Politik der Feindschaft - Achille Mbembe - E-Book

Politik der Feindschaft E-Book

Achille Mbembe

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Beschreibung

In seinem neuen Buch untersucht Achille Mbembe ein Phänomen, das sich in unserem globalen Zeitalter ständig rekonfiguriert: die Feindschaft. Ausgehend von den psychiatrischen und politischen Einsichten Frantz Fanons, zeigt Mbembe, wie als Folge der Konflikte um die Entkolonialisierung des 20. Jahrhunderts der Krieg – in Gestalt von Eroberung und Besatzung, von Terror und Revolte – zur Signatur unserer Zeit geworden ist. Als auf Dauer gestellter Ausnahmezustand führt er zur Erosion der liberalen Demokratie.

Mbembes hochaktueller Essay spürt den Konsequenzen dieser Erosion nach: der Ausbreitung autoritärer Regierungsformen. Er beschreibt die Bedingungen, unter denen heute die Fragen zum Verhältnis von Recht und Gewalt, Normalität und Ausnahmezustand, Sicherheit und Freiheit gestellt werden. Mit Blick auf die globalen Migrationsströme und das damit einhergehende unvermeidliche Zusammenwachsen der Welt formuliert er eine scharfe Kritik am atavistischen Nationalismus und plädiert für eine neue Politik der Humanität.

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Seitenzahl: 286

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3Achille Mbembe

Politik der Feindschaft

Aus dem Französischen von Michael Bischoff

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Hauptteil

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Einleitung Die Welt auf dem Prüfstand

Erstes Kapitel Das Ende der Demokratie

Umkehrung, Inversion und Beschleunigung

Der dunkle Körper der Demokratie

Mythen

Die Zerstörung des Göttlichen

Nekropolitik und Beziehung ohne Begehren

Zweites Kapitel Die Gesellschaft der Feindschaft

Das beängstigende Objekt

Der Feind, dieser Andere, der ich bin

Die zum Glauben Verdammten

Der Unsicherheitsstaat

Nanorassismus und Narkotherapie

Drittes Kapitel Fanons Apotheke

Das Zerstörungsprinzip

Gesellschaft von Objekten und Metaphysik der Zerstörung

Rassistische Ängste

Radikale Dekolonisierung und Fest der Phantasie

Die Pflegebeziehung

Der unverschämte Doppelgänger

Das Leben, das wegfließt

Viertes Kapitel Dieser nervtötende Süden

Die Sackgassen des Humanismus

Das Andere des Menschlichen und Genealogien des Objekts

Die Nullwelt

Antimuseum

Autophagie

Kapitalismus und Animismus

Emanzipation des Lebendigen

Schluss Ethik des Passanten

Anmerkungen

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Für Fabien Éboussi Boulaga, Jean-François Bayart und Peter L. Geschiere

9Einleitung Die Welt auf dem Prüfstand

Wer ein Buch in die Hand nimmt, weiß darum noch nicht, was er damit anfangen soll. Ursprünglich wollte ich eines schreiben, das kaum von Geheimnissen umgeben wäre. Herausgekommen ist am Ende ein kurzer Essay, der aus hingeworfenen Skizzen und parallelen Kapiteln besteht, aus mehr oder weniger durchgezogenen Linien und zahlreichen Punkten, aus lebhaften und rasch ausgeführten Strichen oder gar leichten Rückzugsbewegungen, gefolgt von plötzlichen Kehrtwenden.

Gewiss, das sperrige Thema eignete sich kaum für ein Geigensolo. So reicht es denn, die Präsenz eines Knochens, eines Totenschädels oder eines Skeletts im Innern des Elements erahnen zu lassen. Dieser Knochen, dieser Totenschädel und dieses Skelett haben Namen — die Neubesiedlung der Erde, das Ende der Demokratie, die Gesellschaft der Feindseligkeit, die unerwünschte Beziehung, die Stimme des Blutes, Terror und Gegenterror als Heilmittel und Gift unserer Zeit (Kapitel 1 und 2). Den besten Zugang zu diesen verschiedenen Skeletten bot eine Form, die sich keineswegs zögerlich, sondern zielstrebig und energisch gibt. Wie dem auch sei, dies ist ein Text, über dessen Oberfläche der Leser frei, ohne Kontrolle und ohne Visum hinweggleiten kann. Er kann verweilen, solange er will, sich ganz nach Belieben bewegen und jederzeit durch jede beliebige Tür hinausgehen oder zurückkehren. Er kann jede Richtung einschlagen und dabei gegenüber jedem 10Wort und jeder These kritische Distanz und bei Bedarf auch eine gewisse Skepsis bewahren.

Es heißt, Schreiben entfalte stets eine Kraft oder spreche einen Streitpunkt an — was ich hier ein Element nenne. Im vorliegenden Fall handelte es sich um ein rohes Element oder eine einengende Kraft, um eine Kraft, die eher trennt als Bindungen verstärkt — eine Kraft der Spaltung und einer realen Isolierung, die sich allein um sich selbst dreht und sich vom Rest der Welt abzuschotten versucht, zugleich aber behauptet, deren bestmögliche Regierung zu sein. Die nachfolgenden Überlegungen betreffen in der Tat die erneute Erhebung der Feindschaftsbeziehung und ihrer zahlreichen Ausprägungen unter den heutigen Gegebenheiten auf die globale Ebene. Der Platonische Begriff des pharmakon — eines Medikaments, das zugleich als Heilmittel und als Gift wirkt — bildet hier den Dreh- und Angelpunkt. Zum Teil gestützt auf das politische und psychiatrische Werk Frantz Fanons, werde ich zeigen, wie im Gefolge der Dekolonisierungskonflikte der Krieg (in Gestalt von Eroberung und Besetzung, Terror und Aufstandsbekämpfung) am Ende des 20. Jahrhunderts zum Sakrament unserer Zeit wurde.

Diese Transformation hat wiederum leidenschaftliche Bewegungen freigesetzt, die Schritt für Schritt die liberalen Demokratien drängen, Notstandsmaßnahmen zu verhängen, ein rigoroses Vorgehen ins Auge zu fassen und diktatorische Mittel gegen sich selbst und ihre Feinde einzusetzen. Ich frage unter anderem, welche Folgen diese Umkehrung hat und wie sich unter diesen neuen Bedingungen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gewalt und Recht, zwischen Norm und Ausnahme, zwischen Krieg, Sicherheit und Freiheit stellt. Im Kontext einer immer kleiner werdenden Welt und einer Neubesiedlung der Erde zugunsten neuer Zirkulationszyklen der 11Bevölkerungen versucht dieser Essay nicht nur, neue Wege zu einer Kritik atavistischer Nationalismen zu öffnen. Er fragt auch indirekt, worin die Grundlagen einer gemeinsamen Genealogie und damit auch einer über die Menschheit hinausreichenden Politik des Lebendigen bestehen könnten.

Der Essay behandelt in der Tat jene Art von Arrangement mit der Welt — oder mit der Nutzung der Welt —, die zu Beginn dieses Jahrhunderts darin besteht, dass man alles, was nicht man selbst ist, für nichts erachtet. Dieser Prozess hat eine Genealogie und einen Namen: den Kurs auf Trennung und die Auflösung von Bindungen. Das geschieht vor dem Hintergrund einer Angst vor der eigenen Vernichtung. Tatsächlich empfinden heute viele Menschen Angst. Sie befürchten, Opfer einer Invasion zu werden und bald zu verschwinden. Ganze Völker haben das Gefühl, nicht mehr die nötigen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Identität zu besitzen. Sie glauben, es gebe kein Außen mehr und man müsse zum Schutz vor den Bedrohungen immer mehr Mauern errichten. Sie wollen sich an nichts mehr erinnern, vor allem nicht an eigene Verbrechen und Untaten, und fabrizieren bösartige Objekte, die ihnen am Ende tatsächlich nachgehen und die sie dann mit Gewalt zu bekämpfen versuchen.

Von den bösen Geistern verfolgt, die sie unablässig erfinden und von denen sie nun in einer spektakulären Verkehrung umzingelt sind, stellen sie sich ganz ähnliche Fragen wie jene, mit denen sich vor gar nicht langer Zeit zahlreiche außerwestliche Gesellschaften auseinandersetzen mussten, die im Netz weitaus zerstörerischer Mächte gefangen waren — der Kolonisierung und des Imperialismus.[1] Kann ich den Anderen unter diesen Umständen noch für meinesgleichen halten? Worauf 12beruht denn unter den extremen Bedingungen, die wir hier und jetzt erleben, mein Menschsein und das der Anderen? Wäre es angesichts der erdrückenden Last, zu der der Andere geworden ist, nicht besser, wenn mein Leben nicht mit dem seinigen und seines nicht mit dem meinigen verbunden wäre? Warum muss ich gegenüber allen und gegen alle unbedingt über den Anderen und sein Leben wachen, wenn er seinerseits doch nur meinen Untergang im Sinn hat? Und wenn Menschlichkeit letztlich nur dann existiert, wenn sie in der Welt und von dieser Welt ist, wie lässt sich dann eine Beziehung zu den Anderen begründen, die auf der wechselseitigen Anerkennung unserer gemeinsamen Verwundbarkeit und Endlichkeit basierte?

Es geht offenbar nicht darum, den Kreis zu erweitern, sondern darum, aus den primitiven Formen des Fernhaltens von Feinden, Eindringlingen und Fremden — also von allen, die nicht zu uns gehören — Grenzen zu machen. In einer Welt, die von einer größeren Ungleichheit der Mobilitätschancen als jemals zuvor geprägt ist und in der Bewegung und Weggehen die einzige Überlebenschance darstellen, ist die Brutalität der Grenzen nur eine Grundgegebenheit unserer Zeit. Die Grenzen sind keine Linien mehr, die man überquert, sondern Linien, die trennen. In diesen mehr oder weniger miniaturisierten und militarisierten Räumen soll alles zum Stillstand kommen. Zahllose Menschen finden dort heute ihr Ende; sie werden deportiert, falls sie nicht einfach ertrinken oder an tödlichen Stromstößen sterben.

Der Gleichheitsgrundsatz wird sturmreif geschossen, und zwar sowohl durch das Recht des gemeinsamen Ursprungs 13und der Herkunftsgemeinschaft als auch durch die Zerstückelung der Staatsbürgerschaft und deren Zerfall in eine »reine« Staatsbürgerschaft (die der Einheimischen) und eine erworbene Staatsbürgerschaft (die längst prekär geworden und kaum vor Aberkennung geschützt ist). Angesichts der für unsere Zeit so typischen Gefährdungslagen geht es zumindest dem Anschein nach nicht mehr um die Frage, wie sich Lebensführung und Ausübung der Freiheit mit dem Wissen um die Wahrheit der Fürsorge für Andere vereinbaren lassen. Jetzt geht es vielmehr um die Frage, wie man den Willen zur Macht in einer Art Ausbruch primitiver Strebungen durch den Einsatz teils grausamer, teils tugendhafter Mittel aktualisieren kann.

Damit hat sich der Krieg nicht nur in der Demokratie, sondern auch in Politik und Kultur als Zweck und als Notwendigkeit etabliert. Er ist nun Heilmittel und Gift — unser pharmakon. Die Verwandlung des Kriegs in das pharmakon unserer Zeit hat wiederum verhängnisvolle Affekte freigesetzt, die unsere Gesellschaften nach und nach drängen, den Weg der Demokratie zu verlassen und sich in Gesellschaften der Feindschaft zu verwandeln, wie das unter der Kolonialherrschaft geschah. Von dieser weltweiten Fortführung des Kolonialismus und seiner zahlreichen aktualisierten Ausprägungen bleiben auch die Gesellschaften des Nordens nicht verschont. Der Krieg gegen den Terror und die Ausrufung eines weltweiten »Ausnahmezustands« verstärken diese Entwicklung noch.

Wer könnte sich heute mit dem Krieg als pharmakon unserer Zeit auseinandersetzen, ohne sich auf Frantz Fanon zu beziehen, in dessen Schatten dieser Essay geschrieben worden ist? Der Kolonialkrieg — und darüber spricht er in erster Linie — ist vielleicht nicht die letzte Matrix des nomos der Erde, 14aber zumindest doch eines der bevorzugten Mittel seiner Institutionalisierung. Als Eroberungs- und Besetzungskriege und in vielerlei Hinsicht als Vernichtungskriege waren die Kolonialkriege zugleich auch Belagerungskriege, im Ausland geführte Kriege und Rassenkriege. Aber wie könnte man vergessen, dass sie auch Elemente von Bürgerkriegen, von Verteidigungskriegen aufwiesen, wenn die Befreiungskriege nicht im Gegenzug sogar Kriege zur sogenannten »Aufstandsbekämpfung« auslösten. Gerade wegen der Verschränkung und Verkettung von Kriegen wie auch von Ursachen und Wirkungen gaben sie Anlass zu solchem Schrecken und solchen Grausamkeiten. Deshalb auch führten sie bei den Menschen, die sie erlitten oder daran teilnahmen, manchmal zum Glauben an eine illusorische Allmacht und manchmal zum reinsten Horror und dem Gefühl vollkommener Ohnmacht.

Wie die meisten heutigen Kriege — der Krieg gegen den Terror einschließlich diverser Formen der Besetzung — waren die Kolonialkriege Ausbeutungs- und Raubkriege. Auf allen Seiten — denen der Besiegten wie auch denen der Sieger — führten sie unausweichlich zum Untergang von etwas Ungreifbarem, nahezu Namenlosem, schwer Auszudrückendem: Wie erkennt man auf dem Gesicht des Feindes, den man zu töten versucht, aber dessen Wunden man auch zu pflegen vermöchte, ein anderes Gesicht des Menschen in seiner vollen Menschlichkeit, der damit unseresgleichen wäre (Kapitel 3)? Die Kolonialkriege setzten leidenschaftliche Kräfte frei, durch die sich die Fähigkeit der Menschen, Trennungslinien zu ziehen, noch beträchtlich vergrößerte. Sie zwangen die einen, ihre am stärksten unterdrückten Wünsche offener denn je zu zeigen und ihre dunkelsten Mythen noch direkter aufzugreifen. Anderen boten sie die Möglichkeit, aus ihrem Tiefschlaf zu erwachen, zum ersten und vielleicht einzigen Mal die Macht zu spüren, Teil 15der umgebenden Welt zu sein, und dabei ihre eigene Verwundbarkeit und Unfertigkeit zu ertragen. Brutal dem Leid unbekannter Dritter ausgesetzt, ließen wieder andere schließlich sich anrühren. Angesichts dieser zahllosen leidenden Körper traten sie plötzlich aus dem Kreis der Gleichgültigkeit heraus, in den sie sich bislang eingemauert hatten.

Fanon hatte verstanden, dass es in der Kolonialherrschaft und dem gleichnamigen Krieg kein Subjekt des Lebens gibt (Kapitel 3). Als lebendiges Subjekt ist es stets offen gegenüber der Welt. Indem es das Leben der anderen Lebewesen und Nichtlebewesen begreift, begreift es sein eigenes, existiert es erst als Lebensform, vermag es nun die Asymmetrie der Beziehung zu korrigieren, dort eine Dimension der Gegenseitigkeit einzubringen und Sorge für das gemeinsame Menschsein zu übernehmen. Andererseits erblickte Fanon in Fürsorge und Pflege eine Resymbolisierung, in der stets die Möglichkeit der Reziprozität und Gegenseitigkeit (der echten Begegnung mit anderen) ins Spiel kommt. Dem Kolonisierten, der sich weigerte, kastriert zu werden, riet er, Europa den Rücken zu kehren, das heißt bei sich selbst zu beginnen und sich jenseits der Kategorien aufzurichten, die ihn gebeugt hielten. Das Problem bestehe nicht nur darin, dass man einer bestimmten Rasse zugeordnet wird, sondern auch in der Tatsache, dass man die Voraussetzungen dieser Zuordnung verinnerlicht hat; dass man diese Kastration am Ende selbst wünscht und sich zu ihrem Komplizen macht. Denn das fiktive Bild, das der Andere vom kolonisierten Subjekt fabriziert hatte, trieb den Kolonisierten nun vollständig oder nahezu vollständig dazu, sich darin einzurichten wie in seiner Haut und seiner Wahrheit.

Dem Unterdrückten, der sich von der Last der Rasse zu befreien versuchte, riet Fanon deshalb zu einem langen Hei16lungsprozess. Diese Therapie begann mit und in der Sprache und in der Wahrnehmung, mit der Einsicht in jene fundamentale Realität, wonach in der Welt Mensch zu werden bedeutet, dass man akzeptiert, dem Anderen ausgesetzt zu sein. In der Therapie folgt nun eine gewaltige Arbeit an sich selbst, mit neuen Erfahrungen des Körpers, der Bewegung, des Zusammenseins (und der Kommunikation) als des lebendigsten und verwundbarsten gemeinsamen Fundaments des Menschen und schließlich mit der Ausübung von Gewalt. Diese Gewalt richtete sich gegen das Kolonialsystem. Zu den Besonderheiten dieses Systems gehörte die Schaffung eines ganzen Spektrums von Leid, das keine Reaktion, kein Verantwortungsgefühl, keine Fürsorge, keine Sympathie und oft auch kein Mitleid auslöste. Im Gegenteil, man tat alles, um bei allen die Fähigkeit abstumpfen zu lassen, wegen des Leidens der einheimischen Bevölkerung selbst zu leiden und sich davon berühren zu lassen. Und mehr noch, die koloniale Gewalt diente dem Zweck, die Kraft der Wünsche bei den Unterdrückten einzufangen und auf unproduktive Ziele umzuleiten. Unter dem Vorwand, nur das Wohl der einheimischen Bevölkerung im Sinn zu haben, versuchte der Kolonialapparat nicht nur, deren Lebenswunsch zu blockieren, sondern auch ihre Fähigkeit zur Selbstachtung als sittlich Handelnde zu beeinträchtigen und zu schwächen.

Genau dagegen richtete sich Fanons politische und klinische Praxis ganz entschieden. Deutlicher als andere verwies er auf einen der großen aus der Neuzeit überkommenen Widersprüche, dessen Lösung seiner Zeit jedoch große Mühe bereitete. Die gewaltige Neubesiedlung der Welt, die zu Beginn der Neuzeit ihren Anfang genommen hatte, führte schließlich zu einer massiven »Landnahme« (der Kolonisierung), in einer Größenordnung und mit Hilfe von Techniken, wie man 17sie in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt hatte. Statt die Demokratie auf dem gesamten Erdball zu verbreiten, brachte der Wettlauf um neue Territorien ein neues Recht (nomos) der Erde hervor, dessen Hauptmerkmal darin bestand, dass Krieg und Rasse zu den beiden bevorzugten Sakramenten der Geschichte erhoben wurden. Die Sakramentalisierung des Kriegs und der Rasse in den Hochöfen des Kolonialismus machte sie zugleich zum Gegengift und zum Gift der Neuzeit, zu deren zweifachem pharmakon.

Unter diesen Umständen, so glaubte Fanon, könne die Dekolonisierung als konstituierendes politisches Ereignis kaum ohne Gewalt ablaufen. Jedenfalls existierte sie als aktive Urkraft bereits zuvor. Die Dekolonisierung setzte einen belebten Körper in Bewegung, der fähig war, sich erschöpfend auszudrücken, und dies in einem Zusammenstoß mit allem, was ihm vorausging oder ihm äußerlich war und ihn hinderte, zu seinem Begriff zu finden. Doch so schöpferisch die reine und grenzenlose Gewalt auch sein mochte, war sie doch niemals vor einer möglichen Verblendung gefeit. In steriler Wiederholung gefangen, konnte sie jederzeit entarten und ihre Energie in den Dienst der Zerstörung um der Zerstörung willen gestellt werden.

Andererseits verfolgte die Therapie nicht hauptsächlich das Ziel, die Krankheit vollständig auszurotten oder den Tod zu unterdrücken und Unsterblichkeit herzustellen. Der kranke Mensch war der Mensch ohne Familie, ohne Liebe, ohne zwischenmenschliche Beziehungen und ohne Verbundenheit mit einer Gemeinschaft. Es war der Mensch ohne jede Möglichkeit einer echten Begegnung mit anderen Menschen, zu denen er keine vorgängigen Abstammungs- oder Herkunftsbande besaß (Kapitel 3). Diese Welt aus bindungslosen Menschen (oder aus Menschen, die ohne die anderen auskommen möch18ten) gibt es auch heute noch, wenn auch in ständig wechselnden Ausprägungen. Es gibt sie in den Windungen der erneuerten Judenfeindlichkeit wie auch ihres Gegenstücks, der Islamfeindlichkeit. Es gibt sie in Gestalt des Wunsches nach Apartheid und Endogamie, der unsere Zeit quält und uns in einen halluzinierenden Traum stürzt, in den einer »Gemeinschaft ohne Fremde«.

Fast überall treten Blutrecht, Talionsprinzip und Rassenpflicht — als konstitutive Elemente des atavistischen Nationalismus — wieder an die Oberfläche. Die bislang mehr oder weniger verdeckte Gewalt der Demokratien kommt gleichfalls wieder zum Vorschein und zeichnet einen todbringenden Kreis, der die Phantasie einengt und aus dem man nur schwer zu entkommen vermag. Die politische Ordnung formiert sich fast überall neu als Organisationsform für den Tod. Schritt für Schritt sucht ein im Wesen molekularer und angeblich defensiver Terror sich zu rechtfertigen, indem er die Beziehungen zwischen Gewalt, Mord und Gesetz, Glaube, Geboten und Gehorsam, Norm und Ausnahme oder auch Freiheit, Verfolgung und Sicherheit vernebelt. Es geht nicht darum, den Mord durch Recht und Justiz aus dem Gemeinschaftsleben auszuschließen. Vielmehr gilt es nun, immer wieder den höchsten Einsatz zu riskieren. Weder der Terrorist noch der Terrorisierte — beide der jüngste Ersatz des Bürgers — lehnen den Mord ab. Im Gegenteil, wenn sie nicht ganz einfach an den (zugefügten oder erlittenen) Tod glauben, halten sie ihn wenigstens für den letzten Garanten einer in Blut und Eisen getauchten Geschichte — der Geschichte des Seins.

Die Unauflöslichkeit der menschlichen Bande, die Untrennbarkeit des Menschen und der übrigen Lebewesen, die Verwundbarkeit des Menschen im Allgemeinen und des kriegskranken Menschen im Besonderen oder auch die Sorgfalt, de19ren es bedarf, um das Leben auf Dauer zu sichern — mit alledem befasste sich Fanon intensiv in seinem Denken wie auch in seinem Tun. Um diese Fragen wird es — auf Umwegen und in wechselnder Gestalt — in den folgenden Kapiteln gehen. Da Fanon eine ganz besondere Fürsorge für Afrika entfaltete und sein eigenes Schicksal definitiv mit dem dieses Kontinents verband, liegt es auf der Hand, dass Afrika bei diesen Überlegungen im Vordergrund steht (Kapitel 4).

Es gibt in der Tat Namen, die kaum auf die Sache, sondern über sie hinweg oder an ihr vorbei weisen. Sie entstellen und verdecken. Deshalb widersetzt sich die eigentliche Sache oft der Bezeichnung und jeglicher Übersetzung. Nicht weil sie hinter einer Maske verborgen wäre, sondern weil sie derart zu wuchern vermag, dass jedes Adjektiv überflüssig wird. Das galt in Fanons Augen für Afrika und dessen Maske, den Neger. Eine verschwommene, nebulöse, gewichtslose Entität ohne historisches Profil, über die nahezu jeder nahezu alles sagen könnte, ohne dass dies irgendwelche Folgen hätte? Oder eine eigenständige Kraft und ein Projekt, die aus eigener Lebenskraft zu ihrem Begriff zu finden und sich in das neue Weltzeitalter einzuschreiben vermöchten?

Um der Vielfalt der Lebenswelten gerecht zu werden, ohne in Wiederholungen zu versinken, richtete Fanon den Blick auf die Erfahrung der Menschen mit den oberflächlichen und den tiefen Schichten, mit der Welt des strahlenden Lichts und den Schattenwelten. Da es sich um letztgültige Bedeutungen handelte, wusste er, dass er sowohl in den Strukturen als auch in den dunklen Bereichen des Lebens danach suchen musste. Daher die außergewöhnliche Aufmerksamkeit, die er der Sprache, dem gesprochenen Wort, der Musik, dem Theater, dem Tanz, dem Pomp, dem Dekor und allen erdenklichen Arten technischer Objekte und psychischer Strukturen 20widmete. Allerdings geht es in diesem Essay nicht darum, einen Toten zu besingen, sondern darum, auf bruchstückhafte Weise einen großen Denker der Verwandlung in Erinnerung zu rufen.

Ich habe nichts gefunden, was für diesen Zweck besser geeignet wäre als eine bildhafte Sprache, die zwischen Schwindel, Auflösung und Zerstreuung schwankt. Eine Sprache, die aus ineinander verschlungenen Schleifen besteht und deren Kanten und Linien sich jeweils in ihrem Fluchtpunkt treffen. Diese Sprache soll ins Leben zurückholen, was den Mächten des Todes überantwortet war. Sie soll den Zugang zu den Grundfesten der Zukunft wieder eröffnen, angefangen bei der Zukunft derer, die vor gar nicht langer Zeit nur schwer zu sagen vermochten, worin der Anteil des Menschlichen liegt und worin der des Tiers, des Objekts, der Sache oder der Ware (Kapitel 4).

Johannesburg, 24. Januar 2016

Dieser Essay entstand während meines langen Aufenthalts am Witwatersrand Institute for Social and Economic Research (WISER) der University of the Witwatersrand in Johannesburg.

In diesen Jahren habe ich größten Nutzen gezogen aus dem ständigen Gedankenaustausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen Sarah Nuttall, Keith Breckenridge, Pamila Gupta, Sara Duff, Jonathan Klaaren, Cath Burns und in jüngerer Zeit Hlonipa Mokoena sowie Shireen Hassim. Adam Habib, Tawana Kupe, Zeblon Vilakazi, Ruksana Osman und Isabel Hofmeyr haben mich unablässig ermutigt. Das Postdoc-Seminar, das ich gemeinsam mit meiner Kollegin Sue Van Zyl am Wiser abhielt und zu dem Charne Lavery, Claudia Gastrow, Joshua Walker, Sarah Duff, Kirk Side und Timothy Wright 21regelmäßig Beiträge leisteten, bildete einen Forschungsraum von unschätzbarer Kreativität.

Paul Gilroy, David Theo Goldberg, Jean Comaroff, John Comaroff, Françoise Vergès, Éric Fassin, Laurent Dubois, Srinivas Aravamudan, Elsa Dorlin, Grégoire Chamayou, Ackbar Abbas, Dilip Gaonkar, Nadia Yala Kisukidi, Eyal Weizman, Judith Butler, Ghassan Hage, Ato Quayson, Souleymane Bachir Diagne, Adi Ophir, Célestin Monga, Siba Grovogui, Susan van Zyl, Henry Louis Gates und Xolela Mangcu waren fruchtbare Inspirationsquellen für mich und — oft ohne ihr Wissen — Gesprächspartner allerersten Ranges.

Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen am Johannesburg Workshop in Theory and Criticism (JWTC) Leigh-Ann Naidoo, Zen Marie und Kelly Gillespie für ihre unermüdliche Zusammenarbeit und Najibha Deshmukh wie auch Adila Deshmukh für ihre tiefe Freundschaft.

Mein Verleger Hugues Jallon und sein Team, Pascale Iltis, Thomas Deltombe und Delphine Ribouchon, waren wie stets eine zuverlässige Stütze.

Ich widme diesen Essay einem unserer ganz Großen, Fabien Éboussi Boulaga, und zwei unerschütterlichen Freunden, Jean-François Bayart und Peter L. Geschiere.

23Erstes Kapitel Das Ende der Demokratie

Dieses Buch möchte von Afrika aus, wo ich lebe und arbeite (aber auch von der übrigen Welt her, die ich unermüdlich bereise), einen Beitrag zur Kritik unserer Zeit leisten — einer Zeit großer Bevölkerungsbewegungen und einer Globalisierung der Welt unter Führung des Militarismus und des Kapitals und in letzter Konsequenz einer Zeit, die das Ende der Demokratie (oder deren Verkehrung) erlebt. Zu diesem Zweck werde ich auf ein Verfahren zurückgreifen, das sich quer zu den Dingen stellt und auf die drei Motive der Öffnung, der Durchquerung und der Zirkulation achtet. Solch eine Vorgehensweise ist nur dann fruchtbar, wenn sie unsere Gegenwart gegen den Strich liest.

Sie geht von der Annahme aus, dass jede echte Dekonstruktion der heutigen Welt mit der vollen Anerkennung des zutiefst provinziellen Charakters unseres Diskurses und des unvermeidlich regionalen Charakters unserer Begriffe beginnen muss — das heißt mit einer Kritik jedes abstrakten Universalismus. Auf diese Weise versucht sie mit dem Zeitgeist zu brechen, der bekanntlich auf Abschließung und Abgrenzungen jeglicher Art bedacht ist, auf Grenzen hier und dort, nah und fern, innen und außen, die als Maginotlinie für einen Großteil dessen fungiern, was heute als »globales Denken« gilt. Als »global« kann jedoch nur ein Denken angesehen werden, das der theoretischen Segregation den Rücken kehrt und sich auf die Archive der von Édouard Glissant so genannten »All-Welt« stützt.

24Umkehrung, Inversion und Beschleunigung

Im Blick auf die hier skizzierten Überlegungen verdienen vier Eigenheiten unserer Zeit besondere Erwähnung. Die erste ist das Schrumpfen der Welt wie auch das Bevölkerungswachstum aufgrund der Umkehrung der demographischen Entwicklung zugunsten des Südens. Die geographische und kulturelle Entwurzelung im Gefolge der freiwilligen Umsiedlung oder erzwungenen Ansiedlung ganzer Populationen in Gebieten, die bislang ausschließlich von einheimischen Bevölkerungen bewohnt wurden, waren Ereignisse von entscheidender Bedeutung für den Beginn der Moderne.[2] Auf der atlantischen Seite der Erde prägten zwei zentrale, mit der Ausbreitung des Kapitalismus verbundene Momente diese globale Neuverteilung der Weltbevölkerung.

Dabei handelte es sich um die Kolonisierung (die Anfang des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung Amerikas begann) und um den Handel mit schwarzen Sklaven. Sowohl der Handel mit Negersklaven als auch die Kolonisierung fielen zeitlich weitgehend mit der Herausbildung des merkantilistischen Denkens im Westen zusammen, wenn sie nicht sogar schlicht und einfach dessen Ursprung bildeten.[3] Der Sklavenhandel bedeutete für die Gesellschaften, aus denen die Sklaven entführt wurden, einen gewaltigen Aderlass, der sie gerade der nützlichsten und vitalsten Kräfte beraubte.

In Amerika wurden die Arbeitskräfte afrikanischer Herkunft in den Dienst eines gewaltigen Projekts zur Unterwer25fung der Umwelt zum Zweck ihrer rationalen und gewinnbringenden Verwertung gestellt. In vielerlei Hinsicht ging es beim Plantagensystem in erster Linie um Wälder und Bäume, die es niederzubrennen, abzuholzen und regelmäßig zurückzustutzen galt, um Baumwolle und Zuckerrohr, die an die Stelle der bisherigen Pflanzen treten sollten; um die alten Bauern, die umerzogen werden mussten; um die bisherigen Pflanzenformationen, die zu vernichten waren, und um den Ersatz eines Ökosystems durch ein Agrarsystem.[4] Die Plantage war indessen keine bloß ökonomische Einrichtung. Für die in die Neue Welt verpflanzten Sklaven war sie auch der Schauplatz, auf dem es zu einem anderen Neubeginn kam. Dort begann ein Leben, das von nun an nach einem im Kern rassischen Prinzip gelebt wurde. Aber nach diesem Verständnis war die Rasse keineswegs nur ein biologischer Signifikant, sondern verwies auf einen Körper ohne Welt und Boden, der aus verbrennbarer Energie bestand und gleichsam einen Doppelgänger der Natur darstellte, die man durch Arbeit in fixes oder liquides Kapital verwandeln konnte.[5]

Die Kolonisierung wiederum arbeitete mit der Ausscheidung all derer, die in den Gesellschaften der Kolonialherren in irgendeiner Weise als überflüssig oder überschüssig angesehen wurden. Das galt insbesondere für die Armen, die der Gesellschaft zur Last fielen, die Vagabunden und Kriminellen, von denen man glaubte, dass sie der Nation Schaden zufügten. Die Kolonialisierung war eine Technik zur Steuerung von Wanderungsbewegungen. Damals glaubten viele, diese 26Migrationsform wäre für die Ursprungsländer letztlich von Nutzen. »Nicht nur zahlreiche Männer, die jetzt noch im Müßiggang leben und ein Gewicht, eine Last darstellen und diesem Königreich nichts einbringen, werden auf diese Weise zum Arbeiten gebracht, auch ihre Kinder im Alter von zwölf oder vierzehn Jahren oder darunter werden vom Müßiggang abgehalten, weil sie zahlreiche unbedeutende Dinge herstellen, die für dieses Land vielleicht gute Handelswaren darstellen«, schrieb Antoine de Montchrestien zu Beginn des 17. Jahrhunderts in seinem Traité d'économie politique. Und mehr noch, fügte er hinzu, »unsere müßiggängerischen Frauen werden beschäftigt, indem sie Federn rupfen, färben und sortieren, Hanf ziehen, schlagen und bearbeiten und Baumwolle und mancherlei anderes zum Färben sammeln«. Die Männer wiederum »können in den Bergwerken arbeiten und in der Landwirtschaft und sogar im Walfang […] oder auch in der Kabeljau-, Lachs- oder Heringsfischerei und als Holzfäller«.[6]

Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert waren diese beiden Formen der Umschichtung der Weltbevölkerung durch Menschenraub, Ausbeutung des natürlichen Reichtums und Arbeitszwang für subalterne soziale Schichten wichtige ökonomische, politische und vielfach auch philosophische Themen der Zeit.[7] Sowohl die Wirtschafts- als auch die Demokratietheorie basierten zum Teil auf einer Verteidigung oder einer Kritik einer dieser beiden Formen der Neuverteilung der Bevölke27rungen.[8] Diese bildeten ihrerseits den Ausgangspunkt zahlreicher Verteilungskonflikte und Eroberungskriege. Im Gefolge dieser weltweiten Bewegung kam es zu einer Neuaufteilung der Erde — im Zentrum die westlichen Mächte und draußen an den Rändern die peripheren Länder, dem totalen Krieg, der Besetzung und der Ausplünderung ausgesetzt.

Zu berücksichtigen ist außerdem die allgemein übliche Unterscheidung zwischen der wirtschaftlichen oder kommerziellen Kolonisierung und der Kolonisierung der Völker im eigentlichen Sinne. Gewiss war man in beiden Fällen der Ansicht, dass der eigentliche Sinn der Kolonien in der Bereicherung des Mutterlandes lag. Der Unterschied lag darin, dass man in der Siedlungskolonie eine Erweiterung der eigenen Nation erblickte, während die Handels- oder Ausbeutungskolonie allein der Bereicherung des Mutterlandes durch einen ungleichen und ungerechten Handel diente, der sich ohne größere Investitionen vor Ort realisieren ließ.

Die Aneignung der Ausbeutungskolonien diente theoretisch nur einem einzigen Ziel, und wenn Europäer dorthin gingen, so nur vorübergehend. Im Fall der Siedlungskolonien dagegen zielte die Migrationspolitik darauf, Menschen, die man verloren hätte, wenn sie im Lande geblieben wären, im Schoße der Nation zu behalten. Die Kolonie diente als Ventil für diese unerwünschten Menschen, für Bevölkerungsgruppen, »deren Verbrechen und Laster« rasch »zerstörerisch« hätte wirken können und deren Bedürfnisse sie ins Gefängnis gebracht oder zum Betteln gezwungen hätte, wodurch sie für 28das Land ohne Nutzen gewesen wären. Diese Aufspaltung der Menschheit in »nützliche« und »unnütze«, »überflüssige«, »überschüssige« Menschen ist bis heute die Regel, wobei die Nützlichkeit sich im Wesentlichen an der Arbeitsfähigkeit bemisst.

Die großen Migrationsbewegungen zu Beginn der Neuzeit hatten nicht nur mit der Kolonisierung zu tun. Wanderungen und Mobilität hatten ihre Ursache auch in religiösen Faktoren. In der Zeit von 1685 bis 1730 flohen nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 170 ‌000 bis 180 ‌000 Hugenotten aus Frankreich. Auch viele andere Gemeinschaften waren von religiös bedingter Auswanderung betroffen. Tatsächlich entwickelten sich mehrere Arten internationaler Verkehrsströme. Beispiele sind hier die portugiesischen Juden, deren Handelsnetze große europäische Hafenstädte wie Hamburg, Amsterdam, London und Bordeaux umspannten; die Italiener, die sich im Bankwesen, in der Diplomatie oder in hochspezialisierten Handwerkssparten der Produktion von Glas und Luxusgütern engagierten; und natürlich Soldaten, Söldner, Ingenieure, die wegen der zahlreichen Konflikte der Zeit leicht von einem Kriegsmarkt zum nächsten wechseln konnten.[9]

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Sklavenhandel und Kolonisierung ferner Weltgegenden nicht mehr die Instrumente, die man zu einer Neuverteilung der Weltbevölkerung einsetzt. Arbeit im herkömmlichen Sinne ist nicht mehr unbedingt das bevorzugte Mittel der Wertschöpfung. Dennoch ist es eine Zeit der Erschütterungen, der großen und kleinen 29Verlagerungen und Verschiebungen, kurz: neuer Gestalten des Exodus.[10] Die neuen Zirkulationsdynamiken und die Bildung von Diasporen gehen zu einem großen Teil auf Handel und Kommerz, Kriege, Umweltkatastrophen und Kulturtransfers unterschiedlichster Art zurück.

Die beschleunigte Alterung der Bevölkerung in den reichen Ländern der Erde ist hier ein Phänomen von beträchtlicher Tragweite. Sie ist das genaue Gegenteil der für das 19. Jahrhundert typischen demographischen Überschüsse, von denen oben die Rede war. Die geographische Entfernung als solche ist heute kein Mobilitätshindernis mehr. Die großen Migrationswege haben sich diversifiziert, und man ergreift immer aufwändigere Maßnahmen zum Schutz der Grenzen. Auch wenn der tausendfüßige Strom der Migranten sich gleichzeitig in mehrere Richtungen bewegt, bleiben Europa und die Vereinigten Staaten doch die wichtigsten Ziele der in Bewegung befindlichen Massen — und insbesondere jener, die aus den Armutszentren der Erde kommen. Dort entstehen neue Ballungszentren und trotz allem auch neue multinationale Großstädte. Durch die neuen internationalen Bevölkerungsbewegungen erscheinen nach und nach überall auf der Erde diverse Ansammlungen mosaikförmiger Territorien.

Diese neuen Schwärme — die zu den früheren Migrationswellen aus dem Süden hinzukommen — verwischen die Kriterien nationaler Zugehörigkeit. Die Zugehörigkeit zu einer Nation beruht nicht mehr allein auf der Herkunft, sondern 30auch auf der eigenen Entscheidung. Immer mehr Menschen verfügen heute über mehrere Nationalitäten (der Herkunft, des gegenwärtigen Aufenthalts, der eigenen Wahl) und Identitätsbindungen. Gelegentlich werden sie gedrängt, sich zu entscheiden und in der Bevölkerung aufzugehen, wodurch die doppelte Treuepflicht ein Ende nähme, oder sie laufen Gefahr, bei einem Delikt, das die »Existenz der Nation« bedroht, die erworbene Staatsbürgerschaft wieder zu verlieren.[11]

Allerdings umfasst die — gegenwärtige — Neubesiedlung der Erde nicht allein die Menschen. Die Bewohner der Erde beschränken sich nicht allein auf den Menschen. Mehr als jemals zuvor gehören auch zahlreiche Artefakte dazu wie auch alle sonstigen Lebewesen des Tier- und Pflanzenreichs. Selbst geologische, geomorphologische und klimatologische Kräfte gehören inzwischen zum Gesamtbild der Erdbewohner.[12] Natürlich handelt es sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um Wesen oder um Gruppen oder Familien von Entitäten und letztlich nicht einmal um Umwelt oder Natur, sondern um Lebensmedien oder Agenzien (Wasser, Luft, Staub, Mikroben, Termiten, Bienen, Insekten), um Urheber spezifischer Beziehungen. An die Stelle der conditio humana ist damit die conditio terrae getreten.

Das zweite Kennzeichen unserer Zeit ist die — gegenwärti31ge — Neudefinition des Menschen im Rahmen einer allgemeinen Ökologie und einer inzwischen erweiterten, kugelförmigen, unwiderruflich planetarischen Ökologie. Tatsächlich wird die Welt nicht länger als ein vom Menschen geschaffenes Artefakt angesehen. Nachdem der Mensch die Zeitalter des Steins und des Silbers, des Eisens und des Goldes hinter sich gelassen hat, tendiert er nun dazu, plastisch zu werden. Die Ankunft des plastischen Menschen und seiner unmittelbaren Folge, des digitalen Subjekts, steht in direktem Widerspruch zu zahlreichen Überzeugungen, die bislang als unverrückbare Wahrheiten galten.

Etwa der Glaube, wonach es ein »Wesen des Menschen«, einen »menschlichen Wesenskern« gebe, der ihn vom Tier- und Pflanzenreich unterscheide. Oder auch die Überzeugung, die von ihm bewohnte Erde sei lediglich ein passives Objekt seiner Eingriffe. Desgleichen die Vorstellung, von allen Lebewesen sei die »menschliche Gattung« die einzige, die sich teilweise von ihrem Tiersein gelöst habe. Nachdem der Mensch die Ketten biologischer Notwendigkeit gesprengt habe, erhebe er sich fast auf die Höhe des Göttlichen. Im Widerspruch zu diesen und zahlreichen anderen Glaubensartikeln räumt man heute ein, dass der Mensch Teil einer größeren Gruppe von Lebewesen ist, zu denen Tiere, Pflanzen und andere Lebensformen gehören.