Sam - Christine Goeb-Kümmel - E-Book
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Beschreibung

Kann eine einzige Begegnung ein ganzes Leben verändern? Niemals hätte der gelähmte Marius an diesem sonnigen Morgen im Juli gedacht, dass sein verlorenes Leben wieder einen Sinn erhalten könnte. Doch dann kommt Sam, ein behinderter Straßenhund und so wie Marius ein Außenseiter der Gesellschaft. Durch all das Unglaubliche, das dann geschieht, erfährt Marius, dass manchmal ein einziger Schritt in eine neue Richtung ausreicht, um alles zu verändern. Aber diesen ersten Schritt, den muss jeder selbst gehen … Eine berührende Geschichte von einer Freundschaft zwischen zwei Wesen, die so unterschiedlich zu sein scheinen und doch so ähnlich fühlen, so ähnlich sind … Ein Buch für alle, die Tiere und Menschen lieben und die niemals die Hoffnung verlieren … Erschienen im Rahmen des Projektes "Sternschnuppenlicht", einem Hilfsprojekt für Straßentiere.

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Seitenzahl: 185

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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Inhalt
Marius
Begegnung mit Sam
Und immer wieder Sam …
Der Ausflug in die Hügel
Sams Geschichte
Wiedersehen mit Sam
Der Wald
Begegnung mit Alin
Alins Geschichte
Die Hunde
Das Geschenk
Der Tierarztbesuch
Die Vermittler
Katrena
Sams Worte
Nelu
Abschied
Samantha
Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
Nachwort
Projekt Sternschnuppenlicht
Sonstige Informationen

Impressum

ISBN 978-3-946723-02-8 ISBN der Druckversion 978-3-9816162-6-2

Autorin: Christine Goeb-Kümmel

Titel: Sam – Eine Begegnung

Copyright 2015

Covergestaltung und Illustrationen: Christine Goeb-Kümmel

Verlag Begegnungen, 61389 Schmitten

www.verlagbegegnungen.de

Alle Rechte vorbehalten

Sam - Eine Begegnung

von

Christine Goeb-Kümmel

Gewidmet dem gesamten Team und allen Helfern des rumänischen Tierschutzvereins NUCA Animal Welfare sowie allen Straßentieren dieser Welt

Inhalt

Impressum

Marius

Begegnung mit Sam

Und immer wieder Sam …

Der Ausflug in die Hügel

Sams Geschichte

Wiedersehen mit Sam

Der Wald

Begegnung mit Alin

Alins Geschichte

Die Hunde

Das Geschenk

Der Tierarztbesuch

Die Vermittler

Katrena

Sams Worte

Nelu

Abschied

Samantha

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt

Nachwort

Projekt Sternschnuppenlicht

Sonstige Informationen

Marius

Jaaaaa! Tooor!

Der Jubel auf dem Spielfeld des kleinen Fußballplatzes ist unbeschreiblich und noch einige hundert Meter weit im Umkreis zu hören. Die Kinder fallen sich in die Arme, springen hoch in die Luft, werfen sich zu Boden und wälzen sich lachend und übereinander kugelnd durch den schmutzigen Sand.

Marius´ Finger klammern sich um das kalte Metall eines rostigen Geländers, das an einer Ecke des Spielfeldes einbetoniert ist. Er muss sich strecken, um den oberen Holm des Geländers erreichen zu können, und zieht sich mühsam daran hoch, während die Kinder auf dem Spielfeld freudig umherspringen und das eben gefallene Tor bejubeln.

Sehnsüchtig schaut er zu ihnen hinüber. Nur einen Moment lang will er sich auf ihrer Höhe befinden, möchte teilhaben an ihrer Freude und unbekümmerten Ausgelassenheit. Doch der Schmerz in den verkrampften Händen, die gerade sein ganzes Gewicht zu tragen haben, wird stärker, und obwohl er sich dagegen wehrt, lösen sich seine Finger kraftlos und sein Körper sackt schwerfällig zurück in den Rollstuhl. Beinahe wäre der durch die Belastung gekippt, denn der Boden ist uneben und nach dem starken Regen der vergangenen Tage aufgeweicht. Der Rollstuhl hat sich bei Marius´ Aufstehversuch leicht verschoben und neigt sich nun unter dem Gewicht des Jungen bedenklich zur Seite. Marius glaubt für einen Moment, das Gleichgewicht zu verlieren, doch der Rollstuhl kippt nicht, er sinkt allerdings nur noch tiefer in den weichen Boden ein und steht nun schräg.

Währenddessen leert sich das Sportfeld, das Spiel ist zu Ende. Die Kinder schlendern zufrieden zu zweit, zu dritt oder in größeren Gruppen in ihre Umkleideräume. Nur einige von ihnen haben Marius am Rand des Spielfeldes bemerkt. Nun winken sie ihm zwar zu, gehen dann aber davon, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Nur Nelu, ein schlaksiger Junge mit lockigen hellbraunen Haaren, bleibt einen Moment länger stehen und schaut zu Marius herüber. Dann senkt er den Kopf und folgt seinen Kameraden.

Wenige Minuten später liegt der Sportplatz leer und verlassen in der Mittagssonne.

Marius versucht nun mit seiner ganzen Kraft, den Rollstuhl aus dem weichen Boden zu manövrieren. Wäre nicht das Geländer nach wie vor in greifbarer Nähe, gäbe es für ihn wahrscheinlich keine Möglichkeit, sich zu befreien. So streckt er sich, so weit es geht, nach vorne, kann schließlich den seitlichen Geländerpfosten fassen und zieht sich mit großer Anstrengung mitsamt dem Rollstuhl mühsam auf festeren Boden.

Als er es endlich geschafft hat, laufen Tränen über sein Gesicht. Es sind Tränen des Schmerzes und der Anstrengung, aber auch der Wut und der Hilflosigkeit. Seine Hände sind schmutzig, die Haut ist an mehreren Stellen aufgerissen, seine Handgelenke schmerzen. Er hat keine kräftige Muskulatur in den Armen, denn die Möglichkeiten, seine Muskeln zu stärken, sind in der letzten Zeit eher gering. Meist schiebt seine Mutter den Rollstuhl, und seine Tage verbringt Marius mit Lesen oder aus dem Fenster schauen.

„Davon bekommt man keine Muskeln“, denkt er bitter.

Aber noch weit mehr als die körperlichen Qualen schmerzt ihn, dass er nun hier alleine und von allen verlassen am Rande dieses menschenleeren Spielfeldes steht. Die anderen Kinder sind sicher mittlerweile bereits auf dem Weg in die Stadt, um beim Eisessen oder im Schwimmbad den ersten Ferientag zu genießen.

Noch vor knapp einem Jahr war das anders gewesen. Da war er derjenige gewesen, der genau auf diesem Fußballplatz am höchsten gesprungen war und am lautesten gejubelt hatte. Er war einer der Besten gewesen, geschätzt und beliebt in seiner Gruppe und Teil dieser Gemeinschaft.

Sein Gesicht verdunkelt sich, während er an diese Zeit zurückdenkt und an das, was danach geschah. Er kann noch immer nicht begreifen, was mit ihm passiert ist, vor allem jedoch nicht in allen Konsequenzen verstehen, wie sein Leben nun weiter gehen soll.

Wenn er intensiv darüber nachdenkt – und das kommt sehr oft vor in der letzten Zeit, denn er hat nun sehr viel Zeit zum Nachdenken, – enden diese Gedankengänge eigentlich meist mit dem Ergebnis, dass es für ihn kein weiteres Leben mehr geben wird, keines, das anders aussieht als das, was er jetzt führt. Und eines ist ihm klar: So will er nicht weiterleben.

Marius sitzt noch am Rand des Fußballfeldes, als die Sonne ihren höchsten Punkt am Sommerhimmel überschritten hat und für einen Moment hinter den mächtigen, alten Tannen verschwindet, die seit vielen Jahrzehnten hier an diesem Platz stehen. Die Schatten der großen Bäume fallen über ihn und es kommt ihm so vor, als spiegele dieser Verlauf des Tages sein Leben. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte er geglaubt, dass das große, bunte, helle Leben für ihn noch kommen würde, und nun sitzt er im Schatten und in seiner Vorstellung zeichnet sich ab, dass die Sonne für ihn nie mehr wirklich scheinen und das helle, warme Licht nie mehr auf ihn fallen wird …

Er ist traurig und die Angst vor der Zukunft, die Hilflosigkeit, das beklemmende Gefühl, nicht mehr Herr über den eigenen Körper zu sein, erscheinen ihn auch in diesem Moment – wie so oft in den letzten Monaten – zu erdrücken. Doch gleichzeitig regt sich immer wieder Groll in ihm und unbändige, schmerzhafte Wut. Er will sich nicht abfinden mit diesem Schicksal, und vor allen Dingen will er nicht hilflos und nutzlos in diesem Stuhl sitzen.

Die Sommerferien haben heute begonnen. Wie sehr hatte er stets – seit Beginn seiner Schulzeit – diesen schönsten Wochen des Jahres entgegengefiebert. Er war immer gerne zur Schule gegangen, aber trotzdem wurden die Sommerferien von ihm und allen anderen Kindern fieberhaft erwartet und als Höhepunkt des Jahres gefeiert, als eine Zeit grenzenloser Freiheit, geprägt von Spaß und Spiel.

Nur zu gut erinnert er sich an diese glücklichen Zeiten. Die meisten Vormittage der Ferien pflegte er mit seinen Freunden auf dem Sportplatz zu verbringen, die gemeinsamen Nachmittage im Schwimmbad.

Nun sitzt er hier, alleine, am ersten Ferientag von vielen …

Seine eben noch übermächtige Wut verwandelt sich in Resignation und tiefe Traurigkeit.

Marius ist 12 Jahre alt, in zwei Wochen würde er seinen 13. Geburtstag „feiern“. Nach Feiern ist ihm allerdings nicht zumute …

13 Jahre alt, das ist schon etwas, man ist dann eigentlich kein Kind mehr, sondern fast erwachsen. Marius hatte früher oft darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn man erwachsen wird. In seiner Vorstellung war besonders dieser dreizehnte Geburtstag stets als Wendepunkt erschienen, als wichtiger Übergang in ein ganz neues, selbstbestimmtes Leben. Er war davon überzeugt gewesen, dass in diesem Alter das richtige Leben überhaupt erst beginnt – doch für ihn war es vor einem Jahr von einem Tag auf den anderen zu Ende gegangen ...

Seine früheren Schulkameraden werden nun nach und nach groß und stattlich und er muss tagein und tagaus zusammengekauert in diesem Stuhl sitzen. Eigentlich ist es egal, ob er noch wächst oder nicht, wen interessiert es?

„Wenn ich wenigstens im Rollstuhl stehen könnte“, denkt Marius mürrisch, „dann würde ich mich vielleicht nicht ganz so mickrig und hilflos fühlen.“

Er kommt sich stets so klein und wertlos vor, so weit unter allen anderen, nicht nur auf körperlicher Ebene, für alle offensichtlich erkennbar, sondern auch mental.

Marius löst sich schwerfällig aus seinen trüben Gedanken und betrachtet, was um ihn herum zu sehen ist. Das hatte er früher nie oder nur sehr selten getan. Stets mit Freunden unterwegs, konzentrierte er sich hauptsächlich auf die gemeinsamen Unternehmungen.

Da war keine Zeit gewesen, um auf – wie er damals glaubte – Nebensächlichkeiten zu achten.

Jetzt hat er viel Zeit und er verbringt sie meist mit sich alleine. Manchmal muss er sich allerdings eingestehen, dass ihm das auch hin und wieder ein gutes Gefühl gibt, ein Gefühl der Ruhe. Und da ist noch etwas anderes, eine Sicherheit, eine Art von Geborgenheit, die scheinbar tief aus ihm selbst heraus kommt. Er kann es nicht so gut beschreiben, denn meist ist es so, dass das Gefühl nur sehr schwach ist und schnell wieder verschwindet, sobald er es wahrnimmt. Es zeigt sich ihm nur manchmal und nur ganz vage, aber es ist schön.

Marius schaut zum Himmel hinauf. Er ist stahlblau, keine einzige Wolke ist zu sehen. Die Sonne hat mittlerweile die Spitzen der Tannen passiert und strahlt kraftvoll auf ihn herab.

Es wird ein heißer Tag werden, bereits jetzt ist es sehr warm, die Luft flimmert. Das Wetter im Juli, wenn sein Geburtstag naht, ist stets hochsommerlich heiß und das schon, seit er sich erinnern kann.

Seine Gedanken wandern zu dem Tag im Juli des letzten Jahres, an dem sich sein Leben so sehr verändert hat. Es war ein Sonntag gewesen, der Tag nach seinem Geburtstag.

Erst seit Kurzem gelingt es ihm, das Geschehene zu reflektieren, sich auf die manchmal quälenden Gedanken einzulassen, und er will es mittlerweile auch. Lange Monate hatte er das, was passiert war, komplett aus seinem Denken verbannt. Doch nun spürt er, dass es nötig ist, sich diesen Tag, nachdem nichts mehr so war wie vorher, zurück in sein Gedächtnis zu rufen. Er scheint sehr wichtig zu sein und fordert seine Beachtung, trotz des Leids und der Schmerzen, die er ihm brachte.

Marius hatte das Auto nicht kommen sehen, das mit hoher Geschwindigkeit in den kleinen Ort gerast war, in dem seine Großmutter lebt. Er war an diesem strahlenden Sonntagnachmittag lachend aus ihrem Vorgarten getreten, hatte sich noch nach ihr umgeschaut und ihr fröhlich zum Abschied mit einer Hand zugewinkt, während er mit der anderen Hand glücklich das Paket mit den neuen Fußballschuhen an sich drückte und gleichzeitig versuchte, das hölzerne Gartentörchen zu schließen.

Er erinnert sich noch jetzt genau daran, wie verwundert er gewesen war, als ihm das kleine Tor praktisch aus der Hand gerissen wurde, genau in dem Moment, in dem der Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen verlor und das Auto in den Gartenzaun schleuderte. Das Paket mit den rot-weißen Sportschuhen flog weit durch die Luft, als ihn das Fahrzeug erfasste.

So seltsam ist seine Erinnerung an diesen Moment. Er hörte den gellenden Schrei der Großmutter, die das Geschehen mit ansehen musste, und spürte die Erschütterung in seinem Körper. Aber er empfand keinen Schmerz, und als er das Bewusstsein verlor, galt sein letzter Gedanke dem Paket mit den Schuhen, den so lange ersehnten Schuhen, dem Geschenk der Großmutter zu seinem 12. Geburtstag …

Und nun war ein Jahr vergangen, sein 13. Geburtstag stand bevor. Was war in diesem Jahr alles passiert, welche Veränderungen hatte es gebracht – in seinem äußeren Umfeld, aber auch in seinem Inneren ...

Nach dem Unfall hatte seine Mutter mit ihm die Stadt verlassen und sie waren hierher an den Stadtrand gezogen, in eine ebenerdige Wohnung mit einem kleinen Garten, direkt angrenzend an Wiesen und Wälder und ursprüngliche Natur.

Die Wohnung ist ohne Treppenstufen zu erreichen und er kann problemlos in den Garten und auf die Straße hinaus fahren. Aber was nützt ihm das? Er kann sich nicht frei bewegen, das Haus darf er normalerweise nur zusammen mit der Mutter verlassen. Früher war er sehr selbstständig gewesen und stets im gesamten Stadtviertel unterwegs, das sein Zuhause war.

Und so hadert Marius hin und wieder innerlich mit seiner Mutter, die initiiert hatte, die vertraute Umgebung inmitten der Stadt zu verlassen. Sicherlich weiß er, dass sie nur in seinem Sinn handelte, und es tut ihm auch sehr leid, dass er sich nicht darüber freuen kann, aber er kann nicht aus seiner Haut. Es ist für ihn unendlich schwer, seine Hilflosigkeit und Unselbstständigkeit zu akzeptieren und nun gegängelt zu werden wie ein Kleinkind. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, der ihn hoffen und erwarten ließ, dass sich mit jedem Jahr ein Stück mehr Freiheit für ihn erschließen würde, dass das große, bunte, freie Leben nun bald beginnen würde, war er fixiert worden in diesen Rollstuhl, der eine weitere Entwicklung nicht zuzulassen schien.

Jeder seiner Gedankengänge endet immer und immer wieder an diesem Punkt, ganz gleich, wo er begonnen hatte. Wieder und wieder kreisen seine Gedanken um dieses Thema, um all die Verluste, die er erlitten hat, um den Verlust seiner Freunde, seiner Selbstständigkeit, seiner Selbstbestimmtheit, seiner Freude und Erwartungen – kurz, um den Verlust seines Lebens. Nicht selten wünscht er sich, den Unfall nicht überlebt zu haben.

Die Vorstellung, sein momentanes Leben noch sechzig oder gar siebzig Jahre oder noch länger in dieser Form aushalten zu müssen, quält ihn und lässt ihn beinahe verzweifeln.

Nicht einmal mehr zur Schule kann er gehen. Die Klassenräume seiner alten Schule befinden sich in der zweiten Etage eines alten Gebäudes; es war ihm nicht möglich gewesen, mehrmals am Tag die Treppen zu überwinden, und es stand auch niemand zur Verfügung, der ihm behilflich gewesen wäre. Also hatte seine Mutter, die Lehrerin ist, eine Genehmigung beantragt, ihn zu Hause unterrichten zu dürfen. Das ist jedoch nur innerhalb eines begrenzten Zeitraums möglich, danach wird er wieder zur Schule gehen müssen.

Marius weiß nicht genau, wann das sein wird, es ist ihm auch egal. Nein, eigentlich ist es ihm nicht egal. Er kann oft schlecht umgehen mit diesen widersprüchlichen Gefühlen, die sich in ihm zeigen, dieser Mischung aus Abwehr gegen alles und jeden, gleichzeitig aber dazu gehören wollen, sich ein Leben zu wünschen inmitten einer Gemeinschaft.

Auch spürt er oft, wie weh er seiner Mutter tut mit seinem abweisenden Verhalten. Dann bemüht er sich doppelt, ihr das Gefühl zu geben, dass es ihm gut geht, denn er liebt sie sehr und will ihr das Herz nicht noch schwerer machen.

Aus ihren Andeutungen ließ sich bereits entnehmen, dass er nach dem Herbst eine Schule mit gut erreichbaren Räumen besuchen soll. Das bedeutet aber auch, dass wieder ein Umzug bevorsteht. Der Gedanke an einen erneuten Umzug macht ihm allerdings nicht viel aus, denn er hat bisher keine Beziehung zu dieser Gegend aufgebaut. Er ist sowieso kaum draußen, ist vormittags, wenn seine Mutter arbeitet, alleine im Haus und nachmittags bei gutem Wetter manchmal im Garten. Das Einzige, was ihn einerseits intensiv mit dieser Gegend verbindet, ihm andererseits aber auch unendlich wehtut, ist die Tatsache, dass die momentane Wohnung in unmittelbarer Nähe des Fußballplatzes liegt, auf dem er in den letzten Jahren mit seiner Mannschaft trainiert hatte und auf dem auch einige wichtige Spiele stattgefunden hatten.

Irgendwie verbindet ihn das noch zu einem kleinen Teil mit seinem früheren Leben, eigentlich ist es das Einzige, was davon noch übrig geblieben ist.

Seine Schulfreunde und die Jungs vom Fußballverein melden sich schon lange nicht mehr. In der ersten Zeit nach dem Unfall hatten sie oft nach ihm gefragt und ihn auch besucht, aber seit dem Umzug lässt sich keiner mehr sehen, noch nicht einmal sein bester Freund Nelu, und das tut Marius besonders weh. Nelu war fast täglich zu Besuch gekommen, als sie noch in der früheren Wohnung wohnten. Allerdings regte sich in Marius in dieser Zeit immer intensiver das Gefühl, dass Nelu sich bei ihm nicht mehr wohlfühlte. Er mochte ihn aber auf keinen Fall aufgrund seines Zustandes an sich binden, wollte nicht aus Mitleid besucht werden.

Deshalb hatte er schließlich damit begonnen, abweisend und mürrisch zu ihm zu sein, um ihm Gründe zu geben, sich von ihm zu distanzieren. Nelu schien das nicht verstehen zu wollen und fragte ihn oft, was mit ihm los sei. Aber seine Besuche wurden letztendlich nach und nach seltener und irgendwann kam er nicht mehr.

Seiner Mutter gegenüber trat Marius stets so auf, als mache es ihm nichts aus, das stimmte aber ganz und gar nicht.

An diesem Vormittag hatte Marius nun beschlossen, das Haus ohne Erlaubnis seiner Mutter zu verlassen. Natürlich ist ihm bekannt, dass immer am ersten Ferientag der Sommerferien ein Fußballspiel stattfindet, bei dem die Mannschaft seiner früheren Schule gegen die Spieler einer Schule am anderen Ende der Stadt antritt, und der Wunsch war sehr stark in ihm geworden, wenigstens aus der Distanz daran teilzunehmen.

Zwar kann er ein schlechtes Gewissen, gegen den Wunsch der Mutter zu handeln, nicht leugnen, doch er weiß, hätte er sie um Erlaubnis gefragt, hätte sie seinem Anliegen, ganz alleine zum Fußballplatz fahren zu dürfen, mit Sicherheit nicht nachgegeben. Und da ihm prinzipiell die Missachtung eines erteilten Verbots wesentlich schlimmer erscheint, als gar nicht erst zu fragen, hatte er sich für Letzteres entschieden.

Marius hat geplant unmittelbar nach dem Spiel wieder nach Hause zu fahren, so wäre er wieder in seinem Zimmer, bevor sie von der Arbeit kam, und sie würde nicht einmal bemerken, dass er weg gewesen war. Da es ihm aber trotzdem widerstrebt, die Mutter zu hintergehen, beschließt er gleichzeitig, es ihr bei nächster Gelegenheit zu beichten und sie vielleicht sogar zu bitten, hin und wieder alleine nach draußen zu dürfen.

Der Fußballplatz, an dessen Rand er jetzt immer noch steht, war der einzige Ort außerhalb seines Stadtviertels gewesen, den er früher mit seinen Freunden häufig aufgesucht hatte. Die daran angrenzende wunderschöne Landschaft war allerdings nie von Interesse für ihn gewesen, er hatte sie nicht einmal wirklich wahrgenommen.

Das erscheint ihm jetzt ganz und gar unverständlich, denn die Stille der Natur und die beruhigende Ausstrahlung dieser Landschaft ziehen ihn in diesem Moment wie magnetisch an.

Seine Gefühle für die Natur und auch sein Bewusstsein für seine Umgebung hatten sich allerdings bereits in den letzten Monaten sehr verändert. Seit er täglich viele Stunden am Fenster seines Zimmers mit Blick in den Garten verbringt, nimmt er nun Dinge wahr, die ihm früher nicht aufgefallen sind. Er beobachtet die Vögel, registriert, wie sie miteinander umgehen, sieht Insekten in den unglaublichsten Farben und Formen und besonders die Schmetterlinge, von denen sich ab und zu der eine oder andere in sein Zimmer verirrt, faszinieren ihn.

Im letzten Monat hatte er beobachtet, dass Fledermäuse unter dem Dachüberstand des Hauses zu wohnen scheinen, denn in den frühen Morgenstunden sah er sie vor dem Fenster flattern. Sie kehrten offensichtlich von ihren nächtlichen Jagdzügen zurück und flogen ihre Ruheplätze an, um dort den Tag zu verschlafen.

Diese Erlebnisse sind seine wirklichen Glücksmomente und so manches Mal bescheren sie ihm Minuten, die seine Tage etwas lichtvoller machen. Leider ist es ihm bisher nicht gelungen, sich wirklich und ganz und gar auf diese freudvollen Momente einzulassen. Zu tief ist das Gefühl in ihm verankert, dass ihm alles genommen wurde, was das Leben lebenswert macht, dass das Schicksal ihn bestraft und ungerecht behandelt hatte. Und dieses große, schmerzvolle Mitleid, das er für sich selbst empfindet, erstickt immer wieder aufs Neue jedes kleine Gefühl der Freude oder gar des Glücks.

Marius´ Blick fällt auf den nahen Waldrand, dessen mächtige und kraftvolle Wächterbäume sich ihm in unmittelbarer Nähe zeigen.

Einige hundert Meter vom Fußballplatz entfernt beginnt das Gelände sanft anzusteigen, wie auf wundersame Weise modelliert. Niedrige Sträucher und Büsche schmiegen sich auf den leicht hügeligen Boden, der nach und nach immer steiler ansteigt.

Ein kleiner, steiniger, kaum erkennbarer Pfad schlängelt sich durch diesen Bewuchs und scheint schließlich hinter einer Biegung zu verschwinden, die bereits einige Meter höher liegt als der Platz, an dem sich Marius in diesem Augenblick befindet.

Eigentlich hatte Marius wirklich nichts anderes geplant, als gleich nach dem Spiel wieder nach Hause zu fahren, doch dieser kleine, verschlungene Pfad zieht ihn magisch an.

Da – ein Fuchs taucht hinter einem etwas größeren Stein auf, schaut kurz zu dem Jungen herüber, um dann blitzschnell in einem dichten Strauch zu verschwinden. Marius blickt ihm fasziniert hinterher, und plötzlich erscheint es ihm als großes Abenteuer, diesen Hang, seine Tiere und Pflanzen und den nahen Wald, zu erleben und zu erfahren.

Für einen kurzen Moment hat ihn diese Faszination seine ihn ständig begleitenden trüben Gedanken vergessen lassen.

Schlagartig fällt ihm jetzt wieder ein, dass er nicht – wie früher – leichten Fußes diesen Weg erklimmen kann und sein Gesicht verschattet sich erneut sorgenvoll. Doch dann geht ein Ruck durch ihn und er sagt sich, dass er es trotzdem schaffen kann. Er will dort oben auf dem Hügel stehen und erkunden, welcher Blick sich ihm auf die andere Seite bietet.

Der Gedanke ist kaum zu Ende gedacht, da setzt er sich bereits in Bewegung. Der Weg zwischen dem Wohnhaus und dem Fußballplatz war bequem zu passieren gewesen, denn er ist gut befestigt und leicht abfallend. Es hat Marius keine Anstrengungen gekostet, die kurze Entfernung von vielleicht zwei Kilometern zurückzulegen. Die Fahrt auf diesem ansteigenden Naturweg gestaltet sich allerdings wesentlich schwieriger. Während er heftig keucht, bearbeiten seine Hände die Räder des Rollstuhls und mehr als einmal droht das Gefährt auf dem unebenen Weg zu kippen. Nicht nur seine Arme sind untrainiert; Marius hat kaum Kraft und wenig Kondition, aber er beißt die Zähne zusammen und Stück für Stück manövriert er sich mühsam den Berg hinauf.

Vorbei an blühenden Büschen und bunten Blumen schlängelt sich der Weg immer weiter bergauf. Manchmal belohnt ein ebenes Teilstück den Jungen für seine Anstrengung. Dann kann er ein kleines bisschen verschnaufen und die Gegend betrachten, durch die er rollt.

Dichter, hoher Bewuchs wechselt sich ab mit Stellen, an denen ein freier Blick über die Landschaft möglich ist. Trotz aller Anstrengung genießt Marius den Weg. Zum ersten Mal seit Monaten hat er das Gefühl, etwas zu leisten, und das tut ihm sehr gut.