Die Tote von Pier 17, Das dunkle Blut von Hamburg &  Die Toten vom Hafen - Ole Hansen - E-Book
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Die Tote von Pier 17, Das dunkle Blut von Hamburg & Die Toten vom Hafen E-Book

Ole Hansen

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Beschreibung

Diese Fälle haben es in sich DIE TOTE VON PIER 17: Die Irakerin Zureina Azis bittet die Hamburger Privatdetektive Claasen und Hendriksen um Hilfe in einem Mordfall: Die Ex-Freundin ihres Stiefbruders wurde ertränkt am Pier 17 aufgefunden. Nachforschungen führen die Ermittler mitten hinein in die Hamburger Unterwelt – und in die gefährlichen Machenschaften zweier radikaler Gruppen … DAS DUNKLE BLUT VON HAMBURG: Ein Mann tritt auf seinen Balkon – und liegt kurz darauf tot auf der Straße. Ein tragischer Freitod … oder Mord? Martha Bankar, die Exfrau des Toten, entdeckt, dass er einem Skandal in hohen Kreisen auf der Spur war. Musste er deswegen sterben? Martha will die Wahrheit herausfinden – doch plötzlich scheinen sie und ihr kleiner Sohn verfolgt zu werden … DIE TOTEN VOM HAFEN: Die eingeschworene Gemeinschaft der Hamburger Hafenlotsen wird durch eine Reihe mysteriöser Todesfälle erschüttert – hat es ein Serienmörder auf sie abgesehen? Kriminalkommissar Bruno Bär und seine junge Kollegin Sylvia Prüss beginnen zu ermitteln – und stoßen auf eine Mauer aus Schweigen. Doch ihnen bleibt nicht viel Zeit, denn der Täter hat bereits sein nächstes Opfer im Auge … Ein Hamburger Krimi-Sammelband für alle Fans von Klaus-Peter Wolf.

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Seitenzahl: 986

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Über dieses Buch:

DIE TOTE VON PIER 17: Die Irakerin Zureina Azis bittet die Hamburger Privatdetektive Claasen und Hendriksen um Hilfe in einem Mordfall: Die Ex-Freundin ihres Stiefbruders wurde ertränkt am Pier 17 aufgefunden. Nachforschungen führen die Ermittler mitten hinein in die Hamburger Unterwelt – und in die gefährlichen Machenschaften zweier radikaler Gruppen …

DAS DUNKLE BLUT VON HAMBURG: Ein Mann tritt auf seinen Balkon – und liegt kurz darauf tot auf der Straße. Ein tragischer Freitod … oder Mord? Martha Bankar, die Exfrau des Toten, entdeckt, dass er einem Skandal in hohen Kreisen auf der Spur war. Musste er deswegen sterben? Martha will die Wahrheit herausfinden – doch plötzlich scheinen sie und ihr kleiner Sohn verfolgt zu werden …

DIE TOTEN VOM HAFEN: Die eingeschworene Gemeinschaft der Hamburger Hafenlotsen wird durch eine Reihe mysteriöser Todesfälle erschüttert – hat es ein Serienmörder auf sie abgesehen? Kriminalkommissar Bruno Bär und seine junge Kollegin Sylvia Prüss beginnen zu ermitteln – und stoßen auf eine Mauer aus Schweigen. Doch ihnen bleibt nicht viel Zeit, denn der Täter hat bereits sein nächstes Opfer im Auge …

Eine Übersicht über die Autorinnen und Autoren finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Sammelband-Originalausgabe September 2024

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe von DIE TOTE VON PIER 17 2022 dotbooks GmbH, München; Redaktion: Ralf Reiter.

Copyright © der Originalausgabe von DAS DUNKLE BLUT VON HAMBURG 2011 emons Verlag; Copyright © der eBook-Ausgabe 2020 dotbooks GmbH, München; dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur, Hamburg/Berlin.

Die Originalausgabe von DIE TOTEN VOM HAFEN erschien erstmals 2006 unter dem Titel »La Paloma für den Mörder« im Verlag MCE; Copyright © der Originalausgabe 2006 Verlag MCE (Medien Contor Elbe); Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: dotbooks GmbH

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-384-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Ole Hansen, Carl Rath und Anke Cibach

Die Tote von Pier 17, Das dunkle Blut von Hamburg & Die Toten vom Hafen

Drei Kriminalromane in einem eBook

dotbooks.

Ole HansenDie Tote von Pier 17

Claasen war der beste BND-Agent des Landes, Hendriksen führt die erfolgreichste Privatdetektei Hamburgs. Jetzt gehen sie den Verbrechen der Hansestadt gemeinsam auf den Grund. Und ihr erster Auftrag bleibt nicht lange aus: Die junge Irakerin Zureina Azis bittet die beiden, in einem Mordfall zu ermitteln, der bereits abgeschlossen zu sein scheint. Einige Wochen zuvor, wurde die Ex-Freundin ihres Stiefbruders ertränkt am Pier 17 aufgefunden. Alles deutet auf Selbstmord hin, doch schon bald wird den beiden Ermittlern klar, dass sie es hier mit einem Fall zu tun haben, der weitaus komplexer ist als zunächst angenommen. Ihre Nachforschungen führen sie mitten hinein in die Hamburger Unterwelt – und in die gefährlichen Machenschaften zweier radikaler Gruppen, die vor nichts zurückschrecken, um ihre Ziele durchzusetzen …

Kapitel 1

Hamburg – nachts - zwei Uhr. Der Himmel war wolkenverhangen. Die Speicherstadt schlief. Bis auf die Straßenlaternen wurde »Am Sandtorkai« nur von vereinzelten Leuchtreklamen erhellt. Der typische Hamburger Nieselregen dämpfte das Licht. Selbst die härtesten Nachtschwärmer waren um diese Uhrzeit nicht mehr unterwegs.

Ein grauer Kastenwagen rollte langsam am Sandtorkai entlang und hielt vor einem ehemaligen Speicher an. Zwei Männer stiegen aus, zogen sich Skimasken über den Kopf und huschten zum Eingang des Speichers. Die Eingangstür war verschlossen. Der Beifahrer zog ein Lederetui aus der Seitentasche seiner Cargohose, wählte zwei Werkzeuge aus, und zehn Sekunden später öffnete sich die Tür. Die Maskierten drangen ein und stiegen im abgedunkelten Licht ihrer Taschenlampen lautlos die Treppe zum dritten Stock empor. Hier leuchteten sie auf die Namensschilder der Bewohner. Was sie suchten, war schnell gefunden. Wieder öffnete der Beifahrer lautlos die Tür.

Sie schlichen durch die Wohnung, und vor dem Schlafzimmer blieben sie stehen. Einer zog ein Tuch und eine Flasche aus der Hosentasche, dann schlich er zum Bett, ließ ein paar Tropfen aus der Flasche auf das Tuch fallen und hielt es der Schlafenden so vor die Nase, dass es das Gesicht nicht berührte. Es dauerte lange, bis er zufrieden war und es wieder zurückzog. Er beugte sich über die betäubte Frau, sprach sie an und rüttelte an ihrer Schulter. Er rüttelte noch einmal. Etwas schien nicht zu stimmen. Der andere trat hinzu, sah sie sich an und gestikulierte – erst ratlos, dann zunehmend wütend. Auch er schüttelte die Frau an der Schulter, aber sie rührte sich nicht. Der zweite nahm das Fläschchen mit dem Narkotikum zur Hand und betrachtete es eingehend, drehte es hin und her, kam aber offenbar zu keinem Schluss.

Eine Zeitlang standen die Männer mit den Masken still da, dann verständigten sie sich darauf, den Plan zu ändern.

Sie zogen der Frau das Nachthemd aus und streiften ihr die Kleidungsstücke, die auf einem Stuhl lagen, über. Als sie damit fertig waren, breiteten sie eine Decke auf dem Boden aus und wickelten die Frau darin ein. Der erste Mann griff sich einen Rucksack, den er beim Betreten der Wohnung im Flur gesehen hatte, und hängte ihn sich um. Der andere legte sich die eingewickelte Frau über die Schulter und trat ins Treppenhaus. Sein Gefährte verschloss die Wohnungstür und drückte sich dann vorbei, um den Weg durchs Treppenhaus zu sichern. Draußen verstauten sie die Frau auf der Ladefläche und fuhren los. Ihr Ziel, der Sandtorhafen, lag ganz in der Nähe. Am Pier 17 schließlich wickelten sie die Frau aus der Decke …

***

Es war ein wunderschöner Spätsommertag im September. Arne Claasen saß unter einem Sonnenschirm im Außenbereich des Alsterpavillons und genoss eine Tasse Kaffee mit Sahnehäubchen. Außerdem stand ein Teller gedeckter Apfelkuchen vor ihm. Er liebte diesen Ort in der Innenstadt von Hamburg. Die Lage an der Binnenalster war optimal: Man konnte sie komplett übersehen. Auf der rechten Seite der Alster schoss ein Brunnen das Wasser bis auf hundert Meter in die Höhe. Die Hamburger nannten diese Wassersäule liebevoll Fontaine.

Claasen hatte seine Füße unter dem Tisch ausgestreckt und beobachtete einen Ausflugsdampfer, der unter dem rechten Bogen der Lombardsbrücke in die Außenalster fuhr. Hinter der historischen Brücke verband die Kennedy-Brücke die beiden Ufer der Alster, und dahinter begann die Außenalster. An ihr lag das bekannte Hotel Atlantic, dessen Dach eine Weltkugel zierte. Claasen musste mit einem Schmunzeln daran denken, was für gegensätzliche Menschen dort wohnten oder gewohnt hatten – von Udo Lindenberg über Wladimir Putin bis …

Ein Quietschen von Bremsen, ein Krachen und das Splittern von Glas ließen ihn auffahren. Die anderen Gäste sprangen auf und eilten an die Brüstung. Auch Claasen erhob sich. Ein Lieferwagen, aus den Colonnaden kommend, war mit einem Taxi, das auf den Neuen Jungfernstieg fahren wollte, zusammengestoßen. Die Fahrer der beiden Autos stiegen aus und gingen aufeinander los. Heftig mit den Händen gestikulierend, redeten sie aufeinander ein. Auch der Fahrgast des Taxis war ausgestiegen. Claasen hätte ihn nicht weiter beachtet, wenn der Mann nicht versucht hätte, sich auffällig schnell von der Unfallstelle zu entfernen. Er eilte zurück in die Richtung, aus der das Taxi gekommen war, drehte sich einmal um und sah zur Unfallstelle zurück. Jetzt konnte Claasen das Gesicht erkennen – aber eigentlich sah er nur einen schwarzen Bart, der fast das gesamte Gesicht bedeckte. Aber genau dieser Bart war unverwechselbar. Leider war der Mann so weit entfernt, dass Claasen sich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, ob es wirklich derjenige war, den er zu erkennen glaubte. Er suchte nach der rechten Hand des Bärtigen, denn dann hätte er ihn eindeutig identifizieren können. Aber die Hand steckte in der Tasche des Sommermantels.

Claasen setzte sich wieder auf seinen Platz, winkte den Ober heran und bestellte eine weitere Portion Kaffee. Er war irritiert. Seines Wissens saß der Mann, den er in dem Bärtigen vermutete, in Nikosia auf Zypern hinter Gittern. Dass er dort einsaß, dafür war er, Claasen, selbst verantwortlich gewesen. Und doch sah der Mann aus dem Taxi Achmed zum Verwechseln ähnlich. Befand er sich etwa wieder auf freiem Fuß und war nach Hamburg gekommen? Wenn ja, dann konnte dies nur bedeuten, dass er Claassen suchte, um sich an ihm zu rächen. Achmed war sein Todfeind. Der Bärtige hatte es Claasen zu verdanken, dass er seine rechte Hand eingebüßt und mehr als die Hälfte seiner Terrorgruppe verloren hatte.

Aber auch Claasen war bei der Verhinderung eines Anschlags auf die Innenministerkonferenz so schwer verwundet worden, dass er seinen Job als Agent des BND hatte aufgeben müssen. Der Bundesinnenminister hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder Frühpensionierung oder als Kriminaldirektor die Sonderkommission für »Cold Cases« im LKA Hamburg zu leiten. Claasen hatte Letzteres gewählt.

Vor einiger Zeit war er jedoch aus dem Staatsdienst ausgeschieden und als Partner von Dr. Marten Hendriksen in dessen Agentur für vertrauliche Ermittlungen eingestiegen. Er hatte die Entscheidung bisher nicht bereut. Die unzähligen Verordnungen, Vorschriften, Etatkürzungen und Dienstanweisungen, die ihm das Arbeiten als Beamter erschwert hatten, behinderten ihn jetzt nicht mehr. Er fühlte sich wieder frei wie zu den Tagen, als er als Agent im Nahen Osten operiert hatte.

Claasen beobachtete interessiert, wie der Bärtige im Eingang des Hotels Vier Jahreszeiten verschwand, als sei er dort Gast. Wie das Hotel Atlantic war auch das Vier Jahreszeiten eine der renommiertesten Adressen Hamburgs.

Claassen überlegte, ob er dorthin gehen sollte, um diskrete Nachforschungen über den Mann anzustellen. Er winkte den Ober heran und zahlte. Als er gerade aufgestanden war, klingelte sein Handy. Er zog es aus der Hosentasche und sah aufs Display. Marten Hendriksen. Claasen verließ den Alsterpavillon, bevor er zurückrief.

»Marten, was gibt’s?«

»Wo bist du gerade?«

»Beim Alsterpavillon.«

»Kannst du sofort herkommen?«

»Klar, bin in fünfzehn Minuten bei dir.«

Offenbar konnte Hendriksen gerade nicht frei sprechen, weil er einen Klienten im Büro hatte.

Claasen winkte ein Taxi heran, stieg ein und nannte dem Fahrer die Adresse. Das Taxi bog in Richtung Gänsemarkt ein, fuhr danach über den Stephansplatz zum Dammtorbahnhof und von dort den Mittelweg entlang, bis es vor einer Stadtvilla im Jugendstil hielt. Claasen zahlte und stieg aus. Neben der Eingangstür prangte ein Bronzeschild mit der Aufschrift Hamburger Agentur für vertrauliche Ermittlungen. Darunter standen die Besuchszeiten und eine Telefonnummer. Neu eingraviert waren eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer für Notfälle. Diese Zusätze hatte Hendriksen auf Claasens Vorschlag hinzufügen lassen.

Claasen trat in den Windfang, von wo eine gewendelte Treppe in den ersten Stock führte, in dem sein Apartment lag. Er trat durch eine Tür in die Geschäftsräume der Agentur und befand sich in einem großen Raum, der als Arbeitszimmer für Dörte Hauser, Hendriksens Sekretärin und Mädchen für alles, und gleichzeitig als Warteraum für Besucher diente. An der rechten Seite standen ein runder Glastisch und vier Sessel aus durchsichtigem Plastik. Damit die Besucher auf dem Plastik nicht schwitzten, hatte der Designer Löcher in die Sitzfläche bohren lassen. Ob das wirklich etwas brachte, hatte Claasen nie ausprobiert.

Dörte Hauser blickte ihn erfreut an. »Gut, dass du kommst. Marten hat eine Klientin im Büro, mit der er nicht zu Potte kommt. Geh am besten gleich hinein. Soll ich dir einen Kaffee bringen?«

»Nein, vielen Dank, ich komme gerade vom Kaffeetrinken.«

Claasen ging zu Martens Büro und klopfte an. Aus Höflichkeit wartete er auf das »Herein«.

Hendriksen saß hinter seinem gewaltigen eichenen Tisch, der von einem Sperrmüllhaufen stammte. Hendriksen hatte ihn durch Zufall entdeckt und mit Hilfe seiner Rentnergang abtransportiert, bevor die Sperrmüllabfuhr ihn aufladen konnte. Ein Restaurator hatte ihn aufgearbeitet, und nun nutzte der Detektiv ihn als Schreibtisch. Hendriksen, der nicht sehr groß war, verschwand fast dahinter.

Vor dem Schreibtisch saß eine Frau Anfang dreißig, die der Kleidung und der Hautfarbe nach aus dem Nahen Osten zu kommen schien. Die langen schwarzen Haare waren mit einem seidenen Schal bedeckt, den sie einmal um den Hals geschlungen hatte und der locker auf ihre grüne Jacke fiel. Unter der Jacke trug sie eine schwarze Hose. Die Kleidung sah teuer aus. Schmuck trug sie keinen.

Als Claasen das Büro betrat, redete die Frau in gebrochenem Deutsch auf Hendriksen ein und unterstrich ihre Worte mit Gesten.

Hendriksen atmete auf, als er Claasen sah, und bedeutete der Klientin, innezuhalten.

»Endlich, Arne, du bist meine Rettung in der Not. Ich habe keine rechte Ahnung, was die Dame von uns will. Soviel ich ihren Worten entnommen habe, möchte sie uns beauftragen, irgendetwas zu untersuchen.« Hendriksen erhob sich. »Darf ich Ihnen meinen Partner, Herrn Claasen, vorstellen?«, sagte er und deutete auf den Neuankömmling. »Arne, das ist Frau Azis, wenn ich es richtig verstanden habe.«

Claasen grüßte auf Arabisch und lächelte sie vertrauensvoll an.

Die Frau sah ihn einen Augenblick lang verblüfft an, dann hellte sich ihre Miene auf und sie erwiderte seinen Gruß in der gleichen Sprache.

Hendriksen lächelte. »Ich sehe, ihr versteht euch. Übernimm du die Gesprächsführung.«

Claasen setzte sich auf den zweiten Stuhl vor Hendriksens Schreibtisch, dann drehte er sich so, dass er Frau Azis in die Augen schauen konnte.

»Bitte berichten Sie noch einmal, was Sie von uns möchten. Mein Freund Dr. Hendriksen hat leider nur wenig von dem verstanden, was Sie gesagt haben.«

»Es tut mir leid, mein Deutsch ist sehr schlecht«, sprach sie auf Arabisch. »Ich komme aus dem Irak und bin erst seit fünf Wochen in Deutschland.«

»Fünf Wochen, Donnerwetter, dafür schlagen Sie sich aber schon ganz gut«, sagte Claasen aufmunternd. Er wusste, dass sich Frauen aus dem Nahen Osten Männern gegenüber meist zurückhaltend verhielten. Erst wenn sie Vertrauen gefasst hatten, gaben sie ihre Reserviertheit auf.

»Danke, Herr Claasen, Sie schmeicheln mir. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich möchte, dass Sie einen Todesfall aufklären.«

»Meinen Sie damit einen Mord, oder was verstehen Sie unter Todesfall?«

»Ich weiß es selbst nicht. Es kann sich auch um Selbstmord oder um einen Unglücksfall handeln. Haben Sie von der Toten am Pier 17 gehört? Wie mir mein Bruder sagte, stand es in den Zeitungen.«

»Ja, davon habe ich gelesen. Nach dem Bericht geht die Polizei von Selbstmord aus, da keine Verletzungen an der Frau festgestellt und auch keine Kampfspuren am Pier gefunden wurden.«

Frau Azis wollte antworten, doch Claasen brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Einen Augenblick, Frau Azis, ich möchte Herrn Hendriksen zunächst mitteilen, was Sie mir gerade berichtet haben.«

Als Hendriksen dazu keine Fragen hatte, wandte er sich wieder an Frau Azis. »Okay, sprechen Sie weiter.«

»Herr Claasen, es ist mir egal, ob es Selbstmord, Unfall oder etwa Mord war. Ich möchte nur wissen, was genau es war. Ich brauche Gewissheit.«

»Darf ich fragen, warum Ihnen so viel daran gelegen ist, die Wahrheit über den Tod dieser Frau zu erfahren? Waren Sie mit ihr verwandt oder befreundet?«

»Nein, ich kenne Sie gar nicht. Es geht um meinen Bruder. Sie war seine Geliebte, und sie wollten heiraten. Nun ist er am Boden zerstört und völlig verzweifelt. Ich komme nicht mehr an ihn heran, obwohl wir immer ein sehr vertrautes Verhältnis hatten. Er ist so niedergeschlagen, dass ich befürchte, er könnte sich etwas antun.«

»Ist Ihr Bruder ein gläubiger Muslim?«

»Warum fragen Sie?«

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, glauben Sie, er könnte Selbstmord begehen. Ist Suizid im Islam nicht verboten? Wenn ich richtig liege, dann spricht Sure vier des Korans davon, dass Selbsttötung eine große Sünde ist und mit dem Höllenfeuer bestraft wird.«

Frau Azis sah Claasen verwundert an. Zum ersten Mal lächelte sie, als sie antwortete. »Sie erstaunen mich. Sie kennen sich in unserem Glauben offenbar gut aus. Darf ich fragen, ob Sie ein Muslim sind?«

»Tut mir leid, ich bin weder Christ noch Muslim, aber ich habe lange im Nahen Osten gelebt und bin auch dort zur Schule gegangen.«

»Daher Ihre Kenntnisse. Mein Bruder lebte die letzte Zeit mit Maya Mazin zusammen. Was die Sache für ihn so schlimm macht, ist, dass Maya aus einer streng islamischen Familie stammt. Mein Bruder fürchtet, dass man sich an ihm rächen wird, weil er durch sein außereheliches Zusammenleben Schande über sie und ihre Familie gebracht hat.«

»Wenn Sie auf Personenschutz anspielen, dafür sind wir personell nicht ausgelegt.«

»Nein, das ist es nicht. Ich habe es nur erwähnt, damit Sie wissen, in welchem Dilemma mein Bruder steckt.«

»Ich verstehe. Haben Sie schon mit der Polizei gesprochen?«

»Ja, das habe ich. Das Gespräch war enttäuschend. Ich hatte das Gefühl, sie haben sich nicht ernsthaft um Aufklärung bemüht. Sie scheinen den Fall zu den Akten gelegt zu haben.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber ich denke, Ihr Deutsch ist noch nicht gut genug, um alles, was in so einem Gespräch gesagt wird, richtig einzuordnen.«

»Deswegen hatte einen Dolmetscher dabei.«

Claasen nickte. »Eine sehr vernünftige Maßnahme. Ich weiß nun, was Sie von uns wollen, und werde alles Weitere mit Dr. Hendriksen besprechen. Sie müssten sich etwas gedulden, denn es wird eine Weile dauern, bevor wir zu einem Entschluss gekommen sind. Möchten Sie im Empfangsraum warten oder lieber in einer Stunde wiederkommen?«

»Ich werde warten.«

Claasen und Frau Azis standen gleichzeitig auf. Er geleitete sie zur Sitzgruppe im Wartebereich.

»Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Kaffee, Tee, wir haben auch Pfefferminztee, aufgebrüht aus frischen Pfefferminzblättern.«

»Danke, Sie sind sehr freundlich. Ich würde gerne einen Kaffee nehmen.«

Claasen bat Dörte, Frau Azis einen Kaffee zu bringen. Dann ging er zu Hendriksen zurück.

»Ich kam mir richtig blöd vor, dazusitzen und kein Wort zu verstehen. Was wollte sie?«, empfing ihn Hendriksen.

»Sie möchte uns beauftragen, herauszufinden, wie die Tote von Pier 17 gestorben ist.«

Er informierte Hendriksen über das, was er mit Frau Azis besprochen hatte. Es dauerte eine Viertelstunde, dann waren sie sich einig, den Auftrag anzunehmen.

Claasen ging in den Wartebereich zurück und erläuterte Frau Azis ihren Entschluss. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass ihr Honorar ziemlich hoch sei und sie nicht garantieren könnten, die Ermittlungen erfolgreich abzuschließen.

»Sind Sie unter diesen Umständen noch bereit, uns den Auftrag zu erteilen?«

»Selbstverständlich. Ich gehe davon aus, Sie möchten einen Vorschuss?«

»Ja, das ist so üblich.«

»Würden fünftausend Euro ausreichen?«

»Das ist mehr als genug.«

Sie öffnete ihre Handtasche, zog wortlos ein Scheckheft heraus und stellte einen Scheck über die genannte Summe aus.

»Den können Sie bei jeder größeren Bank einlösen.«

»Vielen Dank, Sie können sich darauf verlassen, dass wir Ihr Geld nur sachbezogen nutzen werden.«

»Das weiß ich. Bevor ich zu Ihnen gekommen bin, habe ich mich über die Agentur erkundigt. Ich weiß auch, dass Sie eine Aufklärungsrate von hundert Prozent haben.«

»Danke, ich fasse Ihre Worte als Kompliment auf. Frau Hauser wird gleich Ihre persönlichen Daten aufnehmen. Den Vertrag schicken wir Ihnen zu. Ich füge eine arabische Übersetzung bei. Rechtsgrundlage ist jedoch die deutsche Version.«

Claasen stand auf, und auch Frau Azis erhob sich. Sie reichte ihm die Hand, ein deutliches Zeichen, dass sie zu ihm und damit auch zur Agentur Vertrauen gefasst hatte.

Nachdem Dörte die persönliche Daten aufgenommen hatte, geleitete Claasen Frau Azis nach draußen zu dem Taxi, das er inzwischen bestellt hatte.

»Da wir Ihren Auftrag übernommen haben, wird es notwendig sein, uns öfter zu sehen. Wir werden gezielte Informationen benötigen und sicher auch Fragen haben. Können wir Sie unter der angegebenen Adresse erreichen?«

Frau Azis lächelte, als sie antwortete. »Wenn Sie sagen wir, dann meinen Sie sicher sich selbst.«

»So wird es wohl sein. Dr. Hendriksen spricht leider kein Arabisch.«

Frau Azis öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr eine Visitenkarte, die sie Claasen reichte.

»Am einfachsten erreichen Sie mich unter der dort angegebenen Telefonnummer. Und bitte nennen Sie mich Zureina.«

Claasen entnahm aus einem Lederetui seine eigene Geschäftskarte.

»Sehr gut, tauschen wir die Karten. Die Telefonnummer der Agentur und meine Handynummer stehen auf der Rückseite. Wenn Sie Hilfe brauchen, egal ob bei Behörden oder privat, rufen Sie mich an. Mein Vorname ist Arne.«

»Vielen Dank für Ihr Angebot. Mir ist in Ihrem Land vieles fremd, umso mehr freue ich mich über einen einheimischen Ratgeber. Auf Wiedersehen, Arne.«

Claasen hielt ihr die Tür des Taxis auf, wartete, bis die Irakerin mit den dunklen, mandelförmigen Augen eingestiegen war, und schloss dann sanft die Tür. Er sah dem Taxi nach, bis es außer Sichtweite war.

Kapitel 2

Die morgenländische Schönheit hatte einigen Eindruck bei Claasen hinterlassen. Er fühlte sich in seine Zeit im Nahen Osten zurückversetzt; eine Sehnsucht nach Wärme überkam ihn. Er verscheuchte sie, bevor sie sich in seinem Kopf festsetzen konnte, denn es gab einiges zu tun. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits zu spät war, um die deutsche Botschaft in Nikosia anzurufen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als bis morgen zu warten, um Xaver Steinbichler, den Sicherheitschef der Botschaft, anzurufen. Von ihm erhoffte er sich Auskunft über Achmeds Verbleib.

Claasen war hin und her gerissen. Auf der einen Seite war er sich beinahe sicher, dass der Mann aus dem Taxi der Terrorist war, den er der Polizei in Zypern übergeben hatte, auf der anderen Seite war es aber genauso gut möglich, dass ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Da Achmed schon einmal versucht hatte, ihn zu ermorden, war es überlebenswichtig zu wissen, ob der Terrorist sich noch im Gefängnis auf Zypern befand oder ob er auf freiem Fuß war.

»Du siehst nachdenklich aus, mein Freund«, empfing ihn Hendriksen, als Claasen zurück ins Büro kam. »Machst du dir Sorgen, dass wir den Fall nicht lösen könnten?«

Claasen schüttelte den Kopf. »Mir bereitet etwas anderes Kopfzerbrechen. Ich war heute Nachmittag im Alsterpavillon und habe von dort einen Autounfall beobachtet. Ein Taxi stieß mit einem Lieferwagen zusammen – oder war es umgekehrt? Ist auch egal. Jedenfalls stieg ein bärtiger Mann aus dem Taxi und versuchte unauffällig zwischen den Schaulustigen zu verschwinden. Mir kamen die Körperhaltung und der pechschwarze Bart bekannt vor. Der Mann ging in Richtung Vier Jahreszeiten. Ich glaube, meinen Todfeind Achmed gesehen zu haben.«

»Das ist unmöglich. Der sitzt doch auf Zypern hinter Gittern.«

»Das dachte ich auch. Bis heute Nachmittag. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Dann müssen wir es herausfinden«, sagte Hendriksen bestimmt.

»Genauso sehe ich es auch, nur leider kann ich vor morgen früh niemanden in der deutschen Botschaft erreichen.«

Hendriksen dachte eine Weile nach, dann sagte er mit einem zufriedenen Lächeln: »Vergiss die Botschaft. Die brauchen wir nicht. Gibt es eine überregionale Zeitung auf Zypern?«

»Natürlich, das bekannteste Blatt dürfte die Cyprien Daily News sein.«

»Klingt Englisch.«

»Ist Englisch.«

»Dann haben wir das Problem gleich gelöst«, sagte Hendriksen zuversichtlich. Mit lauter Stimme rief er zum Nebenzimmer hinüber: »Dörte, auf Zypern gibt es eine Tageszeitung namens Cyprien Daily News. Such mir bitte die Telefonnummer heraus.«

»Okay, Chef.«

Es dauerte nur ein paar Minuten, dann betrat Dörte mit einem Zettel in der Hand das Büro.

»Hier ist die Telefonnummer, Chef Haben wir neuerdings etwas mit Zypern zu tun?«

»Nein, es ist nichts Geschäftliches.«

Dörte ging zu ihrem Schreibtisch zurück.

Claasen langte nach dem Zettel, doch Hendriksen legte seine Hand darauf.

»Das mache ich.«

Er wählte die Telefonnummer. Es dauerte einige Augenblicke, bevor das Gespräch angenommen wurde.

»Hallo, einen schönen guten Abend«, sagte Hendriksen in fast akzentfreiem Englisch. »Ich rufe aus Hamburg, Deutschland, an. Haben Sie einen Nachtredakteur?« Hendriksen stellte das Telefon auf laut.

»Haben wir«, hörte Claasen eine Frauenstimme.

»Würden Sie mich bitte mit ihm verbinden?«

»Worum handelt es sich?«

»Um den Ausbruch eines gefährlichen Terroristen.«

Als Claasen ihn fragend ansah, hielt Hendriksen die Hand über die Sprechmuschel und sagte leise: »Besser, wir behaupten einfach, dass er ausgebrochen ist, das zeigt, dass wir von dieser Tatsache wissen, und erspart uns langwierige Erklärungen. Wenn ich falsch liege, sagen sie es uns schon.«

»Schlitzohr«, antwortete Claasen mit einem Lächeln.

»Sprechen Sie von Achmed?«, fragte die Frau.

»Genau von dem.«

»War kein Ruhmesblatt für unsere Polizei.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Seine Befreier haben ihn mit dem Laster, der Abfälle aus dem Gefängnis bringt, herausgeschmuggelt.«

»Werden solche Fahrzeuge denn nicht überprüft?«

»Wie man uns sagte, geschieht das nur stichprobenartig, und das immer an denselben Tagen.«

»Krass.«

»Sie sagen es. Es ist schon beschämend. Nicht nur der Ausbruch, sondern auch die Begründung des Gefängnisdirektors. Er meinte, mehr könne das geringe Personal, von dem an besagtem Tag auch noch ein Viertel krank war, nicht leisten.«

Hendriksen sah Claasen fragend an. Der gab ihm ein Zeichen, dass er genug gehört hatte.

Hendriksen bedankte sich und legte den Hörer auf.

»Das ja ein Ding«, sagte Hendriksen laut lachend.

Claasen fiel nicht in den Heiterkeitsausbruch ein.

»Ich könnte mir vorstellen, dass die Gefängnisleitung mitgeholfen hat. Die Regierung von Zypern dürfte froh sein, diese Laus in ihrem Pelz los zu sein. Ich möchte wetten, sie werden sich nicht überschlagen haben, Achmed wieder einzufangen. Niemand im Nahen Osten legt sich gerne mit Terrororganisationen an. Ich muss jetzt davon ausgehen, dass ich mich nicht getäuscht habe. Der Mann, den ich gesehen habe, ist Achmed.«

Die beiden Männer schwiegen.

»Schöne Scheiße«, sagte Hendriksen schließlich. »Der Auftrag, den wir angenommen haben, erfordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.«

»Wem sagst du das?«

Wieder schwiegen die beiden, und wieder war es Hendriksen, der als Erster sprach.

»Was gedenkst du zu tun?«

»Keine Ahnung. Ich muss mir die Sache erst mal gründlich überlegen.«

»Wenn Achmed sich an dir rächen will, behindert das unsere ganze andere Arbeit. Zumal er weiß, wo er dich finden kann, schließlich hat er dir schon einmal seine Mörderbande auf den Hals gehetzt.«

Claasen nickte zustimmend. »Natürlich hast du recht. Deshalb müssen wir als erstes prüfen, ob ich mich nicht doch geirrt habe. Ich weiß nur noch nicht, wie wir das anstellen können.«

»Ich hätte eine Idee«, sagte Hendriksen. »Ich werde zum Vier Jahreszeiten gehen und mich im Foyer aufhalten und so tun, als würde ich auf jemanden warten. Wenn ich diesen Bärtigen sehe, werde ich ihn unauffällig fotografieren. Dann können wir ihn mit den Bildern, die wir hier von Achmed haben, vergleichen.«

»Es bleibt uns nichts anderes übrig. Trotzdem, überwachen sollten wir ihn schon.«

»Leider reicht unsere Rentnergang für eine Beobachtung rund um die Uhr nicht aus. Was hältst du davon, wenn wir eine Detektei, die auf solche Aufgaben spezialisiert ist, hinzuziehen?«

»Eine Möglichkeit. Bevor wir eine Entscheidung treffen, sollten wir erst eine Nacht darüber schlafen.«

»So machen wir es«, stimmte Hendriksen zu.

Claasen verabschiedete sich und ging zu seinem Apartment hoch.

Er bereitete sich ein Abendessen aus gekochter Penne, die er noch im Kühlschrank hatte, sowie Eiern und Speck. Die kalte Penne schüttete er in eine Bratpfanne und briet sie mit Rapsöl an. Darüber goss er drei verquirlte Eier, gab Speckwürfel und etwas Salz dazu, vermischte alles, und fertig war das Abendessen.

Er verzehrte die einfache Mahlzeit gleich aus der Pfanne. Ein helles Flensburger sorgte für die nötige Untermalung.

Nachdem er die Küche aufgeräumt hatte, ging er mit zwei weiteren Flaschen Bier ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch, öffnete eine Flasche und griff nach einer Fachzeitschrift, die sich mit Nahkampfausbildung befasste. Richtig bei der Sache war er jedoch nicht. Seine Gedanken wanderten immer wieder zu Achmed zurück. War der Terrorist tatsächlich seinetwegen nach Hamburg gekommen?

Je länger er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien ihm dieser Gedanke. Einen Anschlag auf ihn hätte er auch durch seine vielfältigen Hamburger Kontakte veranlassen können. Weswegen war er dann hier? Wie auch immer man das Problem betrachtete, es führte zu keinem Ergebnis. Über eines war er sich jedoch im Klaren: Was auch immer Achmed vorhaben mochte, er musste aus dem Verkehr gezogen werden.

Claasen versuchte Hendriksen telefonisch zu erreichen, doch der ging nicht ans Handy. Es sandte ihm eine SMS, in der er ihn über seine Überlegungen informierte. Danach wählte er die Privatnummer von Kriminaldirektor Hans Friedel, seinem Freund. Friedel war Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte oder volkstümlicher ausgedrückt: der Mordkommission. Sie kannten sich schon viele Jahre, seit Friedel sein Ausbilder auf der Polizeiakademie gewesen war. Ihre Freundschaft hatte nur während der Zeit, in der Claasen als Agent des BND im Außeneinsatz gearbeitet hatte, auf Eis gelegen.

»Na, du Fahnenflüchtiger?«, begrüßte ihn Friedel. »Hast du die spartanischen Einkünfte eines Staatsdieners gegen die vollen Geldtöpfe eines Privatunternehmers getauscht?«

»Könnte fast so aussehen. Der Hauptgrund war jedoch, dass die Sonderkommission Cold Cases in deine Abteilung eingegliedert werden sollte, und mich wollte man zum Sicherheitsberater des Innensenators machen. Ich und ein Schreibtischhengst – unvorstellbar. Da habe ich lieber die Konsequenzen gezogen und bin gegangen. Du hättest die Freudenfeuer sehen sollen, als ich meine Frühpensionierung einreichte. Den hohen Herren waren meine freizügigen Auslegungen der Dienstvorschriften schon lange ein Dorn im Auge.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber du rufst doch nicht nur an, um mir deinen Leidensweg beim LKA zu schildern.«

»Wie immer hast du recht. Kannst du dich noch an den Namen Achmed erinnern?«

»Wenn du den Terroristen meinst, dann ja. Soviel ich weiß, sitzt er auf Zypern hinter Schloss und Riegel. Weshalb fragst du?«

»Weil ich mir schon dachte, dass ihr beim LKA mal wieder nicht auf dem Laufenden seid. Achmed sitzt nicht mehr im Hochsicherheitstrakt in Nikosia. Er ist mit Unterstützung seiner Anhänger ausgebrochen. Was das Ganze aber brisant macht, ist, dass ich ihn heute Nachmittag gesehen habe, wie er im Hotel Vier Jahreszeiten verschwand.«

Einen Augenblick blieb es still, dann fragte Friedel: »Wiederhole das noch einmal.«

»Du hast richtig gehört. Er ist sicher nicht hier, um einer Friedensbewegung beizutreten.«

»Verdammte Scheiße, du kannst einem schon den Abend verderben. Ich nehme an, du erwartest jetzt von mir, dass ich aktiv werde.«

»Schöner hätte ich es nicht formulieren können.«

»Bist du sicher, dass du ihn gesehen hast? Für mich sehen die meisten Männer aus dem Nahen Osten gleich aus. Vor allem, wenn sie sich mit ihren Bärten tarnen.«

»Sicher, ja – zu fünfundneunzig Prozent.« Claasen berichtete, was er am Nachmittag gesehen hatte.

»Klingt überzeugend. Dann will ich mal die Maschinerie anlaufen lassen, damit uns der Vogel nicht wegfliegt, bevor wir unseren Einsatz starten.«

»Tu das, ich werde mich inzwischen auf die Couch legen und darauf warten, bis du mir sagst, dass ihr den Vogel im Käfig habt. Viel Glück, und denkt daran: Achmed ist höllisch gefährlich. Er wird nicht eine Sekunde zögern, sich den Fluchtweg freizuschießen.«

»Ich weiß. Aber in eines der vornehmsten Hamburger Hotels können wir nicht einfach nach SEK-Manier reinmarschieren. Verdammt, Arne, hättest du nicht jemand anderes anrufen können?«

»Ich verkehre nur mit den Besten.«

»Schluss jetzt, ich muss den Leiter des LKA, den Polizeipräsidenten und den Senator für Inneres informieren und werde mir anhören müssen, worauf ich alles Rücksicht nehmen muss.«

»Sag ihnen, die Information käme von mir.«

»Das wird sich kaum vermeiden lassen. Ich höre schon die Tobsuchtsanfälle, wenn ich deinen Namen nenne.«

»Viel Glück, Hans. Ich drück dir die Daumen.«

Ironie und Sarkasmus waren aus Claasens Stimme verschwunden.

Die Lage entwickelte sich, wie Friedel angenommen hatte. Der Leiter des LKA und der Polizeipräsident reagierten auf die Information, dass die Meldung von Claasen stammte, mit mühsam zurückgehaltenem Ärger. Als Profis ließen sie sich jedoch nicht in ihrer Verantwortung beeinflussen. Anders war es beim Senator für Inneres. Er sah nicht nur schlechte Presse, sondern auch einen politischen Skandal voraus, sollte die Polizei mit Einsatzkräften das renommierte Hotel Vier Jahreszeiten stürmen. Beides würde seinen Ruf als Politiker beschädigen und seine Wiederwahl in Frage stellen. Also wies er die Polizei an, mit größtmöglicher Rücksicht auf die Gäste vorzugehen. Außerdem sollte der Einsatz mit einem Minimum an Beamten und ausschließlich in Zivil erfolgen. Alle Vorbehalte des Polizeipräsidenten und des Leiters des LKA, dass diese Anordnung die Sicherheit der Polizisten gefährde, wischte der Politiker vom Tisch. Die erregte Debatte endete damit, dass der Polizeipräsident die Anweisung schriftlich haben wollte. Diese Forderung fasste der Innensenator wie ein Misstrauensvotum auf. Der Polizeipräsident tat nichts, um die Situation zu entschärfen, sondern bestand auf seiner Forderung. Der Innensenator gab zähneknirschend nach. Danach waren beide Beamte überzeugt, dass das Arbeitsklima zwischen Politik und Polizeiführung in naher Zukunft eisig sein würde.

Mit der Durchführung des Einsatzes wurde Friedel betraut. Er hatte es vorausgesehen und ein Team aus seinen Kriminalbeamten und Kräften des SEK gebildet. Der Leiter des SEK wurde ihm beratend zur Seite gestellt.

Friedel sperrte als erstes den Bereich um das Hotel weiträumig ab. Das war bei Nacht und ohne Verkehr möglich. Eine zweite Gruppe hielt mit jeweils zwei Beamten alle Ausgänge des Hotels besetzt. Als Friedel die Meldung erhielt, dass alle Positionen einsatzbereit waren, ging er zum Hoteleingang. Die Drehtür war verschlossen, und er drückte auf die Klingel neben dem Eingang. Erst nach dem dritten Klingelzeichen erschien ein verschlafen aussehender Mann. Friedel hielt seinen Polizeiausweis so, dass der Portier den Ausweis sehen konnte. Der Angestellte musterte das Dokument genau, schließlich drückte er auf einen Knopf neben der Tür und entriegelte sie. Er öffnete die Tür, blockierte jedoch mit seiner Person den Zutritt.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Das erkläre ich Ihnen drinnen. Hier besteht auch in der Nacht die Gefahr, dass uns jemand hören kann. Die Männer hinter mir sind ebenfalls Polizeibeamte und werden sich ausweisen.«

Der Portier gab den Eingang zögernd frei. Die acht Polizisten in Zivil zeigten, während sie in das Foyer traten, ihre Ausweise.

Friedel trat an den Portier heran. »In Ihrem Hotel befindet sich ein international gesuchter Terrorist.« Er zog ein Foto aus der Tasche und reichte es dem Portier. »Erkennen Sie diesen Mann?«

»Ja, den habe ich schon einmal gesehen.«

»Unter welchen Namen hat er eingecheckt?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin nur der Nachtportier. Ich müsste im Computer nachsehen.«

»Tun Sie das.«

Der Portier ging hinter die Anmeldung, fuhr einen Computer hoch und ging mit der Maus eine Liste durch.

Nach einer Weile leuchteten seine Augen auf.

»Ich glaube, ich habe ihn. Vor drei Tagen hat ein Ali ben Yussuf eingecheckt. Er hat in Zimmer 433 gewohnt. Nach den Unterlagen hat er heute Nachmittag ausgescheckt.«

»Wie hat dieser Yussuf ausgesehen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Dann rufen Sie jemanden an, der ihn gesehen hat«, verlangte Friedel.

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt.«

Der Nachtportier griff zögernd zum Telefon und wählte eine Hamburger Nummer.

Sobald der Portier mit seinem Teilnehmer verbunden war, sagte Friedel mit Nachdruck: »Geben Sie mir den Hörer … Hier spricht Kriminaldirektor Friedel vom LKA. Heute Nachmittag hat bei Ihnen ein Gast mit Namen Ali ben Yussuf ausgecheckt. Können Sie sich an den Mann erinnern? … Gut, wie sah er aus?« Friedel schwieg, während der Mann am anderen Ende der Leitung sprach. »Sie sagten, er war in Begleitung eines anderen Mannes, der ebenfalls ausgecheckt hat? … Können Sie ihn beschreiben? … Danke für die Auskunft. Entschuldigen Sie die Störung.«

Friedel wandte sich an den Nachtportier. »Sie haben Glück, wir werden Ihre Gäste heute nicht stören.«

Er drehte sich um und verließ das Hotel. Draußen schaltete er sein Funkgerät sein.

»Hier Alpha eins an alle. Der Einsatz wird abgebrochen. Die Zielperson befindet sich nicht mehr im Hotel. Melden Sie sich bei den Einsatzfahrzeugen zurück.«

Als Nächstes verständigte er den Leiter des LKA und den Polizeipräsidenten über den fehlgeschlagenem Einsatz. Als letztes holte er sein privates Handy aus der Hosentasche und berichtete Claasen von dem Misserfolg.

Kapitel 3

Claasen fluchte laut und mit Worten, die nicht für zarte Ohren bestimmt waren. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er die Konsequenzen, die sich aus dem Fehlschlag der Polizei ergaben, realistisch beurteilen konnte. Am meisten beschäftigte ihn, wo sich Achmed jetzt aufhielt und in welcher Beziehung er zu diesem Yussuf stand, mit dem er im Hotel gewesen war. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder er hatte ausgecheckt, weil es ohnehin geplant war, oder er hatte ihn seinerseits im Alsterpavillon erkannt. Wenn letzteres der Fall war, dann musste Claasen mit einem Anschlag rechnen.

Nach einigen Überlegungen kam er zu dem Schluss, dass er sich eine andere Wohnung suchen musste, um aus Achmeds Schusslinie zu kommen.

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Er stieg unter die Dusche und ließ lauwarmes Wasser über seinen Körper rinnen. Dann drehte er den Hebel der Mischbatterie auf kalt.

Nachdem er sich abgetrocknet hatte, zog er einen Jogginganzug an, darüber eine Motorradmontur, und fuhr mit seiner Kawasaki nach Teufelsbrück an die Elbe. Von hier aus startete er gewöhnlich seinen morgendlichen Lauf, der ihn entlang des Elbwanderwegs bis zum Falkensteiner Ufer führte.

Gegen sieben Uhr war er wieder im Apartment. Nach der üblichen Morgentoilette verließ er die Wohnung, um in seinem Lieblingscafé zu frühstücken.

Die Bedienung hatte gerade seinen Tisch abgeräumt und brachte ihm einen zweiten Pott Kaffee und die Morgenzeitung, als sein Handy klingelte. Claasen zog es aus der Hosentasche und sah auf dem Display eine unbekannte Nummer. Verwundert darüber, wer ihn zu dieser frühen Stunde anrief, meldete er sich mit »Hallo«.

»Spreche ich mit Herrn Claasen?«, fragte eine Frau mit starkem Akzent.

Claasen erkannte die Stimme und bestätigte auf Arabisch.

»Arne, kann ich dich sofort sprechen?« Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Sicher, Zureina, worum geht es? Du klingst aufgeregt. Ist etwas passiert?«

»Darüber will ich am Telefon nicht sprechen, und in die Agentur möchte ich auch nicht kommen.«

»Wo bist du jetzt?«

»Ich sitze in einem Taxi am Hauptbahnhof.«

»Gib mir mal den Taxifahrer.«

Es dauerte einige Augenblicke, bevor sich der Fahrer meldete. Auch er sprach mit einem Akzent.

Claasen gab ihm die Adresse des Cafés durch.

Zehn Minuten später hielt der Wagen vor dem Café. Claasen erwartete Zureina auf dem Bürgersteig. Er winkte ab, als sie nach ihrer Geldbörse suchte.

»Lass gut sein, ich übernehme das.« Er gab dem Taxifahrer einen Geldschein. »Stimmt so.«

Der Taxifahrer sah überrascht auf das großzügige Trinkgeld.

Claasen hielt Zureina die Tür des Taxis auf und half ihr beim Aussteigen. Das Lächeln, mit dem sie sich bei ihm bedankte, löste ein Kribbeln auf seinem Rücken aus.

Claasen führte sie ins Café und an seinen Tisch. »Hast du schon gefrühstückt?«

»Nein, ich habe keinen Appetit. Ich bin viel zu aufgeregt.«

»Dann trink wenigstens einen Kaffee. Nichts hilft besser gegen einen nervösen Magen als ein warmes Getränk.«

»Dann nehme ich lieber eine Schokolade.«

»Noch besser.«

Claasen bestellte einen heißen Kakao und wartete, bis er gebracht wurde und die Kellnerin sich wieder zurückgezogen hatte.

»Nun erzähl, was hat dich so aufgebracht?«

Zureina zögerte. Offenbar wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte.

»Überleg nicht lange, erzähl einfach, was dir auf der Seele liegt. Es ist egal, wo du anfängst, wir bringen es schon in die richtige Reihenfolge.«

»Es hilft mir sehr, dass du unsere Kultur kennst. Ich bin nicht nur hier, um meinem Bruder zu helfen, sondern ich bin von zu Hause geflohen. Du weißt, dass es unter den streng religiösen Muslimen auch heute noch üblich ist, dass die Eltern den Ehepartner für die Töchter aussuchen und Frauen oft schon als Kind mit ihren späteren Partnern verlobt werden. Auch wenn Frauen älter sind, so wie ich, haben sie kein Mitspracherecht. Was die Ehe angeht, sind wir Handelsware.«

»So wie du aussiehst, müsstest du doch längst verheiratet sein.«

Zureina lächelte. »Das war ich auch. Doch da ich keine Kinder bekommen konnte, beachtete man mich nicht. Als unfruchtbare Frau war ich nichts wert. Mein Mann schloss sich zusammen mit seinem Bruder einer Freedom-Fighter-Organisation an und wurde getötet. Nach dem Brauch der muslimischen Sekte, der mein verstorbener Mann angehörte, war es nun die Pflicht seines Bruders, mich zu heiraten.«

»Ich kann mir vorstellen, wie es dir ergangen ist. Bist du deswegen davongelaufen?«

Zureina sah Claasen ernst an. »Ich glaube nicht, dass ein westlicher Mann sich vorstellen kann, wie es einer freiheitsliebenden Frau in einer strenggläubigen muslimischen Gesellschaft ergeht. Mein Schwager ließ sich lange Zeit nicht sehen, und es hieß, er sei verschollen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erlöst ich war, als ich diese Nachricht hörte.«

»Aber er kam zurück.«

»Ja, und er forderte sein Recht ein – mich. Ich bekam einen Schock, als ich ihn verdreckt vor mir stehen sah. Wenn unser Haus höher gewesen wäre, hätte ich mich in diesem Augenblick vom Dach gestürzt.«

»Wie hast du fliehen können? Ich könnte mir vorstellen, dass man dich überwachte. Dein Freiheitsdrang war ihnen doch bestimmt bekannt.«

»Natürlich hat man es versucht. Doch ich bin Ärztin und arbeitete in einem Krankenhaus. Es bereitete mir keine Schwierigkeiten, meine Bewacherinnen zu betäuben und aus dem Haus zu schleichen. Zum Glück besitze ich ausreichend Geld. Es ist zu großen Teilen auf der Bank in Bagdad deponiert. Meine Familie und die meines Mannes wissen davon nichts. Außerdem kämen sie an das Geld nicht heran, da es ein Nummernkonto ist.«

»Sehr vorausschauend. Hattest du keine Schwierigkeiten, das Land zu verlassen? Auf den Flughäfen würden deine Leute dich doch als erstes suchen.«

»Ich bin zuerst nicht geflogen, sondern mit dem Auto gefahren. Ich habe ein eigenes Auto, was meinem zukünftigen Mann ein Dorn im Auge ist. Ich bin von Bagdad nach Basra gefahren. Dort wohnt eine Freundin von mir. Bei ihr blieb ich ein paar Tage. Von dort bin ich nach Kuweit geflogen und weiter nach Berlin und anschließend nach Hamburg.«

»Du hättest von Basra aus doch gleich nach Deutschland fliegen können, warum der Umweg?«

»Meine Angehörigen wissen, dass mein Bruder in Hamburg lebt. Sie hätten sicher angenommen, ich würde zu ihm fahren, was ich ja auch getan habe. Nur habe ich ihn nicht direkt aufgesucht. Ich bin in einem billigen Hotel abgestiegen. Dort wird mich niemand suchen.«

»Darf ich wissen, in welchem Hotel du untergekommen bist?«

»Im Ibis-Hotel in St. Pauli.«

Claasen notierte sich die Adresse auf seiner Servierte.

»Habe ich dich richtig verstanden? Du glaubst, man könnte dir gefolgt sein?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

»Sicher?«

»Absolut! Ich habe den Bruder meines verstorbenen Mannes gesehen. Im Alsterhaus, in der Herrenabteilung. Ich kam gestern Abend mit der Rolltreppe vom oberen Stock, als er sich in der Herrenabteilung eine Jacke ansah. Er war es – eindeutig.«

»Okay, verstehe, aber dass du ihn gesehen hast, bedeutet nicht, dass er deinetwegen hier ist. Schließlich gibt es viele Gründe, um nach Hamburg zu kommen. Wir haben hier eine große muslimische Gemeinde und leider auch mindestens eine Zelle radikaler Muslime.«

»Das weiß ich, ich bin jedoch sicher, dass er nur meinetwegen hier ist. Er ist ein noch größerer Extremist als mein verstorbener Mann. Er hasst alles, was nicht islamisch ist, vor allem Amerika, aber auch Frankreich, England und natürlich Deutschland. Ohne einen triftigen Grund würde er nie hierher kommen.«

»Er kennt doch sicher die Adresse deines Bruders. Hat er ihn schon aufgesucht?«

»Ich glaube nicht, dass er weiß, wo Fadi wohnt. Er ist oft umgezogen, und außer mit mir hatte er keinen Kontakt nach Hause.«

»Könnten Mayas Eltern nicht Fadis Adresse an deine Eltern weitergegeben haben? Sie wussten doch mit Sicherheit, wo sich ihre Tochter und damit auch Fadi aufhielten.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich, denn Mayas Eltern leben in München und haben keine Verbindung zu meinen Eltern in Bagdad. Außerdem sind mein Bruder und Maya umgezogen, als Maya mit Fadi zusammenleben wollte. Bei ihrer fanatisch muslimischen Familie mussten beide deswegen mit ernsthaften Schwierigkeiten rechnen.«

Claasen bestellte noch einen Kakao für Zureina und für sich einen Pott Kaffee. Als die Bedienung wieder gegangen war, sagte er: »Was erwartest du von mir? Was kann ich für dich tun?«

Zureina sah ihn mit ihren dunklen Mandelaugen hilflos an. Claasen ging der Blick durch und durch.

»Ich weiß es nicht. Ich war so geschockt, als ich meinen künftigen Mann sah, dass ich nur einen Gedanken hatte: mit dir zu sprechen. Du hast so einen vertrauenerweckenden Eindruck auf mich gemacht, dass ich dich spontan anrief.«

Claasen gingen ihre hilflose Geste und die Worte unter die Haut. Ihre schlanke, zarte Schönheit hatte ihn schon gestern fasziniert.

»Ich denke, wir sollten jetzt gehen, sonst fallen wir tatsächlich noch auf.« Claasen winkte die Bedienung heran. »Ich möchte zahlen, bitte.«

Die Bedienung reichte ihm den Kassenzettel und musterte die Irakerin neugierig.

Claasen zahlte und legte ein großzügiges Trinkgeld hinzu.

»Sollte jemand fragen, ob Sie eine Frau gesehen haben, deren Beschreibung mit der Dame hier übereinstimmt, dann haben Sie nichts gesehen – verstanden?«

»Aber sicher, Herr Claasen. Sie können sich ganz auf mich verlassen.«

»Was hast du gesagt?«, fragte Zureina.

Er erzählte es ihr. »Hier können wir dein Anliegen nicht besprechen. Es dauert nicht mehr lange und das Café füllt sich mit Besuchern, die frühstücken wollen, bevor sie zur Arbeit gehen. Und du fällst hier auf wie ein Schimmel unter lauter Rappen.«

Zureina lächelte ihn an. »Danke für das Kompliment. Aber wenn nicht hier, wo können wir uns dann unterhalten?«

»Bei uns im Büro.«

Zureina trat erschreckt einen Schritt zurück. »Wenn mich durch Zufall jemand sieht – ein Skandal. Das wird sich in Windeseile in der islamischen Gemeinde herumsprechen, und der Bruder meines Mannes wird es unweigerlich hören.«

Claasen legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm. Er spürte unter dem dünnen Stoff ihrer Jacke feste Muskeln und hätte seine Hand am liebsten dort belassen.

»Mach dir keine Sorgen, dich wird niemand sehen. Mein Auto steht vor der Tür. Wir fahren direkt in die Tiefgarage der Villa und gehen durch den Keller ins Büro. Dort können wir uns ungestört unterhalten. Und wenn du den Schal, mit dem du dein Haar verbirgst, während der Fahrt abnimmst, wird niemand auf dich aufmerksam werden.«

»Aber …«

»Du befindest dich in Deutschland, und da hat Allah bei der Kleiderordnung Ausnahmen gemacht.«

»Du hast leicht reden.«

Claasen ging darauf nicht weiter ein. Er wollte sie nicht bedrängen. Er war ohnehin überzeugt, dass sie als studierte Ärztin eine liberalere Auffassung vom Islam hatte als ihre konservativen Eltern.

Er führte sie zu seinem Auto, hielt ihr die Beifahrertür auf, ging ums Auto herum und stieg selbst ein. Zureina hatte das Kopftuch abgenommen und es sich locker um den Hals gelegt.

»Besser?«, fragte sie schelmisch.

»Viel besser. Und schöner.«

Sie errötete.

Claasen fuhr wie angekündigt in den Innenhof der Villa, öffnete mit dem elektronischen Schalter das doppelflügelige Garagentor und fuhr den Golf hinein. Sie stiegen aus, und Zureina sah sich mit einem amüsierten Blick um.

»Nicht auszudenken, was meine Eltern sagen würden, wenn sie mich mit einem fremden Mann – noch dazu mit einem Ungläubigen – allein in einem halbdunklen Keller sehen würden. Sie würde der Schlag treffen.«

»Das können wir auf keinem Fall zulassen. Ich werde meine Leidenschaft für die nächsten zwei Minuten bezwingen und dich schnellstens ins Büro führen, wo unsere Sekretärin über deine Tugend wachen kann.«

Als sie in den Vorraum zum Büro traten, schob Hendriksen gerade sein Mountainbike – liebevoll Biki genannt – herein.

Mit einem Stirnrunzeln begrüßte er beide.

»Habe ich was nicht mitbekommen? Hatten wir für heute Morgen eine Besprechung geplant, oder ist etwas passiert?«

»Keine Sorge, Marten, du hast nichts vergessen. Dafür ist einiges geschehen, was du wissen solltest.«

»Dann kommt mit in mein Büro. Möchten Sie eine Erfrischung?«, fragte er Zureina.

Sie lehnte höflich ab.

»Wir kommen gerade vom Frühstücken«, erklärte Claasen.

Als Hendriksen das Mountainbike durch Dörtes Büro schob und in seinem Büro abstellte, sah Zureina Claasen verwundert an.

»Keine Sorge, Zureina, Dr. Hendriksen ist nicht verrückt, er liebt sein Mountainbike nur so sehr, dass er es nicht aus den Augen lässt.«

Hendriksen, der mitbekommen hatte, dass sie sich über sein Fahrrad unterhielten, sagte: »Hat ja auch einen Heidengeld gekostet.«

Claasen kam sofort zur Sache. »Es hat sich eine neue Lage ergeben, Marten. Das war der Grund, warum mich Frau Azis heute Morgen aufgesucht hat.«

Claasen berichtete Hendriksen, was er von Zureina erfahren hatte. Hendriksen hörte aufmerksam zu und notierte sich ab und zu etwas in Stenografie.

»Das kompliziert unsere Ermittlungen ungemein. Hast du sie schon gefragt, womit sie rechnet, wenn ihr Zukünftiger in Hamburg ist.«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Ich dachte, es wäre besser, wenn du dabei bist.«

»Dann frag sie, was ihr Zukünftiger tut, wenn er ihren Aufenthaltsort entdeckt. Glaubt sie, dass er ihr ein Leid zufügen könnte?«

Claasen übersetzte Hendriksens Worte.

Zureina überlegte einige Zeit, bevor sie nachdenklich sagte: »Ich weiß nicht, wie Faruk – so heißt der Bruder meines verstorbenen Mannes – reagieren wird. Ich kenne ihn kaum. Ich habe mir auch nicht die Zeit genommen, Erkundigungen über ihn einzuholen. Eins erscheint mir jedoch sicher: dass er alles tun wird, um mich zu überreden, in den Irak zurückzukehren. Er weiß, dass ich wohlhabend bin, und ich könnte mir vorstellen, dass er mehr hinter meinem Geld her ist als hinter mir. Wie er reagiert, wenn ich ihm klipp und klar sage, dass ich ihn niemals heiraten werde, weiß ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass er in Wut gerät und mich körperlich züchtigen wird.«

»Würde er so weit gehen, Sie mit Medikamenten gefügig zu machen und Sie in diesem Zustand in den Irak zu schmuggeln? Schließlich ist Hamburg eine Hafenstadt, in der täglich Schiffe aus dem Nahen Osten ein- und auslaufen.«

»Das würde er mit Sicherheit versuchen, wenn er die Gelegenheit und das nötige Geld dazu hätte. Er ist zu allem fähig.«

»Haben Sie ein Bild von Faruk, oder können Sie eines beschaffen? Wäre gut, wenn wir ihn entdecken, bevor er Sie sieht. Ohne dass wir wissen, wie er aussieht, ist das unmöglich.«

Wie die beiden Männer erwartet hatten, besaß Zureina kein Bild von Faruk, und sie wusste auch nicht, wie sie eins beschaffen könnte.

»Okay, ich glaube, wir kommen so nicht weiter. Mein Vorschlag ist, wir ziehen Zureina aus dem Verkehr, bis wir wissen, wie wir in ihrem Fall vorgehen wollen. Aber wo bringen wir sie auf die Schnelle unter?«

»Worüber sprecht ihr?«, fragte Zureina von einem zum anderen blickend.

Claasen erklärte es ihr.

»Wie wäre es mit dem Obsthof in Jork? Du hast dich doch von Kathy in Freundschaft getrennt – oder?«

»Natürlich sind wir Freunde geblieben. Nur zu deiner Kenntnis: Sie hat sich von mir getrennt, weil sie sich in den neuen Dorfpfarrer verliebt hat. War auch gut so, denn ich konnte ihr keine Zukunft bieten. Ich müsste sie anrufen, denke aber, dass sie Zureina kurzfristig unterbringen kann.«

»Dann los«, forderte Hendriksen ihn auf.

Claasen erklärte Zureina, was er vorhatte, und zerstreute ihre Bedenken.

»Mach dir keine Gedanken, dort fällst du niemandem zur Last. Dr. Hendriksen und ich haben dann etwas Zeit, um zu überlegen, wie wir deine Sicherheit gewährleisten können.«

Claasen rief Kathy an, und wie erwartet war sie bereit, Zureina unter ihre Fittiche zu nehmen.

Claasen stand auf. »Komm mit«, sagte er zu Zureina. »Ich bringe dich jetzt zu deinem Hotel. Du packst deine Sachen, und wir fahren anschließend zum Obsthof nach Jork.«

Kapitel 4

Zureina war Claasen nur zögerlich in die Garage gefolgt und ins Auto eingestiegen. Er konnte sich vorstellen, dass sie Angst hatte, sich mit ihren geringen Deutschkenntnissen in einer fremden Umgebung zurechtzufinden. In einem Hotel zu leben, war etwas anderes. Da waren die Bediensteten es gewohnt, mit Fremden umzugehen. Claasen versuchte ihr während der Fahrt die Ängste zu nehmen.

»Du brauchst dich wirklich nicht zu sorgen. Kathy, die Besitzerin, wird sich um dich kümmern. Sie ist eine Deutsche, hat aber lange auf Zypern gelebt. Sie arbeitete dort für eine Firma, die Schiffe mit allen benötigten Waren ausrüstet. Ich habe sie zwar nicht gefragt, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie auch etwas Arabisch spricht. In Englisch ist sie perfekt. Sprichst du Englisch?«

»Ein wenig.«

»Besser oder schlechter als Deutsch?«

»Besser.«

»Dann brauchst du dir über Verständigungsschwierigkeiten keine Gedanken zu machen. Außerdem bist du dort sicher. Im Obergeschoss wohnt ein Paar, das beim Landeskriminalamt arbeitet und etwa in deinem Alter ist. Und dann gibt es noch Hermann mit seinem Hund Nero. Die beiden bewachen tagsüber den Hof. Sie sind zusammen mehr wert als fünf Polizisten.«

Zureina lächelte Claasen an. »Du bist sehr einfühlend, und ich freue mich, dass du dir so viel Mühe gibst, mir meine Ängste zu nehmen.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Als Frau und ohne Freunde in einem fremden Land zu sein, ist nicht leicht. Was ich nur nicht verstehe, ist, dass Faruk nach Deutschland gekommen ist, um nach dir zu suchen. Wie du gesagt hast, mag er die Deutschen nicht, und wenn ich dich richtig verstanden habe, spricht er keine Sprache außer Arabisch. Er ist entweder blauäugig oder muss mächtig in dich verliebt sein, wenn er unter diesen Voraussetzungen nach dir sucht. Er kann hier doch nicht einmal einen Kaffee bestellen oder jemanden um Auskunft bitten oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen.«

Zureina lachte. »Ich stelle mir gerade vor, wie er in einem Restaurant versucht, ein Halal-Menü zu bestellen. Im Ernst, Arne, ich bin überzeugt, dass er in Begleitung eines Mannes, der sich in Deutschland und Hamburg auskennt, hierher gekommen ist. Und aus verzehrender Leidenschaft ist er bestimmt nicht hier. Das Einzige, was er an mir liebt, ist mein Geld.«

»Ja, ich glaube, das ergibt Sinn. Wir hätten es demnach mit zwei Männern zu tun, die dich suchen.«

»Inzwischen bestimmt mehr, denn ich gehe davon aus, dass Faruk in der islamistischen Szene in Hamburg um Unterstützung ersucht hat. Das würde jedenfalls seinem Charakter entsprechen.«

Claasen war inzwischen bei Waltershof von der A7 abgebogen und befand sich jetzt auf der Neuenfelder Straße. Zureina hatte alles mit großem Interesse betrachtet. Besonders hatten es ihr die vielen Obstplantagen angetan.

»Hier sieht man ja nichts als Obstbäume.«

»Das ist auch kein Wunder. Du befindest dich im größten zusammenhängendem Obstanbaugebiet Europas. Mehr als achtzig Prozent der Obsternte sind Äpfel. Der Rest entfällt auf Kirschen und andere Obstsorten. Das wird sich in der Zukunft wahrscheinlich ändern. Der Klimawandel schlägt hier voll zu. Seit neunzehnhundertfünfundsiebzig hat die Erderwärmung um eins Komma sieben Grad zugenommen. Die zunehmende Wärme wird die Äpfel vertreiben, so dass sie Obstsorten wie Pfirsichen und Aprikosen Platz machen. Wenn du nach links schaust, auf dem Obsthof habe ich als Schüler Spreen gehütet.«

»Spreen gehütet, was ist das?«

»Spreen sind Stare, die während der Erntezeit zu Tausenden hier einfallen, um sich an den süßen Kirschen gütlich zu tun. Für die Obstbauern ist so ein Stareneinfall ein großes Problem, denn eine angepickte Kirsche ist nur noch für die Saftherstellung geeignet. Ein großer finanzieller Verlust für den Landwirt. Deshalb wurden die Stare mit Rasseln und Klappern vertrieben. In den Sommerferien haben wir uns bei den Bauern als Rasselburschen beworben und damit unser Taschengeld aufgebessert. Heute sind die Rasseln fast verschwunden. Die Obstbäume sind kleiner als noch vor vierzig Jahren und können durch Netze abgedeckt werden, oder der Krach wird mit gasbetriebenen Böllergeschützen erzeugt. Eine nervige Sache, denn die Böllerei geht die ganze Nacht durch.«

Kurz vor Jork, in einer rechtwinkligen Kurve, die Claasen schon bei seinen früheren Fahrten zum Apfelhof als gefährlich betrachtet hatte, schoss ein BMW direkt auf sie zu. Der Fahrer hatte hinter der Kurve offensichtlich die Kontrolle über sein Auto verloren. Er versuchte die Geschwindigkeit zu reduzieren, indem er hart auf die Bremse trat. Der Wagen brach rechts aus und hielt direkt auf Claasens Golf zu. Claasen reagierte sofort, riss das Steuer nach links und gab Gas. Nur Zentimeter hinter dem Golf raste der BMW vorbei, überfuhr den Seitenstreifen, stürzte die Böschung hinunter, überschlug sich zweimal und blieb auf dem Dach liegen. Claasen drückte auf die Warnblinkanlage, schaltete den Motor aus, sprang aus dem Golf und lief zu dem BMW. Der lag mit dem Heck in einem längs zur Straße verlaufenden Entwässerungsgraben. Die Airbags hatten gezündet, die Frontscheibe und die Fensterscheibe an der Fahrerseite waren zersprungen. Claasen langte durch die Scheibe und drehte den Zündschlüssel auf Aus. Dann sah er sich nach den Insassen um. Ein etwa dreißigjähriger Mann saß hinter dem Lenkrad. Eine etwas jüngere Frau befand sich auf dem Beifahrersitz. Beide waren angeschnallt. Auf dem Rücksitz lag ein zweijähriges Mädchen angeschnallt in einem Kindersitz. Alle drei Insassen hingen mit dem Kopf nach unten und wurden durch die Sicherheitsgurte in dieser Position gehalten.

»Ich kümmere mich um das Kind. Versuch du die Erwachsenen herauszuholen«, rief ihm Zureina zu.

Wie Claasen war auch sie aus den Auto gesprungen, hatte ihre Arzttasche vom Rücksitz genommen und war ihm hinterhergeeilt.

Ohne auf ihre teure Kleidung Rücksicht zu nehmen, ging sie ins Wasser, um an das kleine Mädchen heranzukommen. Zum Glück bekam sie die hintere Tür mit einiger Anstrengung auf. Sie stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Sie stemmte sich hoch, so dass sie sich mit den Knien auf dem Türrahmen abstützen und in dieser Position den Kindersitz erreichen konnte. Nach einigen Fehlversuchen gelang es ihr, das Mädchen aus dem Sitz zu ziehen. Es hing leblos in ihren Armen.

Zureina watete zum Ufer des Grabens und legte das Mädchen auf den Rasensteifen, der sich zwischen der Straßenböschung und dem Entwässerungsgraben befand. Sobald sie wieder auf festem Boden stand, hob sie das Mädchen hoch und rannte aus dem Gefahrenbereich eines explodierenden Autos hinaus. Sie legte das Mädchen wieder aufs Gras, streifte ihre seidenen Jacke von den Schultern und bettete es darauf. Den Schal legte sie über den Körper, damit er nicht auskühlte. Dann begann sie mit Wiederbelebungsmaßnahmen.

Inzwischen war das Gesicht des Kindes ganz blau geworden. Zureina merkte, dass sie keine Luft in die Lunge blasen konnte. Kurzentschlossen öffnete sie ihre Arzttasche, schnitt von einer Kanüle ein Stück ab und ergriff ein Skalpell. Mit den Fingern fühlte sie am Hals nach der Luftröhre, dann setzte sie das Skalpell an, trennte die Haut auf und schnitt in die Luftröhre. Mit einem Zischen entwich die aufgestaute Luft, und Zureina führte die abgeschnittene Kanüle in die Luftröhre. Das Senken und Heben der Brust zeigte ihr, dass die Kleine wieder atmete. Ein glückliches Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht. Mit Pflasterstreifen sicherte sie die Kanüle, so dass die Kleine die neue Luftröhre nicht herausziehen konnte.

Claasen hatte inzwischen den Fahrer aus seinem Sicherungsgürtel gelöst, ihn aus dem Auto gezerrt und in Sicherheit gezogen. Er überließ es Zureina, ihn zu untersuchen. Er selbst rannte zurück zum Auto, um auch die Frau aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Da die Tür an der Beifahrerseite verklemmt war, ging das nur über den Fahrersitz.

Die Beifahrerin war zwar wach, aber nicht ansprechbar. Sie stand unter Schock und blutete stark. In ihrem rechten Arm steckten Glassplitter von der Windschutzscheibe. Einer musste in der Schlagader stecken, nur so konnte sich Claasen die starke Blutung erklären. Obwohl er wusste, wie gefährlich es war, sich in der Nähe des Autos aufzuhalten, zwang er sich, die Gefahr zu ignorieren. Er zog den Gürtel aus seiner Jeans und band damit den rechten Arm der Frau in Höhe des Oberarms ab. Die Blutung versiegte. Claasen fasste sie um die Hüften und zog sie ins Freie. Sie auf dem Arm tragend, eilte er zu Zureina. Die hatte gerade eine erste Untersuchung des Fahrers abgeschlossen. Als sie den Zustand der Frau sah, beauftragte sie Claasen, sie so hinzulegen, dass die Beine erhöht lagen. Claasen rollte seine Jacke zusammen und schob sie unter die Füße der Frau.

Zureinas nasse Kleidung klebte ihr von der Hüfte an abwärts am Körper. Sie hatte sich, während sie die Verletzten versorgte, nicht darum gekümmert. Claasen, der sah, dass es ihr sichtlich unangenehm war, ihre Körperformen zur Schau zu stellen, lief zum Golf, holte ihren Koffer aus dem Kofferraum und griff nach der Decke, die immer auf dem Rücksitz lag. Zureina sah ihm dankbar entgegen. Claasen hielt die Decke mit ausgebreiteten Armen so, dass Zureina von der Straße aus nicht gesehen werden konnte. Sie nahm trockene Kleidung aus ihrem Koffer und zog sich im Schutz der Decke um.

»Danke, Arne, das war sehr aufmerksam von dir.«

»Das war selbstverständlich. Ich konnte dich doch nicht in nassen Kleidern hier stehen lassen.«