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Ein Gemälde, das finstere Pläne gegen seine Käuferin schmiedet. Eine Schriftstellerin, die sich in einer gleißend schönen KI-Welt wiederfindet. Und ein moderner Dorian Gray, dessen digitales Abbild zu verwesen droht.
Es ist ein merkwürdiges Bild, das da jetzt von einem iPhone in der Cloud herumflimmert, ein Glitch vielleicht, denn alles, was darauf zu sehen ist, ist Helligkeit.
Das Böse ist zurück: Christiane Neudecker lockt erneut die Tradition der dunklen Erzählkunst in unsere medial überstrahlte Wirklichkeit. In sieben gothic-novel-Miniaturen lässt sie das Unheimliche direkt unter unserem modernen Alltag lauern. Mit KI, Pandemie und Social Media hat es neues Folterbesteck. Denn die Welt wartet nicht, sie dreht sich weiter. Und das Unbegreifliche ist immer schon online und vor Ort. Ein beunruhigender Lese-Sog: heimtückisch und hypnotisch.
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Seitenzahl: 283
Ein Gemälde, das finstere Pläne gegen seine Käuferin schmiedet. Eine Schriftstellerin, die sich in einer gleißend schönen KI-Welt wiederfindet. Und ein moderner Dorian Gray, dessen digitales Abbild zu verwesen droht.
Das Böse ist zurück: Christiane Neudecker lockt erneut die Tradition der dunklen Erzählkunst in unsere medial überstrahlte Wirklichkeit. In sieben gothic-novel-Miniaturen lässt sie das Unheimliche direkt unter unserem modernen Alltag lauern. Mit KI, Pandemie und Social Media hat es nun neues Folterbesteck. Denn die Welt wartet nicht, sie dreht sich weiter. Und das Unbegreifliche ist immer schon online und vor Ort.
Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Seit 2001 arbeitet sie international mit dem Künstlerkollektiv phase7 zusammen, u.a. für die KI-Oper »Chasing Waterfalls«, die 2022 in der Semperoper Dresden und auf dem New Vision Arts Festival Hongkong Premiere feierte. Für ihre Romane und Kurzgeschichten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr erster Band mit unheimlichen Geschichten, »Das siamesische Klavier«, wurde mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet.
Christiane Neudecker
Unheimliche Geschichten
Luchterhand
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Copyright © 2024 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von plainpicture / Buiten-Beeld / Misja Smits
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30993-0V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Für immer und nie
La Vuelta
Wem du traust
Die Welt wartet
Totläuferin
Die Löschung oder: [Strg]+[Shift]+[Entf]
Point Nemo
Der Fluss funkelt. Unten, von der Engelsbrücke aus, könnte man sehen, wie brackig und von Algenschaum und Plastikmüll durchzogen der Tiber ist, aber von hier oben zeigt sich Rom in allerbestem Licht. Die Abgase der Autokolonnen versehen alles wie mit Weichzeichner, und die Herbstsonne taucht die von Taubenkot ganz pockigen Kirchkuppeln in goldenen Glanz.
Adrian versucht, sich weiter rückwärts über die Brüstung der Engelsburg zu biegen, aber es gelingt ihm nicht. Der hüfthohe Glaszaun, den sie vor die Steinbrüstung gesetzt haben, ist ihm im Weg. Er seufzt. Das Problem ist der Winkel. Die Sonne steht falsch. Wenn unter ihm die Stadt leuchtet, ist er eine Silhouette.
Ein Anfängerfehler ist das. Normalerweise berechnet er den Sonnenstand und richtet seine Photosessions danach aus. Oder er hat seine Ausrüstung dabei, seinen Tripod, oder wenigstens den Saugnapf aus Silikon, mit dem er sein Handy überall befestigen kann. Aber heute hat er sich mitreißen lassen, so wie überhaupt dieser Tag ihn mitreißt. Noch am Vormittag war mit der Einladung zu diesem Casting nicht zu rechnen gewesen. Dann kam der Anruf: Für eine Rolle in einer deutsch-italienischen Serie wolle man ihn vorsprechen lassen, ja, morgen vor Ort, nein, nicht online – und schon Stunden später stieg er in Fiumicino aus dem Flugzeug. In einer kleinen Pension hinter dem Bahnhof Termini warf er seine Sachen ab. Sein Zimmer ist winzig, ohne Bad und ohne Balkon, ohne Spiegel, dafür mit hoher Stuckdecke, grünen Damastvorhängen und mit einem durchgelegenen, mit der Wand verschraubten Einzelbett, das er seinen Fans und Followern ganz bestimmt nicht zeigen wird. Im Schreibtisch entdeckte er den versprochenen Kühlschrank und verstaute dort die Einkäufe, die er im Untergeschoss des Bahnhofs noch schnell erstanden hatte: eingelegte Artischocken und Oliven, Mozzarellabällchen mit grünem Pesto, Salami, Cocktailtomaten und ein paar Dosen Peroni. Dann ging er sofort los, hinein in das Gewimmel, durch Gassen und über Stufen, bis zur Engelsburg, hinauf auf ihre Aussichtsplattform, die Terrazza dell’ Angelo. Rom von hier oben im Sonnenuntergang, das war das Ziel. Oder genauer: er, Adrian, von der Ewigen Stadt umsäumt.
So schwer kann das nicht sein.
Adrian dreht sich hin und her, das Smartphone in den Himmel gereckt. Auf dem Bildschirm kann er sein eigenes Gesicht sehen. Er sieht fahl aus. Nur seine Augen leuchten ihm aus jeder Position entgegen, das Blau, das seine Agentur so gerne preist: ein Schauspieler, in dessen Blick man versinkt. Aber dieser Blick wirkt jetzt müde, man sieht ihm die Erschöpfung an. Direkt innerhalb der App wird er das Bild aufnehmen müssen und einen der Schönheitsfilter anwählen, dann muss er sich nicht umständlich selbst an die Bearbeitung machen. Das Problem ist, dass Instagram die Nutzung von Filtern inzwischen kennzeichnet. Glamour-Filter by Koknox plärrt es unter den Videos und Bildern hervor, jeder kann sehen, dass man sich virtuell verschönern musste, aber das ist ja das Ziel. Die Nutzer sollen unterscheiden zwischen Sein und Schein.
Als wäre es dafür, denkt Adrian und dreht sich noch etwas weiter nach links, nicht haushoch zu spät. Die Wirklichkeit ist längst verloren, sein Beruf ist dafür der Beweis. Das hat er vor Kurzem auf der Bühne so gesagt, auf einem Filmfestival. Er sprach in die vielen Handykameras hinein, deren Frontaugen ihn aus dem Zuschauerraum anstierten. Der Moderator, der der Einzige war, der sich in diesem toten Raum noch bewegte, nickte ihn gelangweilt an.
Adrian seufzt noch einmal. Er muss sich beeilen, bevor das Licht verschwindet. Es ist wichtig, dass er heute noch postet, dass er Likes und Kommentare einsammelt, bevor er morgen zum Vorsprechen geht. Seine Beliebtheit in den sozialen Medien kann, das weiß er, für die Filmproduzenten das Zünglein an der Waage sein. Vielleicht kann er sein Handy auf einer der weißen Steinbänke absetzen und sich mit Selfie-Modus und zehn Sekunden Zeitverzögerung aufnehmen, darin ist er geübt. Oder er bittet eine der Touristinnen aus der japanischen Reisegruppe, die sich da unter der hoch auf der Burgspitze thronenden Engelsskulptur zusammenflockt, ihn zu photographieren. Aber das geht meistens schief, niemand hat einen besseren Blick auf Adrian als er selbst.
Dieser Engel ist überhaupt ein tolles Motiv. Wie der da mit weit ausgebreiteten Schwingen sein Schwert zückt. Das Haar so lockig, die Gesichtszüge ebenmäßig, der ganze bronzene Körper kraftvoll, bis in die Flügelspitzen hinein. Ein Selfie mit dem muss her.
Aber der Engel ist hoch oben, Adrian muss sich auf dem steinernen Terrassenboden auf die Zehenspitzen stellen, um sie beide zusammen aufs Bild zu bekommen. Zwischen ihnen gähnt der Ausgang, durch den man aus der Burg hinaus auf die Engelsterrasse tritt, das stört ihn, aber es lässt sich nicht ändern. Irgendwo beginnt eine Glocke zu schlagen, und gerade als Adrian abdrückt, stürzt ein Greis durch die Türöffnung, mit wirrem Haar und zuckendem Blick. Auf seinem Screen kann Adrian sehen, wie der Alte in seinem Rücken den Mund aufreißt und direkt auf ihn zustürmt. Er wirbelt herum, weicht zurück, und dann geht alles sehr schnell.
Jemand fällt auf ihn. Von oben scheint derjenige auf ihn herabzukrachen, das kann gar nicht sein, aber Adrian denkt nicht nach und packt einfach zu, damit sie nicht beide rückwärtstaumeln, über die gläserne Absperrung und die Festungsmauern hinweg. Irgendwer schreit, hoch und schrill, Adrian spürt das Gewicht des Körpers, der ihn mit sich in die Tiefe zu reißen droht, er hakt seinen Fuß um einen metallenen Sockel, ein Münzfernglas oder eine Informationstafel, egal was das ist, es dient ihm als Hebel, er stemmt sich vorwärts, und sie fallen gemeinsam nach vorne, auf den sonnenwarmen Boden.
Der Aufprall ist hart, in seinem Ohr ist ein Keuchen und ein Kitzeln wie von Federn, jemand applaudiert, Kameras klicken, Adrian rollt sich herum und rappelt sich auf, so schnell er kann. Zu seinen Füßen ist eine Bewegung. Erst jetzt sieht Adrian, wen er da mit sich gerissen hat, einen jungen Mann, fast noch ein Junge, der ihn unter flatternden Wimpern anstarrt. Der Typ murmelt etwas, in einer Sprache, die Adrian nicht versteht. Engelszungen, denkt er sofort und muss sich das Grinsen verkneifen, denn wer da vor ihm auf dem Boden liegt, ist ein Engel. Seine Flügel sind weit gespreizt und haben durch den Sturz ein paar Federn verloren, der Lendenschurz ist verrutscht, die Locken schweißverklebt. Ein Kleindarsteller muss das sein, in vollem Kostüm, so wie die Gladiatoren, die vor dem Kolosseum darauf warten, dass man mit ihnen photographiert werden möchte. Sogar ein Schwert hat der, kaum zu glauben, dass das aus Plastik sein soll, es wirkt täuschend echt, mit Rostflecken und allem.
»Sorry«, sagt Adrian, als er die Hand ausstreckt und dem Jungen auf die nackten Füße hilft. »Blöd von mir, I didn’t see you there, scusi!« Aber der Engelstyp legt seinen Kopf schief und lächelt und sagt auf Deutsch: »Gerettet hast du mich.«
Der wirre Alte, der das alles ausgelöst hat, ist nirgends zu sehen.
Als Adrian am nächsten Morgen erwacht, schmerzt ihm der Nacken. Er hat in der Nacht die Damastvorhänge nicht nahtlos geschlossen, ein schmaler Lichtstreifen fällt durch die Lücke und zieht sich quer über sein Bett. Draußen im Hof hört er ein klackendes Geräusch, der Gesang einer Frau hallt gegen die Hauswände, Klimaanlagen rattern, eine Taube gurrt. Im Zimmer selbst ist es still, nur der kleine Kühlschrank surrt in seinem hölzernen Haus vor sich hin.
Adrian stöhnt und presst sein Gesicht in die Kissen. Das darf nicht sein, er kann sich keinen Kater leisten, nicht heute, nicht, wenn er endlich mal wieder zu einem Vorsprechen eingeladen wurde, einem internationalen noch dazu, von einem der wichtigsten Streamingdienste. Sein Atem riecht schal. An eine Bar kann er sich erinnern. An eine Uhr auf der rohen Backsteinwand, deren Zeiger bei jedem neuen Hinsehen um Stunden vorwärtsgesprungen zu sein schienen. An Zigarettenrauch und Gelächter und einen flimmernden Fernseher, vor dem alte Männer auf ein Pferderennen starrten. Auf einen Grappa hatte er den Jungen doch nur einladen wollen, einen Schnaps auf den Schreck, hatte er gerufen, und er weiß noch, dass sie sich gemeinsam vor den Japanern verbeugt hatten, bevor sie die Burg verließen. Aber ab da wird es verschwommen. In seiner Erinnerung sieht er Fruchtfliegen, die ein Glas umschwirren, ein Schälchen mit abgeknabberten Olivenkernen und zerbrochenen Pistazienschalen, eine Hand, die aus dem Nichts kommt und ihnen die langstieligen, geschwungenen Gläser füllt. Dazwischen blitzt das Engelsgesicht vor ihm auf, die riesigen Augen, die ihn so aufmerksam ansehen, die dichten Wimpern, die faltenlose Stirn. Dass der Junge mehr aus seiner Jugend machen müsse, hat Adrian irgendwann gerufen, Vergänglichkeit is a bitch! Später hat er dann wahrscheinlich noch angefangen herumzubrabbeln, von den Rollen, die ihm schon jetzt, mit Ende dreißig, nicht mehr angeboten werden, von den Filmemachern, die bei der Besetzung eines Films auf die Followerzahlen der Schauspieler schielen, vom Zwang, immer jung zu bleiben, jung zu wirken, jung zu sein.
Gut, dass er dem Engel nie wieder begegnen wird.
Sie haben ihre Kontakte nicht ausgetauscht. Der Junge – wie hieß er noch – hatte keinen Account, nirgends. Adrian wunderte das nicht. Er kennt einige junge Offliner. Das ist die Rebellion der seit ihrer Geburt durchleuchteten Generation: digital detox, #mentalhealthmatters. Wer kein Profil hat, kann nicht blockiert werden. Und wer nicht erreichbar ist, über den zieht jeder Shitstorm hinweg.
Wenn er könnte, würde er es auch so machen.
Irgendwann haben sie trotzdem ein Selfie miteinander geschossen, daran erinnert sich Adrian, und daran, dass er dachte, wie unklug das war, weil er neben dem jungen Kerl aussah wie dessen Vater. Und warum der die Flügel nicht ablegte, sie den ganzen Abend nicht abgelegt hatte, obwohl die so schwer aussahen. Hat er das noch gepostet? Er ist sich nicht sicher. Irgendetwas hat er noch hochgeladen, aber was?
Adrian tastet im Halbdunkel nach seinem Handy und hält es vor sein Gesicht, aber es entsperrt sich nicht. Die Gesichtserkennung funktioniert nicht, und er ist zu müde, um sein Passwort einzutippen. Der Schmerz in seinem Nacken zieht ihm bis hoch zur Schläfe. Das Casting ist am Nachmittag, irgendwo in Testaccio, bis dahin muss er sich in Griff bekommen, dringend. Er muss aufstehen. Einen Kaffee trinken. Etwas in den Magen bekommen. Eine Aspirin einwerfen. Und den Text für die Rolle lernen, für die sie ihn vorsprechen lassen. In dieser Reihenfolge.
Adrian schält sich aus der verzwirbelten Bettdecke, er muss sich nachts herumgeworfen haben. Bevor er die Tür öffnet, lauscht er in den Flur hinein, es soll ihn niemand so sehen. Mit gesenktem Kopf huscht er an den Holztüren der anderen Zimmer vorbei, auf das Gemeinschaftsbad zu. Kaffeegeruch wabert im Flur herum, und jetzt fällt es ihm ein: Es gibt unten im Erdgeschoss einen Frühstücksraum. Die Tür gegenüber dem Badezimmer ist weit geöffnet, ein kleines Mädchen steht dort und kaut auf den bunten Plastikkugeln ihres Armbands herum. Ihre Mutter, die sich gerade im Morgenmantel zu ihr beugt, hält, als sie Adrian sieht, mitten in ihrer Bewegung inne: »Bellissimo!« Er schüttelt den Kopf und zieht schnell die Tür zum weiß gekachelten Badezimmer hinter sich zu, er weiß selbst, wie er am Morgen aussieht, das Gesicht verquollen, die Falten noch tiefer als sonst.
Am Waschbecken glänzen die goldenen Armaturen, der Wasserstrahl ist, als er den Hahn aufdreht, kräftig und kühl. Seine Zahnbürste und das Handtuch hat er im Zimmer vergessen, aber er beugt sich vor und schaufelt sich Wasser in sein Gesicht, mit beiden Händen. Er kann spüren, wie die nasse Kühle zu wirken beginnt und der Schmerz hinter seinen Schläfen nachlässt. Dann richtet er sich auf und öffnet direkt vor dem Spiegel die Augen.
Er ist so schön, dass ihm der Atem stockt.
Ein Trick des Lichts muss das sein, das durch das mattierte Fensterglas fällt. Seine Haut ist rein, die Augenringe sind verschwunden. Er hat auch keine Tränensäcke mehr. Sogar sein Haar wirkt voller. Die Geheimratsecken, die er sonst unter seinem Baseball-Cap versteckt, kann er kaum noch entdecken. Auch die Backen sind nicht so aufgedunsen wie sonst nach einer durchzechten Nacht. Gut möglich, dass hier noch Wasserdampf in der Luft liegt und als Weichzeichner dient. Oder der Spiegel hat ein besonderes Glas. Was auch immer es ist: Der Effekt ist verblüffend. Als er jetzt einen Schritt zurücktritt, bemerkt er, wie breit und muskulös seine Schultern wirken. Er sieht fast so aus wie früher, als sie ihn vom Pausenhof holten, ihn direkt vor die Kamera stellten und für diese Serie besetzten, deren Nachruhm er bis heute nicht abstreifen kann. Dass so ein Spiegel fahrlässig ist, denkt er, als er die Treppe zur Rezeption hinuntersteigt. So eine Täuschung bringt einem ja nichts.
Der Frühstücksraum ist klein. Helle Sonnenstrahlen fallen durch die weit geöffneten Fenster, die bodenlangen Gardinen wehen im Wind. Auf einem Wandvorsprung steht die tönerne Skulptur eines Gladiators, darunter ist ein Feuerlöscher platziert. Die Tische sind fast alle mit Pensionsgästen besetzt. Als er vorübergeht, blicken sie von ihren Handys und aufgefalteten Stadtplänen auf. Die Frauen lächeln ihn an, die Männer mustern ihn unter halb gesenkten Lidern. Erst als er am schmalen Buffet seinen Teller mit Brötchen und Butterpäckchen und Marmeladenbechern füllt, bemerkt er das Wispern und Tuscheln hinter seinem Rücken. Dass das deutsche Touristen sind, muss das heißen. Er ist es gewohnt. Auch wenn er die Vorabendserie vor über zehn Jahren verlassen hat, um viel zu wenige, viel zu schlecht bezahlte Filme zu machen: Wer einen Fernseher besitzt, weiß, wer er ist. Und wer dafür zu jung ist, kann ihn von seinen Posts kennen, da gingen vier richtig viral.
Er trinkt gerade seine zweite Tasse Kaffee und will sein Smartphone aus der Hosentasche ziehen und endlich seinen Account überprüfen (Was hat er nun gestern gepostet?), als ein Schrei ihn zusammenzucken lässt. Eine Teenagerin, die mit ihren Eltern in einer Ecke sitzt, starrt ihn an, ihr zitternder Finger deutet erst auf ihn und dann auf ihr Smartphone, das vor ihr auf der Tischplatte liegt, ihr Finger zuckt hin und her, der Horror verzerrt ihr plumpes Gesicht. Adrian schüttelt den Kopf, was auch immer mit ihr nicht stimmt, er will da nicht mit hineingerissen werden. Schnell trinkt er den Kaffee aus und springt auf, ohnehin ist das nur Instantkaffee, die Butter ist ranzig, und die Brötchen sind alle voller Luft. Vielleicht sollte er bleiben, sich um das Mädchen kümmern, aber ein Blick in die entgeisterten Gesichter der Eltern reicht, um ihn hinauszutreiben, an der Rezeption vorbei, aus dem Gebäude hinaus, hinein in die Stadt.
Ein paar Straßen weiter ist ein Markt aufgebaut, die Holzlatten der Stände biegen sich unter Türmen von Plastikspielzeug, Secondhandkleidung, Käserädern, Gemüse, Kartons voller Schuhe und Batterien. Es riecht nach Autoabgasen und gärendem Abfall, die Menschen drängen und rufen.
Adrian taucht in den Strom ein und lässt sich treiben. Er hat nicht vor, etwas zu kaufen, aber er genießt die Stimmung, die bunten Farben von Kleidung und Obst, die im Wind flatternden Markisen der Stände, die abblätternden Fassaden der Häuser.
Im zweiten Stock, über dem Eingang zu einem Waschsalon, öffnet gerade eine weißhaarige Dame die wettergegerbten Holzläden ihres Fensters, sie sieht Adrian von oben direkt ins Gesicht und stockt mitten in der Bewegung. Dann hebt sie die zitternde Hand zum Gruß. Adrian lächelt und winkt zurück.
Überhaupt scheinen alle ihn anzusehen – oder bildet er sich das ein? Eine Verkäuferin reicht ihm einen Apfel, eine Frau mit riesigen Ohrringen presst im Vorüberdrängeln ihre Silikonbrüste gegen seinen Arm, ein junger Mann im Anzug raunt in sein Ohr: »Ciao, bello.« Es ist, als würde sich der Strom der Marktbesucher um Adrian herum verlangsamen, als sähen alle ihn an. Adrian schert seitlich aus, hinter einen Stand mit Sonnenbrillen und bunten Hüten und lehnt sich an eine Hauswand. Er muss jetzt endlich sein Handy entsperren, er weiß nicht, wann er zuletzt so lange offline war. Normalerweise öffnet er seine Apps mehrfach in der Stunde, vom Aufwachen bis zum Einschlafen, seine Finger machen das inzwischen fast ohne sein Zutun. Während der Lockdowns hat er sich das angewöhnt, als alle Filmdrehs verschoben worden waren und er zu Hause herumsaß und sich seine über 270k Follower zusammensammelte, organically grown, wie er immer gerne betont: alles echte Menschen, keine bezahlten Bots. Manchmal stellt er sich vor, wie es wäre, ihnen in Wirklichkeit zu begegnen, diesen zweihundertsiebzigtausend ihm zujubelnden Menschen. Aber das ist natürlich Unsinn, die meisten sehen ihn kaum noch in ihrem Feed. Trotzdem muss er sich um sie kümmern. Es gehört jetzt zu seinem Beruf. Er muss seine Gefolgschaft füttern und wässern wie eine empfindliche Pflanze.
Adrian nimmt seine Sonnenbrille ab und hält sich das Handy dicht vor sein Gesicht. Wieder verweigert es die Erkennung, Face ID unbekannt, und als er das Passwort eintippen will, verfehlt er die Tasten. Vermutlich hat er vor dem Schlafengehen die Helligkeit heruntergeregelt, jetzt passt sie sich nicht automatisch dem Sonnenlicht an, und er kann die Umrisse der digitalen Tasten nicht erkennen.
Adrian flucht. Er muss seinen Account kontrollieren, er kann sich keine Ausrutscher leisten. Die Plattform straft jede Verfehlung sofort ab. Erst vor Kurzem wurde ihm ein Video gelöscht, unlizenzierte Musik hatte er da versehentlich druntergelegt, das ahndet das System sofort. Viele solcher Fehler dürfen ihm nicht unterlaufen, sonst sperren sie ihm noch den Zugang. Aber er hat gestern doch etwas gepostet, da ist er sich jetzt sicher. Der Junge – Michele hieß er, endlich fällt es ihm ein –, der Junge hatte ihn zu etwas herausgefordert. Auf Veröffentlichen hatte er getippt, und danach waren sie beide in Gelächter ausgebrochen und hatten wieder ihre Gläser erhoben, diese sich magisch nachfüllenden Gläser, sie hatten getrunken und gekichert, aber worüber?
Was war da gewesen?
Noch einmal versucht er, sein Passwort einzugeben, vier Buchstaben auf dem überstrahlten Screen, aber seine Finger zittern jetzt, er ist unterzuckert und ungeduldig noch dazu, das kann so alles nichts werden. Er muss sich irgendwo hinsetzen, in ein schattiges Café, eine Eisdiele, eine Bar, am besten in der Nähe eines kühlen Brunnens oder Parks, und sich konzentrieren.
Erst als er aufsieht, bemerkt er die Traube aus Menschen, die durch den schmalen Raum hinter den Ständen zu ihm drängt. Sie recken ihm ihre Handys entgegen und rufen etwas. Das sind keine deutschen Fans, das sieht er sofort. Ihre Gesichter sehen verzerrt aus, fast wütend. Was ist hier los? Was wollen sie? Ihn können sie kaum meinen, aber er weicht trotzdem besser aus, duckt sich unter der Verstrebung eines Stands hindurch, stolpert über eine Kiste mit Sonnenbrillen, drängt sich zum Marktende hindurch und läuft dann, so schnell er kann, die angrenzende Straße hinunter. Aus dem Schaufenster einer Kleiderboutique blitzt ihm seine eigene Reflektion entgegen: An den Rümpfen der Mannequins sind statt Köpfen Spiegel angebracht. Sein eigenes Gesicht sieht er auf deren makellosen Körpern mit den kunstvoll bestickten Gewändern sitzen. Und er stutzt. Was ist das nur, wie kann das sein: Er ist noch immer so schön.
Etwas regt sich in seinem Hinterkopf. Der Fetzen eines Gesprächs. Mit Michele hat er über die Schönheitsfilter in den Apps gesprochen, wie praktisch die seien, wie lebensecht und überzeugend. Wie sehr man sich in ihnen verlieren könne, in diesem Wunschbild von sich selbst. Ganz aufmerksam war der Junge da gewesen. Alles hatte er wissen wollen. Wie die Filter funktionierten, was sie veränderten. Und wieso Adrian das mache. Adrian hatte dessen Weltfremdheit gar nicht glauben können. Wie viele Touristen ließen sich mit ihm als Engel ablichten, täglich, auf dieser Burg? Du lebst doch hier, hatte er gerufen, du bist doch aus Rom! »Wahrlich«, hatte der Junge da geantwortet, nein, gesungen hatte er es fast. »Wahrlich«, hatte er also gesungen, in dieser Sprache, dieser merkwürdigen Sprache, die er benutzte. Überhaupt hatte alles, was der von sich gab, altertümlich geklungen. Als hätte er sich sein Deutsch selbst beigebracht, in einem Antiquariat voller porös werdender Bücher.
Eine Polizeisirene heult hinter ihm auf, und Adrian wirft einen Blick zurück: Sind sie doch hinter ihm her? Weit hinten an der Kreuzung sieht er eine kleine Gruppe wild gestikulierender Menschen, sie schauen sich suchend um, und er beschleunigt seinen Schritt und biegt scharf links ein, in einen Hof, dessen speckiges Kopfsteinpflaster zu einem Bau aus Ziegelmauerwerk führt. Die eisenbeschlagene Tür dort ist nicht verschlossen, also zögert er nicht und tritt einfach ein.
Einen kurzen Augenblick lang sieht er nichts, seine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Ein paar dämmrig beleuchtete Vitrinen mit Gesteinsbrocken und Ausgrabungsstücken setzen Lichtpunkte bis hin zu einer schmalen Tür am Ende des Raums. Adrian tastet sich vorwärts, seine Hände finden die Klinke, er zieht die Tür auf und atmet scharf ein.
Vor ihm öffnet sich eine riesige Basilika.
Goldene Leuchter schweben wie Planeten mitten im Raum, Buntglasfenster malen Lichtschweife auf den Boden. Die Kuppel über dem Zentrum ist so hoch, dass Adrian ihre Wölbung kaum erkennen kann. Eine bronzene Meridianlinie durchschneidet die marmorne Fläche. Gerade schreitet eine schmale Braut durch das Hauptschiff auf den Altar zu, die Sonnenstrahlen fallen aus dem offenen Kuppelkern durch ihren Schleier. Adrian tritt unwillkürlich näher, Orgelmusik braust auf, die Braut scheint sich zu sträuben, der Brautvater packt sie am Ellenbogen und zerrt sie weiter vorwärts, eine Taube läuft mit ruckendem Kopf davon.
Adrian atmet durch. Neben ihm führt eine Treppe in eine Gruft hinunter, die Luft, die von dort aufsteigt, riecht abgestanden, aber für ihn zählt nur, dass er hier, im Dämmer der Basilika, endlich die Tastatur auf seinem Bildschirm wieder erkennen kann.
Diesmal funktioniert das Entsperren, und Adrian drückt sofort auf sein Instagram-Profil. Ein Bild von sich und der Engelsstatue hat er heute Nacht noch gepostet, das ist merkwürdig, er kann sich überhaupt nicht erinnern, es aufgenommen zu haben. Wie hat er das geschafft, sich so nah neben ihrem bronzenen Gesicht zu positionieren, in diesem geraden Winkel, das ist unmöglich, er müsste dazu mitten in der Luft gestanden haben, hoch über dem Steinboden der Terrasse. Eine optische Täuschung muss das sein, aber immerhin: Er sieht fantastisch aus, fast genauso gut wie heute früh im Badezimmerspiegel der Pension. Vanitas Filter von phase7 verrät die Markierung. 113 Kommentare befinden sich schon unter dem Bild, hauptsächlich Flammen und Herzen, ein paar Emoticons mit Heiligenschein oder Teufelshörnern und 1581 Likes. Er atmet auf. Schnell sucht er die besonders witzigen Kommentare heraus und vergibt Herzen und tippt Antworten. Auch seine anderen Plattformen kontrolliert er, seine digitalen Postfächer, die privaten und die beruflichen, eins nach dem anderen. Die Fragen seiner Agentin sind die einzigen, auf die er reagiert, bin gut gelandet, antwortet er ihr, alles im Griff, ich hol mir die Rolle.
Adrian ruft wieder sein Profil auf. Das Selfie mit der Statue hat schon 27 neue Likes, 3 frische Kommentare. Vielleicht sollte er nachlegen, gleich hier in dieser Kirche ein neues Bild machen, mit dem Brautpaar im Hintergrund, das jetzt auf den Altarstufen kniet. Noch weiß ja niemand, dass Sybill und er sich getrennt haben. Zwei Monate Schonfrist hat sie ihm bis zum offiziellen Statement gegeben. Wenn seine Follower glauben, dass er über Heirat nachgedacht, ihr vielleicht sogar einen Antrag gemacht hat, ist die Fallhöhe umso größer, das Netz liebt solche Geschichten, do it for the plot. Und ihr ist egal, was er auf seinen Profilen treibt. Sie hat nie verstanden, wieso das für ihn so wichtig geworden ist. Wahrscheinlich ist das, wenn er ehrlich ist, der wahre Grund ihrer Trennung.
Drei Bilder macht er in schneller Folge, er stellt sein Handy an einem Beichtstuhl ab und löst mit Zeitverzögerung die Kamera aus, er wechselt die Positionen, zeigt sich von hinten, auf die Trauung blickend, dann im seitlichen Profil, erst aus der Ferne, dann ganz nah. Es soll wirken, als hätte ihn jemand ertappt, in einem unbeobachteten Moment.
Das erste Bild ist wunderbar komponiert. Seine Silhouette hebt sich vor dem gebündelten Sonnenstrahl unter der Kuppelöffnung ab, im Hintergrund segnet gerade der Pastor das Paar. Nur sein Rücken ist so gekrümmt, als hätte er sich über einen Stock oder einen Rollator gebeugt, was ist da los, er hat sich doch aufrecht gehalten. Auch das nächste Bild lässt ihn stutzen, ja, er hat sich heute Morgen nicht rasiert, ein paar Bartstoppeln könnte er höchstens haben, aber irgendetwas muss da in die Linse geflogen sein, es wirkt, als hätte er einen ungepflegten, grauen Bart. Schnell wischt er weiter zum letzten Bild: der Nahaufnahme.
Sein Aufschrei lässt das Brautpaar zusammenzucken, die Taube stört auf und flattert zur Kuppel hoch, der Blasebalg der Orgel pumpt. Mit zitternden Händen greift er nach seinem heruntergefallenen Handy und zoomt näher an sein Abbild heran. Es gibt keinen Zweifel: Er ist ein Greis.
Die Herbstsonne brennt ihm in den Augen, er läuft, so schnell er kann, aber er weiß gar nicht wohin. Vespas und Mopeds brausen an ihm vorüber, vom offenen Verdeck eines Sightseeing-Busses aus winken Touristen zu ihm herunter, ein Rosenverkäufer reckt ihm eine dornige Blume entgegen, eine Gruppe von Schülerinnen sitzt kichernd auf einer Mauer, eines der Mädchen pfeift ihm hinterher.
An einem Kiosk reißt er eine Flasche Wasser aus der Kühltruhe, das Wasser ist gefroren, der Block aus Eis schlägt von innen gegen die Plastikwand. Adrian kramt in seiner Hosentasche nach Münzen, seine Hände zittern noch immer, aber der Verkäufer, den er vor lauter Zeitschriften und silbernen Rubbel-Losen, Schokoriegeln, Kaugummis und Zigaretten kaum sehen kann, will kein Geld dafür haben, doch nicht von ihm, ruft er, von so einem schönen Mann. Adrian widerspricht nicht, er ruft im Weiterlaufen »Grazie« mit krächzender Stimme.
In irgendeinen Park biegt er ein, er stapft über eine Rasenfläche, vorbei an Familien auf Picknickdecken und an in Klappstühlen versunkenen, alten Damen, die ihren Männchen machenden Pudeln Karottenstückchen reichen. An einer Platane sinkt er ins Gras und lehnt den Rücken gegen den hell gescheckten Stamm. Er dreht den Verschluss der Wasserflasche auf, schlürft das Schmelzwasser ab und atmet durch, bevor er sich das Handy greift und in den Selfie-Modus geht.
Das Weiß in seinen Augen ist wässrig und vergilbt. Die Tränensäcke sind aufgeschwemmt, aus seinen Augenbrauen stechen weiße lange Haare. Der Bart ist grau und ungepflegt. Seine Stirn und seine Wangen sind mit Altersflecken überzogen. Aber das Schlimmste ist die Glatze. Oder nicht einmal die Glatze selbst. Es ist der stoppelige Kranz aus dünnen Härchen, diese Andeutung einer Mönchstonsur, die sich kreisrund um seinen kahlen Schädel legt.
Adrian schließt die Augen und rollt die kühle Wasserflasche über seine Schläfe. Er muss sich beruhigen. Sein Smartphone spinnt. Das ist die einzige Erklärung. Irgendein technischer Defekt ist das. Oder es hat etwas mit dem Jungen zu tun. Vielleicht hat der ihm etwas ins Glas geträufelt, ein Halluzinogen, irgendeine psychedelische Droge. Oder der war gar nicht so unbeleckt in Online-Fragen, wie er getan hat. Bestimmt hat der ihm heimlich ein Virus draufgeladen, oder einen von diesen Spaß-Filtern, die einen älter machen oder in eine Comicfigur oder eine Katze verwandeln, so wie jenen Anwalt, der im Lockdown damit viral ging, dass er bei einer Online-Gerichtsverhandlung den Kätzchen-Filter nicht abschalten konnte und mit zitternden Schnurrbarthaaren dem Richter zurief: »I am not a cat!«
Er darf sich jetzt nicht durcheinanderbringen lassen. Viel wichtiger ist, dass er in Wirklichkeit gut aussieht. Und das tut er heute, sein Spiegelbild hat ihm das bestätigt. Wenn er beim Vorsprechen nicht völlig versagt, gehört die Rolle ihm. Er muss einfach nur durchatmen. Er muss sich vorbereiten. Das Casting ist in drei Stunden, und er muss den Text noch lernen. Er braucht diesen Job. Eine der Hauptrollen soll er da spielen, einen Schönling, dem Mutter und Tochter verfallen, es ist selten geworden, dass man ihm so etwas anbietet. Und bei seiner Agentin sollte er sich auch mal melden.
Dass er die Videocall-Funktion gedrückt hat, merkt er erst an ihrem Blick. Sie hat immer etwas Verärgertes an sich, man hat sofort das Gefühl, dass man sie stört. Aber heute wirkt sie völlig entgeistert, als sie ihn sieht. Sie reißt ihre Brille, die sie sich immer wie einen Reif ins Haar schiebt, auf den Nasebügel herunter und hält sich ihr Smartphone dicht vors Gesicht. Er sieht den ausfransenden Lippenstift, der in die Runzeln um ihren Mund herum eingesickert ist. »Wer sind Sie?«, fragt sie und zwinkert.
»Adrian«, sagt er, »sorry, ich weiß nicht, was mit meinem Handy los ist.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein, ich …«
»Wieso haben Sie Adrians Telefon?«
»Ich bin doch …«
»Rufen Sie mich nie wieder an!«
Das Videofenster schließt sich, blitzartig, ihr Bild ist verschwunden, stattdessen blickt er auf den Chatverlauf, die lange Kolonne aus grünen und weißen Konversationskästchen. Seine eigenen Worte gähnen ihm von dort entgegen, sie hängen in der leeren Luft: »Ich hol mir die Rolle.«
Adrian muss fast lachen, zu bizarr ist das alles. Seine Agentin betreut ihn seit über zwanzig Jahren, und sowas ist ihm noch nie passiert. Schnell tippt er in das Kästchen: »Handy defekt, merkwürdiger Filter drauf. Das war doch ich!«
Aber gerade als er auf Senden drücken will, verschwindet ihr Profilbild, dieses Photo von den Filmfestspielen in Cannes, auf dem sie einen bunten Sommerhut trägt und dem Betrachter ein Glas Aperol Spritz entgegenreckt. Stattdessen erscheint der Schattenriss des Avatars, den die App vorschabloniert.
Adrian starrt auf seinen Screen. Sein Finger schwebt über der Tastatur, dann drückt er auf Senden. Es ist, wie er es erwartet hat: Die Nachricht erhält nur einen grauen Haken. Seine Agentin hat ihn blockiert.
Zum ersten Mal ist ihm das mit Sybill passiert, als sie mitten in der Pandemie auf einem Kreuzfahrtschiff angestellt war, drei Monate lang, zwei Tanzshows täglich, mit PCR-getesteten Passagieren in sterilisierten Kabinen. Sie hatten sich gestritten, wie es eben passiert, wenn man sich wochenlang nicht sieht. Sybill hatte ihn im Feed einer Followerin entdeckt, bei einer Filmpremiere Arm in Arm in die Kamera grinsend, ohne Abstand und ohne Maske. Dabei hatte er sie ja gar nicht mitnehmen können, weil sie im Glitzerkostüm auf einer schwankenden Bühne über den Atlantik tanzte. Mitten im Streit war plötzlich ihr Profilbild auf null gesprungen, der ausdruckslose Avatar glotzte ihn an, und seine Nachrichten liefen ins Nichts. Dass das am Schiff liegen musste, hatte er erst gedacht, WLAN gab es da ja nicht, der Empfang musste von Satellitenschüsseln herbeigewuchtet werden, jedes winzige Kilobyte kostete Unsummen. Er hatte auf den Avatar gestarrt und sich eingebildet, das Meer dahinter rauschen zu hören, die aufsprudelnde Gischtlinie, die der Schiffsbug durch das Wasser zog, und darauf gewartet, dass ihr Photo wieder erschien. Es kam erst am nächsten Morgen zurück, als sie sich beruhigt hatte.
Auch jetzt wartet er, ungläubig. Seine Agentin muss doch verstehen, dass er das war. Aber auf seinem Bildschirm verändert sich nichts. Es gibt keine Satelliten, kein Meer, nur der Verkehr rauscht am Parkrand entlang. Über ihm raschelt die Platane im Wind. Ein orangefarbenes Blatt segelt abwärts und legt sich neben ihm ins Gras.
Das Gebäude, in dem das Casting stattfinden soll, ist grau und unscheinbar. Ein Filmgelände hat er erwartet, oder zumindest eine von diesen römischen Villen mit weit geschwungenen Treppenaufgängen, stattdessen stemmt sich ein Waschbeton-Kasten vor ihm in den Himmel, der genauso gut im Industriegebiet von Hamburg stehen könnte.
Auf dem Klingelschild kann er weder den Namen der Produktionsfirma noch den Namen des Streamingdienstes finden. Überhaupt sind viele der kleinen Schildflächen leer, manche der Namen sind durchgestrichen oder aus ihrer Plastikverschalung herausgerissen, so als wäre das Gebäude längst verlassen. Eine getigerte Katze umstreift mit hoch aufgestelltem Schwanz seine Beine, sie hat nur ein Auge. Adrian zögert, bevor er die Tür aufzieht. Irgendwo weiter hinten scheint ein Treppenaufgang zu sein, der mit einer durchsichtigen Abdeckplane verhängt ist. Das ganze Gebäude wirkt feucht, wie ein noch nicht getrockneter Neubau.
In einem abzweigenden Flur klebt ein Zettel an der Wand, TLA steht darauf und ein krakeliger Pfeil zeigt geradeaus. Die Abkürzung für den Titel der Serie muss das sein: Tutti lo amano – Alle lieben ihn. Adrians Schritte klingen dumpf, als er den Gang hinuntergeht, seine Schuhsohlen wirbeln Baustaub auf. Er kann seine eigenen Atemzüge hören wie aus einem Schalltrichter.
An einer grau lackierten Tür findet er den nächsten Zettel. Seine Knöchel schmerzen, als er gegen das harte Metall klopft. Erst geschieht nichts, dann vernimmt er ein Rumpeln und eine Männerstimme ruft: »Entrate!«
Adrian fährt sich mit der Hand durch sein Haar und setzt sein bestes Lächeln auf. Schon als Jugendlicher hat er das vor dem Spiegel geübt, für die Starschnitte und Autogrammkarten, die es damals von ihm gab: selbstsicher, aber nicht arrogant. Über die Jahrzehnte hat er diesen Ausdruck perfektioniert. Für Auftraggeber ist das sein bestes Gesicht.