteht oder die von ihr beherbergt werden, ihre Bewohner. Wie jeder Körper ist der Körper der Erde flüssig und mineralisch, austauschbar und vergänglich. Er ist auch ungeschützt gegenüber Einschnitten. In beständiger Berührung mit den Dingen des Todes ist er den Gefahren der Zersetzung ausgesetzt, gleich dem Verschiedenen unter seinem roten Leichentuch.
Die Erde kann unbegrenzten Fortbestand nur erreichen, wenn sie der Fruchtbarkeit und der Regeneration fähig ist. Fruchtbarkeit und Regeneration sind ihrerseits nur möglich, wenn Reserven gebildet wurden. In Abwesenheit dieser Fähigkeit von regelmäßig wiederkehrender Zeugung und Wiedererzeugung ist die Erde lediglich die verdüsterte Maske eines großen Totenhauses. Das ist der Grund, warum bei den alten Afrikanern die Frage nach der Zukunft der Erde und dem Schicksal der Technik häufig die Form einer Meditation über die Thematik des Samens, der Aussaat und der Keimung angenommen hat.10
Denn wenn es tatsächlich ein Geheimnis gibt, das die meisten anzestralen Mythen und Weisheitslehren zu lösen sich bemühten, dann ist es das Wissen, wie wir von einer Welt zur anderen, von einer Form zur anderen gelangen und dadurch dem, was von Vergehen bedroht ist, wieder Leben einhauchen können. Dies ist im Übrigen die den Techniken und anderen Objekten zugewiesene Funktion, angefangen bei den Masken, dieser äußerst wichtigen Form des Gedenkens an die Dahingeschiedenen, die ganz am Anfang steht. Dies ist auch die Funktion der liturgischen Gegenstände, es mag sich um Lanzen handeln, um den Stein, auf den man den Neugeborenen bei der Vergabe des Namens legt, um denjenigen, auf dem die Holzfigurinen des Sanktuariums stehen, oder um die Schildkröte, die den Ahnen repräsentiert, oder gar um die Schlange, die des Nachts kommt, um den Priester zu lecken und zu reinigen.11
Die Techniken sind Utensilien des Lebens. Ihre Rolle und die der Gegenstände ist es, das Potenzial an Energie zu vergrößern und dadurch den Menschen zu helfen, sich miteinzubeziehen, sich zu vervollständigen, ihre Kräfte zu steigern und eine Brücke zwischen ihrer eigenen Wiederinstandsetzung und der Wiederinstandsetzung der Welt zu bauen. Dank der Techniken und der Objekte ist es möglich, glaubt man, die Mysterien der Geheimsprache, das Geheimnis des Todes, zu durchdringen und durch die Vielfalt von Metamorphosen, die dem Fest der Aussaat vorausgehen, zu durchleben.12
VON ALLEN BRUTALEN VERÄNDERUNGEN, die das Lebendige in diesem terrestrischen Zeitalter betreffen, sind es vor allem drei, die, ausgehend von der animistischen Dialektik des Samens, der Aussaat und der Keimung, eine nähere Untersuchung verdienen. Die erste Veränderung, das Ergebnis der seinen Gang gehenden Weltverbrennung, betrifft das mögliche Verlassen der klimatischen Nische, in der Menschen und Nicht-Menschen seit sechstausend Jahren prosperierten.1Tatsächlich ist die Erwärmung, auch wenn nicht alle Regionen des Planeten auf die gleiche Weise und gleichermaßen betroffen sind, überall Wirklichkeit.
Die Fälle von Übersäuerung der Böden oder der Absenkung von Grundwasserspiegeln zählen wir gar nicht mehr. Die Vorräte an Tiefenwasser werden beständig geringer, was die Ertragsfähigkeit der Landwirtschaft gefährdet, selbst in Regionen der Welt, die bislang davon verschont zu sein schienen. Fast überall fordert die Versorgung von Ballungsgebieten immer größere Mengen an Wasser, während sich Trockenzeiten beständig verlängern. Außerdem beobachtet man in zahlreichen Regionen der Welt eine Verringerung des Feuchtigkeitsgehalts der Böden, veränderlich entsprechend der Art der Böden (je nachdem, ob es sich um einen humusreichen Boden mit einer großen Speicherfähigkeit handelt oder um sandige und andere Böden). Die Hochwasser der Flüsse, ein wiederkehrendes Phänomen, lösen ihrerseits starke Abwanderungen von Sedimenten, Auswaschungen und Schwankungen des Grundwassers aus. Die Entwaldung ist unter diesem Gesichtspunkt ein wichtiger Faktor der Verstärkung von Überschwemmungen. Die Bodendegradation ihrerseits hat eine Verschärfung des Wettstreits und der Kämpfe um Zugang zu und Kontrolle der natürlichen Ressourcen zur Folge. Sie ist im Übrigen Teil der Zerstörung besonderer Ökosysteme, die bislang die Lebensfähigkeit von Lebensräumen einiger biologischer Arten sicherten. So hat sich beispielsweise die negative Entwicklung der Pflanzendecke in einigen Ländern des Kongobeckens seit Beginn des 20. Jahrhunderts beständig verstärkt.
Jedes Jahr werden riesige mit dichtem Wald bedeckte Flächen in lichte Wälder verwandelt. Bewaldete Savannen hingegen werden zu Strauchsavannen. Der Verlust von Bodenfruchtbarkeit hat zu einem entsprechenden Rückgang von Erträgen und der Ertragsfähigkeit von Böden geführt. Daraus resultiert eine Verringerung des ursprünglichen biologischen Reichtums der Erden, ihrer Fähigkeit zur Regeneration und des natürlichen Potenzials der Böden. Doch wenn von Böden die Rede ist, ist es gleichermaßen eine Frage der Gewässer, der Fische, Pflanzen, Fauna, der Energievorräte, der Tiere und anderen Arten.
Die extremen Wetterlagen sind immer weniger ungewöhnliche oder außergewöhnliche Ereignisse. Stürme, Zyklone und Orkane suchen jahreszeitlich bedingt ganze Erdteile heim und verursachen unzählige Schäden an Wohnstätten und Flächen, bewaldete Flächen mit inbegriffen. Dies gilt sowohl für die Vereinigten Staaten als auch für die Zone zwischen den Wendekreisen. Die in Umlauf gebrachte Energie, wie es Pierre-Philippe Kastendeuch erklärt, ist gewaltig. Er erinnert daran, dass ein Zyklon »200 bis 300 Kilotonnen [Gas] pro Sekunde freisetzen kann«, während die Bombe von Hiroshima lediglich 20 Tonnen freisetzte.2
Auf einer anderen Ebene hat sich jedoch die Utopie eines unbegrenzten Wachstums auf einem immer kleineren Planeten hartnäckig gehalten, obwohl Wissenschaftler in einer Studie nach der anderen zeigen, dass wir uns, wenn nichts getan wird, unweigerlich den tödlichen Schwellen nähern werden – Hemmung des Wärmeaustauschs, Deformation der Proteine, Zerstörung der Muskelzellen, Versagen des Blutkreislaufs. Es sind keineswegs nur die Abkühlungsmechanismen des menschlichen Körpers, die gefährdet sein werden.3 Doch vielmehr ist es der Körper der Erde selbst und seine lebenswichtigen Organe, die nach und nach versagen werden.
Die dritte Veränderung betrifft eine Welt, in der wir uns bereits befinden. Sie wird im Wesentlichen von einer computerisierten Vernunft beherrscht. Gigantische Rechenmaschinen werden im 21. Jahrhundert sein, was die Verbindung von Stahl und Beton für das 19. und 20. Jahrhundert war.4 Die Technologie wird, mit anderen Worten, mehr als je zuvor eine der grundlegenden Kräfte unserer Welt sein. Sie wird ihr eine scheinbare Einheit schenken, doch sie wird sie gleichermaßen in einen Prozess des Auseinanderreißens und der Diffraktion hineinziehen. Die Technologie als solche wird die Zukunft der Welt zutiefst prägen. Mehr noch, sie wird unser Milieu werden, der Lebensraum, in dem wir uns bewegen, die Entsprechung zu unserem Biotop.
Durch sie werden neue imaginäre Welten und neue Sprachen in Erscheinung treten, wird sich das Zusammenleben zwischen den Lebenden organisieren, werden andere Weisen auftauchen, Welt zu bilden oder sie zu zerstören, ja sogar Herrschaft auszuüben.5 Zu den eigentlichen Rechenmaschinen werden unzählige Mega- und Nanostrukturen hinzukommen, dabei mag es sich um Hochspannungsleitungen, energetische Infrastrukturen oder um eine Vielzahl von in die Umlaufbahn gebrachten Satelliten und alle Arten von Funkantennen handeln.