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Mit einer inneren Feder zur Hand, kreiert René Sommer sprachliche Bildwelten, Wendungen, verbindet offensichtliche mit sich spielerisch webenden Fragmenten in einer virtuellen Couleur des Erzählens. Was die Couleur zum Spiel und das Spiel zur Couleur macht, erscheint wie ein endlos anmutender Spaziergang, auf welchem der Promeneur Golo sich selbst und eine unablässig resonierende Welt der Dinge, der Lebewesen und der Natur, in einem sich öffnenden Dazwischen, achtsam ergründet. Bei jedem Abzweig stehen die Lesenden mit ihm vor dem Los, im Anderssein das Selbst oder im Selbst das Anderssein zu erkennen, als würden sie mit ihm in der freundlich dissonanten Luft, von einer diskursiven Manier inspiriert, wandeln und sich zuweilen sacht vom sanften Hauch verborgener Zweifel und subtiler Faszination berühren lassen. Es gibt nichts, ausser dem, was gerade ist. Denn hier ist Wirkland. Freundliche Ideen, genuine Ansprachen, aparte Verfügbarkeiten, Keime einnehmender Wirkkraft von Gefälligkeiten - und da ist ein Ringen um Würdigung, Fürsorge und Respekt, im verspielten Versuch, letztlich authentisch und ohne sich zu verlieren im respondierenden Sein eine beschwingte Herzkurve zu kriegen.
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Seitenzahl: 206
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Schwan im Spiegel. Kurzgeschichten (edition jeu-littéraire).
ISBN: 978-3-7543-5696-8
Die Erdbeeren
Das Haus auf Stelzen
Der Flugwal
Mit den Händen ein Herz
Der erste Schritt
Der Handschuh
Die Wiese beim Wald
Der Glücksbringer
Federweiß auf Sandweiß
Schachtel und Schachtelhalm
Leder, Moos und Feuerstein
Schaf und Wolf
Klicks
Der schneeweiße Schafbock
Der riesige Wolf
Die Rehkappe
Das Rotauge
Der schwebende Stein
Der Löwe unter der Föhre
Die Haselhütte
Hut und Brille
Der Mann aus Papier
Das Tagebuch
Das große Gesicht
Die Briefmarke
Im Wald geriet Golo vor eine Röhre, die durch einen Erdhügel führte.
„Wieso“, fragte er sich, „soll ich hindurchkriechen? Ich könnte mir einen Unterschlupf mit einem Bett aus Laub und Moos einrichten.“
Er sammelte, trug Blätter und Moospolster in die Röhre, fand einen Gleitschirm im Wipfel einer Eiche, zog ihn hinunter. Damit schloss er den Röhreneingang, legte sich hinein und tagträumte. „Ich könnte Musik machen, aber wie?“
Er pfiff kurz, lauschte auf den Nachhall. „Ich bin damit beschäftigt, in den nächsten Momenten herauszufinden, wie ich den Hall beschreibe. Das wäre das große Ziel.“
Golo suchte nach Worten, entschied sich für „Klangwunder“, schob den Gleitschirm beiseite, sah sich um, entdeckte eine zweite Röhre.
„Nun habe ich die Wahl. Welche Röhre soll ich zu meiner Wohnhöhle machen?“
Doch die zweite Röhre war bewohnt. Eine Frau kroch heraus, umarmte ihn, steckte ihm eine Blume an, lief weg.
„Guter Rat ist teuer“, sagte er sich, „wo finde ich eine Vase für die Rose?“
Ein Mann trat in den Wald. „Ich habe 3 Dinge, die runde Vase, die Tasse und die Schüssel. Was willst du?“
Golo musste kurz nachdenken. „Die Tasse ist zu klein für die Blume, die Schüssel zu groß. Ich nehme die runde Vase.“
Der Mann schenkte sie ihm. „Ich bin froh. Jetzt habe ich nur noch 2 Dinge zu tragen.“
Er verschwand im Unterholz.
Golo machte sich auf die Suche nach Wasser. „Ein Bach käme in Frage, ein Wasserlauf.“
Am Waldrand plätscherte ein Brunnen. Auf dem Trog saß eine Frau. Sie empfahl Golo: „Trink täglich Grüntee.“
- „Grüntee? Was ist Grüntee“, erkundigte er sich.
„Ich kann dir welchen anbieten. Mein Haus steht ganz in der Nähe. Tee habe ich bereits gekocht. Ich könnte fast sagen: Er wartet auf dich.“
Er folgte ihr zum Haus. Das Dach sah wie ein Blatt der Teepflanze aus. Vor dem Eingang standen Tisch und Stühle. Die Frau holte einen Krug, füllte eine Tasse und bot sie ihm an. Golo stellte die Vase mit der Rose auf den Tisch.
„Sie gehört dir.“
Die Frau dankte. „Schon lange habe ich mir eine Rose gewünscht. Dazu gar noch eine Vase, das übersteigt fast meine Erwartungen.“
Golo kostete den Tee. „Er schmeckt blumig, süß, leicht bitter.“
- „Willst du mehr trinken?“ fragte sie.
„Nein“, antwortete er, „ich wollte ihn bloß probieren.“
- „Du wirst feststellen, dass sich alles verlangsamt, sobald du die zweite Tasse trinkst“, sagte sie, „und dann wird der Ruf nach Beschleunigung laut.“
- „Das wäre zweifellos eine merkwürdige Wirkung. Da lasse ich lieber die Finger davon“, entgegnete er, „soll ich dir beim Waschen der Tasse helfen?“
- „Sicher nicht“, lachte sie, „du musst dich um nichts kümmern.“
Golo schlug den Zickzackpfad ein, der in den Wald stieg. Ein kleiner Igel kreuzte seinen Weg zwischen 2 riesigen Felsblöcken. Golo hielt inne, ließ ihm den Vortritt.
Nachdem er den Gipfel erreicht hatte, sah er einen Mann, der den Bergkamm überquerte. „Willst du mir deinen Hut verkaufen?“
- „Den brauche ich noch“, antwortete Golo.
Am Hang grasten Schafe. Golo betrachtete ihre Augen.
Eine Frau, die den Weidezaun ausbesserte, erklärte ihm:
„Oft wollen Schafe über ihren Blick mit dem Spaziergänger kommunizieren. Allerdings stoßen sie selten auf Verständnis, weil es viele Passanten zu eilig haben. Aber du sorgst doch hoffentlich schon dafür, dass du zum Durchatmen, zum Luftholen kommst.“
- „Durchaus“, bestätigte Golo.
„Man muss auch abschalten können“, rief ihm die Frau nach.
Der Weg führte in einen Birkenhain, wo er einem Mann begegnete, dessen Arme mit bunten Tattoos verziert waren. „Hast du einen Fuchs gesehen?“
- „Nur einen Igel“, berichtete Golo.
Der Mann erklärte: „Mittags sind nur wenige Füchse unterwegs. Weißt du, was sie interessant finden?“
- „Vielleicht Mäuse?“ fragte Golo zurück.
„Aber auch Schuhe und Katzenfutter“, ergänzte der Mann, „sie lassen nichts aus. Lass nur nichts rumliegen!“
- „Das habe ich nicht vor“, versicherte Golo, verließ den Birkenhain, lenkte die Schritte zu einem Gießbach.
Wasserfälle rauschten über die Felsbänder. Eine Frau begeisterte sich für die Fische: „Sie haben faszinierende Fähigkeiten. Man kann viel von den Fischen lernen.“
Golo schaute zu, wie eine Forelle die Felsenstufe übersprang.
Die Frau hatte Himbeeren gepflückt, bot sie Golo in einem kleinen Korb an. „Sehr beliebt sind sie im Joghurt oder Eis. Am besten schmecken sie frisch vom Strauch.“
Er erkundigte sich: „Wo wachsen sie?“
Sie begleitete ihn zum Ende des Felsenbandes, zeigte ihm die Sträucher. „Hier in der Gegend kenne ich jede Ecke, jeden Strauch.“
Er pflückte eine Himbeere direkt in den Mund, entdeckte einen schmalen Wiesenpfad, geriet in einen Baumgarten.
Ein getigertes Kätzchen schrie im Wipfel eines Kirschbaums. Mit einer Leiter wollte ein Mann das Tier vom Baum holen. „Leider bin ich nicht schwindelfrei.“
Er stellte die Leiter an. „Traust du dich?“
Golo stieg auf die Leiter, verharrte ruhig, bis das Kätzchen neugierig wurde, die Nasenspitze gegen seine Hand stupste. Er nutzte den Moment, ergriff das Kätzchen mit der Hand, führte es an seine Brust. Es kletterte auf seine Schulter, während er behutsam die Leiter hinunterstieg.
Kaum war er am Boden, sprang das Kätzchen mit einem Satz ins Gras.
Der Mann atmete auf. „Du hast es gerettet.“
„Sagen wir es so“, meinte Golo, „es hat sich weitgehend selber gerettet.“
Der Mann berichtete: „Ich habe allerlei Besucher im Baumgarten. Willst du sie kennenlernen?“
Bevor Golo antworten konnte, schob der Mann einen großen Holzlöffel in einen Honigtopf, legte ihn auf die Sitzbank neben dem Kirschbaum. „Du wirst sehen, der Gast lässt nicht lange auf sich warten.“
Das Kätzchen floh. Brummend kam ein Braunbär gelaufen, stellte die Pranke auf den Löffel und schleckte den Honig weg. Ebenso schnell wie er aufgetaucht war, trollte er sich.
„Habe ich es nicht gesagt“, frohlockte der Mann und legte diesmal eine Banane auf die Bank, „er wird wohl kaum der einzige bleiben.“
Von Ast zu Ast schwang sich ein Affe durch die Wipfel, schnappte die Frucht und lief hüpfend davon.
Der Mann rieb sich die Hände. „Es gibt ein gutes Bauchgefühl, Tiere glücklich zu machen.“
Er blickte Golo an. „Für dich hätte ich Kuchen.“
- „Gerne ein andermal“, wehrte Golo ab und wandte sich zum Gehen.
Auf der Landstraße traf er eine Akkordeonspielerin und einen Trompeter.
„Wir finden“, sagte die Spielerin, „dass unsere Instrumente gut zusammenpassen.“
- „Und wir geben dir auch gleich eine Kostprobe“, fügte der Trompeter bei, holte tief Luft.
Sie spielten ein kurzes Stück, tanzten dazu.
Die Akkordeonspielerin schlug den Weg zu einem Haus mit einer Eingangstür aus Eiche ein. „Wenn ich hier anklopfe, lege ich immer das Ohr an die Tür.“
Das führte sie auch gleich aus, horchte auf. „Heute haben wir Glück. Ich höre Schritte.“
Eine Frau öffnete. „Wollt ihr mir ein Ständchen bringen?“
Der Trompeter wischte das Mundstück ab. „Nur, wenn es erwünscht ist.“
- „Herzlich erwünscht“, versicherte sie, lenkte den Blick auf Golo, „welches Instrument spielst du?“
Golo antwortete: „Im Moment spiele ich kein Instrument, sehe einfach zu, wo mich die Landstraße hinführt.“
- „Das hat noch gute Weile“, meinte sie, „nach dem Ständchen offeriere ich einen kleinen Imbiss. Du bist auch eingeladen.“
Er dankte, ließ sich jedoch nicht aufhalten, sondern folgte der Landstraße in einen Wald, der sich von Bergflanke zu Bergflanke erstreckte. Auf einer Lichtung saß ein Maler. Er hatte eine Kartonmappe mit einem Blatt auf den Knien, zeichnete mit Bleistift und Kohle Farn und Föhrenwurzeln. „Wer mit offenen Augen durch den Wald geht, findet überall schriftartige Linien“, erläuterte er, zog kühne Striche, wie um seine Worte zu untermalen. „Das ist eine Vision, noch nicht mehr. Zuhause male ich dann mit Acrylfarben“, fügte er bei, „besuche mich im Atelier. Ich zeige dir mein Werk.“
Er beschrieb die Lage seines Hauses, betonte: „Es eilt durchaus nicht, aber wenn du eh in der Stadt bist, zeige ich dir alle meine Bilder.“
Golo guckte ihm über die Schulter. „In der Stadt werde ich daran denken.“
Hinter der Lichtung verzweigte sich die Landstraße. An den Bäumen schimmerten die Blätter. Die Glocke läutete aus einem Dorf. Golo verließ den Wald, kam an Blumenwiesen und Vorgärten vorbei. Ein Goldfisch schwamm in einem Teich. Am Dorfrand begegnete ihm eine Radfahrerin. Sie hatte einen Anhänger am Velo befestigt. „Ich bringe mein Kind in die Kita“, sagte sie.
Das Kind im Anhänger beugte sich vor, winkte und lächelte.
„Was machst du am liebsten?“ fragte Golo.
„Ich spiele den Ball übers Netz. Es ist so hoch“, antwortete es und streckte einen Arm in die Höhe.
Die Frau schwärmte von der Kindertagesstätte. „Die Kinder sind immer in Bewegung. Das tut ihnen gut.“
Vor einem Schaufenster lagerte ein riesiger Haufen Haare. Der Coiffeur stellte eine Leiter an, kletterte hinauf, schnippte mit der Schere. „Auf Wunsch schneide ich dir die Haare gratis.“
- „Ich komme vorbei“, erwiderte Golo, „sobald die Haare rufen.“
- „Haare, die schon lange warten, werden sehr fordernd“, gab der Coiffeur zu bedenken.
Rot leuchtende Sterne wiesen Golo zum Ausgang des Dorfs, wo eine neue Straße eingeweiht wurde. Ein Gemeinderat fragte ihn, ob er das Band durchschneiden wolle. Golo schlug den Wanderweg ein, empfahl: „Es ist besser, wenn das jemand vom Dorf übernimmt.“
Beim Felsvorsprung auf der Anhöhe über dem Dorf ließen ihn Geräusche aufhorchen. Im Wipfel einer Föhre klapperten die Storchenküken im Nest aufgeregt mit den Schnäbeln, als der Weißstorch landete und Futter brachte.
Eine Frau stand bei der Wurzel der Föhre. Sie hatte eine Erdbeere im Glas und eine Erdbeere im Körbchen auf die Felsenplatte gestellt. „Welche hast du lieber?“
Golo zögerte. „Schwer zu sagen, ich kann mich gar nicht recht entscheiden.“
- „Dann musst du beide kosten“, lachte sie, „es macht auch nichts, wenn du beide gleich gut findest.“
Mit zwei Fingern fischte Golo die Erdbeere aus dem Glas, danach die Beere aus dem Körbchen. „Die frische Beere schmeckte fein“, berichtete er, „aber auch die Erdbeere im Glas hat es mir angetan.“
Minutenlang stand ein Regenbogen am blitzblauen Himmel. Auf einem kurvenreichen Weg überlegte sich Golo, wie er gedachte Wörter am einfachsten in Schrift oder Sprache umwandeln könnte. Er klaubte das Notizbuch und den Kugelschreiber hervor. Am Fuß des Regenbogens stand eine Frau am Solarbackofen. Während der Teig und die Himbeerfüllung backten und dufteten, fand sie Zeit, Golo zu erklären: „Den Teig verarbeitete ich schnell und knetete ihn nur kurz.“ Sie wies auf den Ofen. „Lange dauert es nun nicht mehr. Bald ist der Himbeerkuchen gebacken, und du bist mein Gast.“
Golo sagte, er werde noch einen kleinen Rundgang machen.
„Das heißt“, folgerte sie, „du kehrst immer wieder dahin zurück, wo der Kuchen ofenfrisch serviert wird.“
Er lachte. „Das ist eher die Ausnahme, das am Start- und Endpunkt ein Kuchen dampft.“
Der Weg bog in den Wald ein. Die Sonne sorgte für tanzende Lichter und Schatten. Auf dem Rand eines riesigen Korbes voller bunter Decken saß ein Mann. „Willst du dich ausruhen? Nirgends kannst du dich besser entspannen als in meinem Korb.“
- „Das ist sehr wohl möglich“, räumte Golo ein, „aber ich bin unterwegs. Ein Kuchen wartet auf mich.“
- „Nun“, musste der Mann zugeben, „der Kuchen ist ein Grund.“
Golo schritt durch den Wald aus alten Eichen und duftenden Föhren. Wo die Lichtfinger in den Schatten griffen, leuchteten Beeren. Eine Frau bürstete das Fell eines Schimmels. „Putzen gehört zur Hauptarbeit“, berichtete sie, blickte Golo fragend an. „Möchtest du ohne Sattel reiten? Du solltest dich auf seinen Rücken schwingen.
Wahrscheinlich bietet sich die Gelegenheit nicht so schnell wieder.“
Er pflichtete ihr bei. „Das stimmt. Allerdings müsste ich das Pferd kennenlernen.“
- „Du kannst es ja putzen“, schlug sie vor, „bis du dich traust.“
Golo schob sich an ihr vorbei. „Einmal putzen reicht möglicherweise kaum aus“, vermutete er, „ich müsste zuerst eine richtige Beziehung aufbauen. Dann stelle ich mir das Reiten aber wunderbar vor.“
Sie wandte sich wieder dem Pferd zu. „Du bist jederzeit willkommen. Überlege es dir noch! Es eilt keineswegs.“
Er dankte, lenkte seine Schritte zum Waldrand. Ein Reptilienschutzzaun zog sich der Landstraße entlang. Ein Mann deutete auf einen Frosch, der beim Zaun hüpfte. „Er will hinüber. Auf der anderen Seite ist der Weiher. Trägst du ihn?“
Golo bildete mit beiden Händen eine Schale. „Das ist das erste Mal, dass ich einen Frosch trage. Hoffentlich gelingt es.“
Der Frosch sprang in seine Hände, und Golo trug ihn über die Straße. „Wer hätte es gedacht, dass es so einfach geht.“
- „Der Frosch vertraut dir“, vermutete der Mann, „daran liegt es.“
Im breiten Schilfgürtel plumpste der Frosch ins Wasser.
Golo richtete sich auf. Eine Libelle schwirrte vorbei. Auf einer Bank las eine Frau in einem Buch. Als sie die Seite wendete, huschte ein Lächeln über ihre Lippen. „Eine Libelle am Ufer oder ein Käfer auf dem Strauch, egal was es ist, in diesem Buch kommt alles vor. Möchtest du es lesen?“
- „Bist du schon bei der letzten Seite?“ fragte er zurück.
Sie hob das Buch hoch. „Noch nicht mal bei der Hälfte.
Sobald ich aber damit fertig bin, gebe ich es dir zum Lesen.“
„Danke vielmals“, sagte Golo.
Er folgte dem schmalen Uferpfad. Im Birkenwald hing ein schwarzer Kapuzenpullover am Kleiderbügel, bildete einen Kontrast zum lichtweißen Ast. Ein Mann deutete auf Golo. „Dir würde der Pullover bestimmt stehen.“
- „Ich habe noch nie einen Kapuzenpullover getragen“, gab Golo zu bedenken.
„Dann ist es höchste Zeit, dass du damit anfängst“, drängte der Mann.
„Willst du ihn nicht selber anlegen?“ erkundigte sich Golo, „ich denke, dass du damit gut aussiehst.“
Der Mann nahm den Pullover vom Bügel. „Danke für den Tipp.“
Er schlüpfte hinein. „Was sagst du?“
Golo trat von einem Bein aufs andere. „Der Pullover ist wie für dich gestrickt.“
Hinter dem Birkenwald mündete der Uferpfad in einen Waldweg, den hohe Sträucher und Bäume mit urwüchsigen Stämmen säumten. Ein Reh sprang aus dem Gebüsch, hielt inne, betrachtete Golo aufmerksam, bevor es tiefer in den Wald hineinlief. Bei einem Waldhaus begegnete er einer Frau mit Farbe im Gesicht und einem Pinsel in der Hand. Sie malte eine Schmuckkiste pinkfarben an.
„Plötzlich hat mir das rohe Holz nicht mehr gefallen. Bloß lackieren wollte ich die Kiste auch nicht. Da habe ich mir gesagt: Farbe muss her, und zwar pink!“
Golo schaute die Kiste an. „Das hätte ich an deiner Stelle auch getan. Sie muss dich doch erfreuen.“
Sie klappte den Deckel auf. „Voll und ganz tut sie das jetzt!
Zur Feier des Tages darfst du dir einen Ring aussuchen.“
- „Was feierst du?“ wollte Golo wissen.
„Das neue Aussehen meiner Schmuckkiste“, erklärte sie.
Sein Blick schweifte über die Ringe. Er las einen Goldring aus, steckte ihn der Frau an den Finger. „Das ist der Ring, den ich dir schenken würde, wenn er mir gehörte.“
Sie wunderte sich: „Du hast ausgerechnet meinen Lieblingsring ausgewählt. Wie bist du darauf gekommen?“
Golo hob die Schultern. „Ich habe mich gefragt, welcher Ring zu dir passen könnte.“
Vom Waldhaus ging der Weg dem Hang entlang. Thymian leuchtete mit seinen kleinen lila Blüten. Vor einem Haus mit ockergelber und weißer Fassade lag ein Mann im hellblauen Pyjama auf dem Diwan, beobachtete einen Mauergecko, der die Wand hochkletterte. „Ich schaue ihm zu und kann optimal entspannen.“
Er richtete sich auf. „Es hat genug Platz auf dem Diwan für den Fall, dass du dich ausruhen möchtest.“
- „Ich bin ziemlich ausgeruht“, entgegnete Golo, spazierte durch den Hang zu einem Felsenkamm. Eine Frau sammelte dort Lochsteine. „Ich ziehe Schnüre durchs Loch, hänge sie im Garten oder im Haus auf.“ Sie stellte den Sammelkorb vor ihn hin. „Möchtest du dir einen aussuchen?“
Einige Lochsteine waren faustgroß, andere kleiner als die Spitze des kleinen Fingers. Golo wählte den kleinsten aus und bedankte sich.
„Er bringt dir Glück“, merkte sie an.
Beim Weitergehen sah Golo eine Eidechse. Sie huschte aus einer Ritze, sonnte sich auf dem Felsenplateau, guckte ihn neugierig an. Im Zickzack führte ein eingewachsener Pfad an einem verwilderten Garten vorbei. Ein Mann verflocht die Äste zu einem Weidenhaus, bat Golo, einzutreten. „Du fühlst dich darin sofort geborgen. Das liegt am grünen Licht, das durch die Blätter schimmert.“
Golo begab sich ins Weidenhaus, ließ den umflochtenen Raum auf sich wirken.
„Wenn du willst, hole ich dir ein Sitzkissen“, bot ihm der Mann an.
Golo kehrte ins Freie zurück. „Zuerst möchte ich die Umgebung erkunden. Es nimmt mich nämlich wunder, wohin der kleine Pfad führt.“
- „Auf diesem Weg kommst du zum Blumenhaus“, erklärte der Mann und flocht weiter.
Der Pfad wurde breiter, durchquerte einen Buchenwald.
Eine Spitzmaus tauchte unter einem Farnwedel auf, blieb stehen, eilte zum Loch unter einem Wurzelstrang. Am Waldrand, wo sich die Bäume zu lichten begannen, stand ein sanddornfarbenes Haus im blumenübersäten Garten.
Durchs Schaufenster schaute eine Frau hinaus, sah Golo kommen. Sie trug ein Tutu, lief ihm in Tanzschritten entgegen. „Interessierst du dich für Gänseblümchen?“
Er ließ den Blick über den Garten gleiten. „Eigentlich finde ich jede Blume einzigartig.“
- „Es ist so“, begann sie, „ich habe nur ein Gänseblümchen im Garten. Ich zeige es dir aber nur, wenn du es sehen möchtest.“
Sie nahm ihn bei der Hand und tanzte mit ihm zu den Beerensträuchern beim Wiesenbord, wo das einzige Gänseblümchen blühte. „Leider kann ich es dir nicht schenken, sonst hätte ich keines mehr.“
Er kauerte neben dem Blümchen. „Das fände ich sehr schade, wenn du es abnehmen würdest.“
Stattdessen pflückte sie eine Johannisbeere, reichte sie ihm zum Kosten. „Das ist nur das Muster. Beeren habe ich eine Riesenmenge.“
Er probierte die Johannisbeere. „Sie schmeckt herb süß und fruchtig. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich gerne …“
- „Ein prall gefülltes Körbchen davon haben“, fiel sie ihm ins Wort.
Bevor er dazu kam, den Satz auf seine Weise zu beenden, war sie ins Haus geeilt, mit einem Körbchen voll Beeren zurückgekehrt. „Für dich!“
Golo bedankte sich, aß ein paar Beeren und lobte ihren Geschmack.
„Den Rest kannst du unterwegs genießen, als Wegzehrung sozusagen“, schlug sie vor.
Hinter den Beerensträuchern malte der Weg eine schmale Linie ins Gras. Golo roch den Duft der Wildblumen. Um ein mintgrün bemaltes Haus gackerten Hühner. Der Hahn reckte den Hals. Ein Mann ging auf Golo zu. „Meine Hühner versorgen mich mit frischen Eiern.“
Neben dem Gartentisch stand ein Solarkocher. In einer Schüssel lagen Eier bereit. Der Mann griff eines heraus.
„Darf ich dir ein 3-Minuten-Ei anbieten?“
Golo freute sich über das Angebot. „Danke! Im Augenblick möchte ich noch kein Ei essen. Mich interessiert der Grasweg. Wo führt er hin?“
- „Du kommst zum Fluss hinunter.“
Die Halme bewegten sich im Wind. In ausladenden Schleifen schlängelte sich der Weg. Als Golo den Auenwald erreichte, entdeckte er ein birkenweißes Holzhaus mit Spitzbogenfenster neben der Kiesbank. Die Tür tat sich langsam auf. Eine Frau grüßte Golo. Sie wies auf die Papiere, die sie in allen Farben des Regenbogens auf der Gartensitzbank ausgelegt hatte. „Ich habe sie mit Naturfarben gefärbt. Du darfst dir ein Blatt aussuchen.“
Golo betrachtete die Papiere. „Sie haben alle einen eigenen warmen Farbton. Ich kann mich gar nicht für eine Farbe entscheiden.“
Sie lachte. „Lass dir ruhig Zeit! Wenn du das nächste Mal vorbeikommst, fällt es dir möglicherweise leichter.“
- „Was hast du vor? Zeichnest du auf die Blätter? Oder schreibst du etwas darauf?“ fragte er.
Sie hob ein sonnenblumengelbes Blatt auf. „Ich überlasse sie meinen Gästen. Sie tun darauf kund, was sie zum Künstler macht.“
- „Sicher fällt ihnen immer etwas ein“, vermutete er.
„Wichtig ist mir, dass sie sich ganz unbeschwert fühlen“,
betonte sie, „sie dürfen das Blatt auch mitnehmen und erst dann beschriften, wenn sie wissen, was sie bekunden möchten.“
Golo folgte dem Uferweg. Silberne Reflexe zauberte die Sonne auf den Fluss. Ein Haus stand auf Stelzen im Wasser. Ein Mann schritt über den Steg. „Hast du einen Moment Zeit?“
- „Worum geht es?“ erkundigte sich Golo.
Der Mann lehnte ans Geländer. „Ich möchte deine Meinung einholen.“
Golo begleitete ihn ins Bootshaus, worin eine lebensgroße Puppe am Tisch saß.
„Dein erster Eindruck zählt“, hob der Mann hervor, „sieht die Puppe einem Menschen täuschend ähnlich?“
Golo hielt den Kopf schräg. „Die Frage ist nur, welchem Menschen.“
In Wellen bewegte der Wind das Gras. Golo hielt Ausschau. Ein Weißstorch breitete seine großen Flügel aus, schwebte über den Hang, landete neben einer Störchin.
Eine Weile standen sie nebeneinander, blickten zum Sofa hinüber, das sich mitten im Wiesenweg befand. Nach einem kurzen Schnabelklappern schlugen sie die Flügel, flogen weiter. Eine Frau räkelte sich auf dem Polster. Der Kater, der auf dem Kissen lag, öffnete die Augen. Langsam näherte sich Golo. Die Frau deutete aufs Sofa. „Willst du dich zu uns setzen?“
- „Ich möchte den Kater nicht verscheuchen“, entgegnete er.
„Das wird sicher nicht passieren“, meinte sie, „da müsstest du dich schon sehr arg aufs Polster plumpsen lassen.“
Golo setzte sich behutsam neben sie. Der Kater schnurrte.
„Er mag dich“, erklärte die Frau.
„Dann habe ich Glück“, sagte Golo, „wohin führt eigentlich der Wiesenweg?“
Sie streckte den Arm aus. „Zum alten Milchhäuschen. Du kannst es gar nicht verfehlen.“
Ebenso sorgfältig, wie er sich gesetzt hatte, erhob sich Golo. „Ein altes Milchhäuschen? Das würde ich mir gerne ansehen.“
Der Weg durchquerte den Hang. In der Luft lag der Duft von Kräutern. Eine Glyzine wand sich an der steingrauen Fassade des Häuschens hoch. Lässig an die Tür gelehnt, spielte ein Mann mit dem Deckel einer Milchflasche. „Hast du schon einmal Schafmilch getrunken?“
- „Das ist meine Lieblingsmilch“, antwortete Golo.
Der Mann füllte ein Glas, reichte es Golo. „Hast du noch einen Wunsch?“
Achtsam trank Golo die kostbare Milch, reichte das Glas mit den Worten zurück: „Mehr kann ich nicht wünschen.“
Der Wiesenweg schweifte vom Hang ab, säumte den Waldrand. Eine Frau trat aus dem Schatten einer weitkronigen Eiche. „Hinter dem Stamm liegt eine Schachtel.
Möchtest du sie sehen?“
- „Warum nicht“, meinte Golo, ging um den Stamm herum, betrachtete die Schachtel, die zwischen 2 Wurzelsträngen im Moos lag.
„Hebst du den Deckel?“ fragte die Frau weiter.
„Das kann ich gerne tun“, erwiderte Golo, nahm den Deckel ab. Die Schachtel war mit Stroh gefüllt. Eine Armbanduhr lag darin eingebettet.
Die Frau kauerte neben Golo. „Schade“, bedauerte sie, „der Uhr fehlt das Deckglas. Der Fachmann sollte sich darum kümmern.“
- „Kennst du einen Uhrmacher?“ erkundigte sich Golo.
Sie drückte ihm die Schachtel in die Hand. „Du folgst immerzu dem Waldrand. Dann kannst du ihn gar nicht verfehlen.“
Golo dankte für den Tipp, machte sich auf den Weg.
Über die Baumspitzen rauschte ein Windstoß. Wildrosen blühten in der Hecke. Nach einer Wegbiegung gelangte Golo vor ein merkwürdiges Holzhäuschen, das dem Gehäuse einer Kuckucksuhr nachempfunden war. Auf der Fassade prangte ein riesiges Zifferblatt. Das Fenster darüber sprang auf. Anstelle eines Kuckucks zeigte sich der Uhrmacher. „Ich bin gleich bei dir“, rief er, schwang sich auf den großen Zeiger, der sich langsam neigte und ihn zur römischen Zahl „V“ rutschen ließ, wo er absprang.
Er warf einen prüfenden Blick auf die Armbanduhr. „Mein Auge erkennt sofort, welche Größe das Glas haben muss.“
Neben dem Zifferblatt befand sich die Haustür. Der Uhrmacher riss sie auf, verschwand nur kurz in seinem Kuckuckshaus. Dann kehrte er mit dem Deckglas zurück.
Er hatte nicht zu viel versprochen. Das Glas, das er in die Fassung presste, passte auf Anhieb. Er richtete die Uhr, drückte die Krone hinein, hob sie ans Ohr. Mit würdevoller Miene übergab er sie Golo. „Ihr Ticken ist Musik. Davon können andere nur träumen, doch du besitzt diese wertvolle Uhr wirklich.“
Golo legte sie in die Schachtel zurück, ging den Waldrand entlang, bis er vor ein Haus kam, das in einem Garten mit blühenden Rosen, Hyazinthen und Wildtulpen stand.
Eine Frau stellte die Gießkanne ab. „Was hast du in der Schachtel?“
Er schritt zum Gartentisch. „Eine Armbanduhr.“
Ihre Augen strahlten. „Ich gäbe viel darum, wenn ich diese Uhr tragen dürfte.“
Golo nahm sie aus der Schachtel. „Probiere sie an! Ich bin gespannt, was du sagst.“
Die Frau legte die Armbanduhr an, drehte und wendete das Handgelenk. „Das ist genau die Uhr, die ich mir gewünscht habe.“
Golo neigte den Kopf. „Dann gehört sie dir.“
- „Mit dieser Uhr ist die Zeit nie um. Sie bricht immer an“, freute sie sich.
„Du meinst, sie gibt dir die Anfangszeit an“, schloss er.
„Wie alles beginnt“, drückte sie sich auf ihre Weise aus.