Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1.
Kapitel 2.
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1.
Die Tür fällt ins Schloss. Kurz darauf hört Luna, wie ihr Vater den Lieferwagen startet. Sie weiß, dass ihre Mutter vom Beifahrersitz aus schaut, ob sie noch einmal ans Fenster tritt, um ihnen nachzuwinken, aber sie kann nicht. Luna bleibt mitten im Zimmer stehen, die Reisetasche dicht neben ihren Füßen, und blickt sich um. Das hier ist es jetzt also, ihr neues Zuhause. Es ist noch weit davon entfernt, eines zu sein. Ich bin wie ein Alien, denkt sie; wie ein Wesen von einem anderen Planeten, das aus einem Ufo abgesprungen ist und nun hier herumsteht, mitten in Berlin, in einer unsanierten Ein-Zimmer-Altbauwohnung in einer Charlottenburger Seitenstraße, die nicht sehr anheimelnd wirkt, soweit ich das bisher sehen konnte. Ich kenne niemanden in dieser Stadt bis auf eine andere Studentin, die aber schon zwei Semester weiter ist, und auch die ist nicht wirklich eine Bekannte. Bisher haben wir nur E-Mails ausgetauscht. Hier bekomme ich den Anschluss erst übernächste Woche.
Doch Luna wollte hierher, nicht nur zum Studieren. Seit Thores Tod glaubt nicht einmal mehr ihre Mutter daran, dass es gegen den Schmerz hilft, wenn man einfach an etwas Schönes denkt. Es gibt nichts Schönes mehr. Trotzdem. Thore hätte gewollt, dass sie weitermacht.
Das Zimmer ist noch nicht warm genug, als dass Luna den Wunsch verspürt, ihre Jacke auszuziehen. Sie geht zum Fenster und prüft den Heizkörper darunter, ihr Vater hat ihn vorhin noch aufgedreht, jetzt ist er auf einer Seite schon etwas warm, vielleicht hätten sie ihn erst entlüften sollen. Zu Hause ist ihr Vater immer in jedes Zimmer gegangen, um das bei allen Heizkörpern zu machen, bevor der Sommer ganz zu Ende war. Er hat gesagt, sie solle morgen beim Hausmeister klingeln und ihn darum bitten, hat sich selbst verflucht, weil er den Schlüssel dafür in Remscheid vergessen hat. Sich entschuldigt, auch er sei wegen Thore manchmal nicht ganz bei der Sache. Luna stellt sich vor, Thore würde ihr aus dem Himmel zusehen, wie ein Kind stellt sie sich das vor. Das schaffst du schon, Luni, würde er sagen.
Das Semester beginnt Mitte Oktober, zehn Tage hat Luna noch Zeit, sich einzurichten, sich einzuleben. Heute genügt es, wenn sie ihr Bett fertig hat und das Geschirr findet. Die Möbel stehen schon an den richtigen Stellen, sie hat Hand in Hand mit ihrem Vater gearbeitet, er ist schnell ins Schwitzen gekommen, während sie selbst in ihrer Jacke noch fror. Nach ein paar Stunden war alles aufgebaut. Hochbetten sind für Berliner Altbauwohnungen perfekt geeignet, das Gebrauchte mit dem Arbeitstisch unter der Liegefläche spart Platz, den sie für ihr Bücherregal brauchen kann, ein Sessel passt vielleicht auch noch hinein oder ein kleines Sofa. In Berlin soll es tolle Flohmärkte geben.
Luna fährt mit der Hand über das Fensterbrett. Ein kühler Luftzug streift ihre Fingerspitzen. Es ist windig heute, die Äste der Linde neben den Mülltonnen draußen biegen sich bei jeder Böe, für richtige Herbststürme ist es eigentlich noch zu früh. Später wird Luna ein zusammengerolltes Handtuch an die Stelle legen, sie hofft so sehr, dass das Zimmer warm wird, bis sie schlafen geht; wenn sie friert, spannt sich ihr ganzer Rücken an und tut weh. Sie spürt, dass sie Hunger hat, aber noch mehr Durst, und geht in die Küche, findet den Wasserkocher und ein paar Becher in einer Umzugskiste, zwei Schachteln mit Teebeuteln hat ihre Mutter mit eingepackt, Pfefferminz- und Waldfruchtaroma. In der zweiten Kiste findet sie die Becher, nur zu essen hat sie nichts, sie hat ihren Eltern gesagt, sie würde noch zum Supermarkt gehen, ehe die Geschäfte schließen, dabei weiß sie nicht einmal, wo hier in der Nähe ein Supermarkt ist. Kneipen hat sie im Vorbeifahren gesehen, ein oder zwei kleine Klamottenläden, ein Autohaus. In einer der Kneipen könnte sie etwas essen, vielleicht gibt es dort Salat, Sandwichs oder wenigstens Erdnüsse in der Tüte, die sie gleich mit nach Hause nehmen kann. Sie stellt den Wasserkocher an und legt einen Beutel Pfefferminztee in ihren Lieblingsbecher, den mit dem eingebrannten Foto von Thore und ihr, als sie noch klein waren. Seltsamerweise erscheint ihr das Bild vom Kindergartenfotografen jetzt tröstlich, statt ihren Kummer zu verstärken. Im Flur steht noch ihre Umhängetasche aus grauem Stoff, sie geht hinüber und prüft ihr Handy, doch es ist weder eine Nachricht noch ein Anruf eingegangen. Dann zählt sie den Inhalt ihrer Geldbörse durch, etwas über 23 Euro, für heute Abend reicht es auf jeden Fall. Die Wohnung kostet 270 Euro warm für 26 Quadratmeter. Die Eltern werden ihr monatlich das Kindergeld überweisen, dann ist da noch das Sparbuch, bald wird sie sich einen Nebenjob suchen müssen, um über die Runden zu kommen. In ein Studentenwohnheim hat Luna nicht gewollt, wollte allein sein, in ihrem eigenen Tempo Leute kennenlernen und nicht durch eine Gemeinschaft, die sie sich nicht selber ausgesucht hat. Wenn du mal wirklich knapp dran bist, lass es uns wissen, hat der Vater gesagt; dann gibt es ein bisschen was extra. Luna weiß, Thores Beerdigung war teuer, die Überführung der Leiche aus Portugal, der Sarg, die Blumen. Vor allem war sie nicht geplant. Zu dem Schmerz, dem Verlust, der sie alle fast um den Verstand gebracht hatte, auch noch die Kosten. Darum geht es nicht, das schafft man schon irgendwie, hat die Mutter immer wieder betont. Trotzdem hat Luna sich gleich vorgenommen, dass sie nie freiwillig zugeben wird, mehr Geld zu benötigen.
Morgen kann sie ihre neue Umgebung erkunden, herausfinden, wo ein Geldautomat ist, ein Bäcker und ein Supermarkt, die nächste U-Bahn oder ein Bus, ein Buchladen. Ein Buchladen ist das Wichtigste. Was andere Mädchen für Klamotten und Schminkzeug ausgeben, investiert Luna in Bücher. Sachbücher zu Themen, die sie interessieren, historische Romane, Biografien. Thore hatte das immer gut gefunden. Nicht so oberflächlich wie die meisten bist du, hatte er gesagt.
Das kochende Wasser blubbert, Luna gießt den Tee auf und legt ihre Hände um den Becher, trägt ihn zurück ins Zimmer und setzt sich aufs Bett, auf die kahle Matratze, auch die Bettwäsche muss irgendwo verpackt sein. Sie trinkt ihren Pfefferminztee schluckweise, er wärmt von innen, danach fühlt sie sich etwas besser. Luna stellt die leere Tasse mit dem Beutel darin aufs Fensterbrett, zieht jetzt doch ihre Jacke aus und rollt sie zusammen, in welcher Kiste die Handtücher sind, weiß sie nicht, es soll nicht so ziehen. Der Heizkörper ist kaum wärmer, blöd, dass sie ihn nicht mehr entlüftet haben. Du bist schuld, Thore, denkt sie und stellt sich vor, dass er jetzt lachen würde, sie lacht nicht, aber es tut gut, an ihren Bruder zu denken und mit ihm Zwiesprache zu halten, als wäre er noch da.
Bewegung hilft, die Wärme, die der Tee gibt, etwas länger im Körper zu halten. Luna öffnet eine Kiste nach der anderen, zieht den Reißverschluss der Reisetasche auf, ihre ausgetretenen Sneakers hat sie noch an, hier sagt niemand, dass der Fußboden sauber bleiben muss. Nach kurzer Zeit hat sie fast die Hälfte ausgepackt, so reich sind ihre Besitztümer nicht, alles liegt und steht in der Wohnung verteilt, sie muss erst das Meiste einräumen, bevor sie weiter auspacken kann. Nachdem sie das Zeitungspapier vom Fußboden aufgesammelt hat, wirkt alles schon ordentlicher; Gläser hatte sie darin eingewickelt, ein paar Porzellanfiguren, die sie nicht einmal mochte, aber auch nicht wegwerfen wollte, übertrieben nach dem Kindchenschema dargestellte Hunde und Katzen. Ihre Mutter hat ihr zwei Blumenvasen mitgegeben, so was braucht man in einem Haushalt, meinte sie, aber Luna glaubt nicht, dass jemand in diese Wohnung kommen wird und ihr Blumen mitbringt.
Im Duschbad findet sie einen Lappen, der noch vom Vormieter stammen muss, feuchtet ihn an und wischt über die Regalbretter. Die Bücher, CDs und Kerzenhalter, die sie als Erstes einräumt, wirken noch fremd in diesem Zimmer, das ihr noch nicht vertraut ist, fast wie neue Sachen, genau wie das Licht, das in einem grellen Weiß von der Decke strahlt. Die Mickymauslampe aus ihrem alten Kinderzimmer, die dort noch kultig war, wollte sie nicht mitnehmen, nicht ins Berliner Unileben. Jetzt baumelt nur eine nackte Energiesparbirne an der Decke, ihr Vater hatte zu Hause im Keller nach einem Lampenschirm suchen wollen, aber Luna hatte abgelehnt. Die Flohmärkte in Berlin. Eigenständig sein.
Zwei Stunden später hat sie Laken und Bettbezug aufs Hochbett geworfen, ein paar Teller und Gläser gefunden und die wichtigsten Habseligkeiten im Bad eingeräumt. Luna merkt, dass sie müde wird, sie spürt jeden Knochen einzeln, aber noch kann sie sich nicht vorstellen, hier zu schlafen, zum ersten Mal in ihrem Leben ganz allein, ohne die vertrauten Geräusche des Elternhauses, das dumpfe Geschirrklappern, wenn ihre Mutter spätabends noch abwäscht, das unverständliche Gemurmel des Fernsehers aus dem Wohnzimmer. In einer Kiste findet sie ein Glas Nuss-Nugat-Creme, noch ein Stück Zuhause, aber das Brot dazu fehlt, sonst würde sie jetzt glatt eine Scheibe davon verschlingen. Morgen. Morgen.
Die Zahnbürste, die Seife fürs Bad, endlich ein Handtuch. In der Reisetasche Lunas Schlafanzug, langärmelig, aus Frottee, zum Glück warm genug für diese Nacht, unter der Decke ist es fast egal, wie gut die Heizung funktioniert. Endlich kommen auch ihre farbigen Teelichthalter zum Vorschein, da hat sie fast schon einen Sammeltick, kann an kaum einem Stück vorbeigehen. In der Umhängetasche fischt sie nach ihrem Feuerzeug, zuerst geht es nicht an, Luna flucht leise und verbrennt sich fast die Finger, dann endlich richtet sich eine ruhige Flamme vor ihr auf. Als alle Teelichter brennen, die sie verteilt hat, auf dem Fensterbrett, dem Arbeitsplatz, einem kleinen Beistelltisch, einer Umzugskiste, löscht sie das Deckenlicht. So wirkt alles schon viel gemütlicher. Aber ihr Magen knurrt. Ohne etwas zu essen, wird sie nicht durchhalten bis morgen früh. Luna nimmt ihre Jacke vom Fensterbrett und sucht darin nach dem Wohnungsschlüssel. Ein paar Schritte an der frischen Luft werden ihr guttun; vielleicht ist es danach schon ein bisschen wie nach Hause kommen, wenn sie zurückkehrt. Sorgfältig bläst sie die Kerzen aus, schon der Duft danach wirkt ein wenig anheimelnd. Nachher wird sie sie noch einmal anzünden, auch Kerzenflammen können das Zimmer wärmen.
Ihr Handy piept. Sarah, die Kommilitonin, die sie aus einem Internetforum kennt, hat eine SMS geschickt. Fragt, ob Luna gut angekommen sei und noch etwas mit ihr unternehmen möchte; sie hätte Zeit. Eigentlich will Luna nicht. Thore hätte gesagt, dass es wichtig sei, Leute kennenzulernen, wenn man neu in einer Stadt ist. Luna schreibt zurück, dass sie nur schnell irgendwo was essen möchte. Sie würde sich freuen, wenn Sarah mitkäme. Eine halbe Stunde später ist Sarah da.
»Wir können auch auf eine Party gehen«, schlägt sie vor, nachdem sie sich in Lunas Wohnung umgesehen hat. »Das Wichtigste hast du ja fertig, der Rest läuft dir nicht weg. Hast du Lust?«
»Ich weiß nicht.« Luna zieht ihre Strickjacke fester um den Körper. »Nach Party ist mir eigentlich nicht so, bin ziemlich kaputt nach dem Umzug. Außerdem kenne ich da niemanden.« Sie streift Sarah mit einem Blick, auch sie ist ihr noch fremd, immerhin sehen sie sich heute zum ersten Mal. Luna merkt, dass sie sich scheu in ihrer Gegenwart fühlt, schon wieder fremd, nachdem sie gerade angefangen hatte, sich ein wenig über ihre Wohnung zu freuen, über das, was sie schon geschafft hat. Auf Partys braucht sie immer jemanden Vertrautes an ihrer Seite, um sich wohl zu fühlen. Sobald sie niemanden zum Reden hat und nicht tanzen will, würde sie am liebsten gehen, versteckt sich im Bad, solange es geht, oder hilft dem Gastgeber in der Küche. Heute wird sie gar nicht wissen wohin, wenn Sarah fast alle Leute kennt, und sie kennt nicht einmal Sarah.
»Was ist das überhaupt für eine Party?«, fragt sie und sucht nach einer kleineren Tasche, die große aus Stoff passt nicht zum abends Weggehen. Ihre Schuhe hat sie auch noch nicht ausgepackt, die Jeans ist an den Oberschenkeln schmuddelig vom Kistenschleppen, und ihr Pullover ist einer der ältesten, die sie hat. Wenigstens frisch machen müsste sie sich noch. In ihrer Reisetasche findet sie einen Gürtel, der aus dem Pulli doch noch ein recht ansehnliches Teil zaubert. Immerhin.
»Johannes, ein Kumpel von mir, feiert seinen Einundzwanzigsten«, erklärt Sarah. »Da wird es so voll sein, dass es gar nicht auffällt, ob du jemanden kennst oder nicht. Tanz einfach, schlag dir am Buffet die Wampe voll und verschaff dir mit ein, zwei Gläsern Sekt die nötige Bettschwere für nachher. Wir müssen nicht ewig bleiben, aber ich wollte mich da einfach mal sehen lassen.«
»Klingt gut«, antwortet Luna, deren Magen jetzt wirklich vor Hunger schmerzt, und bürstet ihr halblanges dunkelbraunes Haar. Wenigstens hat sie es heute früh gewaschen, jetzt glänzt es wieder. Komischer Gedanke, dass das noch bei den Eltern in Remscheid war, denkt sie, während sie rasch noch etwas Lipgloss aufträgt. Und jetzt ist sie in Berlin und geht gleich auf eine Party. Tanzen, Sekt trinken und etwas essen.
Sie fahren eine halbe Stunde mit der S-Bahn.
»Das ist die Gegend hier in Berlin«, erkärt Sarah, während sich Luna interessiert umsieht, nachdem sie ausgestiegen sind. Das Viertel wirkt belebter und fröhlicher als die Gegend, in der sie selber wohnt. Der kalte Wind von vorhin hat sich gelegt, lässig gekleidete junge Leute ziehen in großen oder kleineren Gruppen durch die Straßen, Kneipen und alternative Cafés reihen sich aneinander, die Besitzer haben skurrile alte Sessel und Bierbänke nach draußen gestellt, um an diesem lauen Abend auch draußen bedienen zu können. Aus den Restaurants strömen Düfte exotischer Gewürze ins Freie, aus den kleinen Spätkaufgeschäften tragen Jugendliche ihren Alkoholvorrat nach draußen und verstauen sie in ihren Rucksäcken und Umhängetaschen. Überall lehnen rostige Fahrräder an den Straßengeländern und Hauswänden, manche nicht einmal angeschlossen, Lunas Vater dürfte das nicht sehen.
»Prenzelberg, Friedrichshain - das gehörte früher alles zu Ostberlin«, fährt Sarah fort. »Jetzt ist es der angesagteste Kiez der Stadt, alle Studenten wollen hier wohnen.«
»Warum?«
»Hier gibt es die tollsten Klubs und Kneipen, die Leute sind locker drauf und für Studenten gibt es in vielen Läden Sonderpreise. Rund um den Stutti, wo du jetzt wohnst, soll es früher auch ein bisschen so gewesen sein. Mach dir nichts draus - vielleicht kannst du ja bald umziehen, auch in eine WG oder so.«
»Ich weiß nicht, ob ich der Typ dafür bin.« Mit klopfendem Herzen blickt Luna an der Fassade des Hauses hinauf, vor dem Sarah jetzt stehen bleibt. Sie drückt auf einen der obersten Klingelknöpfe. »Mit Leuten zusammenziehen, die ich gar nicht kenne …«
Der Summer ertönt, Sarah wirft sich gegen die Tür. »Alleine in einer fremden Stadt ist es doch öde«, wendet sie ein. »Du wirst sehen, an der Uni lernst du ganz schnell jede Menge Leute kennen. Und heute Abend auch. Sei einfach du selbst, dann wird das schon. Und gleich morgen musst du dich unbedingt im Online-Netzwerk für Studenten anmelden, dann kannst du mit Kommilitonen chatten und bist mit ihnen schon vertraut, bevor es richtig losgeht. Aber komm, jetzt ist erst mal Party angesagt.«
Luna stapft hinter Sarah die Treppen hoch, einen Fahrstuhl gibt es nicht. Von oben dringt laute Musik ins Treppenhaus, nicht ganz ihr Geschmack, Luna hört auf Partys gern die neuesten Charts, dies hier jedoch ist Swing oder eine Art Free Jazz, genau weiß sie es nicht, unmelodische Bläser sind es jedenfalls, meistens bekommt sie schnell Kopfschmerzen davon. Auch Sarah verdreht die Augen.
»Wenn so was läuft, kann das nur eines bedeuten: Falk ist da«, sagt sie.
»Falk?«, wiederholt Luna. »Was ist das für’n Typ?«
»Eine Art Cousin von Johannes, der die Party hier schmeißt. Der ist perfekt. Keine Frau kommt an ihn ran. Sieht super aus, verdient wohl ziemlich gut, ich glaube, er ist Immobilienmakler. Und er kann richtig charmant sein, wirkt aber auch ein bisschen unnahbar, deshalb will ihn ja auch jede. Bloß mit seinem Musikgeschmack nervt er manchmal etwas. Aber jetzt komm, du wirst ihn ja gleich kennenlernen.«
»Ach, so’n Älterer. Lass mal, interessiert mich nicht wirklich.«
»Älter ist er nicht. Zwei, drei Jahre vielleicht, mehr auf keinen Fall.« Sarah klingelt an der Wohnungstür. Während sie warten, dass geöffnet wird, fragt sich Luna im Stillen, was ein reicher Typ wie dieser Falk wohl auf einer Studentenparty macht. Na gut, der Gastgeber ist sein Cousin. Eigentlich ist es Luna egal.
Irgendjemand öffnet die Tür, dann wird Sarah auch schon von mehreren Leuten gleichzeitig begrüßt und verschwindet in dem abgedunkelten großen Zimmer, aus dem die Musik kommt. Ein Mädchen nimmt Luna lächelnd die Jacke ab und bringt sie in ein unaufgeräumtes Schlafzimmer, schließt gleich danach die Tür wieder, Luna versucht, sich zu merken, welche der Türen in diesem langen Altbauflur es war. Dann ist sie allein.
Ein paar Augenblicke lang bleibt sie unschlüssig im Flur stehen, die Party ist in vollem Gange. Sie scheint die Einzige zu sein, die niemanden kennt, doch durch Sarahs unkompliziertes Vorstellen glauben wahrscheinlich alle, Luna gehöre ganz selbstverständlich dazu. So selbstverständlich, dass niemand nach ihr sieht, sie in der Wohnung herumführt, ihr zeigt, wo das Buffet steht. Zögernd sieht sie sich um, entdeckt das Badezimmer, riegelt sich ein, wäscht sich die Hände, bleibt etwas länger als nötig. Der Hunger meldet sich wieder, in der Küche trifft man auf Partys immer die meisten Leute, auch Luna gehört zu denen, die irgendwie immer dort festhängen. Auf dem Flur lauscht sie nach Stimmen, betritt die Küche, sagt leise »Hallo« in die Runde, was ein wenig verhalten, aber nicht unfreundlich erwidert wird. Luna nimmt einen Teller vom Stapel und füllt sich Essen auf, Kartoffelsalat, gebratene Fleischklöße, rohe Paprikastreifen mit Kräuterdip.
»Es ist auch Suppe da«, sagt eine rothaarige junge Frau und deutet zum Herd. »Kürbissuppe, total lecker.«
»Danke.« Luna stellt ihren Teller noch einmal ab, sucht mit den Augen die Anrichte nach Suppentassen ab, spürt, wie die warme Mahlzeit sie von innen her beruhigt. Fast muss sie aufpassen, nicht zu hastig zu essen, sie ist so hungrig. Wenn sie zu schnell fertig ist, weiß sie nicht mehr, was sie auf der Party noch tun soll. An dem großen fleckigen Tisch aus unbehandeltem Holz sitzen außer der jungen Frau, die ihr die Suppe angeboten hat, noch drei weitere Leute etwa in Lunas Alter, die sich angeregt unterhalten haben, als sie hereinkam. Jetzt sind sie still. Vielleicht ist es die WG, denkt Luna; vielleicht haben sie gerade über irgendein Problem diskutiert. Einen Zuhörer können sie nicht gebrauchen.
Als sie satt ist, stellt Luna ihr Geschirr in die Spüle und setzt sich zögernd in Bewegung.
»Getränke sind im Gemeinschaftszimmer«, sagt einer der vier, ein Junge mit verwuscheltem mittelblondem Haar und einem offenen Blick aus hellbraunen Augen. Luna fällt auf, dass er seinen verwaschenen dunkelgrauen Sweater auf links trägt, und lächelt in sich hinein. Bestimmt ist das sein Lieblingsstück, denkt sie, und er wollte es noch nicht in die Wäsche geben. Mit ihm ins Gespräch zu kommen, wäre jetzt schön, doch er wendet sich wieder seinen Freunden zu.
Luna räuspert sich leise.
»Finde ich dort auch den Gastgeber? Ich habe noch gar nicht gratuliert.«
Statt des Jungen antwortet wieder die Rothaarige.
»Johannes? Du kennst ihn noch gar nicht? Klar, der schwirrt hier irgendwo herum, du erkennst ihn an seinem weißen Hemd, das zieht er immer an, wenn er Geburtstag hat. Eine Macke von ihm, die ihm wahrscheinlich seine Mama eingebläut hat.« Sie pocht lautlos mit den Fingern auf die Tischplatte, die anderen drehen an ihren leeren Gläsern, greifen in eine Schüssel mit Salzstangen, die zwischen ihnen auf dem Tisch steht. Luna nickt ihnen noch einmal zu, dann verlässt sie den Raum.
Im Gemeinschaftszimmer steht die Luft. Auf einem Futonsofa drängen sich fünf Leute aneinander, lachend versuchen sie sich gegenseitig von der Sitzfläche zu schubsen, um selbst mehr Platz zu haben. Statt Jazz läuft nun eine schwebende, sphärische Musik, zu der ein paar Mädchen mit geschlossenen Augen tanzen, als wären sie in einer anderen Welt. Luna entdeckt Sarah, die mit einer Bierflasche in der Hand neben der Stereoanlage steht und sie lächelnd zu sich heranwinkt. Erleichtert steuert Luna auf sie zu.
»Amüsierst du dich?«, fragt Sarah, gleichzeitig stellt sich ein Junge neben sie und legt den Arm um ihre Schultern. Luna nickt, dann sieht sie den Tisch mit den Getränken und nimmt sich einen Pappbecher, schenkt sich Orangensaft ein und stürzt ihn in einem Zug hinunter, dann noch einen.
»Keinen Alkohol?«, fragt der Junge, der Sarah im Arm hält. Erst jetzt sieht Luna, dass er ein weißes Hemd trägt, also muss er Johannes sein. Sie streckt ihm die Hand hin und murmelt einen Glückwunsch.
»Danke.« Johannes strahlt sie an. »Du bist Luna, nehme ich an. Komm, nimm dir einen Rotwein! Sarah hat erzählt, du bist neu in Berlin, das muss mindestens so krachend gefeiert werden wie mein Einundzwanzigster.« Schon reicht er Luna ein gefülltes Glas und stößt mit ihr an, Sarah tut es ihm gleich. Der Alkohol steigt Luna rasch in den Kopf, sie fühlt sich angeregt und müde zugleich, endlich ist sie satt und hat keinen Durst mehr. Dafür spürt sie die Müdigkeit in ihrem Rücken, den Armen und Beinen. Der Umzug nach der langen Fahrt, die Kisten. In der neuen Wohnung ist das Bett noch nicht bezogen. Als Luna daran denkt, dass sie nachher noch zurückfahren muss, läuft ihr eine Gänsehaut über den Rücken, an die S-Bahn erinnert sie sich noch, aber Sarah und sie sind umgestiegen, Luna weiß nicht mehr wo. Eigentlich möchte sie bald gehen, aber sie muss auf Sarah warten. Es ist noch nicht mal Mitternacht, immer noch kommen neue Leute rein, es wird enger und voller. Auf dem Sofa wird jetzt gekifft, aus der Küche dringen viele Stimmen, die Clique am Tisch hat keine Chance mehr, sich allein zu unterhalten. Sarah tanzt mit Johannes, inzwischen laufen endlose, ineinander übergehende Songs, die in Lunas Ohren alle gleich klingen. Sie kippt ihren Rotwein in einem Zug und schenkt sich nach. Irgendjemand versucht, sie auf die Tanzfläche zu ziehen, aber sie schüttelt die fremde Hand ab, eilt aus dem Zimmer, geht an der Küche vorbei, will wieder zur Toilette, aber die ist von innen verriegelt, vielleicht gibt es ein zweites Bad, in so einer großen Wohnung kann das sein. Dann erkennt sie die Tür des Zimmers, in dem die Jacken liegen, und tritt ein.
Wie schön kühl es hier ist, denkt sie, kühl und still. Neben der Tür ertastet sie im Dunkeln einen Lichtschalter, der mit einem Dimmer ausgestattet ist und leise zu summen beginnt, als sie darauf drückt, selbst dieses Geräusch ist ihr schon zu viel und sie schaltet das Licht wieder aus, man sieht auch durch die hereinscheinende Straßenlaterne genug. Es duftet nach frischer Bettwäsche, getragenen Kleidern und ein wenig nach Lavendel, das Bett ist unter den zahlreichen Jacken der Partygäste kaum noch zu erkennen. Luna sehnt sich danach, die Kleidungsstücke einfach zu Boden zu fegen und sich auf das Bett fallen zu lassen, zu schlafen bis zum nächsten Morgen. Sie will nicht mehr raus zu den anderen, sich nicht unterhalten, nicht tanzen. All die aufgedrehten Leute auf der Party nerven sie, sie ist noch nicht so weit, will nach Hause, auch wenn es noch kein Zuhause ist, alles andere hat noch Zeit, Leute kennenlernen, dazu muss man wach sein, ausgeruht, Lust drauf haben.
Unter dem Fenster entdeckt Luna einen alten Ohrensessel und sinkt sofort hinein, genießt es, nicht mehr stehen zu müssen, nichts zu tun. Minutenlang verharrt sie so, spürt den leichten Schwindel in ihrem Kopf, der vom Rotwein kommt, kommt sich blöd vor, weil sie die Party nicht genießen kann. Thore hätte gesagt, halt die Augen auf, du weißt nie, wen du triffst, es kann immer eine Begegnung dabei sein, die dein Leben verändert. Luna will nicht an Thore denken. Sie denkt jede Sekunde an ihn.
Thore am Strand. Sie waren zusammen auf einem Campingplatz in Portugal gewesen, es war nicht der erste Urlaub ohne Eltern. Wie immer hatte er schnell Anschluss an andere Jugendliche gefunden und es damit auch seiner Schwester leichter gemacht, Bekanntschaften zu schließen. In großen und kleinen Gruppen waren sie im Meer geschwommen, hatten Bootsausflüge mitgemacht, Partys gefeiert, waren durch kleine Fischerdörfer gebummelt, hatten einfach die Ferien genossen.
Dann der Unfall.
Thore und ein paar andere Jungen waren bei einem Bootsausflug auf den höchsten Felsen einer Steilküste geklettert und ins Wasser gesprungen, gelacht hatten sie und geschrien, waren wieder aufgetaucht, dann alles noch mal von vorne, immer wieder, der Felsen war sicher mehr als fünfzehn Meter hoch. Thore hatte so frei gewirkt, so stark, so übermütig. Nach kurzer Zeit hatte ihm der Felsen nicht mehr gereicht, er war weitergeklettert und hatte einen noch höheren entdeckt, Luna hatte ihn im Gegenlicht der gleißenden Mittagssonne nur noch wie eine winzige Figur oben stehen sehen, lachend und winkend. Mit einer Art Urschrei war er abgesprungen, in der Luft wild mit Armen und Beinen rudernd, einen Salto versuchend, bis er im Wasser aufkam.
Das Geräusch des Aufpralls. Anders als sonst. Die Stille danach. Kein Auftauchen. Kein Jubeln und hastiges Ausschütteln der Haare am Strand, um gleich noch einmal zu springen. Keine glitzernden Tropfen auf sonnengebräunter Haut, nicht wie sonst Thores breites Lachen, nie mehr. Nie mehr von jenem Moment an, nie mehr in Zukunft.
Türkisfarbenes Meerwasser, das sich langsam verfärbte, unwirklich, sich erst langsam verdunkelte, gelblich, einfach nur dunkler, trüber wurde, und dann rot. Der Körper, der an die Oberfläche trieb, reglos und stumm. Thores Körper. Auch unter Wasser hatte es Felsen gegeben, Thore hatte es nicht überprüft, er war einfach gesprungen.
Das Geschrei ringsum, die Aufregung der anderen, Lunas Erstarrung, Geräusche und Bewegungen wie im Nebel, trotzdem hatte sie Fragen beantwortet, mit den Eltern telefoniert, den Wagen mit dem Blaulicht wegfahren sehen, das fremd klingende Martinshorn gehört, obwohl jeder wusste, dass es zu spät war. Der Beistand einer Betreuerin, die kaum älter war als Luna selbst und voller Angst, weil sie doch die Verantwortung für die Campinggäste hatte. Thore war volljährig gewesen, erwachsen. Trotzdem.
Die Heimreise im Flugzeug, keine fünf Tage der drei Urlaubswochen waren vorbei, die Überführung der Leiche, die erstarrten, grauen Gesichter der Eltern, schließlich die Trauerfeier. Das viele Schwarz, weiße Blumen, das Geräusch verhaltenen Schluchzens in der Kapelle, das Schnäuzen in Hunderte von Taschentüchern, hinterher hieß es, es war schön zu sehen, wie viele Menschen Thore geliebt haben. Seitdem ist Luna allein.
Ihr Handy vibriert in der Umhängetasche, Luna öffnet den Schiebemechanismus, das Display blendet fast in ihren Augen. Eine SMS von ihrer Mutter. Luna antwortet, es gehe ihr gut und sie sei schon weit gekommen mit dem Einrichten, wolle jetzt ins Bett gehen. Von der Party muss Mutter nichts wissen, eine Party passt noch nicht. Als die SMS gesendet ist, öffnet Luna ihr Fotoalbum. Thore. Das letzte Foto von ihm, beim Essen am Abend vor dem Unfall, es hatte gegrillten Fisch gegeben, er hält seinen auf die Gabel gespießt in die Höhe, mit leuchtenden Augen, als hätte er den Fisch selbst gefangen. Thores Haare waren noch nicht ganz trocken, wie immer war er länger im Wasser geblieben als alle anderen, war beim Sonnenuntergang noch einmal schwimmen gegangen, hatte danach nur eilig sein T-Shirt wieder übergestreift, statt wie die meisten anderen erst zu duschen, um das Salz von der Haut zu bekommen. Am Tag darauf hatte Luna keine Fotos mehr gemacht. Wie oft hat sie dieses schon angestarrt, seit Thore tot ist, und doch öffnet sie es immer wieder, um zu begreifen, um ihn zurückzuholen, um in seinem lachenden Gesicht eine Antwort zu finden auf all die Fragen, die immer wieder in ihr auftauchen.
Luna weiß nicht, wie lange sie so gesessen hat, mit der Zeit ist ihr Blick von Thores Bild abgeschweift und in dem dunklen Raum umhergewandert, hat die Umrisse der Möbel abgetastet. Erneut spürt sie ihre Müdigkeit und den langen Tag, der hinter ihr liegt, die ganzen schrecklichen Wochen und Monate. Ganz kurz nur die Augen zumachen, denkt sie; dann bin ich bestimmt gleich wieder fit und schleiche mich wieder rüber. Nicht, dass Sarah irgendwann gehen will und denkt, ich sei schon weg, weil sie mich nicht findet. Luna weiß nicht mal, ob Sarahs Jacke auch hier in diesem Zimmer liegt.
Als sie kurz darauf wieder hochschreckt, nimmt sie in einer Ecke eine Bewegung wahr und zuckt mit einem leisen Aufschrei zusammen, erkennt die Umrisse eines Mannes, der sich über das Bett beugt und den Kleiderhaufen durchwühlt. Auch der Mann hält in seiner Bewegung inne, noch immer leicht gebeugt, den Oberkörper zu ihr gewandt.
»Entschuldigung«, sagt er, und Luna ist überrascht von seiner tiefen, warmen Stimme. »Ich … habe nicht bemerkt, dass hier noch jemand ist.«
Luna steht auf, der Ohrensessel knarrt leise, als sie sich erhebt. »Das macht nichts«, sagt sie und streicht sich die Haare glatt. »Ich wollte gerade gehen.« Sie blickt unschlüssig im Zimmer umher, müsste jetzt ebenfalls nach ihrem Mantel suchen, doch sie traut sich nicht, näher an ihn heranzutreten, er hat seine Jacke noch nicht gefunden.
Er richtet sich auf, ohne den Blick von ihr zu wenden, mit zwei Schritten ist er beim Lichtschalter, vergewissert sich, ob es sie störe, wenn er den Raum ein wenig erhelle, er dimmt das Licht nur schwach, gerade so, dass sie einander sehen können. Dann kommt er zu Luna und reicht ihr die Hand. Erst jetzt erkennt sie an seinem Gesicht, an den Wangen, wie jung er noch ist.
»Falk Wolter«, stellt er sich vor. »Du willst schon weg … ich übrigens nicht, hab nur nach meinen Zigaretten gewühlt … schlimmes Laster, ich weiß, auch wenn ich nur Gelegenheitsraucher bin.« Er grinst verschmitzt, wird jedoch gleich wieder ernst. Dunkelbraune Augen, denkt Luna, genauso warm wie seine Stimme. Jazz passt zu ihm. Sein Haarschnitt ist ganz akkurat und betont seinen schönen Hinterkopf, das hat sie gleich gesehen, als er sich über die Mäntel gebeugt hat, aber die einzelnen Strähnen, die ihm vorn in die Stirn fallen, verleihen seinem Aussehen dennoch etwas Lässiges. Das also ist Falk.
»Macht doch nichts«, hört sie sich sagen. »Ich heiße Luna. Irgendein Laster hat jeder, oder?«
»Du rauchst nicht?«, vergewissert er sich, neigt die Zigarettenpackung ganz leicht in ihre Richtung. Luna schüttelt den Kopf.
Falk schiebt die Schachtel in die Brusttasche seines Hemdes, dann berührt er Luna ganz leicht am Ellbogen, nur mit zwei Fingerspitzen. »Du hast ganz alleine hier im Dunkeln gesessen … Geht’s dir nicht gut?«
»Doch«, beeilt sich Luna zu sagen. »Doch, es geht schon, danke.« Weiter kommt sie nicht, weil sie plötzlich spürt, wie ihr Hals enger wird, jetzt nur nicht weinen, sie versteht sich selbst nicht mehr. Eben noch hat sie Thores Foto angestarrt, ohne dass ihr die Tränen gekommen sind, sie hat genug von dem vielen Weinen. Lange hat niemand sie mehr so angesehen wie jetzt Falk. Wirklich sie angesehen, sie wahrgenommen, nicht nur an ihr vorbeigesehen, weil der eigene Schmerz zu übermächtig ist, um sich noch um sie zu kümmern. Seit Thore tot ist, existiert auch Luna nicht mehr.
»Ich will dir nicht zu nahe treten«, fährt Falk behutsam fort und lässt seine Finger sanft bis zu ihrer Hand hintergleiten. »Aber manchmal ist es gerade gut, mit jemandem zu reden, den man noch nicht kennt. Ich kann dich jetzt auf keinen Fall gehen lassen und einfach so tun, als ob ich es hinnehmen würde, dass du gesagt hast, es sei alles in Ordnung. Nicht, wo ich genau sehe, dass es nicht stimmt. Das könnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.«
Luna blickt auf den Boden. »Ich will dir nicht die Party verderben«, sagt sie schließlich. »Wirklich, ich komme schon zurecht. Vielen Dank.«
»Die Party verderben …« Falk blickt, noch immer ihre Hand haltend, zum Fenster hin; im Schein der Straßenlaterne erkennt Luna, dass ein feiner Nieselregen eingesetzt hat. »Ich bin nicht so ein Partylöwe, weißt du. Das Getue da draußen ist mir eigentlich viel zu oberflächlich, wollte nur Johannes nicht enttäuschen. Im Grunde ist eine Party für mich nur dann gelungen, wenn ich mindestens ein tiefes Gespräch mit jemandem geführt habe. Luna.« Er nimmt jetzt auch ihre andere Hand, seine Augen tauchen in ihre, beinahe wird ihr schwindlig. »Schlag mir diese Bitte nicht aus, komm. Ich besorge uns was zu trinken und dann setzen wir uns hin, hören ein bisschen Musik und reden. Okay?«
2.
Luna geht mit in die Küche, Falk will keinen Rotwein aus dem Gemeinschaftszimmer holen.
»Ich hab Sekt mitgebracht«, erklärt er kurz, »und in den Kühlschrank gestellt, aber den scheint hier keiner zu wollen. Ehe er in der WG bleibt und irgendwann umkippt, schnappen wir ihn uns.« Er zieht Luna an der Hand hinter sich her, vorbei an den anderen, der Junge mit dem auf links gezogenen Sweater sitzt immer noch auf dem selben Stuhl wie vorhin, blickt kurz auf, als sie eintreten, ach so, das ist Falks Freundin, denkt er vielleicht. Er fummelt an einer winzigen Digitalkamera herum und schenkt ihnen weiter keine Beachtung. Falk öffnet den Kühlschrank, schiebt Lebensmittel auf den Glasablagen hin und her, als wäre es seiner, nimmt den Sekt heraus. Er riecht gut, denkt Luna, die dicht hinter ihm stehen geblieben ist. Aus dem Küchenschrank holt er zwei Sektgläser, nickt dem Jungen mit der Kamera zu und lotst Luna ins Gemeinschaftszimmer.
»Hier?«, fragt sie in die dröhnende Musik hinein, jetzt spielen sie Blues, im flackernden Schwarzlicht erkennt Luna Sarah, sie tanzt mit irgendjemandem eng, also will sie noch bleiben. Luna will auch nicht mehr fort, aber auch nicht mit Falk inmitten der anderen sitzen. Falk schüttelt den Kopf und schiebt sie sanft auf eine Tür zu, die Luna noch gar nicht gesehen hat, führt sie zu einem kleinen Zimmer, in dem nur ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank aus Kiefernholz und ein Bett stehen, eine ausgewaschene Jeans liegt auf dem kratzigen Teppich, an der Wand lehnt eine zwölfsaitige Gitarre, an der eine Saite gerissen ist. Vielleicht gehört das Zimmer dem Jungen, Luna hofft, dass es nicht so ist. Falk zerrt zwei Sitzsäcke aus einer unauffälligen Ecke, Luna staunt, wie selbstverständlich er sich hier bewegt. Vielleicht ist er oft hier. Er öffnet die Sektflasche so elegant, dass sie es kaum hört, schenkt ein, reicht ihr ein Glas und prostet ihr zu, stumm, er weiß, dass es keinen Spruch gibt, der jetzt passen würde.
Wie von selbst beginnt Luna zu reden. Etwas in Falks Augen gibt ihr das Gefühl, aufzuweichen, aufzutauen. Auf dem Schreibtisch steht ein zerschrammter Plastikwecker, und Luna sieht den Zeiger voranrücken, immer weiter, inzwischen ist es nach Mitternacht, aber sie erzählt immer noch, erzählt von Thore, von der Zeit danach, von ihren Eltern, zittert an den Stellen, die am meisten wehtun. Falk hat ihre beiden Sitzsäcke dicht nebeneinander gestellt, streichelt Lunas Arm, wenn ihre Stimme bricht. Für ihn zählt nur sie, nur dieser Moment, diese Stunden. Manchmal nickt er, fragt nach, äußert seine Gedanken zu dem, was sie erzählt hat. Was er fragt, verrät sein Interesse, er speist sie nicht mit hilflosen Plattitüden ab, wie sie sie tausendfach gehört hat, sagt nicht, die Zeit würde alle Wunden heilen oder dass Thore in ihrem Herzen weiterlebe. Falk ist einfach für sie da.
Die Tür geht auf, Johannes tritt ein und erschrickt, als er die beiden sieht, dann grinst er.
»Hier seid ihr«, bemerkt er. »Falk, du wurdest schon vermisst! Kommt doch wieder rüber, die Tanzfläche ist voll und auf dem Buffet gibt es auch noch was.« Er dreht sich um und geht, ohne die Tür wieder zu schließen, die plötzlich eindringende laute Musik erschreckt Luna, sie will nicht feiern gehen, es tut ihr so gut, mit Falk hier zu sitzen, auch wenn drüben jetzt einer der Songs läuft, die sie vor Thores Tod gemocht hat. Falk, denkt sie, Falk. Sie hat sich schon lange nicht mehr vorgestellt, wie es sein könnte, einen Freund zu haben. Keine Frau kommt an ihn ran, hat Sarah gesagt, aber Luna fühlt sich ihm nah, ganz nah. Wenn Sarah inzwischen weg ist, ist es auch egal.
Falk steht abrupt auf, streicht sein Hemd glatt und strafft seinen Körper.
»Es ist jetzt auch genug«, sagt er. »Tanzen wir?«
Luna folgt ihm zögernd, die plötzliche Schärfe in seiner Stimme verwirrt sie. Vielleicht habe ich seine Geduld zu lange missbraucht, denkt sie; hätte nicht alles auf ihm abladen sollen. Warum hat er nicht gezeigt, dass es ihn nervt?
»Es tut mir leid«, sagt sie leise. »Ich … gehe dann wohl jetzt besser. Danke für alles, Falk.«
Falk bleibt stehen und dreht sich so plötzlich zu ihr um, dass sie beinahe gegen seine Brust stolpert. »Unsinn«, erwidert er und legt seinen Arm um ihre Schultern, es fühlt sich gut an, fest und warm, mit der ganzen linken Seite lehnt sie jetzt an seiner rechten. »Du bleibst, das ist doch klar. Ich will mit dir tanzen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schiebt er sie durch den schmalen Flur, sofort werden sie von anderen Partygästen umringt.
»Hey, Falk!«, dröhnt jemand dicht hinter ihnen. »Ist das deine Neue? Willst du sie uns nicht vorstellen?«
Falk verdreht die Augen. Ein Mädchen wirft Luna einen Blick zu, den sie nicht deuten kann, eine Mischung aus Bewunderung, Neid und Ablehnung, Luna kennt sich damit nicht aus, sie war nie die Sorte, der andere gern die Augen auskratzen würden. Am allerwenigsten wegen eines Jungen. Auch Sarah ist plötzlich da.
»Luna!«, ruft sie, »wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Ich wollte dir …« Dann entdeckt sie Falk, blickt zwischen beiden hin und her, bricht mitten im Satz ab, ihre Augen weiten sich. Luna lächelt. Falk hat gesagt, er wolle mit ihr tanzen. Keine Frau kommt an ihn ran. Mit Luna will er tanzen.
Irgendjemand drückt ihr eine Bierflasche in die Hand, eisgekühlt, einen Bier-Lemon-Mix, den mag sie gern, an Falks Seite ist sie plötzlich mitten im Geschehen, die ganze Meute drängt zur Musik hin, endlich spielen sie die neuesten Charts, die kennt Luna wenigstens, endlich kehrt das Leben in sie zurück, vielleicht ist es doch nicht so schwer, neue Freunde zu finden. Als Erstsemester neu in Berlin. Andere würden sie beneiden.
In dem Gewühl lässt Falk sie plötzlich los, irgendjemand brüllt »Tanzt du?« in Lunas Ohr, schon beginnt sie im Takt der Musik auf den Füßen zu wippen, noch ehe sie ganz auf der Tanzfläche angekommen ist. Erst jetzt nimmt sie den Raum richtig wahr, auch die anderen Gäste, auf einmal wird sie von vielen angelacht, als gehöre sie einfach dazu. Den Jungen mit dem umgedrehten Sweater sieht sie nicht mehr, vielleicht ist er schon gegangen. Falk erscheint wieder dicht neben ihr.
Einer von Lunas Lieblingssongs beginnt, ein Junge tanzt sie an und lacht, vielleicht ist es der, der ihr ins Ohr gebrüllt hat, Luna lächelt zurück. Falk schiebt sich zwischen sie beide, sodass er den Jungen mit seinem Körper verdeckt, ergreift ihre Hand, seine Gesichtszüge sind angespannt, er versucht, ihr Tanzschritte vorzumachen, die er mühelos beherrscht. Luna begreift nicht gleich, aber sie bemüht sich. Niemand war jemals so sehr für sie da wie Falk den ganzen Abend. Nur seinetwegen fühlt sie sich so wohl auf dieser Party, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.
»Nicht so«, sagt er und zeigt es ihr noch einmal, führt sie, wieder dieses sichere Gefühl in seinem Arm. Luna merkt, dass es nicht hierher passt, etwas Gelerntes zu tanzen, aber sein Tanz wirkt nicht verkrampft oder zu sehr bemüht, er bewegt sich, als wäre er mit diesen Tanzschritten geboren, auch seine Mundwinkel entspannen sich wieder, als er sieht, dass Luna versucht, schnell zu begreifen, was sie tun muss. Natürlich sieht es nur gut aus, wenn beide als Paar die Schritte können, Falk und Luna. Noch immer fragt sie sich, was er an ihr findet, andere sind besser zurechtgemacht, modischer gekleidet, fröhlicher drauf. Aber sie weiß die Antwort, er hat sie ihr gesagt. Oberflächlich ist Luna nicht.
Beim nächsten Song bemerkt sie, dass sich ein Kreis um sie und Falk gebildet hat. Die anderen Partygäste wippen und klatschen im Takt, als wäre dies das Finale eines Tanzwettbewerbs. Falk nimmt sie erneut bei der Hand und sieht ihr in die Augen, versinkt beim Tanzen in ihrem Blick, lässt sie nicht mehr los. Luna hat gar nicht gewusst, wie sehr sie sich danach gesehnt hat - nach jemandem, der sie nicht mehr loslässt. Jetzt hat Falk sie ganz spielerisch zu sich heran gedreht, es ging wie von selbst, sie musste nicht einmal mehr überlegen, was sie zu tun hatte, er hält sie eine Spur länger, als der Rhythmus es vorgibt wird. Zum ersten Mal spürt sie die Wärme seines Körpers, sie fühlt, wie sich ihr Herzschlag beschleunigt und ihre Handflächen zu schwitzen beginnen. Die anderen jubeln und feuern sie an, Luna und Falk tanzen weiter, bald hat sie vergessen, wie verunsichert sie anfangs noch gewesen ist, jetzt lässt sie sich einfach treiben, wie schwebend bewegt sie sich zur Musik, zum ersten Mal seit Thores Unfall ist ihr beinahe leicht zumute, das Wort »glücklich« wagt sie noch nicht zu denken, aber sie beginnt zu ahnen, ganz entfernt nur, dass es damit vielleicht doch noch nicht für immer vorbei sein könnte. Sie
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1. Auflage 2010
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