Kritik der schwarzen Vernunft - Achille Mbembe - E-Book

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Achille Mbembe

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Beschreibung

Der globale Kapitalismus hat seit seiner Entstehung immer schon nicht nur Waren, sondern auch »Rassen« und »Spezies« produziert. Ihm liegt ein rassistisches Denken, eine »schwarze Vernunft« zugrunde, wie der große afrikanische Philosoph und Vordenker des Postkolonialismus Achille Mbembe in seinem brillanten und mitreißenden Buch zeigt. Der sich unaufhaltsam ausbreitende Kapitalismus neoliberaler Spielart überträgt die Figur des »Negers« nun auf die gesamte »subalterne Menschheit«. In diesem Prozess des »Schwarzwerdens der Welt«, so die radikale Kritik Mbembes, bilden auch Europa und seine Bürger mittlerweile nur noch eine weitere Provinz im weltumspannenden Imperium dieses Kapitalismus.

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Der globale Kapitalismus hat seit seiner Entstehung immer schon nicht nur Waren, sondern auch »Rassen« und »Spezies« produziert. Ihm liegt ein rassistisches Denken, eine »schwarze Vernunft« zugrunde, wie der afrikanische Philosoph und Vordenker des Postkolonialismus Achille Mbembe in seinem brillanten und mitreißenden neuen Buch zeigt.

In kraftvollen Linien zeichnet Mbembe die Genese unserer Gegenwart nach, indem er darstellt, wie sich der globale Kapitalismus seit dem Beginn der Neuzeit aus dem transatlantischen Sklavenhandel entwickelt hat. In dieser Zeit steigt Europa zum Zentrum der Welt auf und kreiert die Figur des »Negers«, des »menschlichen Objekts«, der »menschlichen Ware«, die über den »schwarzen Atlantik« gehandelt wird. Mit dem Abolitionismus, der Revolution in Haiti, dem Antikolonialismus oder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung kommt zwar seit der Aufklärung eine erste globale Welle der Kritik an der Sklaverei und der schwarzen Vernunft des Kapitalismus auf. Dieser breitet sich jedoch in seiner neo­liberalen Spielart unaufhaltsam weiter aus und überträgt die Figur des »Negers« nun auf die gesamte »subalterne Menschheit«. In diesem Prozess des »Schwarzwerdens der Welt«, so die radikale Kritik Mbembes, bilden auch Europa und seine Bürger mittlerweile nur noch eine weitere Provinz im weltumspannenden Imperium des neolibe­ralen Kapitalismus. Einzig ein »Denken des Lebens«, der Lebensreserven, die nicht geopfert werden dürfen, kann die Menschheit aus dieser kannibalischen Struktur der Moderne befreien.

Achille Mbembe, geboren 1957, ist ein kamerunischer Historiker und politischer Philosoph. Er zählt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Mbembe lehrt nach Stationen an der Columbia University, der University of California in Berkeley, der Yale University und der Duke University heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg.

Achille Mbembe

Kritik der

schwarzen Vernunft

Aus dem Französischen von

Michael Bischoff

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Critique de la raison nègre© Éditions LA DÉCOUVERTE, Paris, France, 2013

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73848-1

www.suhrkamp.de

Für Sarah, Léa und Aniel

sowie Jolyon und Jean (†)

Inhalt

Einleitung: Die Welt wird schwarz

Eine schwindelerregende Verbindung

Die Rasse in der Zukunft

Erstes Kapitel: Das Rassensubjekt

Fabulieren und Abschließung des Geistes

Rekalibrierung

Das Substantiv »Neger«

Erscheinung, Wahrheit und simulacrum

Die Logik des Einzäunens

Zweites Kapitel: Der Brunnen der Phantasmen

Ein Menschsein auf Bewährung

Zuschreibung, Verinnerlichung und Verkehrung

Der Neger der Weißen und der Weiße der Neger

Paradoxien des Namens

Der kolossos der Welt

Die Aufteilung der Welt

Nationalkolonialismus

Frivolität und Exotismus

Selbstverblendung

Grenzen der Freundschaft

Drittes Kapitel: Differenz und Selbstbestimmung

Liberalismus und Rassenpessimismus

Ein Mensch wie alle anderen?

Das Universelle und das Besondere

Tradition, Gedächtnis und Schöpfung

Die Zirkulation der Welten

Viertes Kapitel: Das kleine Geheimnis

Geschichten des Potentaten

Der Zauberspiegel

Erotik der Ware

Die schwarze Zeit

Körper, Statuen, Bildnisse

Fünftes Kapitel: Requiem für den Sklaven

Vielfalt und Überschuss

Das menschliche Wrack

Über den Sklaven und das Gespenst

Über Leben und Arbeit

Sechstes Kapitel: Klinik des Subjekts

Der Herr und sein Neger

Rassenkampf und Selbstbestimmung

Der Aufstieg zum Menschsein

Der große Krach

Die emanzipatorische Gewalt des Kolonisierten

Die Wolke des Ruhms

Demokratie und Poetik der Rasse

Epilog: Es gibt nur eine Welt

»Ich denke, daß man sich dieser Menschenköpfe,

dieser Ohrenernten, dieser verbrannten Häuser,

dieser gotischen Invasionen, dieses rauchenden Blutes,

dieser Städte, die unter der Schneide des Schwertes

verdampften, nicht so billig entledigt.«

Aimé Césaire, Rede über den Kolonialismus

11Einleitung

Die Welt wird schwarz

Dieses Buch hätte ich gerne in der Art eines Stroms mit zahlreichen Zuflüssen geschrieben, während die Geschichte und die Dinge sich uns zuwenden und Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt bildet. Das ist in der Tat das Geschehen oder jedenfalls die Grunderfahrung unseres Zeitalters. Und wenn es darum geht, sämtliche Implikationen und Folgen dieser Entwicklung zu erkunden, stehen wir gerade erst am Anfang.1 Was den Rest angeht, ob diese Entdeckung uns nun freut oder erstaunt oder Unbehagen bereitet, ist eines sicher: Diese Deklassierung eröffnet neue Möglichkeiten – aber auch Gefahren – für das kritische Denken, und genau damit möchte ich mich unter anderem in diesem Essay befassen.

Um die Tragweite dieser Gefahren und Möglichkeiten genau zu ermessen, bedarf es keineswegs des Hinweises, dass dem europäischen Denken in seiner gesamten Geschichte die Tendenz innewohnte, Identität nicht im Sinne gemeinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt zu verstehen, sondern im Sinne eines selbstbezüglichen Verhältnisses, des Erscheinens des Seins und seiner 12Manifestation im Sein oder auch im Spiegel seiner selbst.2 Dagegen muss man sich vor Augen führen, dass als direkte Folge dieser Logik der Autofiktion, der Selbstbetrachtung, also der Abschließung, Neger und Rasse in der Vorstellungswelt der europäischen Gesellschaften stets eins sind.3 Die beiden grobschlächtigen, schweren, sperrigen und zerrütteten Bezeichnungen – Symbole drastischer Intensität und des Abscheus – kommen im modernen Wissen und Diskurs über den Menschen (und damit auch über »Humanismus« und »Menschlichkeit«) zwar nicht gleichzeitig, aber zumindest doch parallel zueinander auf; und seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bilden sie gemeinsam den (uneingestandenen und oft verleugneten) Boden oder Kern, von dem aus das moderne Projekt der Erkenntnis – aber auch des Regierens – sich entfaltet.4 Sie beide sind Zwillingsgestalten jenes Wahns, den die Moderne hervorbringen sollte (erstes und zweites Kapitel).

Worauf ist dieser Wahn zurückzuführen, und welches sind seine elementarsten Erscheinungsformen? Zunächst einmal darauf, dass der Neger der (oder auch das) ist, den 13(oder das) man sieht, wenn man nichts sieht, wenn man nichts versteht und, vor allem, wenn man nichts verstehen will. Wo immer der Neger auftritt, löst er leidenschaftliche Dynamiken und ein Übermaß an Irrationalität aus, die stets das gesamte System der Vernunft auf die Probe stellen. Sodann auf die Tatsache, dass niemand – weder jene, die diesen Namen erfunden haben, noch jene, die damit behängt werden – ein Neger sein oder in der Praxis als ein solcher behandelt werden möchte. Außerdem gilt, was Gilles Deleuze einmal gesagt hat: »Im Wahn gibt es immer einen Neger, einen Juden, einen Chinesen, einen Großmogul, einen Arier«, denn der Wahn braut unter anderem auch die Rassen zusammen.5 Indem insbesondere die europäisch-amerikanischen Welten den Körper und den Menschen auf eine Frage der äußeren Erscheinung, der Haut und der Hautfarbe, reduzierten und dabei der Haut wie auch deren Farbe den Status einer biologisch begründeten Fiktion verliehen, machten sie den Neger und die Rasse zu zwei Seiten ein und derselben Figur, des kodifizierten Wahns.6 Die Rasse, die nun als materielle und phantasierte Grundkategorie fungierte, wurde im Lauf der letzten Jahrhunderte zum Ausgangspunkt zahlreicher Katastrophen und zur Ursache unerhörter psychischer Verheerungen wie auch zahlloser Verbrechen und Massaker.7

14Eine schwindelerregende Verbindung

Drei Phasen prägten die Biographie dieser schwindelerregenden Verbindung. Die erste ist die organisierte Entrechtung, als man Männer und Frauen afrikanischer Herkunft für die Zwecke des transatlantischen Sklavenhandels (15. bis 19. Jahrhundert) in menschliche Objekte, menschliche Waren, menschliches Geld verwandelte.8 Ins Gefängnis der Erscheinungen eingeschlossen, gehören sie nun anderen, die ihnen feindlich gesinnt sind, weshalb sie denn auch weder einen Namen noch eine eigene Sprache haben. Aber auch wenn ihr Leben und ihre Arbeit jetzt anderen gehören, mit denen zu leben sie verdammt sind, mit denen sie jedoch keine mitmenschlichen Beziehungen unterhalten dürfen, bleiben sie dennoch handelnde Subjekte.9 Die zweite Phase beginnt, als die Neger, diese von anderen in Besitz genommenen Wesen, Ende des 18. Jahrhunderts zum Schreiben finden, sich fortan in einer eigenen Sprache auszudrücken vermögen und den Status von vollwertigen Subjekten der Menschenwelt einfordern.10 Diese Phase, 15die von zahllosen Sklavenrevolten und der Unabhängigkeit Haitis 1804, den Kämpfen für die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels, der Dekolonisierung Afrikas und der Bürgerrechtsbewegung in den USA geprägt war, findet ihren Abschluss in der Abschaffung der Apartheid in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die dritte Phase (Anfang des 21. Jahrhunderts) ist die der Globalisierung der Märkte, der Privatisierung der Welt unter der Ägide des Neoliberalismus, der wachsenden Komplexität des Finanzsystems, des postimperialen militärischen Komplexes und der elektronischen und digitalen Technologien.

Unter Neoliberalismus ist eine Phase in der Geschichte der Menschheit zu verstehen, die von Computerindustrien und Computertechnologien beherrscht wird. Der Neoliberalismus ist das Zeitalter, in dem die kurzen Zeiten im Begriff stehen, in die Zeugungskraft der Geldform verwandelt zu werden. Da das Kapital seinen äußersten Fluchtpunkt erreicht hat, kommt es zu einer eskalierenden Entwicklung. Sie basiert auf der Vorstellung, »dass alle Ereignisse und Verhältnisse der Lebenswelt mit einem Marktwert ausgestattet werden könnten«.11 Diese Entwicklung ist außerdem gekennzeichnet durch die Produktion von Gleichgültigkeit, die erzwungene Kodierung des sozialen Lebens in Normen, Kategorien und Zahlen sowie durch diverse Abstraktionsoperationen, die den Anspruch erheben, die Welt auf der Basis der Unternehmenslogik zu rationalisieren.12 Von einem verhängnisvollen Doppelgänger verfolgt, definiert sich das Kapital und insbesondere das Finanzkapi16tal heute als grenzenlos, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Zwecke als auch hinsichtlich seiner Mittel.13 Es diktiert nicht mehr nur sein eigenes Zeitregime. Nachdem es »die Herstellung aller Filiationsbeziehungen« selbst übernommen hat, versucht es, sich in einer unendlichen Folge strukturell unauflöslicher Schulden zu vervielfachen.14

Es gibt nun keine Arbeitenden als solche mehr. Es gibt nur noch Arbeitsnomaden. Während es gestern noch die Tragödie des Subjekts war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie der Vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können und einer »überflüssigen Menschheit« zugewiesen zu werden, die aufgegeben und vom Kapital für sein Funktionieren kaum noch gebraucht wird. Es entsteht ein psychisches Leben gänzlich neuer Art, das sich auf ein künstliches digitales Gedächtnis und auf kognitive Modelle aus dem Bereich der Neurowissenschaften und der Neuroökonomie stützt. Psychische und technologische Automatismen sind ein und dasselbe, und es entsteht die Fiktion eines neuen menschlichen Subjekts, »Unternehmer seiner selbst«, formbar und darauf bedacht, sich ständig unter Rückgriff auf die von seiner Zeit gebotenen Artefakte umzubilden.15

Dieser neue Mensch, Subjekt des Marktes und der Schulden, hält sich für ein reines Produkt des natürlichen Zufalls. Diese »fertige abstrakte Form«, wie Hegel sagt, fähig, jeglichen Inhalt überzustreifen, ist typisch für die Zivilisation des Bildes und der neuen Beziehungen, die diese Form zwischen Fakten und Fiktionen herstellt.16 Als Tier 17unter Tieren besitzt der neue Mensch angeblich kein eigenes Wesen, das es zu beschützen oder zu bewahren gälte. Und es gebe a priori keinerlei Grenzen für die Veränderung seiner biologischen und genetischen Struktur.17 Vom tragischen und entfremdeten Subjekt der ersten Industrialisierung unterscheidet er sich in vielfältiger Weise. Zunächst einmal ist er ein in seinem Begehren gefangenes Individuum. Für sein Vergnügen ist er nahezu vollständig auf seine Fähigkeit angewiesen, sein inneres Leben öffentlich zu rekonstruieren und es wie eine handelbare Ware auf einem Markt anzubieten. Als neuroökonomisches Subjekt, getrieben von der zweifachen exklusiven Sorge um seine Animalität (die biologische Reproduktion seines Lebens) und seine Dinghaftigkeit (Genuss der Güter dieser Welt), versucht dieser Ding-Mensch, Maschinen-Mensch, Code-Mensch, dieser im Fluss befindliche Mensch, sein Verhalten an den Normen des Marktes auszurichten, und zögert dabei kaum, sich selbst und andere für die Optimierung seines Anteils am Vergnügen zu instrumentalisieren. Verdammt zu lebenslangem Lernen, zur Flexibilität, zur Herrschaft des Augenblicks, muss er seine Lage als auflösbares und fungibles Subjekt hinnehmen, um der Forderung zu entsprechen, die ständig an ihn gestellt wird: ein anderer zu werden.

Der Neoliberalismus steht für das Zeitalter, in dem Kapitalismus und Animismus, die man so lange unter Schwierigkeiten auseinanderzuhalten versuchte, dahin tendieren, eins zu werden. Da der Kreislauf des Kapitals jetzt vom Bild zum Bild führt, ist das Bild zu einem Beschleunigungsfak18tor der Triebenergien geworden. Aus der potenziellen Verschmelzung des Kapitalismus mit dem Animismus ergeben sich Folgen, die unser zukünftiges Verständnis der Rasse und des Rassismus bestimmen. Zunächst einmal sind die systemischen Risiken, denen zu Zeiten des Frühkapitalismus nur die Neger ausgesetzt waren, inzwischen vielleicht nicht die Norm, aber zumindest doch das Schicksal aller subalternen Menschengruppen. Sodann geht diese tendenzielle Universalisierung der conditio nigra einher mit der Entstehung bislang unbekannter imperialer Praktiken. Diese Praktiken orientieren sich am Vorbild der Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens, ebenso wie an den kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung, also der Bürgerkriege oder Raubzüge früherer Zeitalter.18 Bei den auf Besetzung zielenden und den der Aufstandsbekämpfung dienenden Kriegen geht es nicht nur darum, den Feind aufzuspüren und zu liquidieren, sondern auch eine Aufteilung der Zeit und eine Atomisierung des Raumes herbeizuführen. Da ein Teil der Arbeit nun darin besteht, das Reale in Fiktion und die Fiktion in Realität zu verwandeln, werden militärische Mobilmachung aus der Luft, die Zerstörung der Infrastruktur, die Schläge und Verwundungen nun von einer totalen Mobilmachung durch Bilder begleitet.19 Die Bilder sind damit nun Teil der Dispositive einer Gewalt, die sich als rein versteht.

19Außerdem gehen Fangen, Erbeuten, Ausbeutung und asymmetrische Kriege einher mit einer Rebalkanisierung der Welt und einer Intensivierung von Praktiken der Einteilung in Zonen – worunter man eine bislang unbekannte Komplizenschaft zwischen dem Ökonomischen und dem Biologischen zu verstehen hat. Konkret zeigt sich diese Komplizenschaft in der Militarisierung der Grenzen, in der Zerstückelung der Territorien, ihrer Aufteilung und der Schaffung mehr oder weniger autonomer Räume innerhalb eines bestehenden Staates, die sich zuweilen jeglicher Form nationaler Souveränität entziehen, aber unter dem informellen Gesetz einer Vielzahl fragmentierter Autoritäten und privater bewaffneter Mächte oder unter dem Schutz internationaler Körperschaften mit vorgeschobenen oder realen humanitären Zielsetzungen oder einfach ausländischer Armeen operieren.20 Eine derartige Schaffung von Zonen geht in der Regel einher mit einer transnationalen Vernetzung der Repression, einer ideologischen Gleichschaltung der Bevölkerung, dem Einsatz von Söldnern gegen lokale Guerillas, der Aufstellung von »Greifkommandos«, dem systematischen Einsatz von massenhafter Inhaftierung, Folter und außergesetzlichen Hinrichtungen.21 Mit Hilfe solcher Praktiken der Zonen20bildung produziert ein »Imperialismus der Desorganisation« Katastrophen und vervielfältigt nahezu überall den Ausnahmezustand, wobei er sich selbst von der Anarchie nährt.

Durch Verträge zum Zweck des Wiederaufbaus und unter dem Vorwand, Unsicherheit und Unordnung zu bekämpfen, legen ausländische Firmen, Großmächte und einheimische herrschende Klassen die Hand auf Reichtümer und Bodenschätze der solcherart zu Vasallen gemachten Länder. Massive Vermögenstransfers in Richtung privater Interessen, die Enteignung eines wachsenden Teils der durch frühere Kämpfe dem Kapital entrissenen Reichtümer, die endlose Abzahlung von Schuldentranchen – die Gewalt des Kapitals trifft nun auch Europa selbst, wo eine neue Klasse strukturell verschuldeter Männer und Frauen erscheint.22

Noch charakteristischer für die potenzielle Verschmelzung des Kapitalismus mit dem Animismus ist die deutlich erkennbare Möglichkeit einer Verwandlung der Menschen in belebte Dinge, in digitale Daten und Codes. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit verweist der Name Neger nicht mehr nur auf die Lage, in die man die Menschen afrikanischer Herkunft in der Epoche des Frühkapitalismus brachte (Enteignungen unterschiedlicher Art, Beraubung jeglicher Möglichkeit der Selbstbestimmung und vor allem der Zukunft und der Zeit, dieser beiden 21Matrizen des Möglichen). Diese neue Fungibilität, diese Löslichkeit, deren Institutionalisierung als neue Daseinsnorm und ihre Generalisierung für den gesamten Planeten meinen wir, wenn wir sagen, die Welt werde schwarz.

Die Rasse in der Zukunft

Wenn Neger und Rasse zwei zentrale (wenn auch verleugnete) Figuren des europäisch-amerikanischen Diskurses über den »Menschen« waren, müssen wir dann annehmen, dass die Deklassierung Europas und seine Rückstufung auf den Rang einer bloßen Provinz der Welt das Ende des Rassismus bedeutet? Oder müssen wir vielmehr einsehen, dass der Rassismus angesichts der fungibel gewordenen Menschheit selbst noch in den Zwischenräumen einer neuen – vergrabenen, molekularen und fragmentierten – Sprache über den »Raum« wiedererstehen wird? Wenn wir die Frage so stellen, vergessen wir durchaus nicht, dass weder der Neger noch die Rasse jemals verschwunden sind (erstes Kapitel). Im Gegenteil, sie waren immer Teil einer niemals endenden Kette von Dingen. Außerdem ist ihre Grundbedeutung existenzieller Natur. Vor allem die Bezeichnung »Neger« strahlte lange Zeit eine außergewöhnliche Energie aus, mal als Vehikel niederer Instinkte und chaotischer Mächte, mal als leuchtendes Zeichen einer in Zeiten des Wandels zu erwartenden Wiedergewinnung der Welt und des Lebens (zweites und fünftes Kapitel). Denn dieser Begriff bezeichnete nicht nur eine buntscheckige, vielgestaltige, fragmentierte Realität – immer wieder neue Fragmente von Fragmenten –, sondern auch eine Reihe erschütternder geschichtlicher Erfahrungen, die Wirklichkeit eines vakanten Lebens, das unentrinnbare Schicksal von Millionen Menschen, die dazu verurteilt sind, ihren 22Körper und ihr Denken von außen funktionieren zu sehen und in Zuschauer von etwas verwandelt zu sein, das ihre eigene Existenz war und nicht war23 (drittes und viertes Kapitel).

Das ist noch nicht alles. Als Produkt einer sozialen und technischen Maschine, die untrennbar mit dem Kapitalismus, seiner Entstehung und Globalisierung verbunden war, wurde diese Bezeichnung als Ausdruck für Ausschluss, Verdummung und Erniedrigung erfunden, also für eine Grenze, die ständig beschworen und verabscheut wird. Verachtet und entehrt, ist der Neger in der Moderne der einzige Mensch, dessen Haut zum Ding und dessen Geist zur Ware – zur lebendigen Krypta des Kapitals – gemacht wurde. Aber in einer spektakulären Verkehrung – das ist seine offenkundige Dualität – wird er zum Symbol eines bewussten Lebenstriebs, einer überbordenden, fließenden und formbaren Kraft, ganz dem Schöpfungsakt hingegeben und fähig, in mehreren Zeiten und mehreren Geschichten zugleich zu leben. Seine Zauberkraft und sein Betörungsvermögen wurden dadurch nur noch verstärkt. Manche zögern nicht, im Neger den Erdboden und die Lebensader zu erblicken, durch die der Traum einer Versöhnung mit der Natur, also der Totalität des Seins, erneut Gesicht, Stimme und Bewegung erhielte.24

Die europäische Dämmerung kündigt sich zu einer Zeit an, da die europäisch-amerikanische Welt immer noch nicht weiß, was sie vom Neger wissen (oder aus ihm ma23chen) wollte. In vielen Ländern grassiert seither ein »Rassismus ohne Rassen«.25 Um weiterhin Diskriminierung betreiben zu können und zugleich begrifflich undenkbar zu machen, mobilisiert man statt der »Biologie« nun »Kultur« und »Religion«. Man gibt vor, der republikanische Universalismus sei blind für die Rasse, schließt aber die Nichtweißen in ihre angebliche Herkunft ein und vermehrt unablässig die in Wirklichkeit rassifizierten Kategorien, die in der Mehrzahl die alltägliche Islamphobie nähren. Aber wer von uns könnte leugnen, dass es an der Zeit ist, endlich bei sich selbst anzufangen und – während Europa sich verirrt, gefangen in dem Unbehagen, nicht zu wissen, wo es in der Welt und mit der Welt steht – von Grund auf etwas vollkommen Neues zu schaffen? Müssen wir zu diesem Zweck zuallererst den Neger vergessen oder ihm vielmehr seine trügerische Macht, seinen leuchtenden, fließenden und kristallinen Charakter erhalten – jenes schwer zu fassende, serielle, formbare, stets maskierte Subjekt, das sich ständig auf beiden Seiten des Spiegels aufhält, an einer Grenze, an der es unablässig entlangstreift? Wenn der Neger inmitten dieser Wirren tatsächlich seine Erfinder überlebte und wenn in einer dieser Wendungen, deren Geheimnis die Geschichte kennt, die ganze subalterne Menschheit tatsächlich schwarz würde, welche Gefahren brächte solch ein Schwarzwerden der Welt für das Versprechen universeller Freiheit und Gleichheit mit sich, dessen manifestes Zeichen der Name Neger in der gesamten Moderne gewesen ist? (Sechstes Kapitel.)

Außerdem ist etwas zurückgeblieben von den verbissenen kolonialen Bemühungen, zu teilen, zu klassifizieren, 24zu hierarchisieren und zu differenzieren, nämlich Wunden und Verletzungen. Schlimmer noch, eine bleibende Kluft ist aufgerissen worden. Ist es sicher, dass wir heute ein anderes Verhältnis zum Neger einnehmen können als das zwischen Herr und Knecht? Ist er nicht selbst überzeugt davon, dass ein Doppelgänger in ihm wohnt? Ein fremdes Wesen, das ihn hindert, zum Selbstbewusstsein zu finden? Erlebt er seine Welt nicht als eine des Verlusts und der Spaltung, und träumt er nicht von der Rückkehr zu einer Identität mit sich selbst im Sinne reiner Wesenhaftigkeit und damit oft der Ungleichheit? Ab wann verwandelt sich das Projekt radikaler Aufhebung und einer Autonomie im Namen der Differenz in eine simple mimetische Umkehrung dessen, was man stets verwünscht hat?

Mit solchen Fragen befasst sich dieses Buch, das sich, obwohl weder eine Ideengeschichte noch eine historisch-soziologische Studie, dennoch der Geschichte bedient, um einen Stil kritischer Reflexion über die Welt unserer Zeit vorzustellen. Es bevorzugt eine halb der Sonne und halb dem Mond, halb dem Tag und halb der Nacht zugehörige Form von Erinnerung, hat dabei aber letztlich stets nur eine Frage im Sinn: Wie können wir Differenz und Leben, Gleiches und Ungleiches, Überschießendes und Gemeinsames denken? Diese Frage findet sich in der schwarzen Erfahrung gut zusammengefasst, weiß sie doch im heutigen Bewusstsein so gut den Platz einer zurückweichenden Grenze, gleichsam eines beweglichen Spiegels einzunehmen. Allerdings muss man sich fragen, warum dieser bewegliche Spiegel nicht endlich aufhört, sich um sich selbst zu drehen. Was hindert ihn, zu einem Ergebnis zu gelangen? Wie erklärt sich diese endlose Wiederaufnahme immer sterilerer Spaltungen?

Johannesburg, 2. August 2013

25Diesen Essay habe ich während meines langen Aufenthalts am Witwatersrand Institute for Social and Economic Research (WISER) an der Universität Witwatersrand in Johannesburg geschrieben. Er ist Teil eines Reflexionszyklus, der mit De la postcolonie (2000) begann, mit Sortir de la grande nuit (2010) fortgesetzt wurde und mit der vorliegenden Arbeit über den Afropolitanismus seinen Abschluss findet.

Im Verlaufe dieses Zyklus habe ich mich bemüht, mich in mehreren Welten zugleich zu bewegen, nicht durch eine willkürliche Aufteilung, sondern in einem Hin und Her, das es möglich machen sollte, von Afrika aus ein Denken der Zirkulation und des Durchquerens zu artikulieren. Auf diesem Wege war es kaum sinnvoll, die europäischen Denktraditionen zu »provinzialisieren«. Im Übrigen sind sie uns keineswegs fremd. Wenn es darum geht, der Welt in der Sprache aller Ausdruck zu verleihen, finden sich innerhalb dieser Traditionen vielmehr Kräftebeziehungen, und ein Teil unserer Bemühungen besteht darin, auf diese inneren Reibungen einzuwirken und sie zu dezentrieren, nicht um den Abstand zwischen Afrika und der Welt zu vergrößern, sondern um die Möglichkeit zu schaffen, dass die neuen Anforderungen einer möglichen Universalität relativ klar hervortreten.

Während meines Aufenthalts am WISER genoss ich die Unterstützung meiner Kollegen und Kolleginnen Deborah Posel, Sarah Nuttall, John Hyslop, Ashlee Neeser, Pamila Gupta und in jüngster Zeit Cathy Burns und Keith Breckenridge. Das Buch verdankt sehr viel der Freundschaft mit David Theo Goldberg, Arjun Appadurai, Ackbar Abbas, Françoise Vergès, Pascal Blanchard, Laurent Dubois, Éric Fassin, Ian Baucom, Srinivas Aravamudan, Charlie Piot und Jean-Pierre Chrétien. Paul Gilroy, Jean Comaroff, John Comaroff und die verstorbene Carol Breckenridge 26waren für mich unermessliche Quelle der Inspiration. Ich danke auch meinen Kolleginnen und Kollegen Kelly Gillespie, Julia Hornberger, Leigh-Ann Naidoo und Zen Marie vom Johannesburg Workshop in Theory and Criticism (JWTC) an der Universität Witwatersrand.

Mein Verleger François Gèze und sein Team (insbesondere Pascale Iltis und Thomas Deltombe) waren wie stets eine ausgezeichnete Hilfe.

Ich danke den Zeitschriften Le Débat, Politique africaine, Cahiers d’études africaines, Research in African Literatures, Africulture und Le Monde diplomatique für die Veröffentlichung explorierender Texte, die diesem Essay als Grundlage dienen.

Aus Gründen, die hier nicht erneut genannt zu werden brauchen, widme ich dieses Buch Sarah, Léa und Aniel sowie Jolyon und Jean.

1 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000; Jean Comaroff und John L. Comaroff, Theory from the South: Or, how America is Evolving toward Africa, London 2012, insb. die Einleitung; Arjun Appadurai, The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, London 2013; Kuan-Hsing Chen, Asia as Method. Toward Deimperialization, Durham 2010; und Walter D. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011.

2 Zur Komplexität und den diesem Akt innewohnenden Spannungen siehe Srinivas Aravamudan, Enlightenment Orientalism. Revisiting the Rise of the Novel, Chicago 2012.

3 Siehe François Bernier, »Nouvelle division de la terre, par différentes espèces ou races d’hommes qui l’habitent«, Journal des Sçavants, 24. April 1684, S. 133-141; und Sue Peabody und Tyler Stovall, The Color of Liberty. Histories of Race in France, Durham 2003, S. 11-27. Siehe auch Charles W. Mills, The Racial Contract, Ithaca, NY, 1977.

4 William Max Nelson, »Making men: Enlightenment ideas of racial engineering«, American Historical Review, 115, Nr. 2 (2010), S. 1364-1394; James Delbourgo, »The Newtonian slave body: racial enlightenment in the Atlantic world«, Atlantic Studies, 9, Nr. 2 (2012), S. 185-207; und Nicholas Hudson, »From nation to race: the origins of racial classification in eighteenth-century thought«, Eighteenth-Century Studies, 29, Nr. 3 (1996), S. 247-264.

5 Gilles Deleuze, Deux régimes de fous. Textes et entretiens, 1975-1995, Paris 2003; dt.: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, Frankfurt am Main 2005, S. 26.

6 Miriam Eliav-Feldon, Benjamin Isaac und Joseph Ziegler, The Origins of Racism in the West, Cambridge 2009.

7 Frantz Fanon, Peau noire, masques blancs [1952], in ders., Œuvres, Paris 2003; dt.: Schwarze Haut, weiße Masken, Wien 2013; William Bloke Modisane, Blame Me on History, New York 1963; dt.: Weiß ist das Gesetz, München 1964.

8 Walter Johnson, Soul by Soul. Life Inside the Antebellum Slave Market, Cambridge, Mass., 1999; und Ian Baucom, Specters of the Atlantic. Finance Capital, Slavery, and Philosophy of History, Durham 2005.

9 Zu diesen Debatten siehe W. Blassingame, The Slave Community. Plantation Life in the Antebellum South, Oxford 1972; Eugene D. Genovese, Roll, Jordan, Roll. The World the Slaves Made, New York 1974.

10 Dorothy Porter, Early Negro Writing, 1760-1837, Baltimore 1995. Und vor allem John Ernest, Liberation Historiography. African American Writers and the Challenge of History, 1794-1861, Chapel Hill 2004; und Stephen G. Hall, A Faithful Account of the Race. African American Historical Writing in Nineteenth-Century America, Chapel Hill 2009. Speziell zu den Antillen siehe Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant, Lettres créoles, tracées antillaises et continentales, 1635-1975, Paris 1991. Zum übrigen Raum siehe S. E. K. Mqhayi, Abantu Besizwe. Historical and Biographical Writings, 1902-1944, Johannesburg 2009; und Alain Ricard, Naissance du roman africain: Félix Couchouro (1900-1968), Paris 1987.

11 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010, S. 110.

12 Siehe Béatrice Hibou, La Bureaucratisation du monde à l’ère néolibérale, Paris 2012.

13 Siehe Vogl, Das Gespenst des Kapitals, a. a. O., S. 120 ff.

14 Ebd., S. 124 und 132.

15 Roland Gori und Marie-José Del Volgo, Exilés de l’intime. La médecine et la psychiatrie au service du nouvel ordre économique, Paris 2008.

16 Siehe dazu Francesco Masci, L’Ordre règne à Berlin, Paris 2013; dt.: Die Ordnung herrscht in Berlin, Berlin 2014.

17 Siehe Pierre Dardot und Christian Laval, La Nouvelle Raison du monde. Essai sur la société néolibérale, Paris 2009. Siehe auch Roland Gori, »Les dispositifs de réification de l’humain (entretien avec Philippe Schepens)«, Semen. Revue de sémio-linguistique des textes et discours, 30 (2011), S. 57-70.

18 Siehe Françoise Vergès, L’Homme prédateur. Ce que nous enseigne l’esclavage sur notre temps, Paris 2011.

19 Siehe die Arbeiten von Stephen Graham, Cities Under Siege. The New Military Urbanism, London 2010; Derek Gregory, »From a view to a kill. Drones and late modern war«, Theory, Culture & Society, 28, Nr. 7-8 (2011), S. 188-215; Ben Anderson, »Facing the future enemy. US counterinsurgency doctrine and the preinsurgent«, ebd., S. 216-240, und Eyal Weizman, Hollow Land. Israel’s Architecture of Occupation, London 2011; dt.: Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung, Hamburg 2009.

20 Alain Badiou, »La Grèce, les nouvelles pratiques impériales et la ré-invention de la politique«, Lignes, Oktober 2012, S. 39-47. Siehe auch Achille Mbembe, »Necropolitics«, Public Culture, 15, Nr. 1 (2003), S. 11-40; Naomi Klein, The Shock Doctrine. The Rise of Desaster Capitalism, New York 2007; dt.: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007; Adi Ophir, Michal Givoni und Sari Hanafi (Hg.), The Power of Inclusive Exclusion. Anatomy of Israeli Rule in the Occupied Palestinian Territories, New York 2009; und Weizman, Hollow Land, a. a. O.

21 David H. Ucko, The New Counterinsurgency Era. Transforming the US Military for Modern Wars, Washington, DC, 2009; Jeremy Scahill, Blackwater. The Rise of the World’s Most Powerful Mercenary Army, New York 2007; dt.: Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt, München 2007; John A. Nagl, Learning to Eat Soup with a Knife. Counterinsurgency Lessons from Malaya and Vietnam, Chicago 2009; Grégoire Chamayou, Théorie du drone, Paris 2013.

22 Maurizio Lazzarato, La Fabrique de l’homme endetté, Amsterdam und Paris 2011; dt.: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Essay über das neoliberale Leben, Berlin 2012.

23 Didier Anzieu, Le Moi-Peau, Paris 1995; dt.: Das Haut-Ich, Frankfurt am Main 1991, S. 30 f.

24 Siehe insb. die Poesie von Aimé Césaire. Zur Thematik des Erdbodens siehe Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau, L’Intraitable Beauté du monde, Paris 2008; dt.: Brief an Barak Obama: die unbezähmbare Schönheit der Welt, Heidelberg 2011.

25 Éric Fassin, Démocratie précaire, Paris 2012; und Éric Fassin (Hg.), Les Nouvelles Frontières de la société française, Paris 2010.

27Erstes Kapitel

Das Rassensubjekt

Es wird also im Folgenden um die schwarze Vernunft gehen. Dieser mehrdeutige und polemische Ausdruck soll mehrere Dinge bedeuten: Gestalten des Wissens; ein Ausbeutungs- und Ausraubungsmodell; ein Paradigma der Unterwerfung und der Modalitäten ihrer Überwindung; und schließlich einen psychischen Traumkomplex. Dieser große Käfig, in Wirklichkeit ein komplexes Netz aus Spaltungen, Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, hat die Rasse zur Grundlage.

Über die Rasse (oder den Rassismus) kann man nur in einer fatal unzureichenden, grauen, also unangemessenen Sprache sprechen. Für den Augenblick genügt der Hinweis, dass sie eine Form urwüchsiger Darstellung ist. Da sie nicht zwischen Innerem und Äußerem, zwischen den Hüllen und ihrem Inhalt zu unterscheiden vermag, verweist sie in erster Linie auf Oberflächenbilder. In ihrem Tiefenbezug ist die Rasse sodann ein perverser Komplex, der Ängste und Qualen, Verwirrungen des Denkens und Schrecken, aber vor allem unendliches Leid und Katastrophen herbeiführt. In ihrer phantasmagorischen Dimension ist sie eine Gestalt der wahnhaften und gelegentlich auch hysterischen Phobie. Ansonsten ist sie das, was sich seiner selbst versichert, indem es hasst, Schrecken verbreitet, mordet, das heißt, den Anderen nicht als Seinesgleichen, sondern als ein bedrohliches Objekt konstituiert, vor dem man sich schützen, das man loswerden oder, da man keine vollständige Herrschaft darüber erlangen kann, einfach vernichten muss.26 Aber wie 28Frantz Fanon anmerkt, ist Rasse auch der Name, den man dem bitteren Ressentiment geben muss, dem unwiderstehlichen Drang nach Rache, also dem Zorn derer, die unter dem Joch der Unterdrückung allzu oft gezwungen sind, unzählige Beleidigungen, alle erdenklichen Arten von Gewalt und Demütigung und zahllose Verletzungen hinzunehmen.27 Wir werden in diesem Buch daher nach dem Charakter dieses Ressentiments fragen und uns dabei vor Augen führen, was die Rasse ausmacht, ihre gleichermaßen reale und fiktive Tiefe, die Beziehungen, in denen sie sich ausdrückt, und was sie in jenem Vorgang bewirkt, bei dem die menschliche Person zu einer Sache, einem Objekt oder einer Ware aufgelöst wird, wie es historisch bei den Menschen afrikanischer Herkunft der Fall war.28

Fabulieren und Abschließung des Geistes

Der Rückgriff auf das Konzept der Rasse, zumindest wie hier skizziert, mag erstaunen. Schließlich existiert die Rasse nicht als natürliche physische, anthropologische oder genetische Tatsache.29 Aber sie ist nicht bloß eine nützliche 29Fiktion, ein phantastisches Konstrukt oder eine ideologische Projektion, deren Funktion darin besteht, die Aufmerksamkeit von ansonsten als ernsthaft eingestuften Konflikten – vom Klassenkampf oder vom Kampf der Geschlechter – abzulenken. In vielen Fällen ist sie eine autonome Gestalt der Realität, deren Kraft und Dichte sich auf ihren beweglichen, unbeständigen, wechselhaften Charakter zurückführen lässt. Außerdem gründete die Welt vor gar nicht allzu langer Zeit in einem Urdualismus, der seine Rechtfertigung seinerseits teilweise im alten Mythos rassischer Überlegenheit fand.30 In ihrem gierigen Bedürfnis nach Mythen, die ihre Macht begründen konnten, hielt die westliche Hemisphäre sich für das Zentrum der Welt, für die Heimat der Vernunft, des universellen Lebens und der menschlichen Wahrheit. Als »zivilisierteste« Region der Erde hatte allein der Westen ein Ius gentium erfunden. Nur ihm war es gelungen, eine Zivilgesellschaft der Nationen zu schaffen, verstanden als eine öffentliche Sphäre gegenseitiger Rechte. Nur er hatte eine Idee des Menschen als Träger bürgerlicher und politischer 30Rechte hervorgebracht, die es dem Menschen ermöglichten, seine privaten und öffentlichen Fähigkeiten zu entwickeln, als Person, als Bürger und Angehöriger des Menschengeschlechts, den als solchen alles Menschliche betraf. Nur er hatte ein Spektrum menschlicher Gebräuche kodifiziert, das diplomatische Rituale, die öffentliche Moral und die guten Sitten sowie die Techniken des Handels, der Religion und der Regierung umfasste.

Der Rest – Gestalten des Andersartigen, der Differenz und der reinen Macht des Negativen – war Ausdruck des Objektseins schlechthin. Afrika im Allgemeinen und der Neger im Besonderen wurden als perfekte Symbole dieses pflanzlichen und beschränkten Lebens dargestellt. Als jede Gestalt überschreitende und deshalb grundsätzlich nicht darstellbare Gestalt galt insbesondere der Neger als perfektes Beispiel dieses intensiv von der Leere bearbeiteten Andersseins, dessen Negativ am Ende alle Momente des Daseins durchdrungen hatte – Tod des Lichts, Zerstörung und Untergang, namenlose Nacht der Welt.31 Über solche Gestalten sagte Hegel, sie seien Statuen ohne Sprache und Selbstbewusstsein; menschliche Wesen, die unfähig seien, sich endgültig von der Tiergestalt zu befreien, mit der sie vermengt waren; im Grunde liege es in ihrer Natur, etwas in sich zu bergen, das bereits tot sei.

Solche Gestalten seien das Kennzeichen »vereinzelter ungeselliger Völkergeister, die in ihrem Hasse sich auf den Tod bekämpfen«, sich nach Art der Tiere zerfleischen und vernichten – eine noch schwankende Art von Menschheit, die Menschwerden und Tierwerden miteinander vermenge und letztlich ein Selbstbewusstsein »ohne Allgemein31heit« besitze.32 Andere räumten – barmherziger – ein, dass solche Wesen nicht gänzlich ohne Menschlichkeit seien. Diese noch im Schlaf liegende Menschheit habe sich noch nicht an das Abenteuer der von Paul Valéry so genannten »unüberbrückbaren Kluft« gewagt. Es sei aber möglich, sie auf unseren Stand zu erheben. Diese Bürde gebe uns jedoch keineswegs das Recht, ihre Unterlegenheit auszunutzen. Vielmehr erwachse uns daraus eine Pflicht – nämlich ihr zu helfen und sie zu schützen.33 Genau das mache das koloniale Unternehmen zu einem zutiefst »zivilisatorischen« und »humanitären« Werk, und die unvermeidlich damit verbundene Gewalt könne nur moralischer Natur sein.34

Das heißt, der europäische Diskurs, der wissenschaftliche wie der volkstümliche, griff in der Art, ferne Welten zu denken, zu klassifizieren und zu imaginieren, häufig auf Verfahren des Fabulierens zurück. Indem er vielfach erfundene Tatsachen als real, sicher und exakt darstellte, umging er die Sache, die er zu erfassen vorgab, und nahm selbst dann ein zutiefst von Phantasien geprägtes Verhältnis zu ihr ein, wenn er den Anspruch auf eine objektive Darstellung erhob. Die wichtigsten Merkmale dieses phantasierten Verhältnisses sind bislang noch keineswegs geklärt, aber die Verfahren, mit deren Hilfe die Fabulierarbeit Gestalt annehmen konnte, und die Gewalt, zu der sie führte, sind inzwischen hinreichend bekannt. Hier kann man heute nur noch wenig hinzufügen. Wenn es jedoch ein Objekt und einen Ort gibt, an denen dieses 32Phantasieverhältnis und die zugrunde liegende Fiktionsökonomie am brutalsten, klarsten und deutlichsten zutage treten, so ist es dieses Zeichen, das man den Neger nennt, und indirekt auch dieser scheinbar aus der Welt gefallene Ort namens Afrika, dessen Besonderheit darin besteht, dass es keine Gattungsbezeichnung und erst recht kein Eigenname ist, sondern ein Hinweis auf die Abwesenheit eines Werkes.

Gewiss, nicht alle Neger sind Afrikaner, und nicht alle Afrikaner sind Neger. Aber es hat kaum Bedeutung, wo sie sind. Als Objekte des Diskurses und der Erkenntnis haben Afrika und der Neger seit dem Beginn der Moderne die Theorie des Namens wie auch Stellung und Funktion des Zeichens und der Darstellung in eine tiefe Krise gestürzt. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung, Wahrheit und Irrtum, Vernunft und Unvernunft, ja sogar Sprache und Leben. Wenn es um die Neger und Afrika ging, drehte sich die ruinierte und entleerte Vernunft tatsächlich immer wieder um sich selbst und stürzte sich häufig in einen scheinbar unzugänglichen Raum, in dem die niedergestreckte Sprache und selbst die Worte kein Gedächtnis mehr besaßen. Die üblichen Funktionen der Sprache waren erloschen, und sie verwandelte sich in eine phantastische Maschine, deren Kraft zugleich auf ihrem volkssprachlichen Charakter, einer fürchterlichen Verletzungsmacht und ihrer grenzenlosen Verbreitung basierte. Auch heute noch steht das Wort, wenn es um diese beiden Bezeichnungen geht, nicht immer für die Sache; wahr und falsch lassen sich nicht voneinander trennen, und die Bedeutung des Zeichens ist nicht immer der bezeichneten Sache angemessen. Das Zeichen ist kein bloßer Ersatz für die Sache. Wort oder Bild haben oft nur wenig über die objektive Welt zu sagen. Die Welt der Worte und Zeichen hat solch eine 33Autonomie erlangt, dass sie nicht mehr nur ein Schirm für jegliche Erfassung des Subjekts, seines Lebens und seiner Entstehungsbedingungen ist, sondern eine eigenständige Kraft, die sich von jeglicher Verankerung in der Realität zu befreien vermag. Dass dies so ist, muss zu einem ganz beträchtlichen Teil dem Gesetz der Rasse zugeschrieben werden.

Es wäre ein Irrtum, wenn man meinte, wir hätten endgültig jenes Regime hinter uns gelassen, dessen Urszenen der Handel mit Negersklaven und dann die Plantagen- oder Bergbaukolonie darstellten. In diesem Taufbecken unserer Moderne setzte man zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Prinzip der Rasse und das Subjekt gleichen Namens unter dem Zeichen des Kapitals an die Arbeit, und genau das unterscheidet den Handel mit Negersklaven und dessen Institutionen von autochthonen Formen der Knechtschaft.35 Tatsächlich erweiterte sich der räumliche Horizont Europas vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beträchtlich. Der atlantische Raum wird schrittweise zum Epizentrum einer neuen Verknüpfung der Welten, zu dem Ort, an dem ein neues erdumspannendes Bewusstsein entsteht. Das geschieht im Gefolge früherer europäischer Expansionsbestrebungen in Richtung der Kanarischen Inseln, Madeiras, der Azoren und der Kapverden, die zu den Anfängen einer Plantagenwirtschaft unter Einsatz afrikanischer Sklaven führen.36

34Die Verwandlung Spaniens und Portugals aus Kolonien am Rande der arabischen Welt zu treibenden Kräften in der europäischen Expansion jenseits des Atlantiks fällt mit dem Zustrom von Afrikanern auf der Iberischen Halbinsel zusammen. Sie beteiligen sich am Wiederaufbau der iberischen Fürstentümer nach der Großen Pest und der Großen Hungersnot im 14. Jahrhundert. Zwar sind die meisten von ihnen Sklaven, aber das gilt keineswegs für alle. Es gibt auch Freie unter ihnen. Während die Halbinsel bis dahin über die von den Mauren kontrollierten, durch die Sahara führenden Routen mit Sklaven versorgt wurde, verändert sich die Situation um 1440, als die Iberer über den Atlantik direkten Kontakt zu West- und Zentralafrika aufnehmen. Die ersten Schwarzen, die Sklavenraubzügen zum Opfer fielen und auf öffentlichen Märkten verkauft wurden, trafen 1444 in Portugal ein. Von 1450 bis 1500 nahm die Zahl der »erbeuteten« Schwarzen beträchtlich zu. In der Folge verstärkte sich die afrikanische Präsenz, und jedes Jahr kamen Tausende von Sklaven nach Portugal, so dass ihr Zustrom sogar das demographische Gleichgewicht in manchen iberischen Städten störte.37 So etwa in Lissabon, Sevilla und Cadiz, deren Bevölkerung Anfang des 16. Jahrhunderts zu nahezu 10 Prozent aus Afrikanern bestand.38 Die meisten arbeiteten in der Landwirtschaft und im Haushalt. Als dann die Eroberung Amerikas begann, fanden afrikanische Sklaven sich in Begleitung der Seeleute, in den Handelsstationen, auf den Plantagen und 35in den städtischen Zentren des Kolonialreichs.39 Sie beteiligten sich an Feldzügen (Puerto Rico, Kuba, Florida) und gehörten auch zu den Regimentern des Hernán Cortéz, die 1519 Mexiko angriffen.40

Nach 1492 wird der Atlantik aufgrund des Dreieckshandels zu einer veritablen Drehscheibe, die Afrika, Amerika, die Karibik und Europa in einer verschachtelten Ökonomie vereinigt. Als Verbindung zwischen ehemals relativ autonomen Regionen wird dieses mehrere Hemisphären überspannende riesige Gebilde aus Meeren und Kontinenten zum Motor weltgeschichtlich beispielloser Veränderungen. Die Menschen afrikanischer Herkunft standen im Zentrum dieser neuen Dynamik, die ein unablässiges Hin und Her zwischen den Küsten ein und desselben Ozeans, zwischen den Negerhäfen West- und Zentralafrikas und denen Amerikas und Europas erforderte. Diese Zirkulationsstruktur stützte sich auf eine Ökonomie, die ihrerseits riesige Mengen an Kapital erforderte. Dazu gehörten der Transfer von Edelmetallen und landwirtschaftlichen oder handwerklichen Erzeugnissen, die Entwicklung des Versicherungswesens, der Buchführung und der Finanzbranche sowie die Ausbreitung bislang unbekannter praktischer Fertigkeiten und kultureller Praktiken. Es beginnt ein beispielloser Kreolisierungsprozess, der zu einem intensiven Verkehr der Religionen, Sprachen, Technologien und Kulturen führte. Das schwarze Bewusstsein in der Epoche des Frühkapitalismus geht zum Teil aus dieser Bewegungs- und Zirkulationsdynamik hervor. Aus dieser Sicht ist es das Produkt einer Tradition der Reisen und 36Verlagerungen. Es stützt sich auf eine Logik der Entnationalisierung der Vorstellungswelt. Dieser Prozess der Entnationalisierung der Vorstellungswelt wird sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein fortsetzen, und er wird die meisten großen schwarzen Emanzipationsbewegungen begleiten.41

Zwischen 1630 und 1780 übersteigt die Zahl der in den atlantischen Besitzungen Großbritanniens ankommenden Afrikaner bei weitem die der Europäer.42 Das Ende des 18. Jahrhunderts markiert in dieser Hinsicht die große schwarze Zeit des britischen Empire. Es handelt sich nicht nur um Schiffsladungen von Menschen, die aus den Sklavenlagern und Häfen Westafrikas und der Bucht von Biafra in Jamaika und den Vereinigten Staaten ankommen. Neben dem makabren Sklavenhandel, bei dem es um Profite geht, gibt es auch Bewegungen freier Afrikaner, neuer Kolonisten, die sich – gestern noch »black poor« in England oder Flüchtlinge des Unabhängigkeitskriegs in den Vereinigten Staaten – in Neuschottland, Virginia oder Carolina auf den Weg machen, um in Afrika selbst neue Kolonien nach dem Vorbild Sierra Leones zu gründen.43

37Die Transnationalisierung der conditio nigra ist daher ein konstitutives Moment der Moderne, und ihr Inkubationsort ist der atlantische Raum. Diese conditio umfasst ihrerseits einen ganzen Fächer äußerst unterschiedlicher Situationen. Sie reicht vom gekauften Sklaven, dem Objekt des Sklavenhandels, über den Strafsklaven und den Subsistenzsklaven (Knecht auf Lebenszeit) bis hin zu unterschiedlichen Formen der Leibeigenschaft oder auch vom Freigelassenen bis hin zum Sklaven durch Geburt. Zwischen 1776 und 1825 verliert Europa durch eine Reihe von Revolutionen, Unabhängigkeitsbewegungen und Rebellionen den größten Teil seiner amerikanischen Kolonien. Die Afro-Lateinamerikaner hatten eine herausragende Rolle beim Aufbau der iberisch-spanischen Reiche gespielt. Sie hatten nicht nur als versklavte Arbeitskräfte gedient, sondern auch als Seeleute, Exploratoren, Offiziere, Siedler, Grundbesitzer und gelegentlich sogar als Freie mit eigenen Sklaven.44 Bei der Auflösung der Kolonialreiche und bei antikolonialistischen Aufständen im 19. Jahrhundert wird man sie in diversen Rollen finden, ob nun als Soldaten oder an der Spitze politischer Bewegungen. Als die imperialen Strukturen der atlantischen Welt zusammenbrachen und Nationalstaaten an deren Stelle traten, veränderten sich die Beziehungen zwischen Kolonien und Mutterland. Eine Klasse kreolischer Weißer begründete und festigte ihren Einfluss.45 Die alten Fragen der Heterogenität, des Unterschieds und der Freiheit werden erneut aufgeworfen, während die neuen Eliten sich der Ideologie des mestizaje38bedienen, um die Rassenfrage zu verleugnen und zu disqualifizieren. Der Beitrag der Afro-Lateinamerikaner und der Negersklaven zur geschichtlichen Entwicklung Südamerikas wird zwar nicht ausgelöscht, aber doch in erheblichem Maße ausgeblendet.46

Entscheidend in dieser Hinsicht ist das Beispiel Haitis, das sich 1804, nur zwanzig Jahre nach den Vereinigten Staaten, für unabhängig erklärt. Die Unabhängigkeitserklärung Haitis markiert eine Wende in der modernen Geschichte der menschlichen Emanzipation. Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, war die Kolonie Santo Domingo tatsächlich das klassische Beispiel einer Plantokratie, einer hierarchisch aufgebauten sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung – an der Spitze eine relativ kleine Zahl rivalisierender Gruppen von Weißen, in der Mitte eine Gruppe freier Farbiger und Mischlinge, unten eine große Mehrheit aus Sklaven, die zu mehr als der Hälfte in Afrika geboren sind.47 Anders als die übrigen Unabhängigkeitsbewegungen ist die haitianische Revolution das Ergebnis eines Sklavenaufstands. Sie führt 1805 zu einer der radikalsten Verfassungen der Neuen Welt. Diese Verfassung verbietet den Adel, verkündet die Religionsfreiheit, greift die beiden Konzepte des Eigentums und der Sklaverei an – was die amerikanische Revolution nicht gewagt hatte. Die neue Verfassung Haitis schafft nicht nur die Sklaverei ab. Sie erlaubt auch die Enteignung der Ländereien der französischen Kolonisten und nimmt der herr39schenden Klasse damit ganz nebenbei ihre Grundlage; sie schafft die Unterscheidung zwischen ehelicher und nichtehelicher Geburt ab und treibt die damals noch revolutionären Ideen einer Gleichheit der Rassen und universeller Freiheit bis zu ihren äußersten Konsequenzen.48

In den Vereinigten Staaten waren die ersten schwarzen Sklaven 1619 eingetroffen. Kurz vor der Revolution gegen die Engländer zählte man in den rebellierenden Kolonien mehr als 500 000. 1776 schlossen sich 5000 von ihnen als Soldaten den Patrioten an, während die Mehrzahl kaum den Status von Bürgern genoss. Für die meisten war der Kampf gegen die britische Herrschaft zugleich ein Kampf gegen das System der Sklaverei. Nahezu zehntausend Deserteure von den Plantagen in Georgia und South Carolina schlossen sich den britischen Truppen an. Andere zogen sich in Sümpfe und Wälder zurück und versuchten, für ihre eigene Befreiung zu kämpfen. Am Ende des Krieges wurden etwa 14 000 Schwarze, von denen einige nun frei waren, aus Savannah, Charleston und New York evakuiert und nach Florida, Neuschottland, Jamaika und später nach Afrika transportiert.49 Die antikoloniale Revolution gegen die Engländer hatte zu einem Paradoxon geführt; einerseits zu einer Erweiterung der Freiheit für die Weißen und andererseits zu einer beispiellosen Festigung des Systems der Sklaverei. In beträchtlichem Maße hat40ten die Plantagenbesitzer des Südens ihre Freiheit mit der Sklavenarbeit bezahlt. Dank der Arbeitskraft der Sklaven vermieden die Vereinigten Staaten eine Klassenspaltung innerhalb der weißen Bevölkerung – die ansonsten zu Machtkämpfen mit unabsehbaren Folgen geführt hätte.50

Im Verlaufe der kurzen, oben beschriebenen atlantischen Periode erlangte Europa, diese kleine Provinz des Planeten, nach und nach eine Führungsrolle gegenüber dem Rest der Welt. Parallel dazu entstehen insbesondere im 18. Jahrhundert mehrere Wahrheitsdiskurse über die Natur, über Besonderheit und Formen des Lebendigen, über Qualitäten, Merkmale und Charakterzüge der Menschen, ja sogar ganzer Völker, die man nach Gattungen, Arten oder Rassen untergliedert und auf einer vertikalen Achse anordnet.51

Paradoxerweise ist dies auch die Zeit, da man beginnt, Völker und Kulturen als in sich geschlossene Individualitäten zu begreifen. Jede Gemeinschaft – und selbst jedes Volk – gilt als eigener Kollektivkörper. Zugleich verstand man sie als die Grundeinheit einer Geschichte, die von Kräften angetrieben wurde, welche nur auftraten, um andere Kräfte in einem Kampf auf Leben und Tod auszulöschen, dessen Ergebnis nur Freiheit oder Knechtschaft sein konnte.52 Die Erweiterung des räumlichen Horizonts Europas geht also einher mit einer Einteilung und Verengung seiner kulturellen und historischen Vorstellungskraft und gelegentlich sogar mit einer relativen 41Abschließung des Geistes. Denn wenn Gattungen, Arten und Rassen erst einmal identifiziert und klassifiziert sind, bleibt in der Tat nur noch zu zeigen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Diese relative Abschließung des Geistes bedeutet keineswegs das Ende jeglicher Neugier. Aber vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Aufklärung ist die Neugier als Vermögen des menschlichen Geistes und als kulturelle Sensibilität untrennbar mit einer ungeheuren Fabulierarbeit verbunden, die vor allem im Blick auf andere Welten systematisch die Grenzen zwischen Glaubhaftem und Unglaublichem, Wunderbarem und Tatsächlichem verwischt.53

Die erste große Klassifizierung der Rassen unternimmt Buffon in einem Klima, in dem der Diskurs über die anderen Welten auf den naivsten und sensualistischsten Vorurteilen basiert, während die äußerst komplexen Lebensformen auf die reine Schlichtheit der Attribute reduziert werden.54 Wir wollen dies als die Herdenphase des westlichen Denkens bezeichnen. In dieser Phase wird der Neger als Prototyp einer vormenschlichen Gestalt dargestellt, die unfähig ist, sich von ihrer Animalität zu befreien, sich selbst hervorzubringen und sich auf die Höhe ihres Gottes zu erheben. In seine Sinnlichkeit eingeschlossen, habe der Neger Mühe, sich von den Ketten der biologischen Notwendigkeit zu befreien, weshalb es ihm kaum gelinge, 42sich selbst eine wirklich menschliche Form zu verleihen und seine Welt zu gestalten. Darin entferne er sich vom Normalzustand der Gattung. Die Herdenphase des westlichen Denkens ist außerdem jene Phase, in der, gefördert durch den imperialistischen Trieb, der Akt des Erfassens und Begreifens zunehmend von jeglicher Bemühung abgelöst wird, wirklich zu erkennen, wovon man spricht. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte bilden den Höhepunkt dieser Herdenphase. Für mehrere Jahrhunderte wird das Konzept der Rasse – das bekanntlich ursprünglich auf die Tierwelt bezogen war – vor allem zur Bezeichnung der nichteuropäischen Völkerschaften dienen.55 Was man damals den »Rassenzustand« nennt, entspricht, so glaubt man, einem Zustand der Degeneration und einem ontologischen Mangel. Der Begriff der Rasse erlaubt die Vorstellung, die nichteuropäischen Völkerschaften seien mit einem minderen Sein geschlagen. Sie seien der verarmte Reflex des idealen Menschen, von dem sie ein unaufhebbarer zeitlicher Abstand trenne, gewissermaßen eine unüberbrückbare Kluft. Über sie zu sprechen heiße vor allem, eine Abwesenheit festzustellen – die Abwesenheit des Identischen – oder vielmehr eine sekundäre Anwesenheit, die von Monstern und von Fossilien. »Das Fossil«, schreibt Foucault, »läßt die Ähnlichkeiten durch alle Abweichungen hindurch fortbestehen, die die Natur durchlaufen hat«, und »funktioniert wie eine ferne und approximative Form der Identität«, während das Monstrum »wie eine Karikatur […] die Genesis der Unterschiede« erzählt.56 Auf dem großen Tableau der Gattungen und Arten, der Rassen und Klassen steht der Neger in seiner großarti43gen Dunkelheit für die Synthese dieser beiden Gestalten. Dennoch existiert der Neger nicht als solcher. Er wird beständig produziert. Den Neger produzieren heißt ein soziales Band der Unterwerfung und einen Ausbeutungskörper produzieren, also einen Körper, der ganz dem Willen eines Herrn unterworfen ist und dem man ein Höchstmaß an Rentabilität abzupressen versucht. Als ein zur Fronarbeit verdammtes Objekt ist Neger auch der Name einer Erniedrigung, Symbol des Menschen, der sich mit Peitsche und Leid konfrontiert sieht in einem Feld von Kämpfen, in denen sozial und rassisch segmentierte Gruppen und Faktionen aufeinanderprallen. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies in den meisten Plantokratien auf den karibischen Inseln. Diese Plantokratien sind segmentierte Welten, in denen das Gesetz der Rasse sowohl auf der Konfrontation zwischen weißen Pflanzern und Negersklaven als auch auf den Gegensätzen zwischen Negern und »freien Farbigen« (vielfach freigelassenen Mulatten) beruht, von denen manche übrigens selbst Sklaven besitzen.

Der Neger auf den Plantagen ist im Übrigen eine vielschichtige Gestalt. Er ist Jäger entlaufener und flüchtiger Sklaven, Henker und Henkersknecht, talentierter Sklave, Spitzel, Domestik, Küchenmeister, ein weiterhin in Abhängigkeit stehender Freigelassener, Konkubine, Schlägen ausgesetzter Landarbeiter, Fabrikarbeiter, Maschinenführer, Begleiter seines Herrn, Gelegenheitssoldat. Diese Positionen sind alles andere als stabil. Je nach den Umständen kann eine Position in eine andere »verkehrt« werden. Das Opfer von heute kann morgen schon der Henker im Dienste seines Herrn sein. Gar nicht selten kommt es vor, dass der gestern Freigelassene heute selbst zum Sklavenhalter und Sklavenjäger wird.

Der Neger auf den Plantagen ist außerdem zum Hass auf die anderen und vor allem auf die anderen Neger so44zialisiert. Charakteristisch für die Plantage sind jedoch nicht nur die segmentierten Formen von Unterjochung, Misstrauen, Intrigen, Rivalitäten und Eifersüchteleien, die wechselnden Treueverhältnisse, die ambivalenten Taktiken, die aus Komplizenschaften, aus Arrangements jeglicher Art, aus Differenzierungsversuchen vor dem Hintergrund der Vertauschbarkeit der Positionen bestehen. Charakteristisch ist auch die Tatsache, dass das soziale Ausbeutungsverhältnis nicht ein für alle Mal gegeben ist. Es wird ständig in Frage gestellt und muss immer wieder produziert und reproduziert werden durch eine Gewalt molekularer Natur, die das Knechtschaftsverhältnis zusammenhält und sättigt.