Die Wärme des roten Sandes - Christine Goeb-Kümmel - E-Book

Die Wärme des roten Sandes E-Book

Christine Goeb-Kümmel

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Beschreibung

Die Juristin Sally und das Straßenkind Jorge – zwei Menschen, wie sie bezüglich Alter, Geschlecht und Stellung in der Gesellschaft nicht unterschiedlicher sein könnten – treffen an einem Punkt ihres Lebens aufeinander, an dem es für beide nicht weiterzugehen scheint … Eine Erzählung über den Weg zum Sinn des Lebens.

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Seitenzahl: 190

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Impressum:

ISBN 978-3-946723-27-1

ISBN (Druckversion) 978-3-946723-28-8

Christine Goeb-Kümmel

Die Wärme des roten Sandes

Copyright 2016

1. Auflage

Korrektorat: Gisela Polnik

Gestaltung: Christine Goeb-Kümmel

Fotos: Bildnachweis am Buchende

Verlag Begegnungen

www.verlagbegegnungen.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Die Wärme des roten Sandes

Der Sinn des Lebens wartet überall …

von

Christine Goeb-Kümmel

 

Inhaltsverzeichnis:

Impressum:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Bildnachweis

Sternschnuppenlicht

Einige Bücher des Verlags Begegnungen:

 

 

Inhalt

Kapitel 1 Sally

Kapitel 2 Jorge

Kapitel 3 Veränderung

Kapitel 4 Entscheidung

Kapitel 5 Abschied

Kapitel 6 Neubeginn

Kapitel 7 Vergangenheit

Kapitel 8 Flucht

Kapitel 9 Glück

Kapitel 10 Bewegung

Kapitel 11 Wandlung

Bildnachweis

Sternschnuppenlicht

 

 

Kapitel 1

Sally starrte mit müden Augen auf das aufgeschlagene Notizbuch, das vor ihr auf dem glänzenden schwarzen Schreibtisch lag. Die Blätter waren vollgekritzelt mit geschwungenen Linien, Kreisen, Kugeln und Spiralen sowie starren, steifen Formen, die kreuz und quer über das Papier verliefen. Jede Linie, jeder Kreis für sich alleine betrachtet war bedeutungslos, doch gemeinsam schienen sie sich zu einer lebhaften, tanzen-den Truppe aus bizarren Fantasiewesen zu formieren. Die Kritzeleien hatten bei genauerer Betrachtung wahrhaftig einen eigenen Ausdruck und besonderen Charme, und Sally versuchte in ihrer Not, einen Sinn darin zu erkennen, war es doch ihre Arbeit der letzten Stunde. Es fiel ihr schwer, sich einzugestehen, dass sie – wie so oft in der letzten Zeit – eine Stunde einfach so vergeudet hatte, vergeudet mit der Anfertigung sinnloser Schmierereien, anstatt etwas Vernünftiges zu arbeiten. Die Aktenordner stapelten sich auf dem Arbeitstisch und wieder war ein Tag fast vergangen, an dem sie nicht einmal in der Lage gewesen war, sie auch nur zu öffnen.

Je länger sie hier saß, desto müder wurde sie und je müder sie wurde, desto weniger fühlte sie sich dazu imstande, aufzustehen und ihre aufkeimende Schwermut zu durchbrechen. Flüssiges Blei schien durch ihren Körper zu fließen und als schwere, träge Masse in ihren Füßen und Beinen zu erstarren.

Sallys Gesicht spiegelte die Erschöpfung wider und war bewegungslos wie eine Maske. Die Augen schmerzten, während sie sich krampfhaft bemühte, sie offen zu halten.

Ihr Blick löste sich von den bemalten Papieren und streifte die sechs Aktenordner, die auf dem Schreibtisch lagen, bevor er durch das große Fenster in das beruhigende Grün des Gartens eintauchte.

Es hatte kaum geregnet bisher in diesem Jahr, der Garten müsste gewässert werden. Wenn sie schon nicht fähig gewesen war, die Akten für das neue Projekt zu sichten, so hätte sie wenigstens die Pflanzen gießen können, stattdessen hatte sie ihre Zeit mit Sinnlosigkeiten verbracht.

Sally hasste es, Zeit zu verschwenden für in ihren Augen nutzlose Dinge. Sie fühlte sich nur dann gut und entspannt, wenn alles erledigt war, was sie sich vorgenommen hatte. Erholung oder gar Müßiggang zählten normalerweise nicht zu ihren bevorzugten Vorhaben und waren auf ihren Tagesplanungen nicht zu finden.

Mit diesem System hatte sie es beruflich ganz nach oben geschafft und ihre Arbeit erfüllte sie. Zumindest war das bis vor Kurzem so gewesen. In der letzten Zeit ertappte sie sich jedoch immer öfter dabei, dass sie keine Kraft mehr hatte, unkonzentriert und müde war, lustlos ihre Unterlagen und Projekte hin- und herschob und immer wieder ihren Tagesplan las, um schließlich in quälender Langsamkeit wenigstens das zu erledigen, was eigentlich am unwichtigsten war.

Sally spürte, dass in ihrem momentanen Leben etwas nicht stimmte. Jedoch wusste sie nicht, was es war, wusste nicht, was sie lähmte, konnte nicht erkennen, was ihren Alltag so verändert hatte. Eigentlich war alles in Ordnung gewesen, bis vor einigen Wochen … Bis dahin hatte sie ein Leben gehabt, das klar und strukturiert war und in dem sie sich sicher und zu Hause gefühlt hatte. Sie war 42 Jahre alt, eine sportliche Frau, Juristin und Mitinhaberin einer anerkannten und namhaften Anwaltskanzlei. Ihre Kunden gehörten zu den Menschen, die hauptsächlich beruflich, aber nicht selten auch privat anwaltlichen Rat benötigten und keine Probleme damit hatten, diese Leistungen auch entsprechend hoch zu honorieren.

Ihr Mann Robin arbeitete in der Chefetage einer großen Werbefirma und das Gehalt, das beide zusammen erwirtschafteten, ermöglichte ihnen, sich ein Haus mit großem Grundstück in einer der besten Gegenden der Stadt zu leisten.

Allerdings konnten sie es nur selten genießen, denn sie waren eigentlich kaum zu Hause. Ihr Arbeitstag begann früh morgens und endete spät abends und nicht selten gab es auch an den Wochenenden keine freie Zeit.

Allein ihr momentanes physisches und auch psychisches Unwohlsein und ihre Sorge, ihre Partner und Kollegen könnten ihren desolaten Zustand bemerken, hatten Sally veranlasst, die Unterlagen für das neue Projekt mit nach Hause zu nehmen und in ihrem privaten Büro zu bearbeiten. Sie spürte, dass sie erschöpft war, und hatte gehofft, durch etwas späteres Aufstehen und kleine Pausen zwischendurch ihr Befinden verbessern zu können. Jedoch war das Gegenteil der Fall. Sie ließ sich durch alles Mögliche ablenken, ging von einem Raum in den nächsten, suchte nach Ausreden, die Arbeit ruhen zu lassen, kochte sich ständig Kaffee oder Tee und beobachtete zwischendurch mit sichtlichem Unbehagen die Uhr, die unerbittlich anzeigte, wie die Zeit verstrich, ohne dass sie in der Lage war, auch nur einen einzigen Punkt ihrer Tagesliste abzuarbeiten.

Die Uhr war mittlerweile zu einem Feind geworden, und auch jetzt versetzte es sie erneut in Panik, dass der Nachmittag verstrichen war und ihre Haupttätigkeit des heutigen Tages darin bestanden hatte, einige Notizblätter zu bekritzeln und den Tagesplan umzuschreiben – nämlich einen Teil der zu erledigenden Tätigkeiten auf den morgigen Tag zu verschieben.

Vielleicht ging es ihr morgen besser, aber insgeheim befürchtete sie, dass das wahrscheinlich nicht so sein würde. Das Wort „Burnout“ wanderte beharrlich durch ihre Gedanken, aber sie schob es immer wieder beiseite. Nein, sie war nicht ausgebrannt. Ihr Leben war genauso, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie hatte stets darauf hin gearbeitet, etwas zu erreichen, ihre Belohnungen dafür waren das schöne Haus, ein guter Verdienst und vieles mehr, was sie sich leisten konnte.

Sally wusste, dass dies alles äußerliche Dinge waren und dass das Glück nicht alleine davon abhängen sollte, aber es war eine gute Basis. Was nützte die beste Partnerschaft, wenn die finanzielle Not so groß war, dass sie die Beziehung zerfraß. Sie und ihr Mann Robin führten eine gute Ehe, sie stritten selten ernsthaft und konnten sich aufeinander verlassen. Allerdings musst sich Sally eingestehen, dass sie sich nicht wirklich oft sahen, und besonders in den letzten beiden Jahren, seit sie als Partnerin in die Kanzlei eingestiegen war, hatten sie weder einen Urlaub miteinander verlebt noch über andere Dinge gesprochen – außer über Geldanlage und Sicherung ihres Lebensstandards. Sie fanden beide ihre Erfüllung in ihren Berufen und gingen darin auf – zumindest all die letzten Jahre hatte das auch auf sie zugetroffen …

Etwas hatte sich verändert, etwas Gutes war schlecht geworden – oder besser gesagt belastend, schlecht konnte man nicht sagen. Oder war das vermeintlich Gute nie gut gewesen?

Sally schaute sinnierend in den Garten. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätten, vielleicht hätte es ihrem Leben einen anderen, einen größeren, einen wirklichen Sinn gegeben. Andererseits sah Sally ihr Leben keinesfalls als sinnlos an, ganz und gar nicht. Sie war eigentlich nicht die geborene Mutter, war der Meinung, dass nicht jeder Mensch Kinder bekommen musste. Im Gegenteil, man konnte sich auch auf verschiedene Weisen um Kinder kümmern, die schon da waren und Hilfe benötigten, und nicht noch eigene in eine überbevölkerte Welt setzen. Bereits vor einiger Zeit hatte sie sogar darüber nachgedacht, ein Kind zu adoptieren, den Gedanken dann aber vorerst wieder verworfen. In ihren Augen war es ein großes Risiko, ein fremdes Kind aufzunehmen, wusste man doch nicht, wie es sich entwickeln würde und welche Überraschungen zutage kommen würden. Deshalb hatte sie es bisher vorgezogen, nicht praktisch zu helfen, sondern im Hintergrund zu bleiben und stattdessen Geld für sinnvolle wohltätige Zwecke zu spenden. Das war eine saubere Sache. Sie konnte auf diese Weise helfen, ohne zu tief in etwas hineingezogen zu werden, zu sehr emotional beteiligt zu sein. Es gab viele Menschen, die gerne direkt anfassten, da wo es nötig war, aber kein Geld geben konnten. Sie konnte es. So erfüllte sie den einen Part, andere einen anderen, und alles war gut.

Robin sah das Thema anders. Sie wusste, dass er sehr gerne ein Kind aufgenommen hätte. Jedoch war er sich darüber bewusst, wie sehr sie ihren Beruf liebte und dass sie beide für ein Kind Kompromisse eingehen müssten. Das wäre bis vor einigen Monaten für sie nicht infrage gekommen. In ihrem momentanen Zustand jedoch ertappte sie sich immer wieder dabei, ihr Leben – wie es sich jetzt darstellte – infrage zu stellen. Irgendetwas war offensichtlich doch nicht so gut, wie es bisher zu sein schien. Es lief nicht mehr rund, sie schwankte holprig durch ihre Tage und die Unzufriedenheit wuchs. Es musste noch etwas anderes im Leben geben als Arbeit und beruflichen Erfolg, und ganz tief in sich drinnen hatte sie das ungute Gefühl, irgendwann in eine falsche Richtung gelaufen zu sein. Jedoch konnte sie nicht genau erfassen, zu welchem Zeitpunkt das gewesen war. Mehr und mehr verdichtete sich jedoch bei Sally der Wunsch, etwas Praktisches und Sinnvolles zu tun, etwas zu ändern in ihrem Leben, und das „Thema Kind“ tauchte immer wieder aus dem nebulösen Dunkel auf. Über ihre Kanzlei hatte sie gute Kontakte unterschiedlichster Art, unter anderem auch zur Adoptionsbehörde, und so hatte sie vor einiger Zeit zuerst beschlossen, sich umzuhören und Erkundigungen einzuziehen, um dann schließlich einen konkreten Termin zu vereinbaren. Jedoch wollte sie zum damaligen Zeitpunkt Robin noch nichts davon sagen, da sie sich selbst und ihren Wünschen und Gefühlen nicht traute.

Bereits wenige Tage nach ihrem Entschluss saß sie vor einigen Wochen einer freundlichen Frau gegenüber, die sich ihr als Ruth Wagner vorstellte und die für die Vermittlung von Pflegekindern sowie Adoptionen zuständig war. Sally war eine selbstsichere Frau und den Umgang mit Menschen gewohnt, doch diese Dame verunsicherte sie. Ihre angenehme, sanfte und warmherzige Art berührte Sally tief im Herzen und sie selbst kam sich plötzlich hart, verbraucht und fast kaltherzig vor. Sie war kaum in der Lage, ihre Vorstellungen zu formulieren, schienen sie ihr doch plötzlich vermessen und berechnend. Dabei hatte sie bisher nichts dabei gefunden, ihre Wünsche klar und direkt auszusprechen. Ein kleines Mädchen sollte es sein, möglichst erst wenige Tage alt und auf jeden Fall „aus gutem Hause“. Man hörte doch immer wieder von jungen Mädchen aus gehobenen Verhältnissen, die ungewollt und viel zu früh Mutter wurden und zu deren Bestem dann entschieden wurde, das Kind gleich nach der Geburt in eine andere Familie zu geben. Zumindest sollte das Kind aus dem Inland stammen, um es – und damit auch die Adoptiveltern – aufgrund zum Beispiel seiner Hautfarbe vor eventueller Diskriminierung und dergleichen zu schützen. Sally rutschte mit sichtlichem Unwohlsein auf ihrem Stuhl hin und her. Da sie aber gewohnt war und es gelernt hat, ihre Wünsche klar zu äußern, überwand sie ihre anfängliche Unsicherheit, vermittelte ihre Vorstellungen genau und fühlte sich schließlich auch gut damit. Die Unsicherheit schwand immer mehr und die Sally, zu der sie im Laufe ihrer Juristenkarriere geworden war, bekam schließlich wieder die Oberhand und formulierte präzise. Sie wollte wirklich gerne helfen, aber es musste ja auch passen. Das Kind, das zu ihnen kommen würde, konnte außerordentlich dankbar sein, schließlich würden sie und ihr Mann ihm einiges bieten. Es würde gefördert werden, alle Möglichkeiten stünden ihm offen, sodass etwas aus ihm werden konnte. Deshalb sollte ihrer Meinung nach im Rahmen des Möglichen gewährleistet sein, dass es weder dumm, noch krank, noch ausnehmend hässlich war oder einen Hang dazu hatte, sich zu Menschen hingezogen zu fühlen, die nicht in die Gesellschaft passten, zu der Sally und ihr Mann gehörten.

Ruth Wagner hatte sich schweigend angehört, was ihre so bestimmt und resolut wirkende Besucherin zu sagen hatte. Nun, nachdem sie geendet hatte, ruhten ihre warmen Augen auf Sally. Sally wich diesem Blick nicht aus, spürte aber die Unsicherheit erneut aufkeimen, die Ruth Wagner in ihr verursachte. Es war eine gewisse Hilflosigkeit, die sie zutiefst beunruhigte. Diese Frau schien ihr direkt ins Herz schauen zu können, und was sie dort offensichtlich sehen konnte, war etwas, was Sally bisher selbst nicht erkennen konnte und was ihr fremd war …

Sechs Wochen waren seit diesem Gespräch vergangen. Frau Wagner hatte ihr mitgeteilt, dass es einige Zeit dauern konnte, bis ein passendes Kind gefunden war. Inzwischen war Sally allerdings schon einige Male versucht gewesen, die ganze Aktion wieder zu stoppen.

Sie begann sich zu fragen, was passieren würde, wenn das Kind nicht die gewünschte Veränderung brachte. Was, wenn das Kind sich nicht so entwickelte wie geplant? Was, wenn ihr eigener persönlicher Zustand sich verschlechterte, sie vielleicht am Ende körperlich krank oder depressiv würde? Das wäre auch für das Kind kein tragbarer Zustand und der erneute Verlust seines gerade erworbenen Zuhauses wäre unter Umständen unvermeidbar.

Trotz ihrer Bedenken hatte Sally in der Zwischenzeit mit Robin gesprochen. Er freute sich über ihre Entscheidung – ihre immer wieder aufkeimenden Zweifel verheimlichte sie ihm, fühlte sich jedoch nicht gut damit.

Was Sally nicht wusste, war, dass es auch ihrem Mann nicht gut ging, dass auch er sich in einer Lebenskrise befand. Just in dem Moment, in dem seine Frau im gemeinsamen Zuhause ihren trüben Gedanken nachhing, saß er an seinem Schreibtisch und betrachtete sinnierend die Fotografie, die sie beide während einer Kanutour zeigte. Lachende Gesichter voller Ausgelassenheit und Freude blickten ihm entgegen. Er fragt sich, wann er Sally zum letzten Mal fröhlich gesehen hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Er hatte diese Veränderungen der letzten Zeit zwar registriert, aber er konnte ihr Verhalten nicht einordnen, er wusste nicht, was mit ihr los war. Sally wurde ihm immer fremder und sie schien sich von ihm zurückzuziehen. Er machte sich Sorgen. Die Situation hinterließ eine tiefe Traurigkeit in seinem Herzen. Er war das, was man einen „Familienmenschen“ nannte. Sally war seine Familie, sie war ihm sehr wichtig, war sein Halt. Vielleicht verheimlichte sie ihm etwas? Eine Krankheit oder wollte sie sogar die Trennung? Robin schob diesen Gedanken zur Seite, er mochte ihn nicht weiter vertiefen.

Doch was war es, was Sally bedrückte? Sie sprach nicht darüber, versuchte stattdessen, alles normal erscheinen zu lassen. Es fiel ihr aber offensichtlich immer schwerer, die Fassade aufrechtzuerhalten, und immer häufiger war zu erkennen, dass ihr Energie und Motivation fehlten. Für Robin war das ein Zustand, den er schlecht einordnen konnte, denn seine Frau hatte während ihrer gemeinsamen Jahre niemals Schwäche gezeigt. Doch nicht nur die Sorge um ihre Gesundheit und die Unsicherheit bezüglich ihrer Gefühle ihm gegenüber quälten ihn, auch die Unsicherheit hinsichtlich ihres gewohnten Lebensstandards sorgte ihn. Er fragte sich immer öfter, ob er alleine in der Lage war, den gewohnten Lebensstandard zu halten.

Es wäre von großer Wichtigkeit, diese Themen gemeinsam zu besprechen, doch sie nahmen sich schon lange nicht mehr die Zeit, miteinander zu reden, und Robin war nicht fähig dazu, die Initiative zu ergreifen.

Sally und Robin hatten im Lauf der Jahre verlernt, miteinander zu sprechen. Es war beiden nicht klar, dass dies einer der Hauptgründe war für ihre momentane Situation. Sie hatten es verlernt, miteinander zu kommunizieren, und es fehlten Zeit, Ruhe und Kraft, um es neu zu erlernen. Vor allem fehlt das Bewusstsein, zu erkennen, dass im Lauf der arbeitsreichen Jahre etwas Wichtiges abhandengekommen war, nämlich sich aufeinander einzulassen, sich gegenseitig wahrhaftig zu sehen.

Doch beide hatten unbewusst Angst vor dem, was sich eventuell auftun und zeigen könnte, wenn alles zur Sprache gebracht würde. Sie fürchteten die Ungewissheit, fürchteten ein imaginäres Schreckgespenst, das vielleicht nur in ihrer Fantasie existierte, jedoch immer weiter wuchs, je länger sie beide schwiegen. Hinzu kam, dass besonders Robin eigentlich keine Veränderung zulassen wollte. Dabei bemerkte er nicht, wie sehr er damit auch seine eigene persönliche Entwicklung blockierte. Er schwieg lieber und hoffte, dass alles so weiterging wie bisher bzw. wieder so werden würde, wie es einmal war ...

Sally stand indessen an diesem milden Vorfrühlingstag traurig und müde am Fenster ihres schönen Hauses, war unzufrieden mit sich und der ganzen Welt, sah den trockenen Rasen und die Arbeit, die getan werden musste, und spürte und erkannte nicht, dass sie zu den privilegiertesten Menschen dieser Welt gehörte.

 

 

Kapitel 2

Jorge lag zwischen den schlafenden Hunden im dornigen Gestrüpp des Parks, der mittlerweile seit vielen Monaten sein Zuhause war. Er blickte schläfrig in den wolkenlosen Himmel. Die Luft flimmerte in der Mittagshitze. Eine kleine schmutzige Hand hielt er zum Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht vor die Augen, die andere Hand umklammerte seinen größten und einzigen Schatz, ein kleines besticktes Säckchen, das er mit einer Schnur um seinen Bauch gebunden hatte.

Wie so oft in der vergangenen Zeit vermittelt es ihm in diesem Moment Liebe und Wärme und das Gefühl, nicht alleine zu sein auf dieser Welt. Liebe und Geborgenheit gaben ihm zwar auch „seine“ Hunde, die dicht an ihn gedrängt den Tag verschliefen, doch diese eine besondere Liebe, die nur Eltern für ihr Kind empfinden können, die gab ihm einzig und alleine dieses Säckchen, das gefüllt war mit rotem Sand.

Immer wieder und viele Male in den vergangenen Monaten hatte sich der kleine Junge an sein früheres Leben erinnert und auch jetzt dachte Jorge an den Tag zurück, an dem sein Vater das gemeinsame Zuhause verlassen hatte. Nicht zum ersten Mal war der Vater aufgebrochen, um einen langen und beschwerlichen Weg zu gehen, in jedem Monat ein- bis zweimal führte ihn sein Weg hinaus in die Natur. Er verließ das kleine mit Palmblättern gedeckte Haus, das nur aus einem einzigen Raum bestand, an jenen Tagen stets bereits kurz vor Sonnenaufgang und ging dann immer alleine und mit forschen Schritten Richtung Westen. Sein Weg zum Meer war weit, ungefähr fünf Stunden Fußmarsch, das Ziel eine Bucht von magischer Schönheit. Diese Bucht, die sich besonders durch die rote Farbe ihres Sandstrandes von anderen unterschied, war schwer zugängig und über Land nur durch einen versteckten Zugang zu erreichen, der sich zwischen zerklüfteten Felsen befand

Cristian kannte den Weg sehr gut, war er doch schon viele Male hier gewesen. Der Weg, auf den letzten Metern beidseitig flankiert von hohen Felswänden, wurde immer enger, bevor sich schließlich zur Rechten ein Durchgang zeigte, der den Blick unvermittelt freigab auf die Bucht und das petrolfarbige Meer. Wenn Cristian nach dem anstrengenden Fußmarsch schließlich dort stand und auf das weite Meer und den roten Sand blickte, der der Bucht ihren Namen gab, dann öffnete sich sein Herz, sodass er glaubte, es müsse vor Glück gleich zerspringen, und er fühlte sich eins mit der Welt und dem Universum.

Am Strand angekommen legte er stets zuerst seine Netze aus, und während er darum bat und darauf wartete, dass einige Fische in sein Netz gingen, suchte er den Strand ab nach schönen Muscheln, Steinen und allerlei anderen Dingen, die das Meer unermüdlich anschwemmt. Aus diesen Gaben fertigte seine Frau sehr besondere Handarbeiten und Schmuckstücke an, die so liebevoll gestaltet waren, dass sie auf dem Markt in einiger Entfernung des Heimatdorfes der Familie sehr gern gekauft wurden. Nicht selten fand Cristian wunderschöne Steine, die aber recht groß und schwer waren. Trotzdem konnte und wollte er sie meist nicht zurücklassen und trug auf dem Heimweg so manches Mal zwar schwer, aber freudig an den Lasten, sah er doch vor seinem geistigen Auge bereits die außergewöhnlichen Kunstwerke, die seine Frau daraus fertigen würde, und ihre berührende und beinahe kindliche Freude über die schönen Funde.

Trotz aller Beschwerlichkeit und der Anstrengung der Wanderung über die unwegsamen Pfade liebte er diese Zeit am Meer. Aus vielerlei Gründen sehnte er sich stets nach diesen ganz besonderen Tagen, denn sie gaben ihm Zeit und Raum für sich selbst und seine Gedanken. Sie forderten ihn aufgrund des mühevollen und nicht ungefährlichen Fußmarsches geistig und körperlich, sie ließen ihn eintauchen in die Urformen der wilden Natur und damit in seine eigene Seele. Auch gaben sie ihm das Gefühl, zum Wohl seiner Familie zu handeln, denn er brachte Nahrung für Wochen zu seiner Frau und den Kindern.

Die Zeit am Meer war knapp, musste er doch vor Einbruch der Dunkelheit die unwirtlichste Strecke des Rückweges wieder bewältigt haben. Die letzten beiden Stunden der Wegstrecke bis zu seinem Zuhause konnte er sicheren Fußes auch in der Dunkelheit gehen, doch der Pfad, der vom Strand weg landeinwärts ungefähr drei Stunden zu gehen war, war schmal und gefährlich und keinesfalls in der Dunkelheit, nicht einmal in der Dämmerung zu bewältigen.

Es war nicht nur ein Platz von besonderer Schönheit, an dem Jorges Vater Cristian die Schätze des Meeres empfangen durfte, sondern er war auch deshalb so besonders, weil kaum ein Mensch ihn bisher betreten hatte. Auch die Männer des kleinen Ortes, vor dessen Toren Cristian mit seiner Familie lebte, kannten den Weg dorthin nicht. Einzig der alte Ares, einer der ältesten Männer im Dorf, wusste von den engen Felsspalten, die zu der Bucht des roten Sandes führten. Von den anderen Bewohnern des Dorfes interessierte sich kaum jemand für diese Bucht. Viel zu beschwerlich war der Weg dorthin – und auch gefährlich, das war bekannt. Die Felsspalten rechts und links des schmalen Pfades waren tief und ein Fehltritt konnte den sicheren Tod bedeuten. Auch musste der Weg zurück noch am Tag der Ankunft gegangen werden, denn die Möglichkeit, am Strand zu übernachten und den beschwerlichen Rückweg erst am nächsten Tag anzutreten, war nicht gegeben, hieß es doch, dass die Bucht das Reich der mächtigen Meeresschildkröten war, die einen achtsamen Besuch der Menschen zwar des Tages duldeten, niemals aber im Reich der Dunkelheit. Die Bucht konnte – so war es den Dorfbewohnern gelehrt worden – nur nach Sonnenaufgang betreten werden und musste vor Sonnenuntergang verlassen werden. In diesem Zeitraum ließ sie die Menschen, die bescheiden und reinen Herzens waren, teilhaben an all ihren Schätzen, doch niemals außerhalb dieser Zeit.

Cristian war der Einzige, der diesen Platz und den gefährlichen Weg dorthin nicht fürchtete, sondern liebte, verehrte und achtete. Mit Freuden nahm er den beschwerlichen Weg auf sich und oft erzählte er seinem kleinen Sohn Jorge von der überwältigten Besonderheit dieser einzigartigen Bucht mit dem roten Sand, der Wärme schenken konnte, von den Schildkröten, den Vögeln, die am Himmel kreisten, vom Frieden und der Stille an diesem mystischen Ort. Er versprach ihm, ihn mitzunehmen auf den weiten Weg, sobald er etwas älter und belastbarer geworden war, denn der Vater konnte ihn nicht tragen, nicht einmal einen Teil der Wegstrecke, musste er doch die schweren Gaben nach Hause bringen, die das Meer und der Strand ihm geschenkt hatten und von denen die Familie leben konnte.