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Das Telefon klingelt und nur kurze Zeit später reist Rucia ihrer großen Liebe Indio nach Santiago de Chile nach. Doch statt Indio findet sie dort nur das alte Haus ihrer Kindheit und Fausto, einen alten Historiker, der gerade seine Kinder verloren hat. Ein Labyrinth aus Erinnerungen, Geheimnissen und Lügen tut sich auf. Warum versteckt sich Indio vor ihr und was hat es mit den im Mapocho treibenden Toten auf sich? Mapocho ist der Name des Flusses, an dessen Ufern Santiago de Chile erbaut wurde. In Nona Fernández' Roman wird er nicht nur von den Abwasserkanälen der Stadt, sondern auch vom Dunkel der Vergangenheit gespeist. Leichen, Mythen und persönliche Schicksale treiben darin. Der Roman verwebt Geschichten von einem inzestuösen Geschwisterpaar, von unter General Ibáñez verschleppten Transvestiten, versklavten Gefangenen, einem selbstmordgefährdeten Historiker und von einem auf der Suche nach seinem Kopf umherstreifenden Häuptling der Mapocho-Indianer zu einem bunten Mosaik – mal grotesk und provokativ, mal sanft und fast zärtlich. Nona Fernández packt, beim Umblättern der ersten Seite, den Leser an der Hand, zieht ihn tief in ihre Geschichte und lässt ihn bis zum Ende nicht mehr los.
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Seitenzahl: 547
Cover
Impressum
Autorin und Klappentext
Titelseite
Buchanfang
Von Köpfen und Nabeln
Von Toten und Teufeln
Von Vätern und Waisenkindern
Rucia und Indio
Leseproben
Nona Fernández - Die Straße zum 10. Juli
Nona Fernández - Der Himmel
Rodrigo Rey Rosa - Die Gehörlosen
Rodrigo Rey Rosa - Stallungen
Carlos Gamerro - Der Traum des Richters
Carlos Gamerro - Das offene Geheimnis
Shusaku Endo - Schweigen
Andrea Stefanoni - Die erinnerte Insel
Ryu Murakami - Coin Locker Babys
Originaltitel: Mapocho
© 2003, Nona Fernández
All rights reserved
© 2012, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Nadine Kube
Cover: Jürgen Schütz
Umschlagfoto: © Marcelo Leonart
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-22-4
Printversion: Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN: 978-3-902711-09-0
www.septime-verlag.at
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Nona Fernández
wurde 1971 in Santiago de Chile geboren und ist seit ihrer Schauspielausbildung als Drehbuchautorin, Schauspielerin und freischaffende Schriftstellerin tätig. Ihre in diversen Erzählbänden veröffentlichten Kurzgeschichten sind, wie auch die Romane Mapocho und Av. 10 de julio Huamachuco, preisgekrönt. Die Arbeit an Drehbüchern für Fernsehserien und -filme, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreitet, beeinflusst ihre literarische Schreibweise dahingehend, als dass sie ökonomisch mit Sprache umgeht und in ihren Erzählstrukturen eindeutig den Dialog bevorzugt. Nicht zuletzt dadurch erzeugt Nona Fernández Bilder von kinematografischer Aussagekraft. Sie zählt zu den führenden Schriftstellern Chiles sowie gesamt Südamerikas. Sie empfing sowohl 2003 (fürDie Toten im trüben Wasser des Mapocho) als auch 2008 (für Die Straße zum 10. Juli) den chilenischen Literaturpreis PREMIO MUNICIPAL DE LITERATURA in der Kategorie Bester Roman. Selbigen Preis erhielt unter anderem auch Roberto Bolaño posthum.
Klappentext
Das Telefon klingelt und nur kurze Zeit später reist Rucia ihrer großen Liebe Indio nach Santiago de Chile nach. Doch statt Indio findet sie dort nur das alte Haus ihrer Kindheit und Fausto, einen alten Historiker, der gerade seine Kinder verloren hat. Ein Labyrinth aus Erinnerungen, Geheimnissen und Lügen tut sich auf. Warum versteckt sich Indio vor ihr und was hat es mit den, im Mapocho treibenden, Toten auf sich?
Mapocho ist der Name des Flusses, an dessen Ufern Santiago de Chile erbaut wurde. In Nona Fernández’ Roman wird er nicht nur von den Abwasserkanälen der Stadt, sondern auch vom Dunkel der Vergangenheit gespeist. Leichen, Mythen und persönliche Schicksale treiben darin.
Der Roman verwebt Geschichten von einem inzestuösen Geschwisterpaar, von unter General Ibáñez verschleppten Transvestiten, versklavten Gefangenen, einem selbstmordgefährdeten Historiker und einem auf der Suche nach seinem Kopf umherstreifenden, Häuptling der Mapocho-Indianer zu einem bunten Mosaik, – mal grotesk und provokativ, mal sanft und fast zärtlich.
Nona Fernández
Die Toten im trüben Wasser des Mapocho
Roman | Septime Verlag
Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz
Für meinen Dante
Sie war den Tod der Lebenden gestorben.
Jetzt sehnte sie sich danach, für immer einzutauchen
in den zweiten Tod, den Tod der Toten.
María Luisa Bombal:
La amortajada (Die Aufgebahrte)
ERSTER TEIL
VONKÖPFEN UND NABELN
I
Verflucht kam ich zur Welt. Von Mutters Möse bis zu der Kiste, in der ich jetzt liege, war mein Leben verflucht.
Eine Aura von Scheiße umgibt mich. Scheißhaufen in meinem Kopf und ein Kopf wie die weiche Birne eines Verrückten, nur stinkender und weniger bildlich gesprochen. Seit meiner Geburt sitze ich in der Scheiße. Komplett in der Scheiße, von den grauen Strähnen meines Scheitels bis zu den Fußsohlen. Man bespuckte mich und ich floh ans Ende der Welt, in den südlichsten Süden. An einen Ort, den man in die Ecke einer Landkarte gerotzt hat, sodass er fast runterrutscht. Jetzt treibt mein lebloser Körper dahin, über die Wellen des Mapocho. Mein offener Sarg schwimmt auf dem schmutzigen Wasser und umschifft Reifen, Äste, bewegt sich langsam vorwärts, mitten durch die ganze Stadt. Ich treibe flussabwärts. Der Weg ist weit und gewunden. Ich reise über einen dunkelbraunen Fluss. Ein schmutziger, langer Abwasserkanal, der mich geduldig trägt, liebevoll wiegt und mich dazu einlädt zu schlafen und mich gänzlich dem Verlauf seiner fäkalen Reiseroute hinzugeben. Verirrte Möwen folgen meinem Weg, versammeln sich zu meinen Füßen und picken an meinen kaputten Schuhen. Sie knabbern an meinen Fingern und am Dreck unter meinen Nägeln. Vom Ufer aus wirft ein Betrunkener eine leere Flasche in den Fluss, die beim Aufprall auf meinem Körper zerspringt. Glassplitter fliegen mir ins Gesicht, ein Rinnsal Blut läuft mir über die Stirn.
Es ist nicht wahr, dass die Toten nichts fühlen. Ich könnte jedes einzelne der Dinge aufzählen, die dieses verwesende Fleisch noch wahrnimmt: die Feuchtigkeit des Holzes, den schwindelerregenden Gestank des Wassers, den Lärm der Busse, der Autos, den süßen Geschmack des Blutes, das mir über die Lippen läuft.
Von hier aus kann ich mich dort oben stehen sehen, auf einer dieser Brücken, die über den Fluss führen. Da bin ich. Ich sehe mich selbst dort oben an jenem Tag, als ich in diese Stadt kam. Ich sehe, dass ich mich noch nicht gut von dem Unfall erholt habe. Der Aufprall hat sich in meinen Körper eingeschrieben. Ich spüre die Blutergüsse im Gesicht, die frische Narbe von der Windschutzscheibe, die sich in die Stirn eingrub. Der Geruch verschmorten Blechs liegt mir noch in der Nase. Ich höre noch das Quietschen der Reifen, den Lärm der Schreie und Hupen. Ich trage einen Koffer bei mir und die Asche meiner Mutter in einer kleinen Amphore. Ich weiß, was ich da auf der Brücke denke. Ich denke, dass das Wasser des Flusses viel zu schmutzig sei, um meine Mutter hineinzuwerfen und ich stelle mir dabei nicht vor, dass ich eines Tages selbst darin enden würde. Ich verfluche den Indio. Ich denke, dass er ein Blödmann ist. Wie er nur auf diese Idee gekommen ist. Meine Mutter wäre besser auf einem Friedhof aufgehoben, im Ganzen eingepackt und begraben und nicht zu Asche zerfallen, um dann in einer Urne in den Abwasserkanal Santiago de Chiles geworfen zu werden.
In schlechten Zeiten bin ich dir gefolgt, ich bin dorthin gegangen, wo du hingingst, Indio. Und du warst nicht einmal in der Lage gewesen, mich abzuholen. Was mache ich nur in dieser Stadt, von der es heißt, dass ich dort geboren wurde. Meine Mutter im Gepäck, keinen Peso in der Tasche und kein Scheißlebenszeichen von dir. Wo bist du, Indio? Ich höre immer noch deine Stimme am anderen Ende der Leitung. Ich erinnere mich: Ich war alleine, starrte in das Kaminfeuer unseres Hauses, das jetzt so weit weg ist, und erholte mich von deinem überraschenden Ausbruch, von diesem Scheißaufprall, vom Tod der Alten. Und dann, dein erster Anruf nach all dem:
»Ich bin’s, Rucia. Verzeih, dass ich einfach so fortgegangen bin.«
Deine Stimme war von Störungen verzerrt. Nur der vertraute Tonfall brachte mich zurück zu dir – aus einer fernen Dimension, aus irgendeiner unbekannten Hölle.
»Wo bist du? Ich habe dich überall gesucht.«
»Ich bin in Chile, in Santiago.«
Chile. Die Zunge war wie gelähmt, die Haare stellten sich auf.
»Was ist los, Rucia? Bist du noch da?«
Chile. Am Arsch der Welt. Ich in unserem Haus, ich betrachte unser Feuer, unsere Holzmöbel, durch das Fenster das Meer. Du in Chile.
»Du willst nicht mit mir sprechen. Ist es das?«
Tagelang habe ich dich gesucht. Seit Tagen wartete ich auf eine Nachricht, einen Brief, einen Anruf wie diesen.
»Die Mama ist tot, Indio. Beinahe wären wir Matsch gewesen bei diesem Unfall und dir fällt nichts Besseres ein, als mit einem Loch im Kopf abzuhauen und in das nächstbeste Flugzeug nach Chile zu steigen! Was zum Teufel machst du dort?«
Ich hörte dich tief einatmen am anderen Ende.
»Antworte, Indio!«
»Der Unfall hat uns etwas verrückt gemacht, Rucia, deshalb bin ich hier, ich wollte nicht, dass wir weiter alles verkacken.«
Ich fragte mich, ob die Entfernung wirklich half, die Scheiße aus der Welt zu räumen, ob dies wirklich ein effektives Heilmittel gegen unsere über Jahre angestaute Verdauungsstörung war.
»Die Scheiße ist schon passiert, Indio. Was soll das für einen Sinn haben, so auszubrechen?«
Ich hörte deine Stimme am anderen Ende der Leitung brüchig werden.
»Ich dachte, wenn ich hierher käme, wenn wir weit genug voneinander entfernt wären, dann ...«
Ich stellte mir deine zitternden Lippen an deinem Telefonhörer vor, deinen Mund, der eine Antwort stammelte, die du dich nicht zu geben getrautest.
»Dann was, Indio?«
»Dann könnte ich dich mir endlich aus dem Kopf schlagen.«
Das sagtest du. Mich dir aus dem Kopf schlagen. Plötzlich begann auch mein Mund zu zittern.
»Und«, fragte ich, »ist dir das gelungen?«
Dein Hals ertrug tapfer den unsichtbaren Knoten. Ein unterdrückter Knoten, den wir schon seit so langer Zeit mit uns herumtrugen.
»Es bringt nichts, sich weiter davor zu drücken, Rucia. Egal wohin ich gehe, egal wo ich mich verstecke, es ist unmöglich, von dir wegzukommen.«
Noch nie hast du so darüber geredet. Ich auch nicht. Wir haben immer geschwiegen, taten immer so, als wäre nichts. Und jetzt war unsere Mutter tot, die große Staatsanwältin des Spiels. Sie war Asche in einer Urne, ich konnte sie vom Telefontischchen aus sehen. Jetzt war es Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Was machen wir jetzt, Indio?«
Ein langes Schweigen herrschte zwischen uns. Ich hielt dies für das mögliche Ende unserer Geschichte. Wir würden die Telefonhörer auflegen und unsere Leben weiterleben, so wie es sein soll. Du in Santiago, ich in unserem Haus, am Mittelmeer oder in irgendeiner anderen Wohnung, die ich in der Stadt anmieten würde. Manchmal würden wir uns schreiben, uns wegen irgendeines Festes anrufen und sogar zur Hochzeit des anderen oder zur Geburt eines Kindes anreisen.
»Komm her, Rucia«, sagtest du entschlossen. »Bring die Alte mit und wir werfen ihre Asche in den Mapocho. Das ist ihr Fluss, das ist ihre Stadt. Wir sind hier immer noch zu Hause. Das Haus ist ein bisschen heruntergekommen, aber es gehört uns. Wir müssten niemanden mehr für ein Dach über dem Kopf bezahlen. Du wirst schon sehen, es wird dir gefallen, wir können es ganz nach unserem Geschmack wieder herrichten. Komm her, Rucia, das hat doch keinen Sinn, getrennt weiterzumachen. Scheiß drauf, ich warte hier auf dich. Du weißt, ich bin nichts ohne dich.«
Das sagtest du und ich packte schnell meine Sachen und machte mich auf die Suche nach dir. Vielleicht waren es Worte ohne Bedeutung. Es konnte sein, dass dein Kopf ebenso lädiert war wie meiner, ganz durcheinander nach so einem heftigen Schlag, nach so vielen eingedrungenen Glassplittern. Vielleicht gab es einen Kurzschluss darin und dies war alles nur ein Hilfeschrei, damit ich dir zur Rettung eile. Du weißt, ich bin nichts ohne dich. Ich verließ das Haus und überquerte einen ganzen Ozean, weil die Möglichkeit bestand, dass du recht hast. Sich dorthin zu verirren, an den Arsch der Welt, wo uns niemand kennt, niemand über uns urteilt, das könnte die beste aller möglichen Szenarien sein, um endlich aufzuhören mit dem Versteckspiel, um endlich das Unmögliche möglich zu machen. Die Augen schließen und sich einfach hineinstürzen, auch wenn Gott und der Teufel uns aufs Dach steigen. Wir waren schon immer verflucht, Indio. Und jetzt, da der Unfall noch mehr aufgewirbelt hat als nur unsere Köpfe, ist es zu spät umzukehren. Die Scheiße ist schon passiert. Zwei Hälften eines monströsen Gezüchts. Ein entzweiter Körper, du der Kopf, ich der Bauch, du der Mund, ich der Nabel. Ein Zyklop auf der Suche nach einem zweiten Auge, nach seiner ihm verwehrten Beute. Das da oben auf der Brücke bin ich. Ich trage meinen Koffer und meine Mutter, ich bin nur eine Hälfte von etwas, ich betrachte das schmutzige Wasser, das unter mir fließt.
Ich sehe Reifen und Äste auf dem Fluss treiben und eine Kiste, die aussieht wie ein Sarg. ›Wo bin ich hier gelandet, Indio? In der Kiste liegt eine tote Frau mit offenen Augen. Sie hat helle Haare so wie ich. Sie starrt mich an, da bin ich mir sicher. Was ist das nur für ein Ort hier? Wohin hast du mich gebracht, Indio? Was für eine Scheiße ist das?‹
Hab keine Angst, Rucia, lauf nicht über die Brücke, wie du es gerade tust. Flieh nicht vor dem Fluss. Sieh mich an, versuche, meine Lippen zu lesen, meine erstarrten Lippen. Lass mich erklären, wo du gelandet bist, denn jetzt weiß ich es. Es stimmt, hier schwimmen die Toten im Fluss, sie wandeln durch die Straßen und schlafen unter den Brücken. Aber es gibt keinen Grund, vor uns Angst zu haben. Wenn du mir nur zuhören würdest, wenn du dich nur getrauen würdest, mir ins Gesicht zu sehen, dann könnte ich dich warnen. Und so könnten wir dieses redundante Spiel vermeiden, diese Erzählung ohne Ende.
Aber du läufst weg, Rucia, verlässt die Brücke und lässt mich alleine zurück mit diesem Smog auf meinen Augen, dem bleiernen, von Kabeln durchzogenen Himmel und dem blöden Gefühl im Bauch, das alles schon einmal erlebt zu haben.
Es ist nicht wahr, dass die Toten nichts fühlen. Ich zumindest tue es weiterhin. Aber vielleicht ist das auch nur Pech, die letzte Figur einer schlecht getanzten cueca. Es gibt kein Ende, keine Erleichterung, keinen Frieden. Aber was habe ich erwartet? Verflucht kam ich zur Welt und dieser Scheißtod setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Ich applaudiere nicht, ich beschwere mich nicht. Ich lasse mich einfach vom Mapocho dahintragen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Es gab sie nie.
II
Santiago hat sich verändert. Wie eine Schlange hat sich die Stadt ihrer alten Haut entledigt, ihrer Plätze, ihrer alten Villen, Apotheken und kleinen Läden, der Matinee-Kinos, der Fußballplätze, der Kioske und der gepflasterten Straßen. Santiago hat den alten Schorf abgeworfen. Er liegt noch in der Luft und schwebt durch Rucias Erinnerung. Sie sitzt in einer Imbissstube direkt am Ufer des Mapocho. Auf ihrem Teller liegen die Gräten eines getrockneten Kingklips. Sie versucht, auf der Karte im Telefonbuch, das man ihr geliehen hat, etwas zu identifizieren, das familiär klingt, ihr bekannt erscheint.
Avenida Pedro de Valdivia, liest Rucia – eine lange Straße, die den Fluss kreuzt und auf einen kleinen Berg hinaufführt. Die Erhebung heißt Cerro San Cristóbal, entziffert sie zwischen ein paar Tropfen Öl, die auf das Planquadrat getropft sind. Der Hügel ist ein bisschen verwischt. Eine Fliege spaziert mit ihren haarigen Beinchen darüber hinweg. Dann schwirrt sie über ganz Santiago und landet auf der größten Arterie der Karte, der Avenida Alameda del Libertador Bernardo O’Higgins. Rucia erinnert sich an die Alameda, den Hügel Cerro Santa Lucía, an die Moneda. Auch an den Fluss erinnert sie sich. Sie weiß, dass ihr Zuhause, das, von dem Indio ihr am Telefon erzählte, das, in dem sie gelebt hatten, bis ihre Mutter sie am Arm gepackt und sie weit, weit weggebracht hatte, sich nur ein paar Blocks vom Fluss entfernt befand. Aber der Mapocho ist groß, er fließt durch die ganze Stadt. Man müsste ihn ganz abfahren, vom Gebirge oben bis ganz nach unten, um einen Anhaltspunkt zu finden, der sie zu dem Viertel ihrer Kindheit führen würde. Doch mit all diesen Veränderungen, die die Stadt durchgemacht hat, mit so viel Leuchtreklame, so vielen bunt leuchtenden Schaufenstern, die alles um sich herum in Farbe tauchen, ist das sehr schwierig.
»Señora! Sie, die Sie hier so nahe am Fluss arbeiten. Sie, die Sie hier am Ufer dieser Abwässer immerzu Fische braten, sagen Sie mir eins: Kennen Sie ein altes Haus, lang gestreckt wie eine Natter und mit einem Flur voller Türen auf beiden Seiten?« Als ich von hier fortging, war es grün, rote Geranien quollen aus den Fenstern und die Veranda hatte Milchglasscheiben, durch die wir die Silhouette meines Vaters sehen konnten, wenn er von seinem Job im Gymnasium nach Hause kam und nach seinen Schlüsseln suchte, um die Tür zu öffnen und uns etwas Süßes zu schenken oder eine Zeitschrift oder was auch immer er gerade für uns gekauft haben mochte. Vor dem Haus führten zwei rote Treppenstufen zur Straße hinunter. Sie waren sehr hoch und breit. Meine Mutter bohnerte sie jeden Samstag und mein Vater setzte sich dort immer mit einem Stapel Karten hin, um Asse aller Spielfarben hinter den Ohren, Köpfen und aus den Taschen aller Bälger hervorzuziehen, die sich jeden Abend, bevor es dunkel wurde, um ihn drängten und ihm zusahen. Pikass, Karoass, Herzass. Aus meinem Ohr zauberte er immer das Herzass und aus Indios schmutzigem, verfilztem Haar immer das Kreuzass hervor. Die Hände meines Vaters fegten über unsere Körper hinweg wie giftige Winkelspinnen, die unsichtbare Netze weben, geheime Eier ausbrüten, Karten ablegen, wo vorher nie welche gewesen waren. Er war der Magier des Viertels, der da auf den Treppenstufen meines Zuhauses saß. Stufen, auf denen er uns allen unendliche Geschichten erzählte, wenn er nicht mit den Karten spielte. Geschichten, die er auf unsere inbrünstigen Bitten hin zum Besten gab, versteckte Joker im Ärmel eines Taschenspielers:
»Es waren einmal, vor langer, langer Zeit, eine kleine Frau und ein kleiner Mann. Die Frau und der Mann schliefen friedlich in ihrem kleinen Bettchen und träumten, dass ein Gott, ein wenig größer als sie selbst, sie erträumte. In dem Traum des Paares träumte der Gott von einer großen, bunten piñata, die in einem grünen Baum an einem gebogenen Ast hing. Darin befanden sie sich, inmitten von Bonbons und Konfetti. Sie tanzten und lachten und waren glücklich, da sie wussten, dass sie jeden Moment geboren werden und die Erde betreten würden. Die kleine Frau und der kleine Mann träumten, dass der träumende Gott sie erschuf und dass er, während er die piñata mit einem einzigen Hieb zerschlug, sagte: ›Hier werden geboren eine Frau und ein Mann. Und gemeinsam sollen sie leben und sterben. Doch sie werden erneut geboren werden und hernach werden sie neuerlich sterben. Und niemals werden sie aufhören, geboren zu werden, denn der Tod ist eine Lüge.‹«
»Ich werde nicht sterben, Papi. Ich und Indio, wir werden ewig leben.«
Geschichten. Sie alle hatten ein offenes Ende, das wir am nächsten Tag hören würden, auf denselben Treppenstufen zusammengedrängt sitzend, nachdem wir einigen Zauberkunststückchen zugesehen hätten.
Vor dem Haus stand eine Laterne. Und irgendwo ganz in der Nähe, nur ein paar Blocks entfernt, gab es eine große Halle, in der man an den Wochenenden Fußball spielte. Indio und ich saßen dort auf einer Holztribüne, wenn wir meinem Vater dabei zusahen, wie er über ein abgenutztes Parkettfeld lief, das mit jedem Kick und jedem Tritt gegen die Schienbeine krachte. Parkettstäbe, die bei jedem Spielzug heraussprangen und durch die Luft flogen. Staub und Schmutz, die in diesem baufälligen Schuppen aufstoben, im Hals kleben blieben und sich am Körper mit dem Schweiß jener heißen Sonntage vermischten, zwischen Schinken- und Käsebrötchen und roten Säften, die Zunge und Zähne färbten. »Señora, haben Sie diese Fußballhalle gesehen? Kennen Sie diese Straßenlaterne, diese Treppenstufen, dieses Haus?«
Die Señora kann dazu nichts sagen. »Häuser wie dieses gibt es nicht mehr viele und die, die übrig geblieben sind, sind alt, zerfallen und verrottet. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Señorita, denken Sie ein bisschen besser nach. Versuchen Sie, in Ihrem Gedächtnis etwas Wiedererkennbares zu finden, etwas, das noch existieren könnte, eine größere Straße, ein nahe gelegener Park. Ich glaube, Señorita – und verzeihen Sie, dass ich das sage –, mit so vielen Beulen und offenen Wunden an Ihrem Kopf, da ist der doch halb verwirrt. Wischen Sie sich die Stirn mit dieser Serviette ab, schauen Sie doch, wie Ihnen das Blut da runtertropft. Nun gut, ich sagte Ihnen ja, Señorita, auf Ihre Frage antwortend, dass das hier eine ordentliche Stadt ist. Ich weiß nicht, welche Vorstellung Sie wohl von uns haben, aber hier ist das etwas sehr Ungewöhnliches, wenn jemand nach einem Haus fragt. Hier haben die Häuser Nummern und stehen in Straßen mit Vor- und Nachnamen. Wir sind doch keine Ureinwohner! Wir sind sehr gut organisiert, seit der Kolonialisierung bis zum heutigen Tag haben unsere Häuser eine genau festgelegte Adresse, damit Menschen und Briefe auch ohne Probleme an ihrem Ziel ankommen.«
»Danke, Señora, bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagt Rucia und wirft ihre blutverschmierte Papierserviette in den Müll. Heimlich reißt sie ein paar Seiten aus dem Telefonbuch heraus. Sie kann es förmlich riechen, irgendwo auf dieser Karte, versteckt in diesen auf billigem, dünnem Papier gedruckten Planquadraten, muss ihr altes Viertel liegen, ihr verlorenes Haus, Indio und ihre Sehnsucht sich wiederzusehen.
Ihr Vater verschwand, als Indio und sie noch zwei Bälger waren, als ständig Schürfwunden ihre Knie bedeckten und unentwegt Rotze aus ihren Nasen lief. Ihre Mutter wartete keinen Tag ab, um mit ihnen aus Santiago abzuhauen und ein Schiff zu besteigen, das monatelang auf hoher See war, bevor es wieder an festem Boden anlegte. Was folgte, war eine regelrechte Pilgerreise. Städte und Dörfer kreuzten ihren Weg. Sie lebten zur Untermiete in einem Zimmer, in Pensionen oder einem Loch irgendeiner Absteige. Sie schafften es nie, lange an einem Fleck zu bleiben. Es war unmöglich, Freunde zu finden oder die Sprache zu lernen. Ihre Mutter rannte von einem Ort zum nächsten, als ob sie jemand verfolgen würde, als ob irgendein geheimer Dämon sie zu fangen versuchte und sie sich deshalb immer in Bewegung halten müsste. Als sie schon dachten, dass die Reise beendet sei und sie sich nun niederlassen würden, tauchte irgendetwas auf, ein Geruch, ein Bild, ein Gesicht, etwas, das ihre Mutter an Santiago de Chile erinnerte. Das allein genügte, dass sie alles wieder einpacken und woanders hinziehen mussten. Der Marktplatz, La Vega, der Mapocho – alles hatte sein verlorenes Spiegelbild in irgendeiner Ecke der Welt. Santiago hatte sich im Kopf ihrer Mutter in seine Einzelteile aufgelöst und darin verteilt, sodass es immer bei ihr war, egal wohin sie ging. Es wird mich wohl nie in Ruhe lassen, wiederholte die Mutter immer wieder und dann ließ sie sie in einen Zug steigen, in einen Fernlaster, einen Bus oder in was auch immer. Santiago schmerzte sie wie ein Geist. Es erschien ihr, wo auch immer sie sein mochte, und in dem verzweifelten Drang, es zurückzulassen, floh sie Kilometer um Kilometer. Sie hielt nur inne, wenn sie sich krank fühlte, wenn ihre Beine schmerzten und sich mit Wunden bedeckten. Offene Wunden in ihrem Fleisch, die sie zwangen, sich zu setzen und aufzugeben.
Sie ließen sich an einem Strand am Mittelmeer nieder. Ein abgeschiedener Ort voller Buchten und kleiner Häuschen, in denen Fischer und ein paar Reisende wohnten, die dort wie sie die Zelte aufschlugen, eine Strandhütte mit Imbiss eröffneten oder taten, wozu auch immer sie Lust hatten, solange es ihnen zum Überleben genügte. In der Mitte des Dorfes befanden sich ein großes Esslokal, eine Fischerbar, ein Telefonhäuschen und eine Bushaltestelle, an der die Busse hielten, die die Leute von und zu der nächstgelegenen Stadt brachten. Dort lernte Rucia die Sprachen der Gringos und Franzokeln, die dort Urlaub machten. Indio hingegen widmete sich der Malerei. Zuerst mit Kohle, später mit Aquarellfarben und Öl. Tagsüber porträtierte er die Touristen und abends malte er, was ihm in den Sinn kam. Bauchnabel meistens. Ovale und runde, Nabel in allen Größen und Formen, tätowierte Bauchnabel, schwarze und weiße Nabel.
»Der Indio ist jetzt schon groß, Rucia. Um das zu merken, muss man sich nur mal diese Bauchnabel anschauen, die er malt. Mir wäre es lieber, ihr würdet nicht mehr nackt baden gehen und auch nicht mehr mit blankem Po im Haus oder am Strand herumspazieren. Ihr seid keine Kinder mehr. Es wäre besser, wenn du dich ein wenig von Indio fernhieltest. Nur eine Weile, bis er sich an seine Eier gewöhnt hat. Du musst auch auf dich aufpassen, Rucia, deine Brüstchen werden jeden Tag größer. Zieh dir was drüber, du solltest das Glück nicht herausfordern.«
Rucia sammelte Meeresgetier zwischen den Felsen am Strand. Die nackten Füße voller Schwielen mit Kraft in den schwarzen Boden gepresst. Den Pullover um den Bauch geschnürt, direkt unter ihren kleinen festen Brüsten. Eine kurze, ausgewaschene Hose, vollgesogen mit dem Geruch des Meeres und weit genug, um den Bauchnabel unbedeckt zu lassen.
»Du und ich, Rucia, wir sind aus so einem Bauchnabel gekrochen, wir kommen aus demselben übel riechenden Gedärm, aus demselben Loch, in dem Fussel und Dreck klebten. Lass mich deinen Nabel malen. Lass mich ein großes Bild malen, auf dem dieser Mond aufgeht, der über deinen Hüften tanzt.«
Indio blickte von dem anderen Felsen zu ihr herüber. Ein rotes Halstuch hielt seine Haare zusammen. Seine Hände umfassten ein Plastiknetz, mit dem er nach Meerestieren fischte. Die eine oder andere einsame Muschel lag darin. Sein Blick war starr auf Rucias Bauchnabel gerichtet.
»Mal ihn doch aus dem Gedächtnis! Mir gefällt das nicht, dass du mir so auf den Bauch glotzt, als ob er lebendig wäre.«
Ein paar Möwen wagten sich heran, um mit ihnen zu fischen. Die Sonne verbrannte ihnen den Rücken und der Schweiß rann ihnen die Schenkel hinab. Wie gerne sie jetzt nackt wäre, dachte Rucia. Reine Folter, bei der Hitze Kleidung zu tragen. Sie blickte zum Haus, in der Hoffnung, dass ihre Mutter vielleicht nicht hinsehen würde und sie sich so wenigstens für einen Moment hätte ausziehen können. Als sie aber den Kopf wandte, da sah sie die Mutter am Fenster sitzen. Neben ihr stand eine tönerne Auflaufform, sie pulte Erbsen aus ihrer Schale und sah ohne Unterlass zu ihnen herüber, dort, von ihrem Wachturm aus.
Und so verging der Morgen mit baumwollenen Hemdchen, kurzen Hosen und Messerchen, die Muscheln von den Felsen kratzen. Rucia hatte bereits ihr ganzes Netz gefüllt, aber Indio hatte noch gar nichts gesammelt bis auf zwei oder drei Muscheln.
»Was ist mit dir, Indio?«
Indio beobachtete ihren Bauchnabel. Er verlor seinen Blick darin, war völlig abwesend.
»Dein Bauchnabel spricht mit mir, Rucia, schau doch!«
Seit sie an diesen Strand gekommen waren, hatten sie nie wieder Hunger oder Kälte gelitten. Das Haus war nicht groß, aber es bot genügend Platz für alle drei. Jeder hatte ein Zimmer, es gab eine große Küche voller Schränke und einen Kamin in der Mitte des Hauses für die verregneten Abende. An allen Seiten des Hauses gab es große Fenster, die man, wenn der Wind zu stark blies, mit Holzbrettern verrammeln musste. Die Mutter machte einmal im Monat einen Ausflug in die Stadt und kam mit Geld zurück, um Essen zu kaufen und Farbe für Indio, Kleidung, Bücher, Salben für ihre kaputten Beine, Mullbinden, einfach alles, was sie brauchten, was wiederum gar nicht so viel war. »Woher kommt dieses Geld, Mama?« Die Mutter antwortete nie, sie schaute sie nur ernst an, ohne dieses Lachen, das sie ihnen sonst immer schenkte und plötzlich schmerzten ihre Beine wieder so sehr, dass sie sich für Stunden in ihrem Zimmer einschließen musste und sie jammerte und weinte und wechselte die blutgetränkten Binden, die sie jeden Morgen wie in einer kleinen Zeremonie wusch und aus dem Fenster hängte, damit die Sonne und die Meeresbrise sie trockneten und sie sie erneut anlegen konnte, um Geld zu sparen. Sie waren die zweite Haut für ihre geschundenen Beine, wie ein ledernes Beinzeug, das sie schützte.
Arme Frau, dachten Rucia und Indio jede Nacht, wenn sie sich in ihren Schlafanzügen heimlich auf dem dunklen Flur trafen und dem Stöhnen aus dem Zimmer lauschten. Man merkte, dass sie gar nicht hier sein wollte, man merkte, dass sie weiterziehen wollte, von einem Ort zum andern. Wenn das nicht so gewesen wäre, dann hätte sie wohl nicht jede Nacht so geweint. Sie hätte nicht geklagt und im Traum geschrien, wie sie das tat, seit wir uns hier am Strand niedergelassen hatten.
»Hör mal, wie sie schluchzt, Indio. Das macht mir Angst.«
»Wir sehen nach, wir gehen jetzt in ihr Zimmer!«
»Nein! Wie oft hat sie uns darum gebeten, das nicht zu tun, dass wir sie in Ruhe lassen, egal, was wir hören.«
»Aber das ist nicht normal, Rucia. Ich glaube, jemand foltert sie nachts.«
»Vielleicht tut sie es ja selbst und merkt es nicht.«
»Vielleicht bricht sie sich im Schlaf die Beine und schreit deshalb vor Schmerz. Wir müssen sie retten, Rucia!«
Der Korridor lag im Dunkeln. Die Zimmertür an seinem Ende war geschlossen. Die Schreie der Mutter erfüllten das ganze Haus. Die Kinder schlichen sich auf Zehenspitzen heran, schauten durch das Schlüsselloch, rauften darum, wer durchgucken durfte, und erblickten die Mutter in ihren weißen Leinentüchern, erspähten Teile ihres Körpers. Eine Hand, ein Fuß, ein kaputtes Bein, das blutige Flecken auf der Decke hinterließ. Wieder ein Schrei. Ihr Mund öffnete sich, ihre Zunge formte einen Seufzer, Tränen rannen ihre Wangen herab.
»Lass uns reingehen, Rucia, ich will sie genau sehen.«
Indio griff zum Knauf und drehte ihn ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, damit sie sie nicht hörte und nicht noch mehr ängstigte. Die Tür öffnete sich. Ein beißender Gestank stieg ihnen in die Nase – das Jod, mit dem sie ihre Wunden desinfizierte. Die Mutter wand sich auf den Laken, mit geschlossenen Augen und schweißnasser Stirn. Ihr Mund stieß unverständliches Gestammel aus. Eine seltsame Grimasse verzerrte ihr Gesicht. Offensichtlich war sie gar nicht wirklich da, irrte in anderen Sphären, weit weg, ganz weit entfernt von diesem dunklen Zimmer, in dem Rucia und Indio sie vom Rand ihres Bettes aus anstarrten.
»Wovon träumt sie, Indio?«
Von gesichtslosen Teufeln ohne Hörner und Schwänze, die man ihnen hätte abhauen können. Von unsichtbaren Dämonen, die von nirgendwoher kamen, sondern einen versteckten Winkel dieses schlafenden Körpers bewohnten.
»Wach auf, Mama!«
Sie riss die Augen auf, ihr Atem ging stoßweise, sie wirkte, als wäre sie wieder da.
»Wo bin ich?«
»In deinem Zimmer, Mama. Du hast so sehr geschrien, du hast uns erschreckt.«
Die Mutter sah ihre Kinder lange an. Dann schlang sie ihre Arme um die beiden und zog sie zu sich in ihr nach Jod stinkendes Bett. Sie weinte, sie rotzte auf ihre Köpfe und bat sie um Verzeihung. Nie habe sie sie erschrecken wollen, nie habe sie gewollt, dass sie Angst haben, deshalb seien sie jetzt auch hier, weit fort von Santiago und von der Erinnerung an ihren Vater, deshalb habe sie sie auf das Schiff gebracht und deshalb hätten sie so lange Zeit das Meer durchkreuzt. »Es gibt Dinge, die kann ich mir nicht so einfach aus dem Kopf schlagen und deshalb weine ich, aber das sind Dinge, um die ihr euch nicht zu scheren braucht. Schlaft hier bei mir und erschreckt euch nicht, wenn ich schreie, denn das bin nicht ich. Es ist eine andere, in der nachts Ängste und Scham explodieren und die sich an ferne und schreckliche Orte verirrt.«
»An welche Orte, Mutter?«
Aber die Mutter antwortete nicht und schlief wieder ein, während sie ihren Schlaf bewachten und ihr bei der Reise zu dieser unbekannten Hölle zusahen. An diesen Ort, wo die Schamgefühle mit ihr durchgingen, wo die Geister sie peinigten, wo sie sich die Beine brach von dem vielen Rennen und Fliehen.
»Wovor schämt sie sich denn so, Indio?«, stammelte Rucia leise unter den Laken.
»Ich weiß es nicht.«
»Glaubst du, sie träumt von Santiago?«
»Ich glaube, sie träumt von Papa.«
Rucias Füße sind ganz wund vom vielen Herumlaufen. Mit der fettverschmierten Karte aus dem Telefonbuch in der Hand ist sie durch jede Straße gelaufen, die ihr vor die Nase kam. Sie ist abgebogen, hat Plätze überquert, hat ein wenig vor kleinen Lädchen und Geschäften gebummelt. Aber sie hat nichts gefunden, was sie an das Haus ihrer Kindheit erinnern würde. Sie weiß, es kann nicht weit sein, zumindest ist das ihr Viertel. Anders ist es geworden. Es ist in neue Farben und Lichter getaucht, aber es ist ihr Viertel. In seiner Mitte erhebt sich ein großes, neu erbautes Hochhaus. Fünfzehn Stockwerke scheint es hoch zu sein. Es ist ein Bürogebäude, einer jener Türme, in denen die Leute nicht wohnen, sondern den ganzen Tag lang arbeiten, und dann gehen sie und lassen ihn einsam zurück. Die Fassade ist komplett aus reflektierendem Glas und der ganze Stadtteil kann sich darin sehen. Von allen Dingen spiegelt sich ein Stückchen, es ist eine Collage aus Einkaufspassagen und Häusern, Schaufenstern und Werbeplakaten. Aber nein, keines dieser Spiegelbildchen kommt ihr bekannt vor. Erst jetzt, nachdem sie schon den ganzen Tag über durch die Straßen gelaufen ist, setzt sich Rucia auf den Bordstein, stellt Koffer und Mutter an ihrer Seite ab und zieht sich die Schuhe aus, um ein wenig auszuruhen. Sie schaut auf den großen Hügel direkt vor ihr und da endlich sieht sie etwas, das ihr ein Leuchten auf das Gesicht zaubert.
»Der Po der Jungfrau Maria! Immer wenn du dich verirrst, Rucia, erinnere dich daran, dass wir von unserem Zuhause aus den Hintern der Jungfrau sehen können. Die Mutter Gottes hat nur Augen für die, die auf der anderen Seite des Flusses leben. Uns sieht sie nicht. So ist es. Während der Rest der Stadt beim Gebet in ihr Gesicht voller Erbarmen blickt, begnügen wir uns mit ihrem Hintern, der im Übrigen gar nicht schlecht ist, ganz in Weiß und tönern, ganz züchtig und rein, der Po der Jungfrau Maria.«
Es war auf dem Dach ihres Zuhauses, da hat ihre Oma sie einmal mit raufgebracht und, zwischen Antennen und Ziegeln Halt suchend, so mit ihr geredet. Jeden Morgen und jeden Abend schaffte die Alte sich auf einen Besen stützend hoch und kniete sich, im Gefolge ihre stinkenden Katzen, nieder, um die Jungfrau anzubeten. Alle im Haus konnten ihre Gebete dort oben auf dem Dach hören, ein unendliches Ave Maria, das sich tausendfach von irgendeinem Winkel der Decke aus wiederholte. »Man muss beten, Rucia, sonst frisst der Teufel unsere Seele auf. Es ist egal, dass die Jungfrau uns nicht anguckt, es ist egal, dass dein Vater und deine Mutter Ungläubige sind. Bete mit mir, meine hübsche Rucia, und vergiss nie, dass dieser weiße Jungfrauenpo dich retten kann, wenn du es am wenigsten erwartest.« Die Oma wies mit ihrem Zeigefinger auf die Heilige Mutter.
Plötzlich entsinnt sich Rucia und dieser alte Ratschlag lässt sie begreifen, wo sie ist. Dort am Rinnstein erinnert sie sich an diesen bestimmten Winkel der Figur auf dem Hügel. Ein Hinweis, der ihr den Weg weisen wird. Es kann nicht mehr weit sein, irgendwo dort muss das Dach sein, auf dem sie gebetet haben. Sie muss nur ihre Erinnerung mit diesem Bild der weißen Gestalt, die über dem Hügel thront, speisen.
Sie muss nur ein paar Blocks weiter gen Süden gehen und einen weiter in Richtung Westen. Sie muss den Blick fest auf die gegenwärtige Aussicht richten und sie fein säuberlich über die Bilder der Vergangenheit legen. Ja, das ist der Po der Jungfrau, so wie sie ihn damals von ihrem Dach aus gesehen hat. Das hier ist ihr Viertel und das da, das einzige alte und heruntergekommene Haus der Straße, das muss ihres sein.
Das Haus zerfällt. Rucia bleibt davor stehen. Sie betrachtet die roten Treppenstufen, auf denen ihr Vater einst zaubern konnte und die jetzt schmutzig und rissig sind. Die Lehmwände zerbröckeln, werden zu Staub und fliegen durch die Luft. Es ist nicht so, dass sie das nicht erwartet hätte, sie ging immer davon aus, dass das Haus eine kleine Ruine, die Farbe abgeblättert, die Fensterscheiben zerbrochen sein würden. Was sie sich nie hätte träumen lassen, war, dass sie es so vorfinden könnte: ganz alleine, inmitten so vieler neuer Bauwerke, kurz vor dem Einsturz, flach und klein, langsam und unbemerkt im abgelegensten und dunkelsten Winkel der Gegend, die indessen gar nicht mehr dieselbe ist, vergehend. Ein Riss teilt das Haus vom Keller bis zu seinem Dach. Eine offene Wunde wie die, die sie selbst immer noch seit ihrem Unfall trägt. Es ist ein breiter Riss, aus dem Moos und Gräser wachsen. Rucia besitzt keine Fotos von diesem Haus. Ihre Mutter hat sie alle weggeworfen und entschieden, nicht mehr über das Thema zu reden, als ob man einen ungeliebten Toten begräbt, den man besser vergisst. Rucia besitzt keine Fotos ihres Vaters, keine der Stadt. Das Einzige, was ihr bleibt, ist dieser Riesenhaufen alten, zerfallenen Lehms und die Möglichkeit, in seinem Inneren Indio wiederzufinden.
Die Tür steht offen. Dieselbe Veranda wie damals, dasselbe Türschloss, das ihr Vater jeden Abend nach der Arbeit geöffnet hatte. Rucia spürt ein Kribbeln im Bauch. Ihre Kehle schnürt sich zu. Unmöglich, das Zittern der Beine zu kontrollieren. Sie wagt einen weiteren Schritt und noch einen, ganz langsam. Sie tritt über die Schwelle der Eingangstür wie eine, die die Pforten des Himmels durchschreitet. Dunkelheit. Der Geruch von Kerker und von Feuchtigkeit steigt ihr in die Nase. Ihr Mund füllt sich mit dem Geschmack von Staub. Rucia versucht, im Dunkeln zu sehen. Lose Parkettstäbe, vergilbte Tapeten, deren Bahnen sich ablösen und an den feuchten Wänden wellen. Die Pupillen weiten sich, gewöhnen sich an das Dunkel, schaffen sich Raum. Sie kann einen langen Flur voller Türen erkennen. Die Schlafzimmer, das Bügelzimmer, das düstere Zimmer der Großmutter, die Rumpelkammer, Vaters Arbeitszimmer, das Spielzimmer. Jede Tür dieses Flurs führt zu einem dieser fernen Orte. Aber welche war welche? Wo schliefst du, Rucia, erinnerst du dich? Wo schlief Indio? Wo dein Vater und deine Mutter? Alles hatte seine Ordnung in diesem Haus, jeder Raum ist noch an seinem Platz und es gibt einen, der dir gehörte. Rucia schiebt sich durch die Diele und rüttelt an einer Tür nach der anderen. Sie greift nach den verrosteten Türknäufen, dreht sie und versucht mit aller Kraft, die Türen zu öffnen. »Indio, bist du da? Hast du dich in einem dieser Zimmer versteckt?« Aber das alles ist unnütz, die Türen sind verschlossen. Es sind blinde Eingänge, geheime Verbindungen zu anderen Zeiten, zu einer besseren Zeit, als dieses Haus nicht die zerfallene Bude war, die es jetzt ist, sondern das Anwesen einer Familie. Einer großen Familie, einer mit vielen Enkelinnen und Enkeln, die alle umherlaufen, Türen aufreißen und zuschlagen, die auf dem Dachboden, im Hof, im Flur herumtollen. Deine Onkel, deine Großmutter, dein Vater, du selbst, jeder in seinem eigenen Zimmer. Ein gigantisches Puzzle, bei dem jedes Teilchen seinen Platz hatte. Aber welcher war deiner, welcher der deines Bruders?
Rucia setzt sich mitten in diesem Tunnel aus Lehmziegeln auf ihren Koffer und drückt die Urne mit der Asche ihrer Mutter fest an sich. ›Wo bin ich hier nur gelandet, Mama? Wo hat mich Indio nur hingeschleppt?‹ Arme Frau, denkt Rucia, es war eine schlechte Idee, sie wieder hierherzubringen. Wenn sie reden könnte, würde sie mich verfluchen. So viele Jahre hat sie damit zugebracht, aus all dem hier auszubrechen und ich habe sie wieder zurückgetragen.
›Verzeih, Mama, aber es ist nicht meine Schuld. Es ist die Indios, der sich in der fünften Hölle versteckt hat und der mich mit seiner Stimme bis zu diesem Haus lockte, vor dem du so lange fliehen musstest. Verzeih mir, Mutter, ich weiß, dass diese Wände dir keine guten Erinnerungen bringen, dass du uns deswegen von hier fortgebracht hast, weit weggeführt hast. Weine nicht, Mutter, heule nicht, brich dir nicht deine Beine aus Asche. Es ist nur ein böser Traum, einer deiner vielen Albträume. Deine Tochter und du mitten in diesem Haus voller versiegelter Türen, ohne Geld, ohne Indio, ohne alles. Du träumst das hier alles von weiß Gott wo aus, wo auch immer du dich befindest, und dann wirst du wieder erschrocken aufwachen und Lust haben, deine Koffer zu packen und den ersten Zug in egal welche Richtung zu nehmen. Aber ich kann nicht fliehen, Mama. Ich muss hierbleiben und Tage, vielleicht Monate lang warten, wenn es sein muss, bis dein Sohn auftaucht und mir etwas sagt. Ich muss seine Hände berühren, seine Finger voller Farben und Öl spüren, die mir den Bauch streicheln. Schimpf mich nicht aus, Mama, ich weiß ja, dass das nicht gut ist. Ich weiß, dass es besser wäre, Indio zu vergessen, so zu tun, als wäre das, was da in mir drin lodert, gar nicht da. Die Großmutter würde sagen, dass der Teufel meine Seele fressen werde, dass es am sichersten sei, wenn Gott sich erzürne und mich bestrafe, aber dass die Jungfrau Maria uns hier ja doch nur den Rücken zukehre, dass sie blind und taub sei und es keinen Grund gebe, warum sie überhaupt irgendetwas mitbekommen sollte.‹
Nicht alle Jungfrauen sind gleich. Die auf dem Hügel kam aus Frankreich. Es war ein riesiges Geschenk, das die Gallier schickten und das 1910 in einer großen Enthüllungszeremonie aufgestellt wurde, dort auf dem Gipfel des San Cristóbal. Reinste der Reinen sagen sie zu ihr. Es ist eine weiße, sehr große Figur, die die unbefleckte Empfängnis darstellt. Sie ist das Symbol der Stadt. Die Stadt Santiago hat ein jungfräuliches Gesicht und weit geöffnete Arme aus weißem Steingut, vor denen etliche ihre Knie beugen, nachdem sie dafür den ganzen Hügel hinaufgestiegen sind. Sie stören sich nicht daran, dass diese, da Ausländerin, weder ihre Gebete noch ihre Bitten begreift. Meisterhaft versteht sich die Jungfrau auf dem Hügel darauf, ihre fehlenden Spanischkenntnisse zu vertuschen und so schaut sie ihre Untertanen mit ruhigem Lächeln an, denn das ist ihre Mission. Sie ist das Markenzeichen, der ganze Stolz der Stadt, die Première Dame, die dazu auserwählt ist, ihr Gesicht zu zeigen und von ihrem Balkon aus zu grüßen, während andere Jungfrauen mit wichtigeren Sachen beschäftigt sind.
Eine dieser anderen ist die Jungfrau von Carmen, Schirmherrin Chiles. Sie sorgt sich um das ganze Land, um die politischen und die wirtschaftlichen Angelegenheiten. Sie hat einen Tempel des Lobes, der unter den Ehrerbietungen aller Bürger gebaut wurde. Und dort lebt sie, in einer Art Regierungspalast, in dem jeder, der möchte, sie besucht und ein Gebetlein ausstößt, um sie um etwas zu bitten oder ihr für etwas zu danken. Präsidenten, Minister, wichtige Funktionäre kommen dorthin und sie gewährt ihnen Audienz. Doch sie vergisst auch nicht das Volk, all die vielen kleinen Pilger, die tagtäglich ankommen und die sie mit ihren Einkäufen an Heiligenbildchen, Getränken und Rosenkränzen versorgen.
Die Jungfrau von Lourdes ist der andere Star Santiagos. Sie lebt in ihrer Grotte, nahe der Quinta Normal. Jeden Tag empfängt sie all ihre Anhänger, die sie aus lauter Hingabe bereits gänzlich unter einem Haufen Krücken, Gipsverbänden, Rollstühlen, Süßigkeiten und Dankesblechschildern vergraben haben. Danke, heilige Jungfrau, für die Erhörung meiner Bitte. Und, als ob es nicht genügte, seinen Namen auf einem Stück Blech zu hinterlassen, kleiden sie sich lange Zeit ganz in Weiß und tragen einen himmelblauen Gürtel um die Taille, so wie es die Jungfrau macht. Hunderte kleine Kopien der Jungfrau tummeln sich vor der Grotte. Kleine Gören in Himmelblau und Weiß, die gehorsam das Versprechen erfüllen, das ihre Mütter für sie gegeben haben. Kleine Miniaturjungfrauen, die sich, nachdem sie ein wenig gebetet haben, aus den Händen ihrer Mütter lösen und sich in die Straßen Santiagos ergießen und die Stadt mit ihren engelgleichen Schritten heiligen.
Aber Rucia kennt diese Jungfrauen kaum. Die Jungfrau des Hügels, die sah sie jeden Tag. Ihre Großmutter erzählte ihr viel von ihr. Es ist allerdings die Jungfrau von Tirana, die Rucia viel lieber mag. Sie erinnert sich gut an sie, weil Großmutter ihr ein Bildchen von ihr geschenk hatte, als sie sehr klein war. Es war ein Abbild aus Plastik, wie geschaffen für ein kleines Mädchen. Rucia nahm sie überall mit hin, denn mangels Puppen war diese das einzige Spielzeug, das sie besaß. Sie nahm sie mit ins Bett, wickelte ihr Tücher als Kleidchen um und als sie das Viertel verließen, um am Strand zu leben, da ließ sie sie im Meer schwimmen und baute ihr Häuschen aus Sand, in denen die Jungfrau, ganz blass geworden von so viel Sand und Hitze, glücklich lebte.
»Das ist eine Jungfrau aus dem Norden, meine hübsche Rucia, und die kannst du bitten, worum auch immer du willst, denn sie ist unglaublich wundermächtig. Es gefällt ihr, wenn die Menschen für sie singen und tanzen. Also musst du immer schön aufpassen, damit die Jungfrau nicht vor Schmerzen darüber weinen muss, dass du sie nicht verehrst.«
Als sie gerade erst an den Strand gezogen waren, als Rucia und Indio noch kleine Kinder waren, da holten die beiden die Jungfrau des Nachts heimlich heraus. Schweigend trugen sie sie an den Strand, stellten sie im Sand auf und tanzten für sie, um für ihren Papa zu beten. Sie hüllten sich in bunte Tücher ein und mit Töpfen und Löffeln spielten sie im Licht der Sterne auf. Sie wünschten sich einen Brief, eine Postkarte, ein Telefon, um ihn anzurufen.
Jeden neuen Touristen, der an den Strand kam, egal, ob er Chilene war oder nicht, fragten sie heimlich, ohne dass die Mutter es bemerkte, nach ihrem Papa. »Ein langer, dünner Mann«, sagten sie, »mit blauen Augen und dicken Augenbrauen. Er liebt es, Geschichten zu erzählen und abends zu zaubern. Haben Sie ihn nicht gesehen?« Und die zwei quäkten seinen Namen und hörten nicht auf zu fragen, aber die Antwort blieb immer die gleiche.
»Ich glaube ja, dass der Papa uns sucht, Rucia. Das kann gar nicht sein, dass er einfach fortgegangen und nie mehr zurückgekommen ist.«
»Es ist so: Wenn er nach Hause zurückgekehrt ist, dann werden wir das nie erfahren.«
»Er ist bestimmt zurückgekommen, aber wir waren schon nicht mehr da!«
»Und seitdem sucht er uns?«
»Na klar. Das Schlimme ist, dass die Mama nicht möchte, dass er uns findet.«
Deshalb fragten sie sie nichts, schluckten tapfer all ihre Zweifel herunter. Sie dachten, dass es besser sei, sie nicht zu stören, ihr nichts zu sagen. Sie wussten, dass es genügte, den Namen des Vaters auszusprechen, damit ihr plötzlich wieder die Beine so sehr schmerzten und sie wieder diese Albträume hatte und weinte und wochenlang traurig herumlief.
Arme Frau, dachten Rucia und Indio und hofften, dass die Mutter das Haus verließe, damit sie sich heimlich in ihr Zimmer schleichen könnten, um irgendeinen Hinweis zu finden, der sie zu ihrem Vater führen würde. Rucia passte an der Tür auf, dass keiner kam. Indio durchwühlte das Nachttischchen, öffnete Kisten und Schachteln, inspizierte Umschläge, Notizbücher und Bücher, suchte irgendeine Spur. Einen Brief, ein Foto.
»Beeile dich, Indio, ich glaube, sie kommt wieder.«
Und Indio stellte alles wieder an seinen Platz zurück, schwor, dass er nichts in Unordnung hinterließ, überzeugt davon, dass die Mutter nichts bemerken würde. Und dann kam sie mit der Brottüte zurück oder mit dem Fisch zum Frühstück, gab ihren beiden Kindern einen feuchten Kuss, stellte sich doof, überspielte, was alle drei sehr wohl wussten. Und so ging es so oft, wie das Jahr Tage hat.
»Indio, ich glaube, das Einzige, was uns bleibt, ist, zur Jungfrau zu beten, so wie es die Großmutter gesagt hat.«
Es gab keine andere Möglichkeit. Sie hatten bereits alles versucht und nichts führte zu Ergebnissen. Die Jungfrau war die Einzige, die ihnen helfen konnte. Und mit dieser Einsicht gingen die beiden an den Strand, tanzten vor dem ausgebleichten Bildnis, trommelten mitten in der Nacht auf Töpfen herum, überzeugt davon, dass die Jungfrau eingreifen würde und dass sie auf irgendeine wundersame Weise Nachricht von ihrem Vater bekämen. Bis die Mutter in ihrem weißen Nachthemd und mit ihren geschundenen Beinen erschien.
Die Wellen schlugen an den Strand. Ein paar Möwen schrien. Ein sanfter, warmer Wind umwehte ihre Körper. Rucia erblickte die Mutter als Erste. Sie erstarrte, als ob man sie dabei erwischt hätte, etwas Verbotenes zu tun, als ob ihr hingebungsvoller Tanz eine Art Hexenritual wäre.
»Indio, hör auf mit den Pfannen. Die Mama ist da.«
Indio war genauso starr vor Schreck. Er sah die Mutter, die sie beobachtete. Ihre Haare flatterten im Wind, verwirbelten sich mit Sand.
»Warum tut ihr das?«
Rucia und Indio schauten sich einen Moment lang an.
»Es ist ein Karneval, Mama. Ein Karneval für die Jungfrau von Tirana.«
Die Mutter sah zur Jungfrau, die im Sand eingegraben dastand, verziert mit Muscheln, bunten Steinchen und einem Kranz aus getrockneten Blumen, den Rucia ihr geflochten hatte.
»Ist das ein Spiel?«
»Nein, wir beten.«
Die Mutter nahm die Jungfrau in ihre rechte Hand und sah sie lange an.
»Und warum betet ihr?«
»Um ein Wunder beten wir«, sagte Rucia.
»Was für ein Wunder?«
Indio sah seine Schwester an und gab ihr ein Zeichen, dass sie nicht weiterreden sollte, aber Rucia hatte, als sie das bemerkte, bereits zum Sprechen angesetzt.
»Wir wollen etwas von Papa hören.«
Die Mutter schwieg. Sie blickte starr in das kleine Gesicht Rucias. Für eine Minute verstummten das Meer und die Möwen. Der Mund der Mutter öffnete sich ein wenig und sie befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. Indio hoffte, dass sie zurück in ihr Zimmer laufen würde, dass von dort aus wieder ihre Schmerzensschreie ertönen würden, aber das geschah nicht. Ein Wunder. Die Mutter blieb ernst und humpelte ganz nah zu ihnen heran. Das Licht der Sterne fiel auf ihr langes, krauses Haar. Der Jodgeruch ihrer Beine löste sich in der Meeresbrise auf und stattdessen nahmen sie den Duft von Bienenhonig wahr, den ihre Haarpracht verströmte, wenn sie sie offen trug.
»Verzeiht mir, wenn ich zu lange damit gewartet habe, darüber zu reden.«
Rucia und Indio fassten sich ganz fest bei den Händen, denn sie spürten, dass das, was jetzt kommen sollte, nicht einfach sein würde.
»Ihr kamt mir noch so klein vor, dass ich mich nicht traute, mit euch zu reden.«
»So klein sind wir nicht mehr, Mama.«
»Jetzt weiß ich das. Und so große Kinder, wie ihr es mittlerweile seid, müssen auch hören, was ich jetzt zu sagen habe.«
Rucias Hände zitterten in denen ihres Bruders. Die Mutter umarmte sie sehr fest und sie konnten sehen, wie eine Träne aus ihrem linken Auge quoll.
»Es sind Dinge geschehen, dort, in dem Viertel, in dem wir lebten.«
»Welche Dinge, Mama?«
»Schreckliche Dinge. Es gab ein Unglück, einen Brand. Es war ein sehr großes Feuer, bei dem sehr viele Menschen ums Leben kamen.«
Einmal hatten sie gesehen, wie die Holzhütte eines Fischers zusammen mit dem Fischerboot komplett abgebrannt war. Der Mann war schreiend herausgestürzt, seine Haare waren versengt gewesen, sein Rücken hatte in Flammen gestanden. Sie hatten ihn in den Sand geworfen und ihn darin gewälzt. Aber es war ihnen nicht gelungen, ihn zu retten und der Mann war gestorben. Von der Hütte war nur noch Asche übriggeblieben. Das Feuer hatte alles verzehrt.
»War Papa auch dort?«
Die Mutter antwortete nicht. Erneut feuchtete sie ihre Lippen an und weinte eine Träne aus dem linken Auge.
»Ja, mein Schatz, der Papa war dort.«
Ein Schauder lief über den Rücken. Gänsehaut. Ein unkontrollierbares Zittern. Eiskalt. Indios Hände zitterten in Rucias Händen, Rucias Hände zitterten in Indios Händen. Ein einziger, vor Kälte und Schmerz zitternder Körper. Die Jungfrau in Mutters Händen. Vater unser, unser toter Vater, ein Wunder.
Am nächsten Tag standen sie sehr früh auf. Die Sonne war gerade über dem Meer aufgegangen und es war immer noch etwas von der Morgenfrische zu spüren, also zogen sie Wollwesten und Schuhe an. Sie machten ein Ruderboot vom Steg los und fuhren gemeinsam an der Küste entlang. Sie suchten einen Ort, der allen dreien gefiele. Dort wollten sie anlegen. Die Mutter ruderte. Rucia half ihr. Indio kletterte auf die eine oder andere Seite des Bootes, um die Landschaft besser sehen zu können. Sie betrachteten die Küste, schipperten ruhig dahin, begleitet von einigen Möwen. Auf ihrem Weg kamen sie an Buchten, Stränden, Dörfern und Hüttchen vorbei, bis Indio plötzlich eine kleine Halbinsel erblickte.
»Seht nur, gefällt euch dieser Ort?«
Die Mutter ruderte gerade darauf zu und sie vertäuten das Boot an einem Pfahl im Sand. Der Ort war ruhig, ganz still. Nur die Wellen und das Geschrei der Möwen waren zu hören. Es gab nur sehr wenig Strandfläche, alles war ein großer Felsen. Aber weiter oben, über den Felsblöcken, öffnete sich eine weite Ebene, von der aus man einen großen Teil der Küste überblicken konnte. Sie kletterten über die Steine und erklommen den Felsen. Als sie sich endlich ausruhen und hinsetzen konnten, zogen Rucia und Indio ihre Buntstifte hervor und malten alle beide jeweils ein Porträt ihres Vaters.
Der Vater. Er war ihnen noch immer frisch in Erinnerung. Die Kinder malten fast eine Stunde lang in absoluter Stille. Die Mutter sah ihnen schweigend zu. Sie beobachtete, wie sie Farben mischten, wie sie radierten und ein ums andere Mal von vorne begannen. Indio beendete seine Zeichnung als Erster. Sein Bild bestand aus Blautönen, war voller Meer und Himmel. Der Vater saß in einem Boot, so wie die, die immer vor der Bucht lagen, und fischte mit einem Netz, glücklich, voller Leben und Lachen und die Sonne schien auf seinen behaarten Bauchnabel.
»Es hätte mir gefallen, ihn so zu sehen.«
Rucias Bildnis war bescheidener: der Vater auf einer roten Treppe mit einem Herzass auf der Brust.
Am höchsten Punkt der Anhöhe hoben die Kinder eine kleine Grube aus. Als sie endlich fertig waren, nahmen sie ihre Bilder und legten sie hinein. Sie warfen noch ein paar Muscheln, einen Apfel und eine halb getrocknete Blume hinein. Dann bedeckten sie alles mit Erde. Rucia nahm ihre Jungfrau von Tirana, wechselte ihre vertrocknete Krone durch eine neue aus und ließ sie dort oben, damit sie auf ihren Vater aufpasste.
»Bist du dir sicher, dass du sie hierlassen willst?«
Rucia nickte mit ihrem weißen Kopf, ohne etwas zu sagen. Stille. Die drei verharrten eine lange Weile in ihrem Schweigen. Die Sonne verbrannte ihnen die Nasen, der Wind fegte über die Ebene und ließ ihre Haare fliegen. Das Meer. Wie herrlich ist doch das Meer. Hinter all diesem Meer hatten sie einst mit ihrem Vater gelebt.
Als ihre Mägen zu knurren anfingen, nahm ihre Mutter sie an den Händen und sagte, dass es nun Zeit sei, zu Hause etwas zu essen. Sie kletterten die Felsen hinab, stiegen in die Barke und fuhren wieder aufs Meer hinaus. Während sie auf dem Wasser dahinschipperten, spürten sie die Gegenwart der Jungfrau dort oben auf der Ebene. Ganz farblos und halb versengt von der Hitze der Sonne. Mit der Krone aus Blumen, fortgeweht vom Wind, und mit dem Vater zu ihren Füßen, beerdigt und begraben. Eine Leiche aus Farben mit einem behaarten Bauchnabel und einem roten Herzen auf der Brust.
III
Am Anfang war ein Wort. Der Mund Gottes brachte einen Einsilber hervor: »Licht.« Seine Zunge wölbte sich gegen seinen Gaumen, seine Lippen formten sich, ließen einen kleinen Spalt frei, um den göttlichen Ton auszustoßen. Und es ward das Wort Licht. Davon schied sich die Finsternis. Von da an fuhr der Gott fort, eine Reihe beliebiger Substantive auszusprechen. Laute in harmonischen Abständen, rhythmische Trommelschläge, die seinem heiligen Munde entwichen: Erde, Wasser, Mond, Sonne, Luft. Als er den ersten Namen von sich gab, gelang ihm ein Mann. Und als er ein weibliches Wort erfand, gelang ihm eine Frau. Und der Gott sah, dass alles gut war und so wollte er gerne mit seiner Geschichte fortfahren. Denn dies war das Wort, welches er besetzte, um seine Arbeit zu bezeichnen: Geschichte.
Fausto glaubt, dass die Geschichte Literatur ist. Anders hätte er sich ihr nie angenähert. Geschichte, so meint er, erfindet sich über die Worte in einem wahrlich illusorischen Akt. »Licht«, spricht Fausto, bringt Zunge und Gaumen zusammen und formt den magischen Laut, während er neben sich eine Stehlampe anknipst. Und es wird Licht in seinem Arbeitszimmer.
Fausto ist gerade siebzig Jahre alt geworden. Die Zeit trägt er als weiße Mähne mit sich, die ihm über die Schultern fällt. Er hat Flecke auf den Händen, Schmerzen im Rücken und ein Geschwür, das ihm den Magen auffrisst. Fausto müsste jetzt eigentlich irgendwo feiern, ein Fest mit vielen Menschen, mit Luftballons und Torte, mit Musik und Geschenken. Stattdessen ist er alleine in seiner Wohnung. Er hat sich in einen ledernen Sessel gesetzt, hat die Hälfte seiner Beruhigungstabletten geschluckt und die andere Hälfte zu Boden fallen lassen. In seiner Tasche befindet sich ein Telegramm. Es trägt das Datum der vergangenen Woche und ist schon ganz zerfleddert vom wiederholten Lesen. Schlechte Nachrichten kommen immer nur in kurzen Worten, die man liest und wieder liest wie eine seltsame Verschlüsselung, die man nicht verstehen kann oder will. »Bedauern mitteilen zu müssen. Beileid.« Worte. Fausto kann sie nicht vergessen und jetzt, an seinem Geburtstag, stürzt er bereits seinen vierten Whisky hinunter, für den sein Geschwür später schon noch Tribut fordern wird. Er wirft sich eine weitere Beruhigungstablette in den Mund, aber es gibt keine Ablenkung, sein Kopf ist voller Wörter. Unbetonte Silben, Hebungen, Senkungen. Alles tanzt zur Wärme des Whiskys. Synonyme, Adjektive, Verben, Pronomen, Artikel, Präpositionen.
Fausto steht vor seiner Bibliothek und schätzt, mit wie vielen Wörtern diese Bücher wohl beladen sein mögen. In dem sanften Licht der Lampe betrachtet er jeden einzelnen der Bände, die er da vor sich stehen hat. Von eins bis zehn, alle Exemplare gut geordnet, mit dicken Schutzumschlägen, die Titel in Goldschrift, und auf jedem einzelnen steht ganz oben sein Name. Die komplette Geschichte Chiles. Von den Ursprüngen bis zum gestrigen Tag, alles von ihm persönlich erzählt. Taschenbuchausgaben. Illustrierte Ausgaben. Vollständige Studienausgaben für die Universitäten, andere für Schüler zusammengefasst. Neuauflagen seiner Erzählung, seiner persönlichen Version der Dinge. Worte, die aus seinem Kopf kamen, die vermischt und gewürzt, mit Vorsicht verknetet, auf den Punkt gar gebacken wurden, um sich für immer in Wahrheiten zu verwandeln.
Fausto feiert seinen siebzigsten Geburtstag und sinnt über die Macht der Worte nach. Seiner Worte. Als Erstes war das Verb, denn die Welt manifestierte sich dank zweier Worte: »Es werde«, sprach der Gott und alles, was er aussprach, erschien. Die Magie der Schöpfung zeigt sich in einem Wort. Alles, was Fausto in diesen zehn Büchern in jahrelanger Arbeit geschrieben hat, in diesen zehn dicken Bänden, die auf der ganzen Welt übersetzt wurden, bildet eine Wahrheit. Er schreibt und die Geschichte seines Landes erscheint unzweifelhaft auf den Seiten seines Buches. Die Kinder lernen sie in der Schule, die Erwachsenen lesen sie in den Bibliotheken, die Alten erhalten sie zum Jahresende als Geschenk anstatt eines Weihnachtsgeldschecks. Nach und nach setzt sich seine Geschichte durch, gewinnt Land, hebt die anderen auf, welche man aus den Regalen und Buchhandlungen, von den Schullisten, sogar aus den Antiquariaten entfernt hat. Seine Version ist die richtige. Das, was er geschrieben hat, existiert und was er nicht aufschreibt, verdient, vergessen zu werden. Das war die Arbeit, die man ihm auftrug.
»Du besitzt eine magische Gabe, Freund! Du erfindest Geschichten wie jemand, der Lügen erfindet. Leicht, schnell, sicher. Mach das, das ist deine Gelegenheit, du wirst deinen Namen auf einem Buchumschlag aufgedruckt vorfinden. Ist es nicht das, was du immer wolltest? Und ganz zu schweigen vom Geld. Darüber musst du dir keine Gedanken machen, weder dir noch den deinen wird es jemals daran mangeln. Sieh es als Geschäft, als Geldregen vom Himmel für eine schöne Arbeit, die leicht von der Hand geht. Die Aufgabe ist einfach, die Story steht schon fest, man muss sie nur zu erzählen wissen. Das Wesentliche betonen, das Überflüssige streichen. Wir wollen, dass du das Richtige und Notwendige erzählst. Nicht mehr, nicht weniger. Magie, Fausto, darum bitten wir dich. Du bist der Beste darin. Du hast die Gabe, wir geben dir die Fakten.«
Das Manuskript des Romans, den er einst schrieb, liegt in irgendeiner Schachtel vergraben, an die er sich nicht einmal mehr erinnert. Eine Mappe, gefüllt mit Ausschnitten, literarischem Material und einem Notizbuch voller Ideen und im Omnibus ausgedachter Geschichten. Doch seither hat Fausto seine eigenen Entwürfe vergessen und sich der ihm auferlegten Aufgabe gewidmet, eine Geschichte zu erzählen, eine lange Saga, die er einmal gehört und als Kind in den Schulbüchern gelesen hat. Eine Erzählung, die man ihn vom Beginn bis zu den Fußnoten des Anhangs neu zu schreiben bat.
›Im Jahre 1541 betritt der spanische Konquistador Don Pedro de Valdivia das erste Mal das Tal des Mapocho. Er steigt bis zum Gipfel des Bergs Huelén hinauf, der da natürlich noch nicht den Namen irgendeiner Heiligen trägt, und betrachtet die Landschaft. Er entschließt sich, ein Bad im Fluss zu nehmen. Don Pedro zieht seinen Helm, seine Stiefel und seine Eisenrüstung aus und tritt an das Ufer des Mapocho, der zu jener Zeit noch kein Sammelbecken von Scheiße und Abfall ist, so wie er es später sein würde, sondern vielmehr ein Quell reinen Wassers, welches man sogar trinken konnte, wenn es einen dürstete.‹
Dieser Satz, der die Qualitäten des Flusses lobt, verschwand in der endgültigen Version. Von Scheiße und Abfall zu sprechen, schien eines Studientextes nicht würdig zu sein, erst recht nicht der offiziellen Geschichtsschreibung. »Wozu von Schweinereien sprechen, Fausto? Lassen wir es dabei bewenden, bei den Füßen Valdivias in dem sauberen Wasser des Flusses.«
›Don Pedro zögert nicht lange und springt ins Wasser. Und als sein Kopf untertaucht, so erzählt man, da spricht eine Stimme zu ihm, die ihm aufträgt, an dieser Stelle eine Stadt zu gründen: »Pedro, hier soll das Herz Chiles schlagen, dies soll der Nabel deines Landes sein.«‹