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Die Unvernunft der Liebe.
Biologie-Doktorandin Olive glaubt an Wissenschaft – nicht an etwas Unkontrollierbares wie die Liebe. Doch dann ist sie gezwungen, eine Beziehung vorzutäuschen, und küsst in ihrer Not den Erstbesten. Was nicht nur eine Kette irrationaler Gefühle auslöst – der Geküsste ist Adam Carlsen: größter Labortyrann von ganz Stanford. Schon bald droht nicht nur Olives wissenschaftliche Karriere über dem Bunsenbrenner geröstet zu werden, auch ihre Verwicklung mit Carlsen fühlt sich mehr nach oxidativer Reaktion als romantischer Reduktion an. Olive muss dringend ihre Gefühle einer Analyse unterziehen …
»Ein echtes Einhorn in der Welt der Liebesgeschichten – die unmöglich scheinende Verbindung von zutiefst schlau und herrlich eskapistisch.« Christina Lauren, New-York-Times-Bestsellerautorin
Mit Bonus-Kapitel: Eine bislang auf Deutsch unveröffentlichte Szene aus Adams POV.
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Seitenzahl: 545
Wenn es eine Hypothese gibt, die Biologie-Doktorandin Olive Smith anzweifelt, dann ist es die von der Möglichkeit der Liebe. Ganz anders ergeht es ihrer Freundin Anh, die von ihrer Sorge um Olive jedoch davon abgehalten wird, sich um ihre Liebesdinge zu kümmern. Also behauptet Olive, längst mit jemandem zusammen zu sein, was sie aber so unter Zugzwang setzt, dass sie den erstbesten Mann küsst, der ihr unterkommt – was ausgerechnet Adam Carlsen ist, der fieseste Professor weit und breit. Umso überraschter ist Olive, als er ihr vorschlägt, die Scharade aufrechtzuerhalten und als ihr Freund aufzutreten. Schon bald droht der Plan Olives Gefühle in einen Bereich jenseits wissenschaftlicher Kriterien zu bringen – doch so einfach lässt sich Olive nicht von ihren rationalen Standards abbringen …
Ali Hazelwood hat unendlich viel veröffentlicht (falls man all ihre Artikel über Hirnforschung mitzählt, die allerdings niemand außer ein paar Wissenschaftlern kennt und die, leider, oft kein Happy End haben). In Italien geboren, hat Ali in Deutschland und Japan gelebt, bevor sie in die USA ging, um in Neurobiologie zu promovieren. Vor Kurzem wurde sie zur Professorin berufen, was niemanden mehr schockiert als sie selbst. Ihr erster Roman »The Love Hypothesis – Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe« wurde bei TikTok zum Sensationserfolg und ist ein weltweiter Bestseller. Zuletzt erschienen von ihr bei Rütten & Loening u.a. »Bride – Die unergründliche Übernatürlichkeit der Liebe« und »Not in Love – Die trügerische Abwesenheit von Liebe«. Mehr unter AliHazelwood.com; Instagram: @AliHazelwood
Christine und Anna Julia Strüh sind Mutter und Tochter und übersetzen gemeinsam aus dem Englischen. Christine Strüh lebt in Berlin und übertrug u. a. Kristin Hannah und Cecelia Ahern ins Deutsche. Anna Julia Strüh übersetzte ihr erstes Buch mit fünfzehn, lebt heute in Leipzig und überträgt auch Lyrik.
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Ali Hazelwood
The Love Hypothesis – Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh und Anna Julia Strüh
Cover
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Inhaltsverzeichnis
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Widmung
Motto
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Nachwort der Autorin
Dank
Bonusszene
Impressum
Wer von diesem grandiosen Roman begeistert ist, liest auch ...
Für meine MINT-Frauen: Kate, Caitie, Hatun und Mar.
Per aspera ad aspera.
Hypothese (Substantiv):
Eine aufgrund unvollständiger Beweislage angestellte Vermutung oder potenzielle Erklärung als Ausgangsbasis weiterer Nachforschungen.
Beispiel: »Aufgrund der vorliegenden Informationen und der bisher gesammelten Daten lautet meine Hypothese, dass es mir umso besser geht, je weiter ich mich von der Liebe fernhalte.«
Offen gesagt war Olive noch unschlüssig, was diese Sache mit der Promotion anging.
Nicht, weil sie Naturwissenschaften nicht mochte. (Das tat sie unbedingt. Sie liebte Naturwissenschaften. Naturwissenschaften waren genau ihr Ding.) Und auch nicht wegen der Wagenladung offensichtlicher Warnsignale. Sie war sich durchaus bewusst, dass es womöglich nicht gut für ihre geistige Gesundheit war, jahrelang achtzig Stunden die Woche zu arbeiten und dafür weder ausreichend gewürdigt noch angemessen bezahlt zu werden. Dass es womöglich nicht der Schlüssel zum Glück war, sich die Nächte vor einem Bunsenbrenner um die Ohren zu schlagen. Dass es womöglich keine kluge Entscheidung war, sich mit Leib und Seele akademischen Bestrebungen zu verschreiben, wo Pausen, in denen man unbeaufsichtigte Bagels stehlen konnte, rar gesät waren.
All dessen war sie sich bewusst, aber es kümmerte sie nicht. Oder vielleicht doch, ein winziges bisschen, aber damit wurde sie fertig. Etwas anderes hielt sie davon ab, sich endgültig dem verrufensten, Seelen aussaugenden Kreis der Hölle (sprich: einer Promotion) auszuliefern. Zumindest hatte es sie zurückgehalten, bis sie zu einem Vorstellungsgespräch für eine Stelle an der Biologischen Fakultät von Stanford eingeladen wurde und ihr der Typ zum ersten Mal begegnet war.
Der Typ, dessen Namen sie nicht kannte.
Der Typ, den sie getroffen hatte, nachdem sie, ohne richtig hinzuschauen, auf die erstbeste Toilette gestolpert war.
Der Typ, der sie fragte: »Aus reiner Neugier, gibt es einen bestimmten Grund, warum Sie in meiner Toilette weinen?«
Olive stieß einen erschrockenen Schrei aus und versuchte, durch das Meer von Tränen irgendetwas zu erkennen, aber das erwies sich als schwierig. Ihre Sicht war völlig verschwommen. Sie konnte nur einen wässrigen Umriss ausmachen – jemand Großes, mit dunklen Haaren, schwarz gekleidet und … Das war’s.
»Ich … Ist das nicht die Damentoilette?«, stammelte sie.
Eine Pause. Schweigen. Und dann: »Nein.« Seine Stimme war tief. So tief. Richtig tief. Traumhaft tief.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Wirklich?«
»Ziemlich, da das hier meine Labortoilette ist.«
Tja. Dagegen konnte sie nichts sagen. »Es tut mir so leid. Musst du …?« Sie deutete auf die Toilettenkabine oder in die Richtung, in der ihrer Meinung nach die Toilettenkabine ungefähr liegen musste. Selbst geschlossen brannten ihre Augen wie Feuer, und sie musste sie fest zusammenkneifen, um den Schmerz zu lindern. Sie versuchte, ihre Wangen mit dem Ärmel ihres Wickelkleids zu trocknen, aber das Material war billig und hauchdünn, nicht halb so saugfähig wie echte Baumwolle. Ach ja, die Freuden der Armut …
»Ich muss nur dieses Reagenz wegschütten«, sagte er, rührte sich aber nicht von der Stelle. Vielleicht versperrte sie ihm den Weg zum Waschbecken. Oder vielleicht hielt er Olive für eine Spinnerin und zog in Erwägung, ihr die Campuspolizei auf den Hals zu hetzen. Das wäre ein brutal abruptes Ende ihrer Promotionsträume. »Wir benutzen diesen Raum nicht als Toilette, sondern nur um Dinge zu entsorgen und Gerätschaften abzuwaschen.«
»Oh, tut mir leid. Ich dachte …« Ungenügend. Sie hatte ungenügend nachgedacht, wie es ihre Art war. Und ihr Fluch.
»Alles in Ordnung?« Er musste wirklich groß sein. Seine Stimme klang, als käme sie von drei Metern über ihr.
»Klar. Warum fragst du?«
»Weil du weinst. In meiner Toilette.«
»Ich weine nicht. Okay, irgendwie schon, aber das sind nur Tränen, verstehst du?«
»Nein, das verstehe ich nicht.«
Seufzend ließ sie sich an die geflieste Wand sinken. »Das kommt von meinen Kontaktlinsen. Die sind schon eine Weile abgelaufen, wobei sie von Anfang an nicht besonders toll waren. Sie reizen meine Augen. Ich hab sie rausgenommen, aber …« Sie zuckte die Achseln. »Es dauert eine Weile, bis meine Augen aufhören zu tränen.«
»Du trägst abgelaufene Kontaktlinsen?« Er klang persönlich gekränkt.
»Nur ein bisschen abgelaufen.«
»Was verstehst du unter ›ein bisschen‹?«
»Ich weiß nicht. Ein paar Jahre?«
»Was?« Seine Konsonanten waren scharf und präzise. Klar. Irgendwie angenehm.
»Wirklich nur ein paar. Glaube ich.«
»Nur ein paar Jahre?«
»Das ist schon okay. Verfallsdaten sind was für Schwächlinge.«
Ein harter Ton – eine Art Schnauben. »Verfallsdaten sind dafür da, dass ich dich nicht heulend in meiner Toilette vorfinden muss.«
Wenn dieser Typ nicht Mr. Stanford höchstpersönlich war, sollte er wirklich aufhören, es seine Toilette zu nennen.
»Schon gut«, winkte sie ab. Sie hätte die Augen verdreht, wenn die nicht in Flammen gestanden hätten. »Das Brennen hält normalerweise nur ein paar Minuten an.«
»Du meinst, du hast das schon mal gemacht?«
Olive runzelte irritiert die Stirn. »Was gemacht?«
»Abgelaufene Kontaktlinsen getragen.«
»Natürlich. Kontaktlinsen sind nicht billig.«
»Augen auch nicht.«
Hmpf. Gutes Argument. »Hey, sind wir uns schon mal begegnet? Vielleicht gestern Abend, bei dem Dinner für angehende Doktoranden?«
»Nein.«
»Du warst nicht da?«
»So etwas ist nicht mein Ding.«
»Aber da gab’s Essen gratis.«
»Das ist es nicht wert, den ganzen Abend Small Talk machen zu müssen.«
Vielleicht war er auf Diät, denn welcher Doktorand sagte so etwas? Olive war sicher, dass er ein Doktorand war – der überhebliche, herablassende Tonfall verriet ihn. So waren alle Doktoranden: Sie hielten sich für etwas Besseres, nur weil sie das zweifelhafte Privileg hatten, für neunzig Cent die Stunde im Namen der Wissenschaft Fruchtfliegen abzuschlachten. In der grauenvollen, finsteren Höllenlandschaft, die sich akademische Welt nannte, waren Doktoranden die niedersten Kreaturen und mussten sich deshalb selbst vorgaukeln, dass sie die Tollsten wären. Olive war keine Psychologin, aber das erschien ihr ein ziemlich simpler Abwehrmechanismus.
»Bewirbst du dich um einen Platz im Promotionsprogramm?«, fragte er.
»Jepp. Für Biologie.« Gott, ihre Augen brannten. »Was ist mit dir?«, fragte sie und presste ihre Hände darauf.
»Mit mir?«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Hier?« Eine Pause. »Sechs Jahre. So in etwa.«
»Oh. Dann machst du bald deinen Abschluss?«
»Ich …«
Sie bemerkte sein Zögern und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. »Moment, du musst es mir nicht sagen. Die erste Regel beim Promovieren – frag die anderen Doktoranden nie, wann sie planen fertig zu werden.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Und dann noch einen. »Stimmt.«
»Sorry.« Sie wünschte, sie könnte ihn sehen. Soziale Interaktionen fand sie sowieso schon schwierig genug; das Letzte, was sie dabei brauchte, waren noch weniger Anhaltspunkte, nach denen sie sich richten konnte. »Ich wollte nicht so klingen wie deine Eltern zu Thanksgiving.«
Er lachte leise. »Das könntest du nie.«
»Oh.« Sie lächelte. »Nervige Eltern?«
»Und noch schlimmere Thanksgivings.«
»Das habt ihr Amis davon, dass ihr das Commonwealth verlassen habt.« Sie streckte die Hand aus – hoffentlich ungefähr in seine Richtung. »Ich bin übrigens Olive. Wie der Baum.« Sie fürchtete schon, sie hätte sich dem Waschbecken vorgestellt, als sie ihn näher kommen hörte. Die Hand, die sich um ihre schloss, war trocken und warm und so groß, dass sie ihre ganze Faust hätte umfassen können. Alles an ihm musste riesig sein. Körpergröße, Finger, Stimmvolumen.
Das war nicht gänzlich unangenehm.
»Du bist keine Amerikanerin?«, fragte er.
»Nein, Kanadierin. Hör mal, wenn du zufällig mit einem Mitglied des Zulassungskomitees redest, könntest du dieses kleine Missgeschick bitte nicht erwähnen? Denn das würde mich womöglich als eher weniger herausragende Bewerberin erscheinen lassen.«
»Meinst du?«, erwiderte er trocken.
Sie hätte ihn nur zu gern wütend angestarrt, wenn sie gekonnt hätte. Aber anscheinend bekam sie das trotzdem ganz gut hin, denn er lachte – nur ein Prusten, doch sie wusste, was Sache war.
Er ließ sie los, und erst da wurde ihr klar, dass sie seine Hand immer noch umklammert hatte. Ups.
»Hast du vor, dich einzuschreiben?«, erkundigte er sich.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich ein Angebot bekomme.« Aber zwischen ihr und der Professorin, die das Bewerbungsgespräch geführt hatte, Dr. Aslan, hatte die Chemie sofort gestimmt, und Olive hatte viel weniger gestottert und gemurmelt als sonst. Außerdem war ihr Notendurchschnitt so gut wie perfekt. Kein Leben zu haben war manchmal durchaus praktisch.
»Hast du vor, dich einzuschreiben, falls du das Angebot bekommst?«
Sie wäre dumm, es nicht zu tun. Immerhin ging es um Stanford – eine der besten Biologiefakultäten der Welt. Oder zumindest hatte Olive sich das eingeredet, um die beängstigende Wahrheit auszublenden.
Dass sie in Wirklichkeit noch komplett unsicher war, ob sie es wagen sollte.
»Ich … Vielleicht. Ich muss sagen, dass mir die Grenze zwischen exzellentem Karriereschritt und fatalem Fehler bis in alle Ewigkeit immer unklarer wird.«
»Scheint, als würdest du zum Fehler tendieren.« Er klang, als würde er lächeln.
»Nein. Na ja … Ich bin einfach …«
»Einfach was?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Was, wenn ich nicht gut genug bin?«, platzte sie heraus. Warum, o Gott, warum vertraute sie diesem Wildfremden auf der Toilette ihre größten, geheimsten Ängste an? Und was sollte das überhaupt bringen? Jedes Mal, wenn sie Freunden und Bekannten gegenüber ihre Zweifel äußerte, warteten sie allesamt mit denselben lahmen, bedeutungslosen Ermutigungen auf. Das wird schon. Du schaffst das. Ich glaube an dich. Dieser Typ würde mit Sicherheit genau das Gleiche tun.
Es bahnte sich schon an.
Jeden Moment würde es so weit sein.
Jetzt gleich …
»Warum willst du es machen?«
Hä? »Was … machen?«
»Promovieren. Du hast doch bestimmt einen Grund dafür?«
Olive räusperte sich. »Ich war schon immer wissbegierig, und eine renommierte Uni wie Stanford ist das ideale Umfeld, um das zu fördern. Ich würde wichtige Fähigkeiten für meine weitere Laufbahn erlernen …«
Er schnaubte.
»Was?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Ich will nicht die Rede hören, die du für dein Vorstellungsgespräch einstudiert hast. Warum willst du promovieren?«
»Es stimmt, was ich gesagt habe«, beharrte sie ein bisschen schwächlich. »Ich will meine Recherchefähigkeiten verbessern …«
»Liegt es daran, dass du nicht weißt, was du sonst tun solltest?«
»Nein.«
»Weil du keine Stelle in der Wirtschaft bekommen hast?«
»Nein, ich hab mich nicht einmal um eine Stelle in der Wirtschaft beworben.«
»Ah.« Er bewegte sich; eine große, verschwommene Gestalt, die neben sie trat, um etwas in den Abfluss zu gießen. Olive roch einen Hauch Eugenol, Waschpulver und saubere Männerhaut. Eine merkwürdig angenehme Kombination.
»Ich brauche mehr Freiraum, als mir die Wirtschaft bieten kann.«
»In der akademischen Welt wirst du auch nicht viel Freiraum haben.« Seine Stimme klang nun näher, als wäre er nicht wieder zurückgetreten. »Du wirst deine Arbeit durch lächerlich umkämpfte Forschungsstipendien und Drittmittel finanzieren müssen. In einem Job mit geregelter Arbeitszeit würdest du deutlich besser verdienen, und du kämst sogar in den Genuss, das herkömmliche Konzept des Wochenendes kennenzulernen.«
Olive machte ein grimmiges Gesicht. »Versuchst du, mich dazu zu bringen, das Angebot abzulehnen? Ist das so eine Art Anti-abgelaufene-Kontaktlinsen-Träger-Kampagne?«
»Nein.«
Diesmal konnte sie sein Lächeln definitiv hören.
»Ich vertraue darauf, dass das nur ein Fehltritt war.«
»Ich trage ständig abgelaufene Kontaktlinsen, und sie sind fast nie …«
»In einer langen Reihe von Fehltritten.« Er seufzte. »Hör zu: Ich habe keine Ahnung, ob du gut genug bist, aber das ist es auch nicht, was du dich fragen solltest. Wissenschaft bedeutet viel Arbeit und wenig Spaß. Das Wichtigste ist, ob du einen guten Grund hast, in der Wissenschaft arbeiten zu wollen. Also, warum willst du promovieren, Olive?«
Sie dachte nach und dachte und dachte noch etwas mehr. Und dann sagte sie zaghaft: »Ich habe eine Frage. Eine spezifische wissenschaftliche Frage. Etwas, das ich herausfinden möchte.« So. Geschafft. Das war die Antwort. »Etwas, was womöglich niemand sonst ergründen wird, wenn ich es nicht tue.«
»Eine Frage?«
Sie spürte einen Luftzug und erkannte, dass er jetzt am Waschbecken lehnte.
»Ja.« Ihr Mund war staubtrocken. »Etwas, das mir sehr wichtig ist. Und – ich traue es niemandem sonst zu. Weil noch niemand sonst auch nur auf die Idee gekommen ist, sich darum zu bemühen. Weil …« Weil deswegen etwas Schlimmes passiert ist. Weil ich meinen Teil dazu beitragen will, dass so etwas nie wieder passiert.
Das waren zu düstere Gedanken in Gegenwart eines Fremden, in der Dunkelheit hinter ihren geschlossenen Lidern. Also öffnete sie die Augen; ihre Sicht war immer noch verschwommen, aber das Brennen hatte nachgelassen. Der Typ sah sie an. Noch ziemlich unscharf, aber sehr präsent. Er wartete geduldig darauf, dass sie weitersprach.
»Diese Sache ist mir wichtig«, wiederholte sie. »Die Forschung, die ich betreiben will.« Olive war dreiundzwanzig und vollkommen allein auf der Welt. Sie wollte keine freien Wochenenden oder ein angemessenes Gehalt. Sie wollte die Zeit zurückdrehen. Sie wollte weniger einsam sein. Aber da das unmöglich war, würde sie sich damit begnügen, in Ordnung zu bringen, was sie konnte.
Er nickte, sagte jedoch nichts, als er sich aufrichtete und ein paar Schritte auf die Tür zu machte. Offensichtlich wollte er verschwinden.
»Ist mein Grund zu promovieren gut genug?«, rief sie ihm nach und hasste es, wie begierig auf Anerkennung sie klang. Es war gut möglich, dass sie in einer existenziellen Krise steckte.
Er hielt inne und drehte sich zu ihr um. »Es ist der beste Grund überhaupt.«
Er lächelte, dachte sie. Oder etwas in der Art.
»Viel Glück bei deiner Zulassung, Olive.«
»Danke.«
Er war schon fast aus der Tür.
»Vielleicht sehen wir uns nächstes Semester«, plapperte sie drauflos und errötete. »Wenn ich angenommen werde. Und wenn du noch nicht deinen Abschluss gemacht hast.«
»Vielleicht«, hörte sie ihn sagen.
Dann war der Typ weg. Und Olive hatte seinen Namen nicht erfahren. Aber ein paar Wochen später bekam sie ein Stellenangebot der Biologischen Fakultät von Stanford und nahm es an. Ohne Zögern.
Hypothese: Wenn ich die Wahl habe zwischen A (einer etwas ungünstigen Situation) und B (einem totalen Desaster mit verheerenden Konsequenzen), werde ich mich unweigerlich für B entscheiden.
Zwei Jahre und elf Monate später
Zu Olives Verteidigung muss gesagt werden, dass sich der Mann nicht allzu sehr an dem Kuss zu stören schien.
Er brauchte einen Moment, um zu reagieren – vollkommen verständlich, angesichts der Umstände. Eine unbehagliche, peinliche, qualvolle Minute presste Olive gleichzeitig ihre Lippen auf seine und reckte sich auf den Zehenspitzen, so hoch es ging, um den Mund auf einer Höhe mit seinem Gesicht zu halten. Musste er denn so groß sein? Von außen ähnelte der Kuss bestimmt einem ungeschickten Kopfstoß, und sie hatte Angst, dass es nicht gelingen würde. Ihre Freundin Anh, die Olive vor ein paar Sekunden auf sich hatte zukommen sehen, würde mit einem Blick begreifen, dass Olive und der Kuss-Typ unmöglich ein Date haben konnten.
Dann war der quälend lange Moment vorbei, und der Kuss wurde … anders. Der Mann atmete scharf ein und beugte sich ein kleines Stück zu ihr herunter, so dass sich Olive nicht mehr fühlte wie ein Totenkopfäffchen, das einen Baobabbaum erklomm, und seine Hände – die groß und im klimatisierten Flur angenehm warm waren – umfassten ihre Taille. Sie glitten an ihrer Seite ein Stück höher, legten sich um ihren Brustkorb und hielten sie fest. Nicht zu nah und nicht zu weit weg. Genau richtig.
Es war eher ein in die Länge gezogener Knutscher als sonst etwas, aber es war ziemlich schön, und für einige Sekunden vergaß Olive eine ganze Menge – unter anderem, dass sie sich an irgendeinen dahergelaufenen Typen presste. Dass sie kaum genug Zeit gehabt hatte, »Darf ich dich bitte küssen?« zu flüstern, bevor ihre Lippen sich trafen. Dass sie diese ganze Show nur abzog, weil sie ausgerechnet Anh, ihre beste Freundin auf der ganzen Welt, täuschen wollte.
Aber das war die Wirkung, die ein guter Kuss hatte: Für einen Moment vergaß man alles andere. Und so sank Olive an seine breite, massive Brust, die kein bisschen nachgab. Ihre Hände wanderten von seinem markanten Kiefer in dichtes, weiches Haar, und dann – dann hörte sie sich seufzen, als wäre sie schon außer Atem, und da traf es sie wie ein Ziegelstein gegen den Kopf: die Erkenntnis, dass … Nein. Nein.
Nein, nein, nein.
Es war unmöglich, dass sie das genoss. Schließlich war er nur irgendein dahergelaufener Typ.
Mit einem Keuchen machte sich Olive von ihm los und blickte sich fieberhaft nach Anh um. In dem bläulichen Licht, das kurz vor Mitternacht auf dem Flur der Biologielabore schimmerte, war sie nirgends zu entdecken. Seltsam. Olive hätte schwören können, dass sie ihre Freundin gerade noch gesehen hatte.
Der Kuss-Typ hingegen stand schwer atmend direkt vor ihr, die Lippen leicht geöffnet, ein merkwürdiges Glitzern in den Augen, und da wurde ihr mit einem Schlag das Ausmaß dessen klar, was sie gerade getan hatte. Mit wem sie gerade …
Fuck.
Fuck.
Jeder wusste, dass Dr. Adam Carlsen ein Arschloch war.
An sich war diese Tatsache nicht ungewöhnlich, da im akademischen Bereich alle Positionen über der eines Doktoranden (wozu Olive leider Gottes gehörte) ein gewisses Maß an Arschigkeit erforderten, und Lehrstuhlinhaber wie er bildeten die Spitze der Arschpyramide. Doch Dr. Carlsen – der war etwas ganz Besonderes. Zumindest den Gerüchten nach zu urteilen.
Seinetwegen hatte Olives Mitbewohner Malcolm zwei seiner Forschungsprojekte komplett verwerfen müssen und würde wahrscheinlich ein Jahr zu spät seinen Abschluss machen, Jeremy hatte sich seinetwegen vor seiner Aufnahmeprüfung vor Angst übergeben, und es war allein Dr. Carlsen zu verdanken, dass mindestens die Hälfte der Biologiestudenten ihre Disputation würden verschieben müssen. Joe, ein früherer Kommilitone von Olive, mit dem sie sich jeden Donnerstagabend im Kino unscharfe europäische Filme mit mikroskopisch kleinen Untertiteln angesehen hatte, war wissenschaftlicher Mitarbeiter in Carlsens Labor gewesen, hatte den Job jedoch nach sechs Monaten aus »persönlichen Gründen« hingeschmissen. Wahrscheinlich war es besser so, da die meisten von Carlsens verbleibenden Assistenten permanent zittrige Hände hatten und in der Regel aussahen, als hätten sie seit einem Jahr nicht mehr geschlafen.
Dr. Carlsen mochte ein junger akademischer Rockstar und das Wunderkind der Biologie sein, vor allem aber war er oberfies und viel zu kritisch, und an der Art, wie er sprach und wie er sich benahm, war deutlich zu erkennen, dass er sich für die einzige Person an der Biologischen Fakultät von Stanford hielt, die ernstzunehmende Wissenschaft betrieb. Wahrscheinlich sogar auf der ganzen Welt. Er war ein launisches, nervtötendes, angsteinflößendes Arschloch.
Und er war es, den Olive soeben geküsst hatte.
Sie war nicht sicher, wie lange die Stille anhielt – nur, dass er es war, der sie brach. Geradezu lächerlich einschüchternd mit seinen dunklen Augen und noch dunkleren Haaren stand er vor ihr und starrte sie aus luftiger Höhe an – er musste mindestens fünfzehn Zentimeter größer sein als sie. Er hatte den gleichen mürrischen Gesichtsausdruck, den Olive von den Doktorandenseminaren kannte; normalerweise ein Warnsignal, dass er gleich die Hand heben und auf einen seiner Ansicht nach fatalen Fehler in den Worten seines Vorredners hinweisen würde.
Adam Carlsen, Zerstörer vielversprechender wissenschaftlicher Karrieren, hatte Olive ihre Studienberaterin einmal sagen hören.
Schon okay. Schon gut. Alles bestens. Sie würde einfach so tun, als wäre nichts passiert, ihm höflich zunicken und sich davonschleichen. Ja, guter Plan.
»Haben Sie … Haben Sie mich gerade geküsst?« Er klang verwirrt und vielleicht ein bisschen außer Atem. Seine Lippen waren voll und … O Gott. Geküsst. Was sie getan hatte, ließ sich leider beim besten Willen nicht leugnen.
Doch einen Versuch war es wert.
»Nein.«
Überraschenderweise schien es zu funktionieren.
»Ah. Okay.« Carlsen nickte und wandte sich ab, anscheinend etwas desorientiert. Er ging ein paar Schritte den Flur hinunter zum Wasserspender – vielleicht war er dorthin unterwegs gewesen.
Olive glaubte schon, sie wäre aus dem Schneider, als er plötzlich stehen blieb und sich mit skeptischem Gesicht wieder zu ihr umdrehte.
»Sind Sie sicher?«
Verdammt.
»Ich …« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Es ist nicht so, wie es aussieht.«
»Okay. Ich … Okay«, wiederholte er langsam. Seine Stimme war tief und leise und klang beunruhigend, als würde er allmählich wütend. Als wäre er vielleicht schon wütend. »Was wird hier gespielt?«
Es führte kein Weg daran vorbei, es zu erklären. Aber selbst ein normaler Mensch hätte Olives Aktion merkwürdig gefunden, Adam Carlsen jedoch, der Empathie offensichtlich als Störung erachtete und nicht als menschliche Eigenschaft, würde sie niemals verstehen. Sie ließ die Hände sinken und holte tief Luft.
»Ich … also ich will nicht unhöflich sein, aber das geht Sie nichts an.«
Er starrte sie noch einen Moment länger an, dann nickte er. »Ja. Natürlich.« Er musste wieder in seinen normalen Modus geschaltet haben, denn alle Verwirrung war aus seiner Stimme verschwunden, und sein Ton war wie üblich – trocken. Lakonisch. »Ich gehe einfach wieder in mein Büro und schreibe meine Title-IX-Beschwerde.«
Olive atmete erleichtert auf. »Ja. Das wäre super, weil … Moment. Ihre was?«
»Title IX ist ein Gesetz, das vor sexueller Belästigung im Bildungsbereich schützt …«
»Ich weiß, was Title IX ist.«
»Ich verstehe. Dann haben Sie also bewusst dagegen verstoßen.«
»Ich … Was? Nein. Nein, habe ich nicht!«
Er zuckte die Achseln. »Dann muss ich mich wohl irren. Jemand anderes muss mich überfallen haben.«
»Überfallen … Ich hab Sie nicht überfallen.«
»Aber Sie haben mich geküsst.«
»Nicht wirklich.«
»Ohne meine Erlaubnis einzuholen.«
»Ich habe gefragt, ob ich Sie küssen darf!«
»Und dann haben Sie es getan, ohne meine Antwort abzuwarten.«
»Was? Sie haben Ja gesagt.«
»Wie bitte?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich habe gefragt, ob ich Sie küssen darf, und Sie haben Ja gesagt.«
»Falsch. Sie haben gefragt, ob Sie mich küssen dürfen, und ich habe abfällig geschnaubt.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Sie habe Ja sagen hören.«
Er zog eine Augenbraue hoch, und einen kurzen Augenblick lang gab sich Olive der Illusion hin, wie es wäre, jemanden zu ertränken. Dr. Carlsen. Sich selbst. Beides schien eine sehr vielversprechende Option.
»Hören Sie, es tut mir wirklich leid. Es war eine sehr seltsame Situation. Können wir nicht einfach vergessen, dass das je passiert ist?«
Er musterte sie einen langen Moment, sein kantiges Gesicht ernst und noch irgendetwas anderes – etwas, das sie nicht entschlüsseln konnte, weil sie damit beschäftigt war, erneut festzustellen, wie groß und breitschultrig er war. Einfach massiv. Olive war immer schlank gewesen, gerade an der Grenze von »zu dünn«, aber eins siebzig große Frauen fühlten sich selten wirklich klein. Zumindest nicht, bis sie Adam Carlsen gegenüberstanden. Olive hatte immer gewusst, dass er groß war, immerhin hatte sie ihn oft genug in der Fakultät und auf dem Campus gesehen, und sie hatten sich auch schon ein paar Mal den Aufzug geteilt, aber sie hatten nie etwas miteinander zu tun gehabt. Waren sich nie nähergekommen.
Außer vor ein paar Sekunden, Olive. Als du ihm fast die Zunge …
»Stimmt etwas nicht?« Er klang fast besorgt.
»Was? Nein, nein, alles in Ordnung.«
»Denn um Mitternacht in einem Labor einen Wildfremden zu küssen«, fuhr er seelenruhig fort, »könnte ein Zeichen dafür sein, dass etwas nicht stimmt.«
»Nein, alles in bester Ordnung.«
Carlsen nickte nachdenklich. »Also gut. Dann bekommen Sie in ein paar Tagen eine Mail.« Er ging an ihr vorbei, und sie drehte sich um, um ihm nachzurufen: »Sie haben nicht einmal nach meinem Namen gefragt!«
»Ich bin sicher, der wird leicht herauszufinden sein, da Sie Ihren Ausweis einscannen mussten, um nach Feierabend Zutritt zu den Laboren zu bekommen. Gute Nacht.«
»Warten Sie!« Sie hielt ihn am Handgelenk fest. Er blieb sofort stehen, obwohl er sich offensichtlich leicht hätte befreien können, und starrte demonstrativ auf die Stelle, wo ihre Finger sich um seinen Arm geschlungen hatten – direkt unter seiner Uhr, die wahrscheinlich fast so viel gekostet hatte, wie sie als Doktorandin im Jahr verdiente. Oder genauso viel.
Hastig ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. »Sorry, ich wollte nicht …«
»Der Kuss. Eine Erklärung bitte.«
Olive biss sich auf die Unterlippe. Da hatte sie sich tatsächlich gründlich in die Scheiße geritten. Jetzt musste sie es ihm sagen. »Anh Pham.« Sie sah sich rasch um, um sich zu vergewissern, dass Anh wirklich nicht mehr zu sehen war. »Das Mädchen, das gerade vorbeigekommen ist. Sie arbeitet als Doktorandin an der Biologischen Fakultät.«
Carlsen zeigte nicht das geringste Anzeichen, dass er wusste, von wem sie sprach.
»Anh war …« Olive strich sich eine Strähne ihrer braunen Haare hinters Ohr. An diesem Punkt wurde die Geschichte peinlich. Kompliziert und ein bisschen albern. »Ich habe mich mit einem Typen aus der Fakultät getroffen. Jeremy Langley, er hat rote Haare und arbeitet mit Dr. … Egal, jedenfalls sind wir ein paar Mal ausgegangen, und ich habe ihn zu Anhs Geburtstagsparty mitgenommen. Und die beiden haben sich sofort gut verstanden, und …«
Olive schloss die Augen. Was wahrscheinlich eine schlechte Idee war, denn jetzt sah sie wieder vor ihrem inneren Auge, wie ihre beste Freundin und ihr Date in der Bowlinghalle geplaudert hatten, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben kennen – die nie enden wollenden Gesprächsthemen, das Gelächter, und am Ende des Abends hatte Jeremy nur noch Augen für Anh gehabt. Es war schmerzhaft offensichtlich gewesen, an wem er interessiert war. Olive machte eine wegwerfende Geste und versuchte zu lächeln.
»Langer Rede kurzer Sinn, nachdem Jeremy und ich Schluss gemacht haben, hat er sie um ein Date gebeten. Aber sie hat Nein gesagt, weil … na ja, wegen des Girl-Codes und so, aber ich weiß, dass sie ihn wirklich mag. Sie hat Angst, meine Gefühle zu verletzen, und egal, wie oft ich ihr sage, dass es mir nichts ausmacht, sie glaubt mir einfach nicht.«
Ganz zu schweigen davon, dass ich zufällig gehört habe, wie sie unserem Freund Malcolm gegenüber zugegeben hat, wie toll sie Jeremy findet, mich jedoch nie betrügen könnte, indem sie mit ihm ausgeht, und dabei klang sie so resigniert. Enttäuscht und unsicher, überhaupt nicht wie die draufgängerische, überlebensgroße Anh, als die ich sie kenne.
»Also habe ich einfach gelogen und ihr erzählt, dass ich schon jemand Neues kennengelernt habe. Sie ist meine beste Freundin, und ich habe sie noch nie so verschossen gesehen, und ich will, dass sie alles Glück der Welt findet, denn das hat sie verdient, und ich bin sicher, dass sie das Gleiche für mich tun würde, und …« Plötzlich wurde Olive bewusst, dass sie plapperte und dass all das Dr. Carlsen wahrscheinlich einen Dreck interessierte. Sie hielt inne und schluckte, obwohl ihr Mund trocken war. »Heute Abend. Ich habe ihr erzählt, dass ich heute Abend ein Date habe.«
»Ah.« Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
»Aber das habe ich nicht. Also bin ich hergekommen, um an einem Experiment weiterzuarbeiten, und dann ist Anh auch hier aufgekreuzt. Sie hätte nicht hier sein sollen. Aber sie war trotzdem hier und kam direkt auf mich zu. Da bin ich in Panik geraten und – na ja.« Olive rieb sich das Gesicht. »Ich habe wirklich nicht nachgedacht.«
Carlsen sagte nichts, aber in seinen Augen konnte sie deutlich sehen, was nun wiederum er dachte: Offensichtlich.
»Ich musste sie einfach glauben lassen, dass ich ein Date habe.«
Er nickte. »Also haben Sie die erstbeste Person im Flur geküsst. Logisch.«
Olive zuckte zusammen. »Wenn man es so ausdrückt, war es vielleicht nicht mein bester Moment.«
»Vielleicht.«
»Aber es war auch nicht der schlechteste! Ich bin mir ziemlich sicher, dass Anh uns gesehen hat. Jetzt wird sie glauben, dass ich ein Date mit Ihnen hatte, und hoffentlich keine Bedenken mehr haben, mit Jeremy auszugehen und …« Sie schüttelte den Kopf. »Hören Sie, das mit dem Kuss tut mir wirklich sehr, sehr leid.«
»Tatsächlich?«
»Bitte zeigen Sie mich nicht an. Ich dachte wirklich, ich hätte Sie Ja sagen hören. Ich verspreche, dass ich Sie nicht …«
Plötzlich dämmerte ihr das ganze Ausmaß dessen, was sie getan hatte. Sie hatte nicht irgendeinen Typen geküsst, sondern einen Typen, der bekanntermaßen der unfreundlichste Dozent der gesamten Fakultät war. Sie hatte ein Schnauben als Einverständniserklärung missverstanden, war im Flur förmlich über ihn hergefallen, und nun starrte er sie auf diese eigenartige, nachdenkliche Art an, so groß und konzentriert und ihr so nah, und …
Scheiße.
Vielleicht lag es daran, dass es schon so spät war. Vielleicht lag es daran, dass ihr letzter Kaffee schon sechzehn Stunden her war. Vielleicht lag es daran, dass Adam Carlsen sie so ansah. Plötzlich war ihr diese ganze Situation einfach zu viel.
»Nun, eigentlich haben Sie vollkommen recht. Und es tut mir aufrichtig leid. Wenn Sie sich auf irgendeine Weise von mir belästigt gefühlt haben, sollten Sie mich anzeigen, das wäre nur fair. Was ich getan habe, war absolut unangemessen, auch wenn ich es nicht beabsichtigt habe … Aber meine Absichten spielen ja keine Rolle; es geht um Ihre Wahrnehmung meiner …«
Mist, Mist, Mist.
»Ich gehe jetzt einfach, ja? Danke, und … es tut mir wirklich sehr, sehr leid.« Damit drehte sich Olive auf dem Absatz um und eilte davon.
»Olive«, rief er ihr nach. »Olive, warten Sie …«
Sie hielt nicht an. Sie rannte die Treppe hinunter, aus dem Gebäude und über den spärlich beleuchteten Campus, vorbei an einem Mädchen, das mit ihrem Hund Gassi ging, und einer Gruppe von Studenten, die lachend vor der Bibliothek standen. Sie lief immer weiter, bis sie ihr Apartment erreichte, hielt nur kurz inne, um die Tür aufzuschließen, und ging schnurstracks in ihr Zimmer, um nicht ihrem Mitbewohner oder wem auch immer, den er heute mitgebracht hatte, über den Weg zu laufen.
Erst als sie ins Bett fiel und zu den im Dunkeln leuchtenden Sternen an der Decke aufblickte, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, nach ihren Labormäusen zu sehen. Außerdem hatte sie ihren Laptop auf ihrem Arbeitstisch stehen lassen und ihr Sweatshirt irgendwo im Labor liegen lassen, und sie hatte komplett vergessen, auf dem Heimweg den Kaffee zu besorgen, den sie Malcom für morgen früh versprochen hatte.
Scheiße. Was für ein katastrophaler Tag.
Vor lauter Ärger über sich selbst fiel ihr überhaupt nicht auf, dass Dr. Adam Carlsen – der Arsch vom Dienst – sie beim Vornamen genannt hatte.
Hypothese: Jedes Gerücht über mein Liebesleben wird sich mit einer Geschwindigkeit verbreiten, die direkt proportional zu meinem Wunsch ist, besagtes Gerücht geheim zu halten.
Olive Smith war eine aufstrebende Doktorandin im dritten Jahr an einer der besten biologischen Fakultäten, in der es über hundert Doktoranden und – gefühlt – Millionen Studenten ohne akademischen Grad gab. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Leute hier arbeiteten, aber den Postfächern im Kopierraum nach lautete eine sichere Schätzung: zu viele. In Anbetracht der Tatsache, dass sie in den zwei Jahren vor dieser denkwürdigen Nacht (der Kuss war erst ein paar Tage her, aber Olive wusste schon jetzt, dass ihr der letzte Freitag für den Rest ihres Lebens als »Die Nacht« im Gedächtnis bleiben würde) nicht das Pech gehabt hatte, mit Adam Carlsen interagieren zu müssen, sollte es doch möglich sein, ihr Studium abzuschließen, ohne ihm je wieder über den Weg zu laufen. Genauer gesagt war sie ziemlich sicher, dass Adam Carlsen nicht nur keine Ahnung hatte, wer sie war, sondern auch nicht das geringste Interesse daran haben würde, es herauszufinden – und den Vorfall wahrscheinlich schon längst vergessen hatte.
Es sei denn, sie lag katastrophal falsch und er reichte tatsächlich Beschwerde gegen sie ein. In diesem Fall würde sie ihn wohl zwangsläufig wiedersehen, wenn sie sich vor Gericht schuldig bekannte.
Entweder konnte sie ihre Zeit also mit Sorgen über Anwaltskosten vergeuden, oder sie konnte sich auf dringlichere Probleme konzentrieren. Wie die etwa fünfhundert Sheets für den Neurobiologiekurs, den sie im Herbstsemester, also in weniger als zwei Wochen, als Lehrassistentin geben sollte. Oder den Zettel, den Malcolm ihr heute Morgen hinterlassen hatte, auf dem er sie informierte, dass er eine Kakerlake unter der Kommode hatte herumkrabbeln sehen, obwohl ihre Wohnung voller Fallen war. Oder das Allerwichtigste: die Tatsache, dass sich ihr Forschungsprojekt in einer kritischen Phase befand und sie unbedingt ein größeres, erheblich besser ausgestattetes Labor brauchte, um es voranzubringen. Sonst würde eine Studie, die bahnbrechend und klinisch relevant sein könnte, auf einem Stapel Petrischalen im Gemüsefach ihres Kühlschranks enden.
Olive klappte ihren Laptop auf und war kurz davor, »Organe, ohne die man leben kann« und »Wie viel Geld verdient man damit« zu googeln, wurde aber von zwanzig neuen E-Mails abgelenkt, die sie erhalten hatte, während sie mit ihren Labortieren beschäftigt gewesen war. Sie waren fast ausschließlich von sensationsgierigen Magazinen, nigerianischen Möchtegern-Prinzen und einer Kosmetikfirma, für deren Newsletter sie sich vor sechs Jahren angemeldet hatte, um einen Lippenstift gratis zu bekommen. Olive wollte sie gerade alle löschen, weil sie rasch mit ihren Experimenten weitermachen wollte, als sie in letzter Sekunde sah, dass eine der Nachrichten tatsächlich eine Antwort auf eine Anfrage war, die sie verschickt hatte. Eine Antwort von … Heilige Scheiße. Heilige Scheiße.
Sie klickte die Mail so fest an, dass sie sich fast den Zeigefinger verrenkte.
Heute, 15:15
Von: [email protected]
Betreff: Re: Bauchspeicheldrüsenkrebs-Screening-Projekt
Olive,
Ihr Projekt klingt gut. Ich werde in zwei Wochen in Stanford sein. Wollen wir dann darüber reden?
Beste Grüße
TB
Tom Benton, Ph. D.
Privatdozent
Biologische Fakultät, Harvard University
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Dann fing es an zu rasen. Dann kam es fast zum Stillstand. Dann spürte sie ihr Blut in den Augenlidern pulsieren, was nicht gesund sein konnte, aber – ja. Ja! Sie hatte einen Interessenten. Fast. Wahrscheinlich? Vielleicht. Definitiv vielleicht. Tom Benton hatte »gut« geschrieben. Er hatte geschrieben, ihr Projekt klinge gut. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder?
Stirnrunzelnd scrollte sie zu der Mail hinunter, die sie ihm vor ein paar Wochen geschickt hatte.
07.07., 8:19
Von: [email protected]
Betreff: Bauchspeicheldrüsenkrebs-Screening-Projekt
Lieber Dr. Benton,
mein Name ist Olive Smith, und ich promoviere an der Biologischen Fakultät der Stanford University. Bei meinem Forschungsprojekt geht es um Bauchspeicheldrüsenkrebs, genauer gesagt versuche ich, nicht-invasive und zugleich bezahlbare Erkennungstools zu entwickeln, die eine frühe Behandlung ermöglichen und die Überlebenschancen Erkrankter deutlich verbessern würden. Ich habe in erster Linie an Biomarkern im Blut gearbeitet und konnte vielversprechende Ergebnisse erzielen. (Mehr über meine ersten Arbeitsschritte können Sie in der extern geprüften Abhandlung im Anhang nachlesen. Außerdem habe ich neuere, noch unveröffentlichte Ergebnisse bei dem diesjährigen Kongress der Society for Biological Discovery eingereicht; noch habe ich dazu keine weiteren Informationen, aber im Anhang finden Sie einen Abstract.) Im nächsten Schritt wären detailliertere Studien nötig, um die Durchführbarkeit meines Ansatzes zu prüfen.
Leider verfügt mein derzeitiger Arbeitsplatz (das Labor von Dr. Aysegul Aslan, die in zwei Jahren in Ruhestand geht) weder über die finanziellen Mittel noch über die nötige Ausrüstung, um meine Forschung fortzusetzen. Dr. Aslan hat mich ermutigt, ein größeres Krebsforschungslabor zu suchen, in dem ich das nächste Studienjahr damit verbringen könnte, die benötigten Daten zu sammeln. Anschließend würde ich nach Stanford zurückkehren, um diese zu analysieren und aufzuarbeiten.
Ich bewundere Ihre wissenschaftlichen Publikationen über Bauchspeicheldrüsenkrebs sehr und habe mich gefragt, ob es eine Möglichkeit gäbe, meiner Idee in Ihrem Labor in Harvard nachzugehen.
Sollten Sie Interesse haben, wäre es mir eine Freude, ausführlicher mit Ihnen über das Projekt zu reden.
Mit herzlichen Grüßen
Olive
Olive Smith
Doktorandin
Biologische Fakultät, Stanford University
Wenn Tom Benton, ein Krebsforscher der Extraklasse, nach Stanford kommen und Olive zehn Minuten sein Ohr leihen würde, könnte sie ihn überzeugen, ihr aus ihrer misslichen Lage zu helfen!
Also … hoffentlich.
Olive war viel besser darin, Forschung zu betreiben, als anderen deren Bedeutung klarzumachen. Kommunikation über ihre wissenschaftlichen Inhalte ebenso wie öffentliche Reden jeglicher Art waren definitiv ihre großen Schwachpunkte. Aber vielleicht hatte sie eine Chance, Benton klarzumachen, wie vielversprechend ihre Ergebnisse waren. Sie konnte die klinischen Vorteile ihrer Arbeit auflisten und erklären, wie wenig sie brauchte, um mit ihrem Projekt einen riesigen Erfolg zu erzielen. Dafür bräuchte sie nur einen ruhigen Arbeitsplatz in einer Ecke seines Labors, ein paar Hundert seiner Labormäuse und uneingeschränkten Zugang zu seinem Zwanzig-Millionen-Dollar-Elektronenmikroskop. Benton würde sie überhaupt nicht bemerken.
Auf dem Weg zum Pausenraum verfasste Olive im Kopf eine flammende Rede, in der sie ihm versicherte, dass sie sein Labor nur nachts benutzen und ihren Sauerstoffverbrauch auf fünf Atemzüge die Minute reduzieren würde. Sie goss sich eine Tasse abgestandenen Kaffee ein, und als sie sich umdrehte, blickte sie direkt in ein grimmiges Gesicht.
Sie erschrak so sehr, dass sie sich fast mit dem heißen Kaffee verbrühte.
»Mein Gott!« Sie drückte eine Hand an die Brust, atmete tief durch und umklammerte ihre Scooby-Doo-Tasse fester. »Anh. Du hast mich zu Tode erschreckt.«
»Olive.«
Dieser Ton war ein schlechtes Zeichen. Anh sprach sie nie auf diese Weise an – außer sie rügte sie dafür, dass sie ihre Fingernägel abkaute oder Weingummi zum Abendessen aß.
»Hey! Wie war dein …«
»Der Abend neulich …«
Verdammt. »… Wochenende?«
»Dr. Carlsen.«
Verdammt, verdammt, verdammt. »Was ist mit ihm?«
»Ich hab dich mit ihm gesehen.«
»Oh. Wirklich?« Ihre Überraschung klang selbst in ihren eigenen Ohren gespielt. Vielleicht hätte sie sich in der Highschool für den Theaterclub einschreiben sollen, anstatt bei jeder angebotenen Sportart mitzumachen.
»Ja. Hier in der Fakultät.«
»Oh. Cool. Ähm, ich hab dich nicht gesehen, sonst hätte ich Hi gesagt.«
Anhs Gesicht wurde noch grimmiger. »Olive. Ich hab dich gesehen. Mit Carlsen. Du weißt, dass ich dich gesehen habe, und ich weiß, dass du weißt, dass ich dich gesehen habe, weil du mir seitdem aus dem Weg gehst.«
»Nein, überhaupt nicht.«
Anh bedachte sie mit ihrem legendären Verarsch-mich-nicht-Blick. Wahrscheinlich benutzte sie den auch als Präsidentin des Studentenrats, als Vorsitzende der Stanford Women in Science Association und als Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit bei der Organization of BIPOC Scientists. Es gab keine Auseinandersetzung, aus der Anh nicht als Siegerin hervorgehen würde. Sie war furchteinflößend und unschlagbar, und das liebte Olive an ihr – nur jetzt gerade nicht.
»Du hast die letzten zwei Tage keine einzige meiner Nachrichten beantwortet. Normalerweise schreiben wir uns dauernd.«
Das taten sie. Mehrmals pro Stunde. Olive nahm ihre Tasse in die andere Hand, um Zeit zu schinden. »Ich war … beschäftigt?«
»Beschäftigt?« Anhs Augenbrauen schossen in die Höhe. »Damit beschäftigt, Carlsen zu küssen?«
»Oh, ach das. Das war nur …«
Anh nickte, als wolle sie ihre Freundin dazu ermutigen, den Satz zu vollenden. Als klar wurde, dass Olive das nicht tun würde, fuhr Anh an ihrer Stelle fort: »Das war – nimm’s mir nicht übel, Olive, aber das war der bizarrste Kuss, den ich je gesehen habe.«
Ruhig. Ganz ruhig. Sie weiß es nicht. Sie kann es nicht wissen. »Komm schon, dieser Spiderman-Kuss, wo er falsch rum von der Decke hing, war doch wohl noch bizarrer als …«
»Du hast gesagt, du hättest an diesem Abend ein Date. Du datest doch nicht etwa Carlsen?« Sie verzog das Gesicht.
Es wäre so einfach gewesen, ihr die Wahrheit zu gestehen. Seit Beginn ihrer Promotion hatten Anh und Olive haufenweise dummes Zeug gemacht, sowohl zusammen als auch getrennt; dass Olive in Panik geraten war und ausgerechnet Adam Carlsen geküsst hatte, würde sich einfach in die lange Liste ihrer Albernheiten einreihen, und sie würden an ihrem wöchentlichen Bier-und-Marshmallowkekse-Abend darüber lachen.
Oder auch nicht. Wenn sie zugab, dass sie gelogen hatte, bestand die Möglichkeit, dass ihr Anh nie wieder vertrauen würde. Oder dass sie nie mit Jeremy ausgehen würde. Und auch wenn Olive bei der Vorstellung, dass ihre beste Freundin ihren Ex datete, ein bisschen übel wurde, wurde ihr bei der Vorstellung, dass ihre beste Freundin ihr Glück nicht finden würde, noch viel übler.
Die Situation war deprimierend simpel: Olive war ganz allein auf der Welt. Das war sie schon lange, schon seit der Highschool. Sie hatte sich angewöhnt, keine große Sache daraus zu machen – bestimmt waren viele Leute allein auf der Welt und mussten erfundene Namen und Telefonnummern auf ihre Notfallkontaktformulare schreiben. Im College hatte sie sich mit Lernen und Recherchieren abgelenkt, und sie war bereit gewesen, sich den Rest ihres Lebens mit einem Messbecher und einer Handvoll Pipetten als einziger Gesellschaft in einem Labor zu verkriechen, bis … Anh aufgetaucht war.
In gewisser Hinsicht war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Am ersten Tag des Promotionsstudiums. Bei der Biologie-Einführungsveranstaltung. Olive war in den Vorlesungsraum gekommen, hatte sich umgesehen und sich auf den erstbesten freien Platz gesetzt, wie gelähmt vor Angst. Sie war die einzige Frau im Raum, vollkommen allein in einem Meer weißer Männer, die über Boote, das letzte Sport-Event im Fernsehen und die beste Route mit dem Auto irgendwohin redeten. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, schoss es ihr durch den Kopf. Der Toiletten-Typ hat sich geirrt. Ich hätte nie herkommen sollen. Ich passe hier nicht rein.
Und dann ließ sich ein Mädchen mit lockigen dunklen Haaren und einem hübschen, runden Gesicht auf den Stuhl neben ihr plumpsen und flüsterte: »So viel zu den Diversitätsbemühungen der MINT-Fachbereiche.« Sie verdrehte genervt die Augen, und in diesem Moment änderte sich alles.
Sie hätten einfach nur Verbündete sein können. Als die einzigen beiden nicht cis-hetero-weiß-männlichen Studenten ihres Jahrgangs hätten sie einfach beieinander Trost finden können, wenn sie sich auskotzen mussten, und einander sonst ignorieren. Olive hatte viele solche Freunde – eigentlich waren sie alle nur zufällige Bekanntschaften, an die sie gern, aber nicht sehr oft dachte. Doch mit Anh war es von Anfang an anders gewesen. Vielleicht, weil sie schon bald herausgefunden hatten, dass sie beide samstagabends am liebsten Junkfood aßen und dann bei romantischen Komödien einschliefen. Vielleicht, weil Anh sie zu jeder einzelnen »Frauen in der Wissenschaft«-Supportgruppe mitgeschleift und alle mit ihren genau ins Schwarze treffenden Kommentaren in Erstaunen versetzt hatte. Vielleicht, weil sie sich Olive gegenüber geöffnet und ihr erzählt hatte, wie schwer es gewesen war, an den Punkt zu gelangen, an dem sie jetzt war. Dass ihre Brüder sich immer über sie lustig gemacht und sie als Nerd beschimpft hatten, weil sie schon als Kind Mathe geliebt hatte – in einer Zeit, als es noch nicht cool war, ein Nerd zu sein. Dass ein Physikprofessor sie am ersten Tag des Semesters gefragt hatte, ob sie im falschen Kurs sei. Dass trotz ihrer ausgezeichneten Noten und umfassenden Forschungserfahrung selbst ihr Studienberater skeptisch gewesen war, als sie entschieden hatte, ihren Doktor in einem MINT-Fach zu machen.
Olive, deren Weg ins naturwissenschaftliche Promotionsprogramm hart, aber längst nicht so hart gewesen war, war bestürzt. Und dann wütend. Und dann voller Ehrfurcht, als sie begriff, dass es Anh gelungen war, aus ihren Selbstzweifeln eine unerschütterliche Entschlossenheit zu schöpfen.
Und aus irgendeinem Grund mochte Anh sie genauso sehr, wie Olive umgekehrt sie mochte. Als Olives Stipendium nicht ganz bis zum Monatsende gereicht hatte, hatte Anh ihre Instant-Ramen-Nudeln mit ihr geteilt. Als ihr Computer ohne Back-ups abgestürzt war, war Anh die ganze Nacht mit ihr aufgeblieben, um ihr zu helfen, ihre Arbeit über Kristallographie neu zu schreiben. Als Olive niemanden hatte, zu dem sie über die Feiertage hätte fahren können, nahm Anh sie mit nach Michigan und ließ sie von ihrer großen Familie mit köstlichem Essen verwöhnen, umgeben von rasanter vietnamesischer Konversation. Und als sich Olive wieder einmal zu dumm für ihre Promotion vorgekommen war und überlegte, alles hinzuschmeißen, hatte Anh es ihr ausgeredet.
In dem Moment, als Olive Anh und ihrem entnervten Augenrollen begegnet war, war eine lebensverändernde Freundschaft entstanden. Später hatten sie auch Malcolm in ihre Reihen aufgenommen und waren ein Trio geworden, aber Anh … Anh war ihre einzige und wahre Bezugsperson. Ihre Familie. Olive hätte nie gedacht, dass so etwas für jemanden wie sie überhaupt möglich war.
Anh bat kaum je um irgendetwas für sich selbst, und obwohl sie schon über zwei Jahre befreundet waren, hatte Olive sie nie an irgendjemandem Interesse zeigen sehen – bis sie Jeremy kennengelernt hatte. So zu tun, als hätte sie ein Date mit Carlsen gehabt, war das Mindeste, was sie tun konnte, um ihre Freundin glücklich zu machen.
Also nahm sie all ihren Mut zusammen, lächelte und fragte in halbwegs gelassenem Ton: »Was meinst du?«
»Ich meine, dass wir uns alles erzählen und eigentlich permanent miteinander reden und du Carlsen noch nie erwähnt hast. Meine beste Freundin geht anscheinend mit dem Superstar-Dozenten unseres Fachbereichs aus, und aus irgendeinem Grund habe ich nichts davon gehört. Du weißt, was er für einen Ruf hat, oder? Ist das ein Witz? Hast du einen Hirntumor? Habe ich einen Hirntumor?«
Das passierte immer, wenn Olive log: Sie musste noch mehr Lügen erzählen, um die erste zu vertuschen, und darin war sie so grauenhaft schlecht, dass jede weitere Lüge noch unglaubwürdiger war als die vorherige. Nie im Leben könnte sie Anh zum Narren halten. Sie könnte niemanden zum Narren halten. Anh würde wütend werden, und dann würde Jeremy wütend werden und dann auch noch Malcolm, und letztlich würde Olive vollkommen allein zurückbleiben. In ihrem Kummer würde sie das Studium hinschmeißen, ihr Visum und ihr einziges Einkommen verlieren und zurück nach Kanada ziehen müssen, wo es ständig schneite und die Leute Elchherzen aßen und …
»Hey.«
Die tiefe, ruhige Stimme kam von irgendwo hinter ihr, aber sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Carlsen war. Genauso wenig musste sie sich umdrehen, um zu wissen, dass die warme Berührung, die ihr Halt gab, der feste, aber kaum spürbare Druck an ihrem unteren Rücken, Carlsens Hand war. Ungefähr fünf Zentimeter über ihrem Hintern.
Heilige Scheiße.
Olive verrenkte sich den Hals und blickte hoch. Höher. Und noch etwas höher. Wie gesagt, sie war keine kleine Frau, aber er war – groß. »Oh. Ähm, hey.«
»Alles in Ordnung?«, fragte er leise und blickte ihr dabei tief in die Augen. Als wären sie allein. Als wäre Anh nicht da. Er sagte es auf eine Art, die ihr eigentlich hätte unangenehm sein sollen, es aber nicht war.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund beruhigte sie seine Gegenwart, obwohl sie noch vor einer Sekunde fast durchgedreht wäre. Vielleicht hoben sich zwei verschiedene Arten Nervosität gegenseitig auf? Das klang wie ein faszinierendes Forschungsthema. Dem sollte sie nachgehen. Vielleicht würde Olive ihr Biologiestudium abbrechen und lieber Psychologie studieren. Vielleicht sollte sie sich entschuldigen und gleich nach entsprechender Lektüre suchen. Vielleicht sollte sie auf der Stelle tot umfallen, um dieser komplett verfahrenen Situation zu entfliehen, in die sie sich selbst manövriert hatte.
»Ja. Ja. Alles bestens. Anh und ich haben nur … gequatscht. Über unser Wochenende.«
Carlsen sah zu Anh, als hätte er sie erst jetzt bemerkt. Er nahm ihre Existenz mit dem kurzen Nicken zur Kenntnis, mit dem Kerle wie er sich gegenseitig begrüßten, und seine Hand rutschte noch etwas tiefer, während Anh große Augen machte.
»Schön, Sie kennenzulernen, Anh. Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte Carlsen, und wenn man ihm Taktik unterstellen wollte, war er verdammt gut darin, das musste Olive ihm lassen. Denn aus Anhs Perspektive musste es aussehen, als begrapsche er sie. Aber eigentlich … tat er das nicht. Olive konnte seine Hand kaum spüren.
Nur ganz leicht. Die Wärme, der leichte Druck und …
»Ganz meinerseits.« Anh wirkte völlig entgeistert. Als könne sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Ähm, ich wollte gerade gehen. Olive, ich schreib dir, wenn … okay, bis später!«
Ehe Olive antworten konnte, war sie schon über alle Berge. Was gut war, denn so musste Olive sich nicht noch mehr Lügen ausdenken. Und zugleich nicht so gut, weil sie jetzt mit Carlsen allein war. Ihm viel zu nahe. Olive hätte viel dafür gegeben, behaupten zu können, sie hätte sich von Carlsen gelöst, aber die beschämende Wahrheit war, dass er sich zuerst zurückzog.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich erneut. Sein Ton war immer noch sanft. Was sie von ihm nicht erwartet hätte.
»Ja. Ich hab nur …« Olive winkte ab. »Danke.«
»Gern geschehen.«
»Haben Sie gehört, was meine Freundin gesagt hat? Über neulich Abend und …«
»Deswegen habe ich …« Er sah zu ihr und dann auf seine Hand – die noch vor wenigen Sekunden ihren Rücken gewärmt hatte –, und Olive verstand sofort, was er meinte.
»Danke«, wiederholte sie. Denn Adam Carlsen mochte ein berühmt-berüchtigter Arsch sein, aber in diesem Moment war Olive ihm verdammt dankbar. »Außerdem ist mir aufgefallen, dass, äh, noch keine FBI-Agenten bei mir angeklopft haben, um mich zu verhaften.«
Sein Mundwinkel zuckte. »Ach ja?«
Olive nickte. »Das gibt mir Anlass zu der Vermutung, dass Sie doch nicht Beschwerde gegen mich eingelegt haben. Obwohl Sie jedes Recht dazu hätten. Also danke. Auch dafür. Und dafür, dass Sie gerade eingeschritten sind. Sie haben mir eine Menge Ärger erspart.«
Carlsen starrte sie einen langen Moment schweigend an und sah plötzlich aus wie in seinen Seminaren, wenn jemand Theorie und Hypothese verwechselte oder zugab, fallweisen Ausschluss statt Imputation verwendet und dadurch eine ganze Statistik verhunzt zu haben. »Sie sollten niemanden brauchen, der für Sie einschreitet.«
Olive erstarrte. Da war er wieder – der berühmt-berüchtigte Arsch. »Nun, ich habe Sie auch nicht darum gebeten. Ich wäre gut allein …«
»Und Sie sollten nicht über Ihren Beziehungsstatus lügen müssen«, fuhr er fort. »Schon gar nicht, damit Ihre beste Freundin und Ihr Freund ohne schlechtes Gewissen zusammenkommen können. So funktioniert Freundschaft nicht, wenn mich nicht alles täuscht.«
Oh. Also hatte er tatsächlich zugehört, als Olive ihre ganze Lebensgeschichte vor ihm ausgeschüttet hatte. »So ist es nicht.« Er zog eine Augenbraue hoch, und Olive hob wie zur Verteidigung die Hand. »Jeremy war nicht wirklich mein Freund. Und Anh hat mich um nichts gebeten. Ich bin kein Opfer, ich … will nur, dass meine beste Freundin glücklich wird.«
»Indem Sie sie anlügen«, fügte er trocken hinzu.
»Na ja, okay, ja, aber … Sie denkt, wir hätten was miteinander«, platzte Olive heraus. Gott, die Implikationen waren unerträglich lächerlich.
»War das nicht der Sinn der Sache?«
»Ja.« Sie nickte, und dann erinnerte sie sich an den Kaffee in ihrer Hand und trank einen Schluck. Er war noch warm. Das Gespräch mit Anh konnte nicht mehr als fünf Minuten gedauert haben. »Ich schätze, das war es. Übrigens – ich bin Olive Smith. Falls Sie noch daran interessiert sind, Beschwerde gegen mich einzulegen. Ich bin Doktorandin in Dr. Aslans Labor …«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Oh.« Dann hatte er wahrscheinlich im Internet nach ihr gesucht. Olive versuchte sich vorzustellen, wie er auf der Website die aktuelle Liste der Doktoranden der Fakultät durchforstete. Olives Foto war am dritten Tag des Promotionsstudiums von der Sekretärin gemacht worden, lange bevor ihr klar geworden war, worauf sie sich eingelassen hatte. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, gut auszusehen: ihre lockigen braunen Haare gebändigt, Mascara aufgetragen, um ihre grünen Augen zur Geltung zu bringen, und sogar versucht, ihre Sommersprossen mit etwas geliehenem Make-up zu kaschieren. Das war noch, bevor sie erkannt hatte, wie unbarmherzig und mörderisch die akademische Welt sein konnte. Bevor sich bei ihr das Gefühl eingestellt hatte, nicht mithalten zu können, vor der ständigen Angst, dass sie, selbst wenn sie gut im Forschen war, vielleicht doch nicht das Zeug hatte, eine richtige Wissenschaftlerin zu werden. Sie hatte gelächelt. Ein echtes, richtiges Lächeln.
»Okay.«
»Ich bin Adam Carlsen. Dozent für …«
Sie brach in Gelächter aus. Und bereute es sofort, als sie sein verwirrtes Gesicht sah – als habe er wirklich geglaubt, Olive wüsste nicht, wer er war. Als sei ihm überhaupt nicht bewusst, dass er einer der herausragendsten Wissenschaftler ihres Fachs war. Diese Bescheidenheit sah Adam Carlsen ganz und gar nicht ähnlich. Olive räusperte sich.
»Ich weiß, wer Sie sind, Dr. Carlsen.«
»Sie sollten mich wahrscheinlich Adam nennen.«
»Oh. O nein.« Das wäre viel zu … Nein. So war die Fakultät nicht. Doktoranden nannten Mitglieder des Lehrkörpers nicht beim Vornamen. »Ich könnte nie …«
»Nur wenn Anh in der Nähe ist.«
»Ach so. Ja.« Das ergab Sinn. »Danke. Daran hatte ich nicht gedacht.« Auch nicht an irgendetwas anderes. Offensichtlich hatte ihr Gehirn vor drei Tagen den Geist aufgegeben, als sie beschlossen hatte, dass es eine gute Idee war, ihn zu küssen, um ihren Arsch zu retten. »Wenn das für Sie … in Ordnung ist … Ich gehe jetzt nach Hause, weil diese ganze Sache ziemlich nervenaufreibend war und …« Eigentlich wollte ich ein Experiment machen, aber ich muss mich dringend aufs Sofa setzen, eine Dreiviertelstunde American Ninja Warrior gucken und dabei Cool Ranch Doritos futtern, die um einiges besser schmecken, als man erwarten würde.
Er nickte. »Ich bringe Sie zu Ihrem Auto.«
»So durcheinander bin ich auch wieder nicht.«
»Falls Anh noch in der Nähe ist.«
»Oh.« Es war, wie Olive zugeben musste, ein nettes Angebot. Überraschend nett. Vor allem, weil es von Adam Ich-bin-zu-gut-für-diese-Uni-Carlsen kam. Olive wusste, dass er ein Arschloch war, daher begriff sie nicht ganz, warum er heute … keines war. Vielleicht sollte sie das einfach auf ihr eigenes fürchterliches Benehmen schieben, denn im Vergleich dazu würde jeder gut dastehen. »Danke. Aber das ist nicht nötig.«
Sie konnte sehen, dass er nicht darauf beharren wollte, aber nicht anders konnte. »Ich würde mich besser fühlen, wenn ich Sie zu Ihrem Auto begleiten dürfte.«
»Ich habe kein Auto.« Ich bin Doktorandin in Stanford, Kalifornien. Ich verdiene weniger als dreißigtausend Dollar im Jahr. Zwei Drittel meines Einkommens gehen für die Miete drauf. Ich trage seit Mai dieselben Kontaktlinsen, und ich gehe zu jedem Seminar, in dem es Snacks gibt, um weniger Geld für Essen ausgeben zu müssen, fügte sie nicht hinzu. Sie hatte keine Ahnung, wie alt Carlsen war, aber es konnte noch nicht lange her sein, dass er selbst Doktorand gewesen war.
»Nehmen Sie den Bus?«
»Ich fahre mit dem Fahrrad. Und mein Fahrrad steht direkt vor der Tür.«
Er öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Dann öffnete er ihn erneut.
Du hast diesen Mund geküsst, Olive. Und es war ein guter Kuss.
»Hier in der Gegend gibt es keine Radwege.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich lebe gern gefährlich.« Sollte heißen: billig. »Und ich habe einen Helm.« Sie stellte ihre Tasse auf die erstbeste Oberfläche, die sie finden konnte. Sie würde sie später holen. Oder nicht, wenn jemand sie klaute. Und wenn schon? Die Tasse hatte sie von einem Doktoranden, der das Studium abgebrochen hatte, um DJ zu werden. Zum zweiten Mal in weniger als einer Woche hatte Dr. Carlsen ihr den Arsch gerettet. Und zum zweiten Mal hielt sie es in seiner Gegenwart keine Minute länger aus.
»Wir sehen uns?«
Seine Brust hob sich, er holte tief Luft. »Okay.«
Olive eilte davon, so schnell sie konnte.
»Soll das ein Witz sein? Das muss ein Witz sein. Bin ich im Fernsehen? Wo sind die versteckten Kameras? Wie sehe ich aus?«
»Nein, es ist kein Witz. Es gibt keine Kameras.« Olive rückte den Gurt ihres Rucksacks zurecht und trat zur Seite, um nicht von einem Studenten auf einem E-Scooter über den Haufen gefahren zu werden. »Aber jetzt, wo du es erwähnst – du siehst toll aus. Um halb acht morgens sollte niemand so gut aussehen.«
Anh errötete nicht, aber fast. »Ich hab gestern Abend eine von diesen Gesichtsmasken gemacht, die du und Malcolm mir zum Geburtstag geschenkt habt. Mit der man aussieht wie ein Panda. Und ich hab eine neue Sonnencreme, die die Haut zum Strahlen bringen soll. Und ich hab Mascara benutzt«, fügte sie im Flüsterton hastig hinzu.
Olive hätte sie fragen können, warum sie sich solche Mühe gab, an einem stinknormalen Dienstag gut auszusehen, doch sie kannte die Antwort bereits: Jeremys und Anhs Labore lagen auf derselben Etage, und obwohl der Fachbereich Biologie groß war, war mit zufälligen Begegnungen durchaus zu rechnen.
Sie verkniff sich ein Lächeln und freute sich, dass Anh endlich anfing, ihr romantisches Interesse an Jeremy zu zeigen. Vor allem war es schön, dass die Demütigung, der Olive sich mit Carlsen ausgesetzt hatte, Früchte trug. Das und Tom Bentons sehr vielversprechende E-Mail zu ihrem Forschungsprojekt ließen sie hoffen, dass es endlich bergauf ging.
»Okay.« Anh kaute auf ihrer Unterlippe, tief in Gedanken versunken. »Du willst mich also nicht veräppeln. Das heißt, es muss eine andere Erklärung geben. Und ich werde sie herausbekommen.«
»Es gibt keine Erklärung, die du herausbekommen könntest. Wir sind nur …«
»O mein Gott, versuchst du etwa, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu kriegen? Sollst du nach Kanada abgeschoben werden, weil wir Malcolms Netflix-Passwort mitbenutzen? Sag einfach, dass wir nicht wussten, dass das ein Verbrechen ist. Nein, Moment, sag am besten überhaupt nichts, bis wir einen Anwalt für dich haben. Und Olive, ich werde dich heiraten. Ich besorge dir eine Green Card, dann musst du nicht …«
»Anh.« Olive drückte die Hand ihrer Freundin, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich schwöre dir, ich werde nicht abgeschoben. Ich hatte nur ein einziges Date mit Carlsen.«
Anh rümpfte die Nase, zog Olive zu einer Bank am Wegrand und zwang sie, sich hinzusetzen. Olive fügte sich, denn wenn ihre Rollen vertauscht gewesen wären, wenn sie Anh dabei erwischt hätte, wie sie Carlsen küsste, hätte sie vermutlich genauso reagiert. Gott, wahrscheinlich hätte sie Anh schon längst in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.
»Hör mal«, sagte Anh, »erinnerst du dich noch an letztes Frühjahr, als ich deine Haare hochgehalten habe, während du den verdorbenen Krabbencocktail ausgekotzt hast, den du bei Dr. Parks Emeritierungsparty gegessen hast?«
»O ja. Das tue ich.« Olive musterte Anh mit nachdenklichem Blick. »Du hast mehr als ich gegessen, musstest dich aber nicht übergeben.«
»Weil ich aus härterem Holz geschnitzt bin. Aber egal. Die Sache ist die: Ich bin für dich da, und das werde ich immer sein, komme, was wolle. Ganz gleich, wie viele Kilos verdorbenen Krabbencocktail du auskotzt, du kannst auf mich zählen. Du und ich, wir sind ein Team. Und Malcolm auch, jedenfalls, wenn er nicht damit beschäftigt ist, sich durch die gesamte Bevölkerung Stanfords zu vögeln. Also, falls Carlsen in Wahrheit eine außerirdische Lebensform ist, die plant, die Weltherrschaft zu übernehmen, was unweigerlich dazu führen wird, dass die Menschheit von Evil Overlords versklavt wird, die aussehen wie Zikaden, und du ihn nur aufhalten kannst, indem du mit ihm ausgehst, dann kannst du es mir erzählen, und ich werde die NASA informieren …«
»Um Himmels willen« – Olive musste lachen –, »es war doch nur ein Date!«
Anh machte ein gequältes Gesicht. »Aber ich verstehe es einfach nicht.«
Weil es keinen Sinn ergibt. »Ich weiß, aber da gibt es nichts zu verstehen. Es ist einfach … Wir hatten bloß ein Date.«