Die Wolkengondel - René Sommer - E-Book

Die Wolkengondel E-Book

René Sommer

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Beschreibung

So wie das unendliche Lichtspiel der Sonne durch die Baumkronen, kreieren Kurzgeschichten in diesem Erzählband, gleich einem Filmprojektor, eine stets sich wandelnde Welt von Metaphern und Bildern, in der die Menschen Kleider eines Films tragen und Kleider für den Film von morgen kaufen. Dabei geraten sie ins Bild, oder eine Rose wird aus dem Bildschirm gehoben. In ihrem Tun lässt sich die Einfachheit erfahren, in der sich alles spiegeln und zuweilen berührend, skurril, humorvoll und auch melancholisch wirken kann. Auch kommt es vor, dass das Spiegelbild dem Spiegel entweicht. Es ist eine beherzte Art das Leben zu beschreiten, die staunend ist - mit Absicht, doch ohne Zweck, begleitet von der spielerischen Essenz in etwas Wahrem ohne Ablenkung aufzugehen, einfach weil es gerade so ist, wie es möglich scheint und sich nur bedingt bestimmen lässt. René Sommers Prosa verkörpert eine poetische Reflexion einfacher Dinge und Tätigkeiten in einer alltäglichen, ungewöhnlichen, manchmal surrealen und komplexen Welt. Wolkenwandlerisch ereignen sich Versuche von Suchenden, in denen es um Erfahrungen eines tief verwurzelten Wirklichkeitssehnens und -erlebens geht, das wir im Grunde alle kennen, aber auch eigentümlich verborgen, einmalig und irgendwie etwas verrückt erscheint. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Teppiche zu fliegenden Teppichen werden. Etwas, das sich eben nur beschränkt in zweckbedingtes Denken gebieten lässt - so wie das zeitgleiche Lichtspiel der Sonne.

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Zuletzt erschienen:

Murmeln in der Wurzelbucht. short stories. ISBN: 978-37583-7486-9

Mit den Händen ein Herz. short stories. ISBN: 978-3-73923041-2

Tropfenklang aufs Tamburin. short stories. ISBN: 978-37583-0268-8

Inhalt

Die Mitte der Welt

Das Krähennest

Das Nashorn und die Beeren

Das Fest

Die Biene im Haar

Figuren im Strudel

Lichtnelken und Lilien

Der Musikstab

Fliegende Teppiche

Die Augenbrauen

Der türkisblaue Drache

Der Tragkorb

Das Hüttendorf

Im Park der Tiere

Das Laufband

Die Maus im Blumenhaus

Das Notizbuch

Der Filmklub

Die Bilder

Die Wolkengondel

Das Flugbrett

Die Heilquelle

Wildblumen

Die kurze Bootsfahrt

Der Flug

Die Mitte der Welt

Tanzende Lichter und Schatten lässt die Sonne erscheinen. Ein Mann fährt mit seinem Rad wild durch den Wald. Er muss heftig bremsen, als ihm Golo auf dem Weg entgegenkommt. „Mit dir habe ich nicht gerechnet.“

Golo lacht. „Dasselbe könnte ich auch sagen.“

Der Radfahrer steigt ab. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Golo hebt eine Hand. „Es ist ja zum Glück nichts passiert. Warum hast du es so eilig?“

- „Ich bin unterwegs in Fahrt gekommen und habe immer ein wenig zugelegt“, berichtet er, schwingt sich auf den Sattel. „Jetzt gehe ich es ruhiger an.“

Golo schaut ihm nach, bis er ihn hinter den Stämmen aus den Augen verliert, lauscht dem Vogelgezwitscher. Am Waldrand, im Wipfel einer hohen Föhre, steht ein Storch im Nest, blickt auf Golo herab. Er schaut hinauf, dreht sich beim Weitergehen immer wieder um und gerät unversehens vor einen Waldfriedhof, wo eine Familie ein Trauerritual macht. Die Trauernden reichen eine Urne im Kreis herum, bevor sie eine Frau in eine ausgehobene Grube stellt. Golo geht still am Friedhof vorbei, um sie nicht zu stören, gelangt auf einem leicht abfallenden Weg durchs Wiesland vor einen kleinen Laden. Die Verkäuferin sortiert in der Auslage neben dem Eingang die Socken. „Ich ordne sie nach der Garnstärke, vom dicksten bis zum feinsten Garn habe ich eine breite Palette. Du kannst mir sagen, welche Stärke du tragen möchtest.“

Golo sagt: „Ich gehe barfuß in den Sandalen. Sobald es jedoch kühler wird, und ich Socken brauche, weiß ich jetzt, wo ich sie finden kann.“

Er setzt den Weg fort. Die Wiese verzaubern Blüten in einen leuchtenden Teppich. Heuschrecken zirpen. Eine Frau holt Golo ein. „Wollen wir ein Stück weit gemeinsam spazieren?“

- „Ist gut“, sagt Golo.

Sie fragt: „Wohin gehst du?“

„Ich möchte erkunden, wohin der Wiesenweg führt“, antwortet er.

Ein Mann kommt ihnen entgegen. An jedem Finger der linken Hand trägt er einen Ring. Die Frau starrt darauf. „Ich bewundere dich. So viele Ringe möchte ich auch tragen.“ - „Wenn es nichts weiter ist“, erwidert er, „kommt mit mir! In der Stadt kenne ich einen Laden mit einer riesigen Auswahl an Ringen. Dort findet ihr bestimmt einen Ring für jeden Finger.“

Sie reibt sich die Hände. „Ich bin dabei!“ Sie wendet sich an Golo. „Wie steht es mit dir?“

- „Ich bleibe auf dem Wiesenweg“, erklärt er.

Die Frau und der Mann biegen in ein Landsträßchen ein, das in die Stadt hinunterführt.

Golo gelangt zu einem Schild. Darauf steht: „Erdbeeren zum Selberpflücken.“ Eine Frau bietet ihm ein leeres Körbchen an. „Frisch gepflückt sind sie am besten.“

- „Das sehe ich auch so“, pflichtet ihr Golo bei.

Sie gibt ihm eine Erdbeere. „Probiere einmal.“

Golo isst sie genüsslich. „Im Moment habe ich große Lust zu sehen, wo mich der Wiesenweg hinführt. Auf dem Rückweg könnte ich mir vorstellen, ein Körbchen zu pflücken.“

Das hohe Gras wiegt sich sacht im Wind. Der Weg führt Golo vor ein einstöckiges Haus mit einem umlaufenden Balkon. An einem Gartentisch sitzt ein Mann. „Ich finde, mein Balkon ist der schönste Ort. Willst du zu mir hinaufkommen? Ich würde dir gern einen Tee anbieten.“

- „Es sieht behaglich aus, wenn ich zu dir hinaufschaue“, anerkennt Golo, „ich möchte nicht stören.“

- „Ich empfange hier oben gern Besuch. Du störst gar nicht“, versichert der Mann.

Ein Ball rollt den Weg hinunter. Hinterher läuft ein Mädchen. „Hilf mir den Ball zu stoppen“, ruft es.

Golo rennt los. In einer ummauerten Kehre des Wegs bleibt der Ball liegen. Das Mädchen schnappt ihn. „Jetzt habe ich es alleine geschafft. Trotzdem: Danke für deine Hilfe!“ Gitarrenklänge wehen von einer Bank herüber. Dort sitzt ein Mann und trägt einer Frau ein Musikstück vor. Sie steht auf, reicht Golo die Hand. „Genug zugehört! Jetzt möchte ich tanzen.“

Der Gitarrist nickt ihnen zu, als sie beginnen. Golo geht es ruhig an, während die Frau wild um ihn herumhüpft und wippt. Nach einem turbulenten Finale lässt der Gitarrist die Saiten verklingen. „Du hast eine eigene Art zu tanzen“, sagt er zu Golo.

„Mir hat es gefallen“, sagt die Frau und ahmt Golos Tanzschritte nach, „und nun möchte ich gerne Schokoladenkuchen essen.“

Der Gitarrist versorgt die Gitarre im Koffer. „Es gibt in der Stadt einen kleinen Laden. Da gehen wir hin.“ Der Weg mündet in ein Landsträßchen, das nach mehreren Kehren in die Altstadt führt. In einer engen Gasse schmiegen sich alte Häuser zusammen. Dort öffnet der Gitarrist die Tür eines kleinen Ladens, lässt die Frau und Golo eintreten. Die Ladenbesitzerin begrüßt sie herzlich. „Womit kann ich dienen?“

- „Wir hätten gern Schokoladenkuchen“, wünscht die Frau. Die Ladenbesitzerin weist auf die Vitrine, wo ein in Folie gepackter Kuchen steht. „Ist er recht?“ Sie zieht ihn heraus, setzt die Brille auf, prüft das Datum. „Den kann ich euch leider nicht mehr verkaufen. Das Datum ist abgelaufen.“

- „Das macht fast gar nichts“, meint der Gitarrist, „vielleicht kannst du ihn nicht mehr verkaufen, aber verschenken.“ Sie legt den Kuchen auf den Ladentisch. „Esst vielleicht zuerst nur ein kleines Stück zum Versuchen.“

- „Dann hätte ich gern ein Messer und ein Brett“, verlangt er. Die Ladenbesitzerin rüstet ihn aus. Vor dem Laden steht ein wackliger Gartentisch. Der Gitarrist setzt sich auf den Stuhl mit verbogener Lehne. Vom Kuchen schneidet er ein winziges Stück ab, reicht es der Frau. Sie kaut es genießerisch, schließt die Augen. „Ich hätte gern mehr.“

Er gibt ihr ein großes Stück, fragt Golo: „Wie steht es mit dir?“

- „Nur ganz wenig zum Probieren“, wünscht er.

Der Gitarrist bietet ihm ein kleines Stück auf der Messerspitze an. Für sich selber wählt er ein großes Stück. Die Ladenbesitzerin kommt heraus. „Schmeckt der Kuchen?“

- „Vorzüglich“, sagt die Frau und bestellt gerade noch einmal ein Stück.

Während sie sich über den Kuchen unterhalten, sieht sich Golo in der Gasse um. Er findet einen steilen Weg, der sich den Hang hinaufwindet. Auf der Anhöhe, wo sich die Altstadt aus der Vogelperspektive überblicken lässt, hat eine Frau Papierbahnen über die Felsen gespannt, reibt mit Kreide die Risse, Ritzen, Sprünge und Spalten ab. Der Abrieb verzeichnet auch die poröse Oberflächenstruktur, Verwitterungsspuren, Einschlüsse und Einbuchtungen. Unablässig läuft die Frau von Papierbahn zu Papierbahn. Plötzlich wird sie auf Golo aufmerksam. „Schaust du mir schon lange zu?“

- „Ich bin eben erst heraufgekommen“, erwidert er, „und bewundere deine sichere Hand. Die Felsen zeichnen sich ab, und nirgends reißt das Papier.“

Sie fährt mit dem Abrieb fort. „Es dauerte eine Weile, bis ich die richtige Druckstärke herausfand. Ist sie zu schwach, bleiben die feineren Texturen aus. Drücke ich die Kreide zu stark, kann das Papier tatsächlich einreißen.“ Sie löst bei einer Papierbahn das Klebeband, rollt sie ein.

- „Was passiert mit den Spuren?“ fragt Golo, „werden sie durchs Rollen nicht verwischt?“

Sie zieht mit einer Kreide einen Strich auf eine Felsenplatte, fährt mit dem Finger darüber. „Die Spuren dieser Kreiden schmieren nie. Du kannst sie weder verwischen noch verstreichen.“ Behände versorgt sie die Kreiden im Rucksack, nimmt die anderen Papierbahnen ab, dreht sie zur Rolle ein. Dann lenkt sie ihre Schritte zur Stadt hinunter, während Golo dem Höhenweg folgt. Er führt aus den Felsen hinaus zu einem kleinen Dorf, an dessen Rand ein efeuumranktes Haus steht. Dort spielt eine Frau mit ihrem Kind Verstecken. Sie duckt sich hinter die Scheiterbeige. Das Kind läuft zu einer Buche, guckt hinter den Stamm, fragt: „Wo bist du?“

Die Mutter ahmt einen Kuckucksruf nach. Es horcht auf, rennt zur Beige. „Da bist du! Ich habe dich gefunden.“ Nun muss sich die Mutter auf die Suche machen. Das Kind versteckt sich hinter Golo, raunt: „Bleib immer so stehen.“ Die Frau grüßt Golo. „Du hast nicht zufällig meine Tochter gesehen?“

- „Ich sehe nichts zufällig“, erwidert er.

Sie geht an ihm vorbei. „Ja dann muss ich weitersuchen.“

Länger kann das Mädchen nicht an sich halten, ruft: „Kuckuck.“

Die Mutter dreht sich um. „Um ein Haar hätte ich dich nicht gefunden.“

Das Kind zieht Golo ins Spiel hinein. „Als Nächster musst du uns suchen.“

Mit geschlossenen Augen zählt er langsam bis 20. Hierauf öffnet er die Augen, schreitet durch den Garten, späht über eine moosbewachsene Steinmauer. Hinter einem aus Zweigen dicht geflochtenen Zaun findet er die Frau. Das Mädchen verrät sich durch sein glucksendes Lachen, als Golo am Gartenhäuschen vorübertappt. So fällt es Golo leicht, es ausfindig zu machen. „Habe ich dich gefunden!“ Das Mädchen zeigt ihm ein Muster, das es aus Steinen, Tannzapfen und Zweigen ausgelegt hat. Damit beschäftigt es sich weiter.

Die Frau und Golo schauen zu. „So geht das den ganzen Tag“, berichtet sie, „es erfindet immer neue Spiele.“

Er fragt: „Wie geht es dir dabei?“

- „Ich denke immer, die Zeit ist kurz, wo ich so intensiv beansprucht werde. Lebe ich es jetzt, so werde ich später nicht bedauern, das Zusammensein verpasst zu haben“, antwortet sie.

Ein Clown kommt aus dem Dorf herauf. Er ist geschminkt, trägt eine rote Pappnase. Unter den Arm geklemmt, führt er eine Staffelei mit sich und eine auf einen Keilrahmen gespannte Leinwand. Er stolpert über seine Latschenschuhe, ringt ums Gleichgewicht. Dabei fliegt sein Koffer durch die Luft, klappt beim Aufprall auf. Farbflaschen, Dosen und Pinsel fallen heraus. Er stellt die Dosen in einer Reihe auf den Gartentisch, schraubt die Deckel ab, füllt sie mit Farbe aus den Flaschen. Die Leinwand spannt er in die Staffelei. „Ich hätte gern ein Bild von mir. Wer malt mich?“

Das Mädchen nimmt einen Pinsel, tunkt ihn in die eisvogelblaue Farbe und zeichnet den Clown mit wenigen Strichen. Mit Erdbeerrot, Farngrün, Bananengelb und Fuchsorange malt es die Flächen aus. Der Clown verneigt sich, bedankt sich fürs Bild. Die Dosen und Flaschen schraubt er zu, räumt sie mit den Pinseln in den Koffer. Achtsam legt er das Bild auf den Gartentisch. „Das gehört dir.“

Golo sagt: „Ich habe dir gerne zugeschaut. Du malst lebendig.“

Die Frau stellt sich hinter das Mädchen, legt ihm die Hände auf die Schulter. „Da ist dir ein ganz besonderes Bild gelungen.“

Der Clown verabschiedet sich. „Es hat sich gelohnt heraufzukommen.“ Er schultert die Staffelei, kehrt mit seinem komisch watschelnden Gang ins Dorf zurück. Golo schaut sich nach dem Höhenweg um. „Wohin führt er?“

Die Frau weist zum Waldrand hinauf. „Zum Aussichtspunkt.“

- „Da möchte ich hin“, wünscht das Mädchen.

Zu dritt machen sie sich auf den Weg. Das Mädchen läuft voraus. Die Frau und Golo schreiten nebeneinander her. Oben angekommen, blicken sie auf die Waldberge ringsum. Das Mädchen lässt den Blick schweifen, meint: „Wir sind in der Mitte der Welt.“

Das Krähennest

Hohe Hecken säumen das Landsträßchen. Aus einer Abzweigung schiebt eine Frau einen Garderobenständer auf Rollen. Daran hängen türkise T-Shirts an Kleiderbügeln.

Sie fragt Golo: „Möchtest du ein neues T-Shirt?“

Er sagt: „Im Moment brauche ich kein neues.“

Sie gibt zu bedenken: „Besser ist es, einen kleinen Vorrat zu besitzen, dann kannst du, falls erforderlich, schnell wechseln.“

- „Ich habe kein Gepäck, keinen Rucksack bei mir“, erwidert er, „ich möchte einfach nur spazieren.“

- „Überlege es dir in aller Ruhe“, ermuntert sie ihn, „ich halte immer T-Shirts für dich bereit.“

Er folgt dem Landsträßchen, bis er vor ein Sperrgitter kommt. Es ist quer über die Straße gebaut. Ein Mann mit einem Rucksack holt ihn ein. „Kehrst du um oder kletterst du darüber?“

Golo schiebt den linken Fuß ins Eisenraster, zieht sich mit den Händen hoch, setzt den rechten Fuß ein. „Es ist wie eine Leiter.“

- „Das Eisen ist rostig“, mahnt der Mann, „möchtest du nicht Handschuhe tragen?“

- „Hast du welche dabei?“ fragt Golo.

Der Mann öffnet den Rucksack, klaubt Handschuhe hervor, stellt sich auf die Zehenspitzen und reicht sie empor.

„Versuch es damit!“

Golo legt sie an. „Sie geben das Gefühl, mehr Kraft in den Fingern zu haben.“

Aus dem Rucksack nimmt der Mann ein zweites Paar Handschuhe. Er zieht sich neben Golo hoch, schiebt den Fuß ins Gitter. Schon hat Golo die höchste Stange erreicht. Rittlings setzt er sich darauf, klettert auf der anderen Seite herunter. Der Mann folgt ihm. „Mit den Handschuhen ist es ein Kinderspiel.“

Als er neben Golo eintrifft, nimmt er sie ihm ab. „Man fragt sich schon, aus welchem Grund das Sträßchen verbaut worden ist.“

Golo lächelt. „Jetzt nicht mehr.“

Sie hören ein Sausen in der Luft. Ein Solarflugzeug gleitet über sie hinweg, landet auf der Wiese, wo sich das Heckenband verliert. Als der Mann und Golo ankommen, ist die Pilotin bereits aus dem Cockpit gestiegen. „Ein Sitz ist frei. Wer möchte mit mir fliegen?“

Der Mann geht auf das Flugzeug zu. „Ich dränge mich zwar nie vor, aber diese Gelegenheit möchte ich mir nicht entgehen lassen.“

- „Das versteht sich von selber“, meint sie, „alle möchten mit mir fliegen.“ Sie wendet sich an Golo. „Warte hier! Wir fliegen eine Runde. Und dann bist du an der Reihe.“

- „Ich schaue mich auch gern auf dem Boden um“, sagt Golo, „und erkunde, was es alles zu entdecken gibt.“

Die Pilotin und der Mann steigen ins Flugzeug. Die Propeller sirren und rauschen. Das Flugzeug gewinnt schnell Fahrt, hebt ab und fliegt eine weite Schleife, in welcher es Höhe gewinnt.

Golo schlägt einen Weg ein, der zum Fluss hinunterführt.

Eine Wolke und der blaue Himmel spiegeln sich darin.

Ein Solarschiff legt an. Ein Matrose vertäut es, schiebt die Einstiegsbrücke auf den Steg. „Möchtest du einsteigen?“ Golo fährt sich durchs Haar. „Bis zum nächsten Steg fahre ich gern mit.“

- „Warum nicht länger?“ wundert sich der Matrose, „bis zum nächsten Steg ist es nur ein Katzensprung. Da kannst du in der Bar nicht einmal ein Glas Tee trinken.“

Golo geht an Bord, stellt sich vorn aufs Deck. Der Matrose nimmt die Brücke zurück, löst das Tau. Langsam fährt das Schiff an, gleitet zur Flussmitte. Uferwälder ziehen vorbei. Eine Frau kommt aus dem Passagierraum. Sie stellt sich als Komponistin vor. „Ich gehe immer von einer Melodie aus. Dann suche ich dazu Begleitstimmen und einen rhythmischen Bass. Wenn ich auf dem Schiff bin, benutze ich eine spezielle App auf meinem iPhone.“ Sie klaubt ihr Handy hervor, spielt Golo die neueste Komposition vor.

Er ist beeindruckt. „Deine Musik klingt sehr lebendig.“

Beim nächsten Schiffssteg steigt Golo aus, folgt einem Wanderweg. Zunächst führt er die Uferböschung entlang. Bei der Biegung des Flusses kommt ein kleines buntes Holzhaus in Sicht. Ein Mann ist daran, an der Haustür eine Katzentür zu installieren. „Die Katze schläft im Haus, möchte jedoch früh hinaus. Mit Tür kann sie hinein- und hinausgehen, wann es ihr beliebt. Wir müssen uns nicht mehr darum kümmern.“ Er richtet sich auf. „Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich suche einen Ort im Freien, wo ich tagsüber ein bisschen schlafen kann.“ Unter einer urwüchsigen Linde zeigt er Golo den Liegestuhl. „Dort entspanne ich mich.“

Beim Weitergehen hört Golo eine Mönchsgrasmücke singen. Er begegnet einem Mann, der vor einem turmartigen Haus das gemähte Gras zusammennimmt. Als er Golo sieht, steckt er die Heugabel in den Boden. „Bist du auf dem Schiff gewesen?“ möchte er wissen.

- „Nur von Steg zu Steg“, antwortet Golo.

Der Mann hebt die Augenbrauen. „Dann bist du sicher der Komponistin begegnet.“

- „Auf dem Schiff komponiert sie mit einer speziellen App“, erinnert sich Golo, „ihre Musik gefällt mir.“

- „Möchtest du erfahren, wie es sich anhört, wenn Musiker eines ihrer Werke spielen?“ erkundigt sich der Mann, „es gibt viele Aufnahmen.“

- „Im Moment genieße ich die Vogelstimmen“, erwidert Golo, „aber wenn ich das nächste Mal Musik höre, lasse ich sie mir nicht entgehen.“

Der Mann ergreift die Heugabel. „Du kannst jederzeit bei mir hereinschauen, bist willkommen.“

Golo dankt, geht weiter. Am Ufer wachsen Weiden. Weit hängen ihre Äste herab, streifen den Fluss, ziehen glitzernde Rillen. Ein Schwan gleitet sanft auf dem spiegelnden Wasser. Eine Frau kommt Golo entgegen, fragt:

„Kannst du mir helfen? Mein Sonnenschirm klemmt.“

Golo hält inne. „Ich könnte deinen Sonnenschirm anschauen.“

Sie führt ihn in ihren Garten. Die verschiedenen Düfte der Rosen vermischen sich. Der Sonnenschirm steht vor der flamingofarbenen Hauswand. Golo nimmt ihn aus dem Ständer, stellt ihn auf den Kopf. Dann untersucht er die Spannstangen. 2 sind ineinander verkeilt. Er büschelt sie auseinander, kehrt den Schirm um, spannt ihn auf. „Es ging leichter, als ich dachte.“

Die Frau klatscht in die Hände. „Tausend Dank!“ Sie rückt den Stuhl beim Gartentisch. „Darf ich dir einen Tee anbieten?“

Golo setzt sich. „Das würde mich sehr freuen.“

Sie holt im Haus eine Kanne und 2 Tassen, setzt sich ihm gegenüber. „Möchtest du mit mir zusammen ein Bild malen? Ich habe eine Leinwand auf einen Keilrahmen gespannt. Farben liegen auch bereit. Wir könnten jederzeit loslegen.“

Er trinkt einen Schluck Tee. „Wo hast du die Leinwand?“

- „Sie liegt im Haus bereit. Ich bringe sie gleich.“

Über anderthalb Meter ist sie breit und 2 Meter hoch.

Kurzentschlossen stellt sie die Frau an die Fassade des Hauses, bringt Farbeimer und Pinsel, taucht den Pinsel in die kurkumagelbe Farbe, malt mit wenigen Strichen eine Frau. „Jetzt bist du an der Reihe.“

Golo taucht den Pinsel in die kornblumenblaue Farbe, lässt mit wenigen Pinselbewegungen einen Mann entstehen.

„Du bist dran.“

Zweimal muss er die Frau nicht auffordern. Sie nimmt sofort kirschrote Farbe, malt Flecken. „Wir sind ganz frei.“

Er antwortet mit froschgrünen Tupfen, schaut sich um.

„Haben wir genügend Pinsel?“

- „Für jeden Eimer steht einer bereit“, antwortet sie knapp, malt mit Goldorange eine weitere Frau ins Bild.

Golo fügt grelllila Kleckse ein, tritt zurück, greift zur Teetasse. „Wollen wir das Bild so stehen lassen?“

Sie stellt sich prüfend davor auf. „Wir lassen es auf uns wirken.“

Er nimmt Platz. „Was geschieht, wenn die Farben trocken sind? Hängst du das Bild im Haus oder draußen auf?“

Ohne lang nachzudenken, schlägt sie vor. „Wir tragen es in die Galerie und fragen, ob sie es ausstellen wollen.“

In Ruhe trinken sie den Tee aus. Sobald die Farben trocken sind, nehmen sie das Bild auf, die Frau geht vorn, Golo hinten. Sie schreiten den Weg in die Altstadt hinunter, gehen durch das Stadttor und eine kopfsteingepflasterte Gasse, an den bunt gestrichenen Giebelhäusern vorbei zur Galerie. Ein Mann sitzt auf einem Klappstuhl neben dem Eingang, räkelt sich, steht langsam auf. „Wollt ihr das Bild abstellen?“

Die Frau lehnt es gegen die Wand. Ein paar Schritte geht der Mann rückwärts, hält den Kopf schräg. „Es gefällt mir.“

Er trägt das Bild in die Galerie, hängt es an eine freie Wand. „Was meint ihr? Kommt es da zur Geltung?“

Die Frau sieht sich um. „Der Platz stimmt für mich.“ Sie wendet sich Golo zu. „Was sagst du dazu?“

Er stellt sich neben sie. „Hier lässt es sich gut betrachten.“

- „Ihr könnt jederzeit hereinschauen und prüfen, ob es für euch nach wie vor der richtige Platz ist“, bietet der Mann an. Während er sich mit der Frau unterhält, wie man den besten Ort für ein Bild findet, worauf besonders zu achten ist, erkundet Golo die Gasse.

Eine Frau schiebt einen Rolltisch. „Wir bereiten ein großes Essen vor.“ Mitten in der Gasse platziert sie ihn, fixiert die Räder. „Hilfst du mir die Stühle tragen?“ Golo folgt ihr in ein Haus in der Reihe der aneinandergebauten Giebelhäuser.

Die Fassade ist altrosafarben verputzt. Innen sind im Erdgeschoss die Natursteinmauern sichtbar belassen. Die Frau und Golo nehmen je 2 Stühle, bringen sie zur Mitte der Gasse. Ein Mann trägt einen Tisch herbei. „Darf ich ihn neben deinen stellen?“

- „Das ist doch selbstverständlich“, sagt sie, setzt sich auf einen Stuhl, gibt Golo einen Wink. „Nimm ruhig Platz. Wir sind soweit bereit.“

Der Mann horcht auf. „Was darf ich euch bringen?“

- „Mir ein Glas Tee“, bestellt die Frau, guckt Golo an, „und dir?“

Er steht schnell wieder auf. „Während die Vorbereitungen laufen, sehe ich mir die Altstadt an. Da gibt es immer etwas zu entdecken.“

- „Komm spätestens beim zwölften Glockenschlag zurück! Sonst verpasst du das Essen“, mahnt die Frau.

Golo streift durch das Labyrinth der Gassen. Überall tragen die Menschen Stühle und Tische hinaus. Ein Goldhähnchen pfeift aus einem Innenhof. Mehrere Gassen führen zu einem kleinen Platz, wo eine Frau einen Marktstand aufgestellt hat. Aus kleinen Zweigen baut sie Nester, legt sie mit Gras, Moos und trockenen Blättern aus. Golo erkundigt sich: „Was stellst du her?“

Sie zeigt auf ihre Auslage. „Das sind alles Krähennester. Man kann sie bei mir beziehen und dann auf einen Baum stellen. Krähen beobachten uns Menschen genau. Wenn wir es ihnen anbieten, kann es gut sein, dass sie hoch oben im Wipfel selber ein Nest bauen. Das ist ein Beitrag, Krähen zum Brüten ganz in der Nähe unserer Wohngebiete zu bewegen. Sogar in Stadtnähe können Krähen nisten. Gerne zeige ich dir, wo eine Krähe ein Nest gebaut hat.“ Sie führt Golo aus der Altstadt hinaus. In der Nähe eines Turmes stehen hohe Eschen. „In den unteren Zweigen hat ein Mann ein Nest von mir ausgelegt. Schau hinauf!“

Golo legt den Kopf in den Nacken, späht hinauf. „Weit oben im Wipfel sehe ich tatsächlich ein Krähennest.“

Das Nashorn und die Beeren

Der Weg schweift vom Hang zu einer großen Halle ab. Ein Mann bittet Golo einzutreten. „Du wirst in dieser Halle den gemalten Hintergrund erleben. Möchtest du es einmal versuchen?“

Zuerst, als Golo in die Halle kommt, erscheint eine von urwüchsigen Lindenbäumen gesäumte Allee wie ein großes Wand- und Deckenbild. Plötzlich bewegen sich die Bäume, geben Golo das Gefühl, als würde er unter ihnen durchspazieren. „Wie bin ich ins Bild geraten?“ fragt er sich, „und wie finde ich wieder heraus?“ Er gerät in die Nähe einer Sitzbank, wo ihm eine Frau freudig mitteilt: „Gleich trifft mein Freund ein. Dann gehen wir miteinander spazieren.“

Golo geht weiter, und die Sitzbank kommt wieder in Sicht. Diesmal ist die Frau sehr besorgt. „Mein Freund ist nicht gekommen, nimmt das Telefon nicht ab, beantwortet meine Nachricht und Voicemail nicht.“

Golo wundert sich. „Ich muss im Kreis herum gegangen sein.“ Die Vermutung verstärkt sich, als er sich zum dritten Mal der Sitzbank nähert. Die Frau sitzt traurig da. „Mein Freund hat mir eine Nachricht geschickt. Treffen möchte er mich nicht, er hat etwas Anderes vor.“ Sie steht auf, schließt sich Golo an. „Wohin gehst du? Was hast du vor?“ Er sagt: „Ich würde gern aus der Halle herauskommen.“

- „Aus welcher Halle meinst du?“ fragt sie, wir sind in einer Allee.“ Sie schlägt einen leichten Laufschritt ein. Golo tut es ihr gleich. Die Bäume ziehen schneller vorbei, immer rasanter. Golo muss sich sputen, um die Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Bei der Bank hält sie inne, wartet auf ihn, blickt auf die Uhr „Das war deine schnellste Runde. Du hast deinen eigenen Rekord gebrochen.“

Außer Atem widerspricht er: „Ich laufe gar keine Runden, und ich stelle auch keine Rekorde auf.“

Sie kramt karibikblaue Laufschuhe aus der Tasche. „Damit wirst du die nächste Runde noch schneller absolvieren.“

Als Golo sie anprobiert, sprüht aus unzähligen Düsen Wasser von der Decke herab. Er hebt seine Sandalen auf, rennt in die entgegengesetzte Richtung, entdeckt zwischen 2 Baumstämmen den Ausgang. Unter der Tür bleibt er stehen, sieht er sich nach der Frau um, ruft: „Wo bist du?“ Sie bleibt verschwunden. Der künstliche Regen versiegt. Nur noch vereinzelte Tropfen fallen. Vor der Halle zieht Golo die Laufschuhe aus, stellt sie neben die Tür. Barfuß folgt er einem Weg, der zu einer Felsenplatte führt, wo er die Kleider und Sandalen zum Trocknen auslegt. Er macht es sich neben der Auslage bequem, streckt und räkelt sich, genießt die Wärme der Sonne. Dabei lässt er es sich nicht nehmen, die Halle im Auge zu behalten. Als die Kleider einigermaßen trocken sind, schlüpft er hinein, begibt sich auf den Weg, der von der Felsenplatte sanft ansteigt. Sein Gang ist beschwingt. Ein Mann kommt ihm entgegen, fragt: „Kannst du meine Gitarre flicken?“

- „Was ist denn kaputt?“ erkundigt sich Golo.

„Ein Bundstäbchen ist herausgefallen“, klagt der Mann und klappt den Gitarrenkoffer auf.

Golo sieht sich den Gitarrenhals an. Der Mann reicht ihm das Stäbchen. „Wir bräuchten einen speziellen Leim.“

Eine Frau trifft ein. „Gebt ihr ein Ständchen?“

- „Das würden wir gern“, erwidert der Mann, „leider gibt es ein Problem mit dem Bundstäbchen.“

Sie lässt sich die Gitarre zeigen. „Kommt zu mir nach Hause. Ich habe einen Leim, der sicher hält.“

Ihr Haus steht auf einer kleinen Anhöhe über dem Dorf. Es ist kanariengelb gestrichen. Sie öffnet die Tür, führt den Mann und Golo durch einen Gang in die Werkstatt. „Leg die Gitarre auf die Hobelbank.“

Der Mann nimmt sie aus dem Koffer, lockert die Saiten und schiebt sie beiseite, dass die Frau den Leim aufs Griffbrett auftragen kann. Sie drückt das Stäbchen fest an. „Das wird halten. Bis der Leim trocken ist, können wir in Ruhe eine Tasse Tee trinken.“

Sie zeigt ihnen den Gartensitzplatz. „Setzt euch.“

Der Mann nimmt Platz. Golo sagt: „Es freut mich, dass du helfen konntest. Nun würde ich am liebsten weiter die Umgebung erkunden.“

- „Das lohnt sich“, erklärt sie, „es gibt hier wunderbare Wege, welche die Landschaft erschließen.“

Golo lenkt seine Schritte zunächst zum Dorf. Ein Briefträger sagt: „In unserem Dorf sind die Leute voll Vertrauen. Wir haben keine abgeschlossenen Briefkästen.“ Er begibt sich mit Golo zu einer gedeckten Ablage, wo einzelne offene Fächer bereitgestellt sind. Die Briefe und kleineren Paketsendungen kann er einfach in die Fächer legen. „Das vereinfacht die ganze Zustellung.“ Golo begleitet ihn bis zur nächsten Ablage, schaut zu, wie er die Fächer bedient.

„Das ist wirklich eine Vereinfachung“, bestätigt er, bevor er den Weg zum Waldberg einschlägt. Unterwegs begegnet er einer Frau. Sie sagt: „Wie die Raupe möchte ich mich verpuppen und dann in einen Schmetterling verwandeln.“ Im gleichen Moment überzieht sie sich von Kopf bis Fuß mit einer grünen Haut. Die Haut reißt auf. Sie kommt als Schmetterling daraus hervor, entfaltet die Flügel, flattert davon.

Golo guckt ihr nach. Ein Mann kommt des Wegs, fragt: „Was ist das für eine grüne Haut?“

- „Das ist die Haut einer Frau, die sich verpuppt und in einen Schmetterling verwandelt hat“, erzählt Golo.

- „Warum hast du sie nicht aufgehalten?“ fragt der Mann weiter.

„Es ging sehr schnell. Ich bin nicht dazu gekommen, etwas zu sagen“, berichtet Golo.