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»Mein Name ist Jenny und in 365 Tagen werde ich tot sein.«
Als Jennifer in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird, will sie nur noch sterben. Der jungen Frau mit dem Spitznamen Dornröschen wurden schreckliche Dinge angetan - aber niemand im Dorf will ihr helfen. Selbst die Polizei rührt keinen Finger! Aber der Gedanke an Rache gibt ihr neue Kraft und sie beschließt, es ihren Peinigern heimzuzahlen. Denn in dem abgelegenen Ort hat jeder ein finsteres Geheimnis ... Sie muss es nur finden.
Ein brutal spannender Thriller von Sebastian Thiel - du wirst aufhören wollen zu lesen, aber du wirst es nicht können!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung!
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Seitenzahl: 386
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog – Der Kuss des Prinzen
1 – Ohne Farbe
2 – Der Pakt
3 – Back in town
4 – Aus den Augen ...
5 – ... aus dem Sinn
6 – Jeder trägt sein Paket
7 – Die Sünden unserer Nächsten
8 – Zum Wohle aller
9 – Die andere Seite
10 – Monster
11 – Gefallene Engel
12 – Wie immer
13 – Stille Nacht
14 – Laute Nacht
15 – Neuanfänge
16 – Vertrauen
17 – Unnahbarkeit
18 – Märchen
19 – Das Fieber
20 – Etwas beginnt, etwas zerbricht
21 – Verborgene Sehnsüchte
22 – Krieg gegen alle
23 – Am Scheideweg
24 – Das Mädchen im Spiegel
25 – Schatten der Vergangenheit
26 – Nur noch weg
27 – Die Rache der Prinzessin
Über den Autor
Impressum
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»Mein Name ist Jenny und in 365 Tagen werde ich tot sein.«
Als Jennifer in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird, will sie nur noch sterben. Der jungen Frau mit dem Spitznamen Dornröschen wurden schreckliche Dinge angetan – aber niemand im Dorf will ihr helfen. Selbst die Polizei rührt keinen Finger! Aber der Gedanke an Rache gibt ihr neue Kraft und sie beschließt, es ihren Peinigern heimzuzahlen. Denn in dem abgelegenen Ort hat jeder ein finsteres Geheimnis ... Sie muss es nur finden.
Ein brutal spannender Thriller von Sebastian Thiel – du wirst aufhören wollen zu lesen, aber du wirst es nicht können!
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Sebastian Thiel
Dornröschen auf Droge
Thriller
»Nicht nur der Berg hat seine Geheimnisse, die wahren Monster wohnen in den schmucken Häusern und grüßen freundlich.«
»Du bist so wunderschön«, flüstert er mir ins Ohr und hält sanft meine Hand. »Mein Dornröschen.«
Die Sterne stehen an diesem Abend stechend hell am Nachthimmel. Ein Lichtermeer aus tausend kleinen Glühwürmchen, welche die schönste Nacht meines Lebens begleiten sollen. Mit den Fingerspitzen fährt er behutsam durch mein Haar und schenkt mir einen Kuss. Den Kuss. Ab jetzt wird alles anders.
»Und deine Lippen schmecken wie reife Kirschen.«
Ich glaube Chris. Ich würde ihm alles glauben.
Mir kommt es vor, als würde das gesamte Vereinsheim vibrieren. Es ist mein Schloss und dies meine Nacht. Unten tobt die Party, hier oben mein Herz. Es pocht wie verrückt und will aus meiner Brust springen. Endlich sieht Chris mich so an, wie ich es mir immer gewünscht habe.
»Meinst du wirklich?«, frage ich mit zittriger Stimme und halte den Atem an. Mein Körper zerspringt beinahe vor Aufregung. Als er mich streichelt, zucke ich zusammen. Es ist, als hinterließen seine Finger eine brennende Spur auf meiner Haut.
»Natürlich«, haucht er kaum hörbar und küsst meine Wange. »Besonders, wenn du die Augen schließt.« Er legt sich vorsichtig auf mich. »So friedlich und hilflos, als würdest du schlafen.«
Ich bin im Himmel. Seine Stimme ist sanft, wie die eines Engels ... und Engel lügen nicht.
Die modrige Feuchtigkeit des Spitzbodens duftet für mich wie frisch gebratene Mandeln. Wir liegen auf alten, abgewetzten Teppichen, doch es kommt mir vor, als würde er mich auf Rosen betten. Der Staub tanzt im Licht, so wie ich bald mit meinem Prinzen. Draußen tobt der Sturm, doch wir befinden uns in einem Kokon aus Glück.
Es ist mein ganz eigenes Happy End.
Selbst das Paradies kann nicht schöner sein als dieser Ort. Vergessen sind die Monate, in denen er mich in der Schule nicht ansah, weggewischt die endlosen, vergangenen Nächte, die wie lange Schatten des nahenden Winters dunkler wurden.
Chris streicht die schwarzen Haare aus seinem Gesicht, und ich habe das Gefühl, als könnte er mir direkt in die Seele blicken. Er öffnet zwei Knöpfe meiner Bluse und berührt mit den Fingerkuppen meinen BH. Dabei spüre ich, wie er etwas aus seiner Jackentasche holt.
»Du willst doch Spaß haben, oder?«
Ich zwinge mir ein Lächeln ab und zucke mit den Schultern. Die letzten Monate habe ich zu sehr gelitten, um diesen Moment nicht genießen zu können. Endlich bin ich bei ihm, und er ist bei mir. Zwei Seelen, die sich gefunden haben, in einer Welt voller Chaos.
Er legt mir etwas an die Lippen, und ich schmecke Salz und Kunststoff. Augenblicklich bekommt der Kokon Risse. Für meinen Prinzen will ich nicht angewidert aussehen. Trotzdem drehe ich mich weg, verziehe das Gesicht und huste. Mein Körper zittert, als würde sich die Kälte in mich hineinfressen und sie ein Teil von mir werden.
So etwas hat Dornröschen bestimmt nicht gemacht. Sie war cool, und ihre Augen funkelten, als die Lippen des Prinzen zum zweiten Mal die ihrigen berührten. Obwohl alles in mir schreit, dass ich einen Schluck Wasser brauche, tue ich es ihr gleich und lächle. So etwas mögen die Jungs, so etwas mag mein Prinz. Mit aller Macht dränge ich die Übelkeit beiseite und lege mich wieder auf den Rücken.
»So ist es brav«, wispert Chris und streicht über meine Lider. »Mach die Augen zu, Dornröschen.«
Plötzlich wird die Schwärze in gleißendes Licht getaucht. Die Welt um mich herum erbebt. Gedämpfte Worte erreichen meine Ohren, ohne dass ich sie wirklich verstehe. Meine Atmung wird langsamer, Sonnenstrahlen und Schatten vereinen sich zu einer Farbexplosion. Tanzende Sterne zucken vor meinen geschlossenen Augen und leuchten so hell, dass ich Angst habe zu erblinden.
Ich schlage die Lider auf.
Mich überwältigt eine flammende Hitze, die mein Herz umschließt und mit ihr rauscht der Schmerz, so klar und brennend, als würde Feuer meine Muskeln in Asche verwandeln. Der Duft von gebratenen Mandeln ist weg, ich liege nackt auf feuchten Teppichen, ein Inferno hat sich in mir eingenistet, und die Tür nach unten steht offen. Jeder Atemzug lässt Hunderte Nadeln in meine Lungen stechen. Meinen Slip haben sie mir über die Augen gelegt.
Der Geruch von altem Holz und dickem Staub schnürt mir die Kehle zu. Dunkle Silhouetten thronen über mir. Sie lachen. Es klingt, als würden sich Hyänen auf ein Festmahl freuen. Ich höre Stimmen, die mir eigentlich bekannt vorkommen sollten, aber nun scheinen sie mir fremd und aus einer anderen Welt zu stammen. Hände, kalt und vor Aufregung zitternd, berühren meinen Körper. Meine Kraft versiegt, als ich mir den Slip vom Gesicht ziehen möchte.
Der Stoff rutscht herunter und legt sich über meinen Hals. Überall sind Finger, die über mich hinwegkrabbeln. Ich liege in einem Ameisenhaufen, und die Insekten kriechen an jede noch so intime Stelle. Angst dehnt sich aus und ergreift von mir Besitz, wie eine Krankheit, der ich nicht habhaft werden kann.
Ich will, dass die Ameisen aufhören, doch kein Wort verlässt meine Lippen. Ich schreie stumm.
»Mach die Augen zu, Dornröschen.« Chris streicht meine Lider nach unten, wie man es in den Filmen bei Toten vollführt. Mir kommt es so vor, als wäre ich eine von ihnen.
»Du bist so wunderschön.«
64. Tag nach dem Kuss des Prinzen
Das Gebäude sieht leblos aus. Tot. Gefällt mir – es erinnert mich an mich selbst.
»Sie haben Ihr Fachabitur also noch gemacht, Jenny?«
Ich nicke in Richtung meiner Psychologin, ohne sie wirklich anzusehen. Hastig ziehe ich an meiner Zigarette und knibbel den Lack von meinen entzündeten Fingernägeln. Dann sehe ich wieder zu Frau Herdenfort, doch mein Blick geht durch sie hindurch. Die rundliche Dame strahlt Wärme und Kompetenz aus. Ihre dunkelgrünen Augen funkeln in der Nachmittagssonne, und mein Verstand ist gewillt, ihnen Glauben zu schenken. Nur meinem Herzen, wenn man die unzähligen Splitter als solches bezeichnen möchte, kann sie nichts vormachen. Die Frau überragt mich um zwei Köpfe und macht den Eindruck, als wäre sie die ehrlichste Person auf diesem Planeten. Gleichgültig. Ich traue niemandem mehr. Warum auch?
»Sie sind also noch zusammen?«, will sie wissen und streicht über ihr Notizbuch mit dem ledernen Einband. Welche Geschichten wohl auf den Seiten ruhen?
Wie oft muss sie hier im Garten gesessen haben, um sich das Geheule von spätpubertierenden Mädchen anzuhören, die nicht damit klarkamen, dass der Checker der Schule sie verschmähte. Ich reihe mich nur ein, in eine ganze Horde von hysterischen Girlies, die dumm genug waren, um auf süße Worte und viel zu schöne Versprechungen hereinzufallen.
Wenn man es so sieht, bin ich eigentlich selbst schuld, dass ich hier bin.
»Jennifer?«
Nur schwerlich kann ich den Blick vom Gebäude nehmen. Als ob jemand ein Bild gemalt und sämtliche Farbe herausgewaschen hätte, weil er sich nicht für eine entscheiden konnte. »Ja?«
»Ihre ehemalige Stufe, sie macht jetzt noch zusammen ihr Abitur?«
»Mh ...«, bestätige ich und versuche, jede Einzelheit des Therapiezentrums in mich aufzusaugen. Nichts will ich vergessen, wenn ich mich in dieser Nacht verabschiede.
»Möchten Sie nicht lieber bei ihnen sein? Bei Freunden und Schulkameraden?«
Ein Lächeln legt sich grotesk auf meine Lippen. Es ist wie das eines traurigen Clowns: Die Farbe wurde einfach auf sein Gesicht gestrichen, obwohl Tränen seine Wangen benetzen. Von Weitem erkennt man vielleicht keinen Unterschied, aber ein Blick in die Augen genügt, um die bittere Wahrheit zu erfahren.
»Meine Freunde?« Die Worte sind nicht mehr als ein Wispern im Wind. »Zurück zu denen?«
Allein es auszusprechen verursacht mir Höllenquälen. Kalter Schweiß legt sich auf meinen Nacken, die Züge an der Zigarette werden schneller. Mit den Fingernägeln schabe ich voller Inbrunst den Nagellack ab. Blut legt sich über die Fingerkuppen, der Schmerz frisst sich in mich hinein, und ich umarme ihn wie einen Geliebten.
»Sie haben mich doch bereits vergessen«, hauche ich ohne Stimme. »Ich bin unwichtig, wie eine Schneeflocke unter Tausenden. Bald schon wird jeder Gedanke geschmolzen sein, und nichts wird mehr an mich erinnern, außer einer verstaubten Erzählung hinter vorgehaltener Hand.« Meine Beine wollen nicht mehr sitzen. Ich stehe auf, schnippe die Zigarette weg. »Sie wollen wirklich, dass ich zurück zu denen gehe?«
Obwohl ich es nicht will, trägt der Wind meine Stimme durch den Garten des Therapiezentrums. Andere Mädchen blicken auf. Umgeben von Feldern und kleinen Bächen schmiegt sich der Betonblock an ein kleines Wäldchen. Die Hitze scheint hier zu stehen und verwandelt jeden Schritt zu einer Qual.
»Zu denen, die über mich hergefallen sind, während ich hilflos auf feuchten, stinkenden Teppichen lag?« Mein Grinsen wird verrückter und breiter. »Vielleicht wollte ich es ja«, sage ich so sarkastisch wie nur eben möglich und hoffe, dass mir Frau Herdenfort zumindest jetzt einen Funken Verständnis entgegenbringt.
»Nichts ist passiert, in diesem kleinen, verfickten Scheißdorf!« Die Welt beginnt sich schneller zu drehen. »Der Vater von diesem Arsch ist stellvertretender Bürgermeister, seine Mutter in der Schulpflegschaft. Jeder dieser Hurensöhne hat einen Vater im Stadtrat, eine Mutter im Sportverein oder einen Cousin bei der Polizei. Sie wollen nur ihre Birnenfeste und Sportveranstaltungen zelebrieren und ihre Söhne und Töchter auf die Uni schicken. Wenn ihr Fußballverein dazu noch gewinnt, sind alle glücklich.
Das ist das Ziel.
Es gibt nichts, was diesen Mikrokosmos der Glückseligkeit unterbrechen darf.« Ich merke, wie ich aus Leibeskräften schreie und kann es doch nicht verhindern. Mein Geist will einfach nicht zur Ruhe kommen, und mein Körper zittert wie das letzte Blatt an einem Baum, das sich mit aller Kraft gegen den Wind wehrt, um nicht abgerissen zu werden. »Und besonders keine zugezogene Schlampe mit einer alleinerziehenden Mutter, die nachher ihre Meinung geändert hat. Das würde nur stören, finden Sie nicht?«
Ich breite die Arme aus, zupfe mit wachsender Intensität an meiner Jogginghose und spüre, wie ich von Wut erfasst werde. Der stechende Duft von Desinfektionsmitteln legt sich wie ein allgegenwärtiger Schleier über den Garten. Ich bebe am ganzen Leib. Beinahe automatisch zieht es meinen Blick auf die Narben an meinen Handgelenken. In dieser Nacht sind wieder einige dazugekommen.
Meine Psychologin sieht demonstrativ auf die Uhr und klappt ihr Buch zu. »Natürlich, Frau Meyer.« Sie räuspert sich. »Liebe Jennifer, ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Wichtig ist, dass Sie hier erst einmal zur Ruhe kommen.« Sie legt ihre Hand auf meinen Arm und ringt sich ein Lächeln ab.
Zur Ruhe kommen. Gute Idee. Und wie ich zur Ruhe kommen werde. Nun, da der Tag auf die Dämmerung zugeht, will ich die letzten Strahlen der Sonne nutzen, um ihnen noch eine letzte, großartige Show zu bieten.
Genau so, wie sie es bei mir taten.
65. Tag nach dem Kuss des Prinzen
Kurz vor Sonnenaufgang – die blaue Stunde. Was für ein prachtvoller Anblick!
Ich stehe auf dem Dach des Therapiezentrums, wippe über den Rand, und meine Augen fixieren die vor mir liegende Stadt. Ein leichter Wind trägt den Rauch meiner Zigarette schnell fort und lässt ihn im Morgengrauen verschwinden.
Ich muss lächeln, wenn ich an die Leute denke, die wie kleine Rädchen in diesem Monstrum einer Metropole arbeiten.
Was verborgen war, gut behütet im Schatten lag, jegliche Geheimnisse und Intrigen, die unter dem Schleier der Finsternis eingehüllt waren, brechen nun ans Licht.
All die Dämonen, welche die Dunkelheit in ihrer Umarmung einschloss, werden nun sichtbar. Wenn die ersten Sonnenstrahlen hinter den Dächern der Stadt hervorkriechen, sieht man nicht mehr das gegraute Gesicht der Menschen. Die nächtliche Maske ist verschwunden, und zum Vorschein kommt ihr wahres Antlitz.
Wenn der Rausch langsam seine Schuldigkeit getan hat und man sich wieder um Schule, Uni und Arbeitsstelle kümmern muss, sind die Sünden der vergangenen Nacht ganz weit weg. Nur Geduld kann den Ursprung wiederherstellen, wenn der Tag seine ewige Schlacht mit der Nacht verliert und die Dämmerung als stiller Vorbote seines Sieges kündet.
Irgendwann werden die Sünden zur Vergangenheit, und die Vergangenheit gerät schnell ins Vergessen.
Besonders in Griemsmahl.
Meinen Blick zieht es nach Westen.
Irgendwo dort, in der Einöde, kurz vor der niederländischen Grenze, liegt die Stadt, die mich tötete. Eine verschlafene Gemeinde, die den Namen eigentlich nicht verdient. Die ersten Häuser schmiegen sich bereits nach der Autobahnausfahrt an die Front des Berges Griems. Der Namensgeber von Griemsmahl ist auch dafür verantwortlich, dass die Sonnenstrahlen ein seltener Gast auf dem kleinen Marktplatz sind. Nur im Hochsommer, wenn sogar Enten auf dem Fluss Leere zu finden sind, passieren die Strahlen den Berg und schenken den Menschen ein wenig Wärme. Ansonsten passt der Fluss zur Stadt, und man hätte sich keinen besseren Namen aussuchen können.
Quer durch die Republik, vielleicht zweihundert Kilometer westlich, haben sie Jennifer Meyer gebrochen. Nicht mit einem Mal, wie einen Ast, den man über das Knie bricht, sondern langsam, mit stetig zunehmender Kraft. Einige nicht einmal mit Absicht, sondern beiläufig, ohne daran zu denken, was Worte und Taten ausrichten können.
Genüsslich ziehe ich an meiner Zigarette. Das Nikotin flutet meinen Körper, und während ich genieße, wie der Qualm meine Lungen füllt, stelle ich mir vor, wie meine Mitschüler in wenigen Tagen zum Michael-Ende-Gymnasium zurückkehren werden. Die Ferien haben bald ein Ende gefunden und mit ihr, diese dumme, dumme Geschichte, die sich letztes Schuljahr zugetragen hat. Nicht mehr lange, und es geht nur noch um ihre Karriere als Fußballprofi oder welche Universität sie besuchen werden.
Sie alle wollen raus aus dem Dorf, nur weg von Griemsmahl, diesem erfolgsverwöhnten Fußballverein mit dem schattigen und von Wind durchzogenen Platz am Fuße des Berges, auf dem kein Gegner gern spielt. Weg aus den Eigenheimen, mit stagnierender Wertentwicklung und Winterblumen, weil etwas anderes in den Vorgärten nicht überlebt. Einfach nur fort aus der Einöde, in die nächstgrößeren Städte, nach Düsseldorf, Köln oder am besten gleich Berlin oder München. Dorthin, wo das Leben tobt und nicht alles vom Fußballverein oder den Schützen abhängt.
Noch ein Jahr, dann haben sie es geschafft, denke ich und schnippe die Zigarette über die viel zu kleine Brüstung. Der Wind erfasst den Stummel und trägt ihn auf seinen unsichtbaren Armen weg von mir. Noch einmal blicke ich gen Himmel. Das Morgenlicht kämpft sich mühselig durch die wenigen Wolken. Hier und überall in Deutschland wird es heute sehr heiß werden.
Nur nicht in Griemsmahl. Dort regiert seit Anbeginn der Zeit der mächtige Griems und lässt die Menschen in eisiger Kälte leben. Ich muss lächeln bei dem Gedanken. Manche sagen, dass in der Stadt viel passiert und über wenig geredet wird. Nur der Berg, der weiß alles. Zu schade, wenn der einzige Zeuge verbrecherischer Schandtaten ein Haufen Geröll im Schatten ist.
Tja, Pech gehabt, Jenny. Falscher Ort, falsche Zeit, falsche Freunde und in den falschen Typen verliebt. Schlechte Mischung ... tödliche Mischung.
In wenigen Minuten schon wird die Nacht endgültig zur Seite treten und dem Tag das Feld überlassen. Die blaue Stunde neigt sich dem Ende zu, und ich steige auf die Brüstung.
Meine Atmung beschleunigt sich nicht einmal, als ich die Arme ausbreite und noch ein letztes Mal an Griemsmahl denke. Wann werden sie von meinem Tod erfahren?
Offiziell bin ich weggezogen. Zumindest wurde die Geschichte von den Stadtoberen so oft verbreitet, dass sie mittlerweile zur Wahrheit geworden sein dürfte. Wenn sie von meinem Ableben erfahren, werden sie der Story noch ein wenig Würze verleihen. Vielleicht dichten sie mir eine Drogensucht an?
»Dat Mädel war ja schon immer nicht janz sauber«, werden sie sagen. »War doch nur ’ne Fraje der Zeit, bis die sich selbst kapott macht.«
Dann zieht es ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Terminkalender, damit sie sich darüber aufregen können, dass sich das Schützenfest mit dem Pokalspiel von Borussia Griemsmahl überschneidet. Nach dem Spiel wird man lachen und mit alle Mann in die Gaststätte »Zur Mine« einkehren, in der man literweise Bier vertilgt und über den Tod von der bekloppten Jenny Meyer redet. Die Alten werden Essen und Klaren dazu kippen, während Chris sich ein neues Opfer suchen wird, das er mit schnellen Discofox-Schritten und seinem traumhaften Augenaufschlag auf den Dachboden des Vereinsheims entführt.
Mit etwas Glück wird er es allein sein ...
Ich schließe meine Augen, in der Hoffnung, dass die Dunkelheit mir ein letztes Mal Mut verleiht. Augenblicklich sind die Bilder wieder da. Ein muffiger, süßlicher Geruch, den man nie aus der Nase zu bekommen scheint. Dazu die Kälte, die sich in einen hineinfrisst und das Zeug, dieses grässliche Zeug, das kleinen Mädchen so böse Träume in den Verstand pflanzt.
Meine Atmung wird schwer, und auch mein Puls erreicht ungeahnte Höhen. Ich öffne meine Lider erst wieder, als ich bemerke, wie sehr sich meine Hände zu Fäusten ballen. Die Knöchel laufen bereits weiß an, und die Ritznarben funkeln mir in den ersten Strahlen des Tages hell entgegen.
Sie alle haben weggesehen. Sie alle!
Hastig ziehe ich Luft in meine Lungen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich, bei jedem dieser abscheulichen, gemeinen Gedanken ein wenig mehr.
Wird Chris bei der Nächsten genauso handeln? Ihre Fotos ins Netz stellen und damit prahlen, wie oft er sie gefickt hat, als die Kleine besoffen war? Oder zeigt er sich gar als guter Teamkapitän und lässt seine Jungs ran, wenn sie im Spiel ein Tor geschossen haben?
Ohne es zu bemerken, beiße ich mir so hart auf die Zähne, dass mein Zahnfleisch zu bluten beginnt. Jede Überlegung ist ein Band aus Hass und Zorn. Kalter Schweiß legt sich auf meine Haut, während der Wind an meinem viel zu großen Schlafshirt zerrt. Meine Haare sind fettig, ich bin übersät mit Pickeln und habe mich seit zwei Wochen nirgendwo rasiert. Warum auch? Damit der Gerichtsmediziner bei der Post-mortem-Untersuchung einen schönen Anblick genießen kann? Nein danke.
Wichsvorlage war ich bereits für zu viele Typen, die mich ausgeknockt und mit gespreizten Beinen auf alten Teppichen bewundern konnten. Das brauche ich nicht mehr. Heute soll damit Schluss sein.
Das war der Deal. Vierzig Tage habe ich mir Zeit gegeben, um es zu verstehen, doch noch immer bin ich einer Erklärung für ihre quälende Niedertracht kein Stück näher gekommen.
Die vergangenen Monate rennen wie ein zu schneller Film vor meinem geistigen Auge vorbei. Ich erkenne ein Mädchen, mit Unmengen naiver Hoffnung in der Hauptrolle und eine Menge Bösewichte. Leider haben sie ihr Handwerk um einiges besser drauf als die blonde Prinzessin das ihrige. Heute gibt es leider kein Foto, kein Happy End für dich, Dornröschen.
So hat er mich immer genannt.
Ich beiße mir auf die Lippen. Nein, das darf nicht sein. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal mehr, was er mir angetan hat. Mit viel Glück wird er sich an die dumme Jennifer Meyer erinnern, wenn er die nächste Schlampe auf einer Party im Vereinsheim fickt. Aber nicht zu lange, die Jungs haben einen straffen Zeitplan, und dieser gehört eingehalten. Sie wollen schließlich Fußballprofis werden, und spätestens mit dem Abitur ist der Weg frei ins nächste Club-Internat. Niemand soll die dunklen Geheimnisse der Stadt aufdecken und die hart aufgebauten Illusionen einreißen.
Langsam steige ich wieder über die Brüstung. Meinen Blick zieht es in die Ferne, dorthin, wo ich den Griems erahne. Welche Heimlichkeiten kann man dir entlocken, dunkler Berg, wie viele Bewohner haben Leichen in deinem Schatten verscharrt?
Es gibt nur einen Weg, den Kreis zu schließen. Der Tod hat mich verstoßen, und ich treibe hilflos zwischen Licht und Finsternis. Nein, so darf es nicht enden. Ich will nicht mehr hilflos sein.
Justitia ist blind ... und dumm und besoffen. Sie würde eine Straftat nicht erkennen, wenn man die Schuldigen direkt an ihre Brust drücken würde. Es ist an der Zeit, meine eigene Geschichte zu formen und etwas zu suchen, das mir mein Leben lang fremd war. Vergeltung.
81. Tag nach dem Kuss des Prinzen
Der Morgen ist gerade erst angebrochen, als der Bus quietschend zum Stehen kommt und mit einem Ruck den einzigen Fahrgast auf den Bürgersteig vor dem Hauptbahnhof spuckt.
Typisch. Die meisten Leute wollen aus der Stadt heraus und nicht hinein. Wer möchte schon nach Griemsmahl, denke ich und atme tief durch. Der allgegenwärtige graue Schleier legt sich wie eine Würgeschlange über mein Gemüt und drückt mit jeder Sekunde ein wenig mehr zu. Die Kräfte der Sonnenstrahlen sind machtlos. Hier wurde es noch nie richtig hell, einem Kellergewölbe gleich, in dem nur ein Licht brennt und gegen die Dunkelheit ankämpft.
Der Griems, mit seiner spitzen Nadel, die scheinbar endlos in den Himmel ragt und dem flachen Rücken, der sich bis tief ins Tal zieht, lässt es einfach nicht zu. Und genau an diesen gottverlassenen Ort, wo Fußball alles ist, die Menschen sich in Alkohol und ihr bürgerliches Leben flüchten und über jeden gelästert wird, der vom Tisch aufsteht – genau an dieses Fleckchen Erde hat mich meine Mutter vor knapp einem Jahr geschleift. Obwohl ich nur einen kurzen, schmerzhaften Teil meines Lebens hier verbracht habe, fühlt es sich an, als würde mich die Stadt bereits eine Ewigkeit in meinen Träumen begleiten.
Ich stelle meinen Koffer auf den Boden und blicke zum Berg hoch. Wie ein schlecht gelaunter Brocken aus grauen Steinen steht er da, und es scheint, als würde er der Stadt absichtlich den Rücken zudrehen und der Sonne keinen Eintritt ins Tal gewähren. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er wütend ist. Ein tiefer, nicht aussprechbarer Zorn, aufgebaut in Epochen und hervorgerufen durch all die Geheimnisse und Leichen, die die Bewohner in ihren Kellern gehortet haben. Ich seufze auf und trete an die Leere heran. Das kleine Flüsschen hat seinen Ursprung oben im Berg und rauscht leise durch die gesamte Stadt. Was für ein passender Name für eine farblose Gemeinde. Die Leere fließt so schnell, als könnte sie es gar nicht abwarten, endlich das Tal und die Stadt hinter sich zu lassen, damit sich die Sonne glitzernd auf die Oberfläche legen kann.
Wer könnte es ihr verübeln ...
Mit einem Ruck nehme ich meinen Koffer und passiere den alten, backsteinernen Hauptbahnhof in Richtung Innenstadt. Hier sieht es immer noch so trostlos aus wie vor knapp zwei Monaten. Ein warmer Wind streicht um meine nackten Beine, während ich den Koffer weiter über die rumpligen Bürgersteige ziehe.
Es ist kein schöner Anblick. Viele Gebäude stehen leer. Mitschüler, die sich langweilten oder denen der Weg in die nächste Stadt zu weit war, haben die Fensterscheiben einiger Gebäude eingeworfen. Die niederrheinische Provinz ist nicht gerade für ihre metropolitische Offenheit bekannt, und hier scheint sich das auf traurige Art zu manifestieren.
Nur die Plakate der Eröffnungsfeier von Borussia Griemsmahl glänzen einen von jeder Ecke, unzähligen Häuserwänden und sogar von übergroßen Plakatwänden entgegen. Der Verein ist kurz davor, in die Oberliga aufzusteigen – die fünfhöchste Spielklasse in Deutschland. In dieser Saison wäre es tatsächlich machbar.
Ein unglaublicher, aber nicht unmöglicher Schritt für so ein kleines Kaff wie Griemsmahl. Immerhin haben andere Städte vorgemacht, was mit einem Investor und viel Geld möglich ist. Nicht umsonst träumt Bürgermeisterin van Cleef bereits von einem Bergstadion, das sich in den Griems schmiegen soll und aufgrund der Einzigartigkeit in ganz Europa bald in aller Mund wäre. Der Fußballverein ist die beste und einzige Chance, die Griemsmahl jemals haben wird, um aus dem Schatten des Berges zu gelangen.
Noch einmal zieht es meinen Blick nach oben. Ob das dem Griems gefallen würde?
Ich kaue auf meiner Lippe und spiele an meinen langen, lockigen Haaren. Der Lippenstift schmeckt nach Kirsche und ist eine Nuance zu rot. Ich weiß, dass ich die Blicke der Menschen auf mich ziehe und genieße es für einen Herzschlag. Einige ältere Herren rümpfen die Nase und tuscheln mit ihren Frauen. Ich brauche die Worte gar nicht zu hören, um zu wissen, was sie sagen.
»Die Bekloppte ist wieder da!«
»Nuttiger als zuvor!«
»Wie kann sie es wagen?«
Doch während sich die Damen diebisch darauf freuen, die Neuigkeit unter den Nachbarn zu verbreiten, blicken mir die Männer noch einmal hinterher und fixieren meinen Po. Ein Lächeln umspielt dabei meine Lippen. Früher habe ich es gehasst, im Mittelpunkt zu stehen. Nun ist es nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch gleichgültig, ob ich wie die Stadt ein Dasein im Schatten friste oder mich in Aufmerksamkeit suhle. Ich würde alles tun, um Vergeltung zu üben. Auch ein langer Weg beginnt nun einmal mit dem ersten Schritt, und dieser wird mir höllische Schmerzen bereiten.
Die Räder meines Koffers schleifen über den unregelmäßig gelegten Steinboden, als ich das Gebäude erreiche, in dem alles vor einem Jahr begann.
Das Michael-Ende-Gymnasium ist am Ende der Stadt gelegen. Ein schmuckloser grauer Klotz aus Beton, der jede Emotion aufzusaugen scheint. Trotzdem will der Stadtrat dieses Monstrum um jeden Preis behalten. Selbst wenn ab und zu kleine Brocken auf dem Schulhof landen und Netze über den Köpfen der Schüler zum Alltag gehören, braucht jede Stadt, die etwas auf sich hält, eine weiterführende Schule. Und sei sie auch noch so hässlich.
Jeder weitere Zoll schnürt meine Kehle zu, während ich über den leeren Schulhof schreite. Kopf nach oben, Rücken durchdrücken, Brüste raus – komm schon, du kannst das, Mädchen. Begleitet werde ich nur vom Geräusch meines fahrenden Koffers und des lauter werdenden Herzschlags. Kurz sehe ich auf die Uhr. Die zweite Stunde hat gerade begonnen, meine alte Stufe wird aller Wahrscheinlichkeit nach gerade komplett zusammensitzen. Ich versuche, nicht daran zu denken, und schreite direkt auf das Sekretariat zu.
Frau Kluschewski sieht mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Nun ja, so in etwa stimmt das ja auch.
»Maria im Himmel«, sagt sie und bekreuzigt sich. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.« Ihre Stimme ist wie dünnes Eis, kalt und zerbrechlich. Die beleibte Frau mit dem missratenen Kurzhaarschnitt schluckt trocken und sieht sich ungläubig um. Was erhofft sie sich? Das ich mir die Jenny-Meyer-Maske vom Gesicht reiße und wir dann herzlich lachen?
Mit weit aufgerissenen Augen glotzt sie weiter und mustert mich von oben bis unten. Wahrscheinlich hat sie die Videos gesehen und wundert sich, dass vor ihr kein gebrochenes Mädchen steht, sondern eine junge Frau mit offenen Haaren, Minirock, weißer Bluse und einem strahlenden Lächeln. »Hallo, Frau Kluschewski, Sie sehen toll aus, haben Sie etwas mit Ihren Haaren gemacht?« Ich schieße noch zwei weitere Komplimente hinterher und erkenne, dass sich ihre Miene aufhellt.
Sie scheint erleichtert, dass ich nett zu ihr bin. Ich scheine also doch nicht aus dem Reich der Toten gekommen, um sie und die Schule mitzunehmen, und die E-Mails, die sie vor wenigen Tagen erhielt, waren in der Tat keine Nachrichten aus dem Jenseits. Etwas widerwillig tippt sie an ihrem Rechner herum und ist anschließend vermutlich selbst überrascht, als sich von der Mattscheibe keine Einwände in ihre Augen brennen.
»Nun, nun gut.« Sie braucht zwei Anläufe, um ihre Stimme zu finden und sich den Hauch eines Lächelns auf die Lippen zu meißeln. Der Drucker arbeitet ächzend, während eine peinliche Stille entsteht. Ich fixiere sie. Frau Kluschewski tut alles, um mir nicht in die Augen zu sehen. Wer redet schon gerne mit einem Geist.
»Hier ist dein ... Ihr Lehrplan«, japst sie erleichtert, als der Drucker endlich das Blatt Papier freigibt.
Ich winke ab. »Den habe ich mir schon ausgedruckt.« Das gemeißelte Lächeln bröckelt. »Also, wenn das dann alles wäre? Den Koffer kann ich hier stehen lassen, oder? Vielen Dank, Sie sind ein Engel!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schultere ich meine Tasche und verlasse das Sekretariat. Showtime! Jetzt kommt es drauf an. Der Mittelgang trägt meine Schritte weit durch die Gänge der Schule, während mich das Klassenzimmer magisch anzieht. Früher habe ich es gehasst, hier zu sein, nun kann ich es gar nicht mehr erwarten. Mein Lehrplan war das Erste, was ich mir ausgedruckt habe, nur einen Platz für den Koffer hatte ich noch nicht. Wenn Frau Kluschewski bereits überrascht war, mich zu sehen, wie würde es meinen lieben Mitschülern wohl ergehen?
Der hallende Ton meiner Stiefel wird langsamer, und meine Atmung beschleunigt sich. Als meine Finger auf der Türklinke ruhen, nimmt meine Herzfrequenz gefährliche Formen an. Die schneidende Stimme von Frau Hirsch dringt durch das lackierte Holz und löst bei mir Übelkeit aus. Bilder und Worte meiner Vertrauenslehrerin muss ich mit aller Macht beiseitedrängen. Ich halte mich zur Ruhe an und hasse mich dafür, dass ich in alte Muster verfalle.
Was hast du zu verlieren, Jenny? Wenn sie das Dornröschen haben wollen, sollen sie es bekommen.
Kurz denke ich an meinen Deal mit mir selbst. Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann alles setzen. Schon seit Tagen spiele ich die Szene in meinen Gedanken durch, und doch ist mir klar, dass sie niemals an die Realität heranreichen wird.
Genau so war es im letzten Jahr. Ich stand an diesem Ort, meine Hand lag auf der Türklinke, nicht imstande, sie zu drücken. Dann gab ich mir einen Ruck.
Hätte ich das alles gewusst, wäre ich niemals durch diese Tür gegangen ...
273. Tag vor dem Kuss des Prinzen
Mein Gott, Jenny, jetzt stell dich nicht so an!
Ich zapple von einem Bein auf das andere, rücke meine Tasche zurecht und fahre mir zum gefühlt hundertsten Mal durch die Haare. Hätte ich vielleicht doch einfach einen Zopf flechten sollen?
Für den ersten Tag an der neuen Schule sind lockige Haare wahrscheinlich zu offensiv. Das Letzte, was ich mir wünsche, ist ein erneutes Dasein als pausbäckiges, krimilesendes Mädchen in der Ecke des Schulhofs, das Mangas in die Ecken der Bücher malt. Nein, hier wird alles anders!
Meine Finger ruhen auf der Türklinke meines neuen Schulraums, und doch finde ich nicht die Kraft, sie herabzudrücken. Andererseits, was soll schon passieren? Schlimmer als in der alten Schule kann es ohnehin nicht werden. Eigentlich bin ich meiner Mutter sogar dankbar, dass sie hier am Griems ein neues Geschäft als Bergsteigerlehrerin eröffnen möchte, auch wenn ich von der Stadt bisher kaum etwas gehört habe – bekannt für Fußball und natürlich den Berg, der dem Tal sämtliches Licht raubt und es jeden Tag in ein fahles Grau taucht. Irgendwie mag ich das. Sonne war noch nie so mein Fall. Klingt zu sehr nach Rampenlicht. Vielleicht ist das hier also genau mein Ding.
Noch einmal atme ich durch, dann drücke ich voller Elan die Türklinke herab. Wie ich es schon erwartet habe, werde ich hauptsächlich ignoriert. Die Deutschlehrerin Martina Hirsch ist eine hübsche Frau mittleren Alters mit blauen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Sie erklärt mir, dass sie die Vertrauenslehrerin ist, dass ich mit jedem Problem zu ihr kommen kann, und weist mir den letzten leeren Platz neben einer Sarina Konz zu.
»Vielleicht ist das mal ein guter Umgang für dich«, schiebt Frau Hirsch in Richtung des attraktiven Mädchens hinterher. Die Klasse lacht, die Bürde der Aufmerksamkeit liegt nun auf den Schultern der Blondine, und ich habe Frau Hirsch bereits jetzt ins Herz geschlossen. Zumindest nennt sie nur meinen Namen und verliert sich nicht in peinlichen Kennenlernspielchen.
Das war doch gar nicht so schlecht! Zumindest bin ich niemandem auf die Füße getreten, einige Jungs haben mir zugenickt, und die Mädchen haben offensichtlich, nach einer eingehenden Musterung, beschlossen, dass ich für sie nicht mal im Ansatz Konkurrenz bin. Jetzt muss ich mich nur noch mit ihrer Anführerin gut verstehen, und ich komme blendend durch mein erstes und letztes Jahr in Griemsmahl. Mit einem guten Abitur kann ich mich in den Krankenhäusern als Schwester bewerben oder, wenn es ganz gut läuft, sogar Medizin studieren. Händeringend muss ich meine Endorphine zur Ruhe mahnen. Immer ein Schritt nach dem anderen.
Also, wo war ich? Genau, die Wortführerin der Mädels. Es wäre naiv zu glauben, dass es so etwas nicht gibt und die »Chefin der Cheerleader« nur ein Phänomen ist, das lediglich in amerikanischen Coming-of-Age-Filmen existiert. In jeder Klasse gibt es das eine hübsche, sexy, coole Mädchen mit reichen Eltern, das den Jungs den Kopf verdreht und über Beliebtheit, Likes und WhatsApp-Gruppen herrscht.
Das Schicksal, in persona meiner neuen Lieblingslehrerin Frau Hirsch, hat mich direkt neben sie gesetzt. Ich rümpfe die Nase, schlage meine Unterlagen auf und tue so, als ob ich zuhöre. Dass ich hier sitze, ist ja schon beinahe kein Wink mehr, sondern ein richtiger Schlag mit dem Zaunpfahl. Meine Stimmung hellt sich auf. Das wird ein gutes Jahr, ganz bestimmt sogar.
»Hey«, sage ich und hoffe, dass meine kurze, aber prägnante Begrüßung bei Sarina auf offene Ohren stößt.
Sie lächelt und lehnt sich mit dem Stuhl zurück, sodass wir flüstern können. »Hey, alles klar?«
Ich nicke. »Danke, bei dir?«
»Die Hirsch fährt gerade wieder so einen Egotrip«, wispert sie und kritzelt Muster auf ihren Block. Herausfordernd nickt sie in Richtung eines Mädchens, das am anderen Ende des Klassenraums allein sitzt. Aufmunternd lächeln sich die beiden an, holen ihre Handys hervor und starten eine Kommunikation. »Ist bestimmt wieder sauer auf unsere flachen Bäuche und die straffen Titten.« Sie lacht, schickt ihrer Leidensgenossin mehrere Smileys. »Die hat einfach Angst, dass ihr feiner Herr Chefarzt sich eine Jüngere sucht.« Sarina sagt die Worte gerade so leise, dass es noch als Flüstern durchgeht, aber so laut, dass es auch an Frau Hirschs Ohren dringt.
Die Erklärungen unserer Lehrerin stoppen, sie sieht für den Hauch einer Sekunde zu Sarina und entscheidet sich schließlich, so zu tun, als hätte sie die Bemerkung nicht vernommen.
Ein Blick auf ihren Schreibtisch offenbart, dass Sarina auf gemeinste Art und Weise die Wahrheit sagt. Drei Fitnesshefte, Obst, Nahrungsergänzungsmittel, Frau Hirsch lässt nichts aus, um ihren Körper in Form zu halten. Augenblicklich fühle ich mit ihr, und etwas kristallisiert sich glasklar heraus: Sarina ist hier die unumstrittene Königin, die selbst Frau Hirsch nicht verärgern möchte.
Gerade als ich den Gedanken zu Ende formuliert habe, trifft etwas meinen Kopf. Ich zucke zusammen, wie eine Katze, die sich erschreckt hat, und blicke mit einem hilflosen Gesichtsausdruck in die Richtung, wo ich den Ursprung des Wurfgeschosses vermute.
»Wer war das?«, durchschneidet die helle Stimme von Frau Hirsch die Lacher und dreckigen »Ohs«.
Amüsiert und betont lässig nimmt Sarina das Papier an sich. »Sie haben sein Handy weggenommen, deshalb muss Chris jetzt mit der Hand schreiben.« Sie lehnt sich zu mir. »Ein Wunder, dass er das überhaupt beherrscht. Dummer Fußballer.« Sie zwinkert ihm dabei zu und macht offensichtlich keinen Hehl daraus, was sie von ihm hält. Trotzdem erkennt man, dass zwischen den beiden eine Verbindung besteht. Er ist der König, sie die Königin der Stufe. Die Regenten lieben sich nicht, aber sie verstehen einander. So einfach ist das.
»Oh, Chris ... na dann«, stottert Frau Hirsch, als ihr Mobiltelefon eine Erinnerung meldet. Beiläufig fummelt sie einen Blister aus ihrer Handtasche, wirft sich eine traubengroße Nahrungsergänzungspille ein und spült mit einer mir nicht geläufigen braunen Flüssigkeit nach. Bestimmt irgendein Detox-Ingwer-Brennnessel-Tee von einem tibetanischen Guru. Anschließend setzt sie den Unterricht fort.
Dass sich niemand daran stört, kann nur bedeuten, dass dies nicht zum ersten Mal passiert.
Sarina liest den Zettel, lächelt, zerknüllt ihn provokativ, streckt Chris den Mittelfinger entgegen und küsst die Spitze zuckersüß. »Blöder Idiot«, flüstert sie leise und lehnt sich dann wieder zurück. »Stehst du auf Fußball?«
Ohne es zu wollen, mache ich den größten Fehler meines Lebens. Als Fan der Butterfly-Theorie weiß ich, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in der einen Ecke der Welt, einen Tsunami in der anderen auslösen kann. Meine folgenden Worte kommen mir so leicht über die Lippen, doch sind sie für meinen Untergang verantwortlich und setzen Begebenheiten in Bewegung, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Ich blicke nach vorne, male meine Mangas. Frauen mit zu großen Augen, Männer mit zu großen Schwertern. »Das ist doch ein Sport für Idioten«, wiederhole ich Sarinas Worte. »Elf Typen, die einem Ball hinterherrennen und dabei versuchen, elf andere Typen zu überrumpeln?« Ich lache auf und fühle mich sicher. Zu sicher. »Nein danke.« Erst dann sehe ich zu Sarina.
Ihr Gesicht ist zu einer Fratze aus Zorn geworden. »Willst du mich verarschen?«, schießt es aus ihr hervor, ohne auf die Lautstärke Rücksicht zu nehmen. »Du findest Fußball scheiße, und alle Spieler sind Idioten?«
Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich nur noch ein Haufen Asche. Ein Kloß verfestigt sich in meinem Hals, und ich muss einen Würgereiz unterdrücken. »Ich ... ich meinte das nur, weil du gerade sagtest, dass ...« Meine Stimme bricht. Ihre Worte jetzt zu wiederholen, wäre noch dümmer als das, was ich gerade von mir gegeben habe.
Verächtlich seufzt Sarina, dreht sich weg und startet einen neuen Chat. Ich weiß, was sie schreiben wird. Jeder weiß es. Die Stille ist schmerzhafter als hundert Peitschenhiebe. Beinahe hoffnungsvoll ruht mein Blick auf Frau Hirsch. Doch sie schüttelt langsam den Kopf.
»Jennifer, das ist nicht gerade respektvoll, wenn man neu ist und alle anderen beleidigt.« Sie vollführt bedeutungsschwanger ein paar langsame Schritte auf mich zu. Meine Vertrauenslehrerin ist sich der vollen Aufmerksamkeit des Plenums bewusst und bereit, sich auf meine Kosten zu profilieren. »Du musst wissen, Fußball ist ein sehr wichtiger Teil unseres Gemeindelebens. Nicht wenige erhoffen sich durch den Sport neue Perspektiven und Möglichkeiten. Es ist sogar die Rede von einem Investor, der bei Borussia Griemsmahl einsteigen möchte. Denk an die Integration, die Wirtschaft und Arbeitsplätze, die die Mannschaft erschaffen kann. Nicht zu vergessen unser kulturelles Erbe, am Fuße des Griems.« Einige Schüler klatschen zustimmend, Zwischenrufe geben ihre volle Unterstützung. Das Kopfschütteln wird heftiger, als wäre sie sehr enttäuscht worden. »Bitte, komm nach der Pause zu mir. Darüber sollten wir reden.«
Überschwänglich und im Rausch der Glücksgefühle setzt sie ihren Unterricht fort. Vergessen ist, dass Schüler mit Handys spielen, Papier herumfliegt und auch sonst jeder macht, was er möchte, solange ein halbwegs geordneter Unterricht möglich ist und alle der Gedanke eint, dass die Fußballer unantastbar sind. Schlagartig werde ich von Schülern und Lehrern gleichermaßen ignoriert. Frau Hirsch wollte dazugehören, und ihre Schüler hatten kein Interesse, es sich mit den Sportlern zu verscherzen. Auf ihren Schultern ruhen die Hoffnungen der Stadt.
Mit jedem Lidschlag werde ich kleiner. Meine Gedanken rasen und kommen nicht zur Ruhe. Der Rest der Stunde schleicht wie in Zeitlupe an mir vorüber. Ich traue mich nicht, auch nur einmal zu Sarina herüberzusehen.
Die Pausensirene lässt mich aufschrecken und frisst sich in Mark und Bein. Einen Herzschlag später springt Sarina auf und stürmt mit den anderen Mädchen aus der Klasse. Ich bekomme ihre Tasche gegen das Gesicht geschlagen, jedoch spüre ich keinen Schmerz mehr. Mein Leib ist so taub wie mein Verstand. Ich laufe auf Autopilot und bin selbst überrascht, als das vormals weiße Blatt Papier voller Mangas ist. Mädchen und Jungs, in inniger Umarmung vereint und umgeben von schwebenden Herzen. Wie gerne wäre ich in dieser Welt und nicht in diesem Horrorfilm, den die Menschen auf gleichgültige Art und Weise Realität nennen.
Wie ein Geist stolpere ich aus der Klasse. Ich bin nicht einmal das Gespött der Menschen, dafür bin ich zu neu und unwichtig. Nein, ich bin unsichtbar, als ob sie meine Existenz verleugnen würden.
»Da hast du dich ja direkt mal mit den Richtigen angelegt.«
Langsam dreht sich mein Kopf. Spricht das Mädchen gerade wirklich zu mir? Oder ist es einer meiner Tagträume, die ohnehin nicht in Erfüllung gehen?
»Entweder bist du unglaublich mutig oder sagenhaft dumm«, ergänzt ein schlaksiger Typ in komplett schwarzen Klamotten. Seine Stimme ist nicht feindselig, sondern voller Wärme, und er unterlegt jede Silbe mit einem schüchternen Lächeln. »Ich bin Martin Mary, das ist Diana Holofernes.« Er streckt mir die Hand entgegen.
Ohne genau zu wissen, warum, sehe ich mich um. Alle anderen Schüler sind auf den Schulhof gerannt. Ich kann sie durch die Glasscheibe sehen, wie sie rauchen, essen und lachen. Über ihnen sind riesige Netze gespannt. Verächtlich muss der Griems sich von dem ein oder anderen Geröllstein getrennt haben, als Warnung, dass er immer noch da ist. Sie schweben nun über den Köpfen der Schüler, zurückgehalten von engmaschigen Fasern. Von draußen dringt uns ein Lärm entgegen, der nur schwerlich auszuhalten ist, doch hier, kurz vor dem Raum meiner Schmach, herrscht gefährliche Ruhe. Jedes Wort wird weit fortgetragen, sodass ich beinahe flüstere: »Ich bin Jenny Meyer, gerade hergezogen.«
Martin schnippt mit den Fingern und sieht erst das Mädchen, anschließend mich eindringlich an. »Siehst du, Dina, das ist mal ein Name, mit dem man nicht jeden Tag aufgezogen wird.«
Die hübsche Brünette mit den lateinamerikanischen Zügen schnalzt genervt mit der Zunge. »Beschwer dich bei deinen Eltern, Mary.« Dann streckt auch sie mir die Hand entgegen. »Nenn mich Dina, das tun alle.« Als wäre es ein großes Ritual, streckt sie die Arme aus. »Tja, er ist der Stufen-Gothic, ich bin das Mädchen mit den verrückten Eltern, die Souvenirs vom Berg verkaufen – es scheint so, als hätte unser kleiner Außenseiterzirkel Zuwachs bekommen.«
Ich verstehe nur Bahnhof und selbst das noch auf Hebräisch. »Sorry, ich ...«
»Also nach der Show da drin, wirst du sicherlich nicht mehr Sarinas beste Freundin«, unterbricht mich Martin und deutet auf einen gläsernen Raum etwas abseits hin. »Alles Weitere besprechen wir in unserem geheimen Superloser-Hauptquartier.«
Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann und mein Gehirn endlich damit aufhört, einfach nur Brei zu sein, werde ich weitergeschoben. Ich laufe wie auf Schienen, nicht möglich, von allein zu stoppen oder die Richtung zu wechseln.
Der Raum ist nicht größer als eine Schulklasse. Sofort schlägt mir der Duft von alten Büchern und abgestandener Luft entgegen. Die Schriftstücke türmen sich im scheinbaren Chaos zur Decke. Durch vier schmale Fenster fällt diesiges Licht, das gerade ausreicht, damit wir die tanzenden Staubflocken erkennen können.
Auf einer Empore schmiegen sich ein Tisch und eine kleine Sitzecke in die Wand, dazu schmücken selbst gemalte Bilder den Raum. Dina wirft ihre Tasche auf die Bank, lässt sich auf die bunten Polster der Sitzecke fallen und stellt, ohne hinzusehen, drei Tassen auf den Tisch, während Martin routiniert eine Kaffeemaschine befüllt.
»Unser kleines Refugium«, erklärt er und nickt in Richtung Pausenhof. »Die da draußen wissen wahrscheinlich nicht einmal, dass diese Schule eine kleine Bibliothek ihr Eigen nennt.« Der Duft von frisch aufgesetztem Kaffee erfüllt den Raum, und ich möchte nie wieder hier weg. »Besonders nicht Sarina Konz.«
»Konz?«, flüstere ich nachdenklich und krame tief in meinen Gedanken. Irgendwo habe ich den Namen schon einmal gelesen.
»Vater Direktor der örtlichen Regiobank-Filiale, Mutter Vorsitzende der Schulpflegschaft«, wirft Dina ein und strafft ihr Kreuz. Dann kramt sie ein paar Kekse aus ihrer Schultasche und wirft sie in hohem Bogen auf den Tisch. »Sie könnte sich in der ersten Stunde einen Schuss setzen und würde trotzdem ihr Abi schaffen.«
»Du hast heute mal wieder eine lebhafte Fantasie«, entgegnet Martin und zuckt zusammen, als er die Tassen füllt und heißer Kaffee über seine Hand läuft.
Dina nimmt den ersten Schluck, verbrüht sich ebenfalls und entscheidet sich schließlich, die Kekse zu öffnen und sie in den Kaffee zu tunken. »Genau wie du, mein Lieber.«
Er zuckt mit den Schultern. »Du weißt ja, manchmal muss man den Feind von innen zerstören.«
Wieder verstehe ich nichts und halte meine Kaffeetasse so fest, als würde mein Leben davon abhängen. Die Hitze ist mir gleichgültig, und der Schmerz verdrängt die Taubheit. Diesmal bin ich klüger und schweige, obwohl beide mich so ansehen, als sollte ich etwas sagen. Nach einiger Zeit presse ich ein »Warum?« hervor.
Dina zwinkert mir zu und lächelt dabei diabolisch. »Unser Mary hat wieder mit Fußballspielen angefangen. Er war mal richtig gut, musst du wissen.«
»Chris und den Jungs aus der ersten Mannschaft fehlt ein Verteidiger«, murmelt er peinlich berührt in seinen Kaffee und schlürft laut. »Wenn man ab und zu mal auf eine Party eingeladen wird und sie einen in Ruhe lassen, ist das auch nichts Schlimmes.«
Ich kann beinahe spüren, wie ihm diese Aussage körperlich Schmerzen bereitet, und kann ihn nur allzu gut verstehen. Wie weit würde ich gehen, um beliebt zu sein?
Dina lächelt, steht auf, stellt ein kleines Radio in der Ecke an und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Du verkaufst deine Seele, Mary.«
Auch seine Mundwinkel ziehen sich nach oben, und er bekreuzigt sich in umgekehrter Reihenfolge. »Die habe ich schon längst verkauft, an den allwissenden Satan, das Chaos und den Tod.«
Genervt zieht Dina ihre Stirn in Falten und steckt sich einen mit Kaffee vollgesogenen Keks in den Mund. »An so viele hast du die vertickt?«, nuschelt sie. »Ich hoffe, du hast einen guten Preis erzielen können?«
Ich könnte den beiden stundenlang zuhören, wie sie frotzeln und sich necken, so voller Leidenschaft und doch gespickt mit Respekt. Martin platzt beinahe vor trockenem Sarkasmus, während Dinas Ironie wie Balsam auf meine geschundene Seele wirkt.