Drachenfluch - Gesamtausgabe - Sandra Gernt - E-Book

Drachenfluch - Gesamtausgabe E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Jiru schlägt sich als kleiner Dieb durchs Leben, bis er eines Tages von Callin, einem berühmt-berüchtigten Zauberschmied, versklavt und auf eine tödliche Mission geschickt wird. Doch statt wie all seine Vorgänger zu scheitern, überlebt er und wird dadurch zum Spielball von Begierden und einander widerstrebenden Interessen. Jeder hat seine eigenen Pläne und selbst jene, die ihm zur Seite stehen, spinnen mehr oder weniger geheime Intrigen. Die Dämonenkönigin, der Drachenkönig, die Herrscherin des Westwindreiches, diverse Zauberschmiede, Dämonen und so ziemlich jede andere Kreatur dieser Welt: Jeder hat einen eigenen Grund, Jiru für sich gewinnen zu wollen, als wäre er die Siegestrophäe in einem Spiel ohne Regeln. In dieser ausweglosen Lage ist Ilajas der einzige Lichtblick. Doch wie soll ein Zauberschmied ohne echte magische Fähigkeiten ihm helfen? Ca. 110.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieser Roman ungefähr 550 Seiten.

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Jiru schlägt sich als kleiner Dieb durchs Leben, bis er eines Tages von Callin, einem berühmt-berüchtigten Zauberschmied, versklavt und auf eine tödliche Mission geschickt wird. Doch statt wie all seine Vorgänger zu scheitern, überlebt er und wird dadurch zum Spielball von Begierden und einander widerstrebenden Interessen. Jeder hat seine eigenen Pläne und selbst jene, die ihm zur Seite stehen, spinnen mehr oder weniger geheime Intrigen.

Die Dämonenkönigin, der Drachenkönig, die Herrscherin des Westwindreiches, diverse Zauberschmiede, Dämonen und so ziemlich jede andere Kreatur dieser Welt: Jeder hat einen eigenen Grund, Jiru für sich gewinnen zu wollen, als wäre er die Siegestrophäe in einem Spiel ohne Regeln.

In dieser ausweglosen Lage ist Ilajas der einzige Lichtblick. Doch wie soll ein Zauberschmied ohne echte magische Fähigkeiten ihm helfen?

 

Ca. 110.000 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieser Roman ungefähr 550 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Dieb nimmt deine Habe.

Die Liebe stiehlt dein Herz.

Der Tod stiehlt dein Leben.

Der Zauberschmied stiehlt deine Seele.

Der Schlund nimmt dir alles.

Aus: „Über des Menschseins Qualen“, Verfasser und Datum unbekannt, aufbewahrt im Nahibtempel in Nadur.

 

iru duckte sich im Schatten des Hauseingangs. Er musste warten, bis die beiden Stadtwächter mit dem lallenden Trunkenbold, den sie mit sich schleppten, außer Hörweite verschwunden waren. Erst danach kletterte er langsam, jeden Vorsprung nutzend, die Hausfassade hoch. Die Nächte waren selbst jetzt im Sommer kühl, aber seine Finger konnte er ohne Schwierigkeiten bewegen. Die frische Brise, die durch sein fadenscheiniges Gewand drang, erhöhte die Chance, dass sich möglichst wenige Leute auf den Straßen herumtrieben.

Es war sein Glück, dass Markhalt Narabsohn, der Besitzer dieses großzügigen, geradezu protzigen Anwesens, keine Mühen oder Kosten gescheut hatte, sein Haus mit Stuck und Statuen und Zierrat zu verschönern. Selbst ihm, dem das Klettern nicht als Talent in die Wiege gelegt wurde, fiel es im Dunkeln der mondlosen Nacht leicht, seinen Weg in das zweite Obergeschoss zu finden. Er hatte außerdem das Glück, sowohl das Haus als auch die darin friedlich schlummernde Familie sehr gut zu kennen. Dadurch wusste Jiru, dass das Fenster des Gästezimmers im Südflügel nicht fest verriegelt werden konnte und Markhalt, der heutzutage nicht mehr so viel Geld zum Verschwenden besaß wie in den glorreichen Tagen unter Fürst Antul, auf die Reparatur als überflüssige Ausgabe verzichten musste. Aus diesem Grund wurde das Gästezimmer nur noch belegt, wenn Anamia, die Dame des Hauses, ein großes Fest gab. Da dafür ebenfalls kein Geld vorhanden war, brauchte Jiru sich keine Sorgen zu machen, als er vorsichtig die knarrenden Fensterläden öffnete und sich hindurchschob. Zur Sicherheit lauschte er, niedergekauert auf dem mit verstaubten Teppichen ausgelegten Boden kniend. Er bewegte sich erst wieder, als er bis hundert gezählt hatte und alles still geblieben war. Keine Atemgeräusche, nichts regte sich. Unter diesem Gästezimmer schlief Karnt, der alte – und mittlerweile einzige – Diener der Herrschaften. Karnt war nahezu taub und würde nicht einmal aufwachen, sollte Jiru versehentlich im Dunkeln etwas umstoßen. Da er früher häufig in diesem Zimmer genächtigt hatte, kannte er sich genug aus, um unbeschadet alle Möbel und Hindernisse umgehen zu können. Immerhin war Markhalt früher sein Schwiegervater gewesen.

Jiru presste verkrampft die Kiefer aufeinander, er hasste diese Erinnerungen an sein verlorenes Leben. An den Tod seiner Frau, die er zwar nicht geliebt, aber geachtet hatte. Dem Verlust von allem, was ihm kostbar gewesen war und Sicherheit gegeben hatte. Vor gerade einmal zwei Jahren war er ein ehrbarer Mann gewesen, der einzige Sohn einer angesehenen Händlerfamilie. Dass er jetzt als Dieb Haranstadt unsicher machen musste, daran trug Markhalt einen Teil der Schuld. Da war es vollkommen gerecht, wenn Jiru sich ein wenig von dem nahm, was dieser Unmensch ihm damals als mildtätige Gabe verweigert hatte …

Jirus Familie war in den alten Zeiten durch den Handel mit Luxusgütern wie Seide und Gewürzen aus den Westwindländern reich geworden. Als dieses Geschäft vollständig einbrach, schwand auch das Vermögen mit jedem Jahr dahin. Man hatte versucht, Jiru nach dem Tod seiner Frau – Markhalts Tochter – gewinnbringend neu zu verheiraten, was gescheitert war. Markhalt hätte ihn als seinen Schwiegersohn bei sich unterbringen müssen, als er mittellos vor ihm stand, so wie es der gesellschaftliche Anstand erforderte; er hatte ihm jedoch stattdessen die Tür vor der Nase mit einem: „Bettlern haben wir nichts zu geben!“ zugeschlagen. Wenn Jiru daran dachte, wie Markhalt ihn umsäuselt hatte, als er noch glaubte, das Handelsgeschäft des Vaters würde sich wieder erholen, wurde ihm schlecht vor Wut.

In den verschiedenen Tempeln wollte man ihn nicht aufnehmen, da es bereits zu viele einfache Gottesdiener gab – sprich, ehemals reiche Bürger, denen die Handelsbeschränkungen alles genommen hatte. Leider besaß er weder außergewöhnliche künstlerische noch mathematische Fähigkeiten, um zur hohen Priesterwürde aufzusteigen. Andernfalls hätte Jiru es im Tempel des Imptu versuchen können, dem Gott des Sturms und der Sterne, wo die Priester mittels komplizierter Himmelskarten den Lauf der Gestirne erforschten. Nicht einmal ein Dasein als Schreiber war möglich, dafür hätte er die Kunst des Illustrierens und der Schönschrift beherrschen müssen.

Vor rund drei Jahren waren seine Eltern an der westwindländischen Angdabargrippe erkrankt, eingeschleppt von Bekannten seines Vaters, die wie er Händler waren. Jiru musste das letzte Geld an Heiler, Betschwestern aus dem Tempel der Nigusa, Göttin der Fruchtbarkeit und Heilkunst, und am Ende an den Totengräber vergeben.

Alle alten Freunde der Familie hatte er um Hilfe gebeten, demütig gebettelt, sogar auf Knien gefleht – sie alle hatten ihn weggejagt, teils mit Schlägen und Androhungen, die Stadtbüttel zu rufen. Wie es schien, hatte Jirus Vater noch vor seiner Erkrankung überall Schulden gemacht, um mit seinen kläglichen Versuchen zu scheitern, wieder irgendwie ins Handelsgeschäft einsteigen zu können. Der Verkauf des Hauses hatte nicht genug eingebracht, um auch nur einen kleinen Teil dieser Schulden zurückzuzahlen. Niemand wollte Jiru durchfüttern, obwohl er bereit war, für seinen Lebensunterhalt hart zu arbeiten. Zu schlecht war der Ruf der Familie geworden. Von da ab war die Straße Jirus Zuhause gewesen …

Er fuhr aus seinen finsteren Gedanken hoch, als er die Wand gegenüber des Fensters berührte.

Zu Jirus Erleichterung öffnete sich die Tür lautlos. Er hatte Sorge gehabt, sie könnte verriegelt sein – er war durchaus geschickt darin geworden, Schlösser zu knacken, doch so etwas kostete Zeit und machte immer Lärm.

Auf dem Flur war alles still. Jiru schlich konzentriert langsam in Richtung Treppe, vorbei an mehreren Schlafräumen. Aus einem erklang markerschütterndes Schnarchen – zweifellos von Markhalt. Auch hier dämpften Teppiche seine Schritte. Dieser sündhaft teure Luxus aus Cha’ari, dem politischen Mittelpunkt der Westwindländer, war leider zu abgewetzt, um ihn noch verkaufen zu können, darum nahm Jiru keinen der kleineren Läufer mit. Er umging die üppigen Palmgewächse, die Anamia an jeder freien Stelle platziert hatte. Sie war geradezu süchtig nach Pflanzen, obwohl sie im kargen Osten von Karsland aufgewachsen war, wo die Winter lang und die Sommer viel zu heiß waren. Vielleicht brauchte sie gerade deswegen all dieses Grün um sich? Haranstadt lag im Norden des Reiches. Es regnete viel, das Klima war mild, dementsprechend gediehen Bäume und Sträucher. Selbst die ärmeren Häuser besaßen üppige Gärten und alle paar Schritt fand man einen kleinen Park, deren Blumenpracht im Frühjahr und Sommer vergessen ließ, dass man in der umtriebigen Hauptstadt lebte.

Jiru schaffte es, sich ins Erdgeschoss hinabzuschleichen, ohne die Treppenstufen aus poliertem Kirschholz zum Knarren zu bringen. In der Küche war alles ruhig und die Tür der Vorratskammer ließ sich ohne Schwierigkeiten aufbrechen. Da der Mond sich gerade durch die dichte Wolkendecke gekämpft hatte und ein wenig Licht durch die schweren Fensterläden sandte, konnte er sich notdürftig orientieren; zudem spendete die Glut in der Feuerstelle zusätzliche Helligkeit. Rasch füllte Jiru den mitgebrachten Beutel mit Brot, getrockneten Früchten und Hartwurst. Eine Handvoll geräucherter Forellenstücke verschlang er hastig vor Ort, um den größten Hunger zu stillen. Dazu bediente er sich großzügig am Milchkrug. Den Biervorrat musste er mit Bedauern unbeachtet stehen lassen, es wäre leichtsinnig, sich zu betrinken. Jiru hatte das säuerliche Bier, das Markhalt bevorzugte, nie gern getrunken, dennoch vermisste er den Geschmack, der ihn an glücklichere Zeiten erinnerte.

Zuletzt suchte er seinen Weg in das Esszimmer, wo er sich am Silberbesteck vergriff. Billiges Besteck, dennoch, es war echtes, sorgsam gepflegtes Silber. Das lief gut! Auf demselben Weg, den er gekommen war, schlich er sich wieder aus dem Haus, ohne auf Schwierigkeiten zu stoßen.

Aber erst, als er sich eine Stunde später zurück in seinem sicheren Unterschlupf befand – ein durch Gitter verdeckter Hohlraum unter dem Wehrgang der alten Stadtmauer, die dem Verfall preisgegeben und von hunderten Straßenratten wie ihm bevölkert wurde – erlaubte er sich aufzuatmen. Diesen Platz hatte er sich hart erkämpfen müssen, bis man ihm zugestand, dass er ihm gehörte. Einen Kampf, der regelmäßig neu ausgefochten werden musste, wenn Neuankömmlinge kamen oder Alteingesessene glaubten, ein Zeichen von Schwäche zu wittern. Jiru war weniger skrupellos als die meisten anderen, dafür allerdings bei guter Gesundheit und als Sohn eines Händlers im Nahkampf geschult. Bei den gefährlichen Warentransporten, die regelmäßig von Räubern überfallen wurden, musste sich jeder verteidigen können. Er war häufig von seinem Vater mitgenommen worden, als dieser noch groß im Geschäft gewesen war, hatte viel gesehen und gelernt, was ihm für das Überleben auf der Straße heute nützlich war. Diese Zeiten vermisste er mehr als alle anderen, in den kurzen Augenblicken, wenn er sich Trübsal und Selbstmitleid gestattete.

In seinem Unterschlupf störte ihn niemand. Jedenfalls nicht ohne Mühe, da Jiru den Zugang mit einer Kette und einem schwerem Schloss gesichert hatte, zu dem nur er den Schlüssel besaß. Natürlich konnten seine Rivalen jederzeit das Schloss aufbrechen, allerdings es würde Spuren hinterlassen beziehungsweise so viel Lärm verursachen, dass man ihn nicht im Schlaf überraschen konnte. Hier fühlte er sich einigermaßen sicher, sofern das in dieser Umgebung überhaupt möglich war.

Jiru zog die Kette durch den Eisenring und verriegelte das Schloss von der Innenseite. Anschließend klemmte er ein Brett unter das Gitter, um Licht, Wind und neugierige Blicke auszusperren. Er hockte nun in völliger Dunkelheit, in einem zugigen kalten Loch, das gerade groß genug war, um aufrecht zu sitzen oder zusammengerollt zu liegen. Rasch aß er noch etwas von seiner Beute, bevor er sich zum Schlafen niederlegte. Gewärmt wurde er lediglich von seinem fadenscheinigen Mantel, den er über sich ausgebreitet hatte. Selbst an heißen Sommertagen verhinderten die dicken Mauern, dass Wärme nach unten drang. Ein hartes Leben, das er nach seinem Empfinden bereits viel zu lange fristen musste. Bisher hatte er sich nicht entschieden, ob er die Hoffnung aufgeben sollte, dass es jemals besser werden würde.

 

 

„Nesri!“ Callin klatschte laut in die Hände. Einen Augenblick später kniete seine Sklavin demütig zu seinen Füßen nieder. Seine cha’arische Blume. Cha’ari war geographisch die einzige Pforte zu den fruchtbaren Ländern der Westwindreiche – Karsland mochte riesig sein, seine Ausmaße schier endlos, doch ein großer Teil davon war öde Steppe und unwirtliche Berge. Die derzeitige Matriarchin von Cha’ari erlaubte ihnen nach der demütigenden Niederlage im letzten Krieg zumindest den Seehandel mit den Nordländern. Das änderte nichts an der Tatsache, dass die meisten Bewohner im Osten von Karsland bitterarme Bauern und Halbnomaden waren und auch in den wenigen Städten dort Hunger an der Tagesordnung war. Die südlichen Gebiete wiederum litten eher an zu viel als zu wenig Wasser: Hier gab es zahlreiche Sümpfe. Callin hasste es, in Haranstadt ausharren zu müssen, dieser erbärmlichen Ansammlung von Häusern und zu vielen Menschen ohne jede Kultur, doch es war vom Klima am angenehmsten und bot noch den größten Anreiz zum Ausharren. Karsland als solches war erbärmlich, die Sprache abstoßend, das Essen kaum erträglich für jemanden, der umgeben von Luxus, Feinsinnigkeit und kulinarischen Genüssen aufwachsen durfte. Andererseits konnte er in Karsland ein bedeutsamer Zauberschmied sein, während er in Cha’ari ein verachteter Niemand geblieben wäre …

Liebevoll streichelte er über Nesris Kopf. Sie erinnerte Callin daran, was Schönheit wirklich bedeutete. Noch vor wenigen Wochen war Nesri eine freigeborene stolze Frau gewesen, die ihm mit Hass und Abscheu begegnet war. Dank des Rituals der magischen Unterwerfung gehörte sie jetzt mit Leib und Seele ausschließlich ihm.

Ja, es hatte seine Vorteile, wenn man sich die Freundschaft seiner Verbündeten sicherte … Nesri war ein Geschenk von einem befreundeten Priester, der wusste, dass Callin Schönheit sammelte und ihm einen Gefallen schuldig gewesen war. Die junge Frau war von ihrer verarmten Familie an den Tempel des Rhadon, Gott der Händler, verkauft worden.

Callin liebte ihre goldbraune Haut, ihre funkelnden Bernsteinaugen, das lichte Blond ihrer Haare, ihre zierliche Gestalt. Den weichen Singsang in ihrer Stimme zu hören, den Callin sich selbst mühsam abtrainiert hatte, war Balsam für sein heimwehkrankes Herz.

„Nesri, mein Liebes, ich bin müde. Massier mir die Füße, ja?“

Ihr strahlendes Lächeln machte ihn stolz und glücklich. Er wusste, dass ihre Verehrung für ihn nicht natürlich gewachsen war. Hätte sie frei wählen können, wäre sie in ihrer Heimat geblieben und hätte sich ihm niemals hingegeben. Ihm war es gleichgültig, dass sie ihn und sich selbst hasste, sobald sie weit genug von ihm entfernt war, um nicht mehr unter seinem direkten Bann zu stehen. Hauptsache, sie liebte ihn, sobald er ihr nahe war.

„Sing für mich, meine Blume“, murmelte er mit geschlossenen Augen, während er sich ein wenig bequemer auf seinem taranvidischen Eichenholzstuhl zurechtrückte. Es war das teuerste Möbelstück in seinem Haushalt, in dem jedes einzelne Teil – von der Türglocke über die Einrichtung bis hin zu den Schuhen seiner Diener – eine erlesene Kostbarkeit war. Die Intarsien des Stuhls waren von Meisterhand angefertigt worden und nicht weniger als vier Könige der Nordlande hatten auf diesem Stuhl gesessen, bis Callin ihn erworben hatte.

Nesri massierte hingebungsvoll seine Füße und sang dabei eine westwindländische Ballade über unerwiderte Liebe, die Callin von seiner Mutter kannte. Das Leben war so wunderbar … Schon allein weil er die Macht besaß, alles zu bekommen, was er begehrte. – Na gut, fast alles.

Zauberschmiede sind nun mal von den Göttern gesegnete Glückskinder!, dachte er zufrieden. Er hatte mit ein wenig Magie seiner Blume das Herz gestohlen. Dass er dadurch gezwungen war, ihr das seine zu schenken, war ein geringer Preis, den er gerne zahlte.

 

 

Die Dämonenkönigin summte leise vor sich, während sie mit ihren überragenden Sinnen die Oberwelt beobachtete. Es beruhigte sie, die immer gleiche Abfolge von Tönen zu produzieren; auch sie konnte sich nicht vollständig gegen die Instinkte wehren konnte, die sie zwangen, die Sonne zu fürchten. Hier unten im Schlund war das Leben stets heimelig, kein launisches Wetter, kein Wechsel von Tag und Nacht, die Dasein und Gemüt beschwerten. Da es ihre Pflicht war, nach den Kindern zu sehen, die dort oben gestrandet waren, nahm sie diese Mühsal auf sich. Gegenwärtig waren Entwicklungen bei den Zauberschmieden im Gange, die ihr viel versprechend erschienen. Callin von Berken etwa, den hatte sie schon sehr lange im Visier. Die Matriarchin von Cha’ari regte sich ebenfalls und da waren noch einige andere …

Die Dämonenkönigin schnarrte zufrieden. Es gab zu viel Langeweile in ihrem unsterblichen Dasein, da war gut, dass sich die Dinge bald ändern würden.

Hoffentlich nicht wieder bloß ein Strohfeuer, wie vor kurzem, als dieser lächerliche Siebte Magierzirkel gegründet wurde. Nichts als ein paar Jahrzehnte Folterungen und Experimente an Männern, die niemand je vermisst hat und ein kurzer Krieg. Es soll Chaos, Furcht und Tod regieren, ausschließlich damit lässt sich da oben etwas bewegen!

Um die hundert Jahre war das mit dem Magierzirkel jetzt her, mehr oder weniger. Oder doch schon länger? Zeit bedeutete ihr nichts, zumal sie in der gleichmäßigen Finsternis des Schlundes nicht spürte, ob irgendetwas verging oder nicht. Sie rieb nachdenklich ihre Tentakel gegeneinander, als sich einmal mehr ungerufen das Bild dieses jungen Sterblichen aus Karsland vor ihre Facettenaugen schob: Jiru Hetvursohn. Kein Zauberschmied, einfach nur ein junger Mann ohne besondere Fähigkeiten oder Merkmale. Ein Dieb, der von der Hand in den Mund lebte, obwohl er lediglich seinen gesunden Körper verkaufen müsste, um es besser zu haben. Es gab zahllose Gönner, die sich über einen willigen Sklaven freuen würden, stattdessen hauste dieser Dummkopf lieber im Dreck, hungerte und fror. Ein bedeutungsloser Niemand, der in wenigen Jahren tot sein würde, sollte man meinen. Trotzdem hatte sie ihn bereits drei Mal während ihrer magischen Inspektionen getroffen.

War es nicht dieser Haran, der das erbärmliche Karsland gegründet hat, der sagte, dass weder Herkunft noch Talent eines Menschen darüber entscheiden, welche Taten er begehen kann?

In Harans Fall hatte dies der Wahrheit entsprochen, immerhin war aus dem Matrosenbastard, der als Waise von Priestern aufgezogen wurde, ein großer Herrscher und der erste Zauberschmied geworden.

Konnte ja keiner ahnen, dass er das Erbe der Magie auf dutzende Nachkömmlinge verteilen und damit eine regelrechte Seuche erschaffen würde!

Die Dämonenkönigin betrachtete Jiru noch einen Augenblick, der sich in ruhelosen Albträumen in seinem Mauerloch umherwälzte. So erging es jedem, den sie im Schlaf beobachtete. Irgendetwas war bedeutsam an dem jungen Mann. Sie würde herausfinden, was das war, egal, wie lange das dauern mochte.

Schlaf, Menschenkind, ich lasse dich nun ruhen. Schlaf …

 

 

Schweißgebadet schreckte Jiru hoch. Schon wieder dieser Traum! Ein Traum von einem Ungeheuer, das ihn verfolgte, bedrohte, ohne sich zu zeigen. Spontan dachte er an seine Kindheit zurück. Seine Mutter hatte ihn früher stets aus den Traumnetzen befreit, wenn er schreiend erwachte …

Netze? Wer, bei Nahibs Weisheit, glaubte denn in seinem Alter noch an die Legende von der Schlundspinne, die nachts ihre Netze über die Menschen warf, um sie in Träumen gefangen zu halten? Dafür war er zu alt.

Fröstelnd legte Jiru sich zurück auf den Boden. In Momenten wie diesen war er tatsächlich bereit, an Schlundspinnen und Traumnetze zu glauben. Es hatte sich so echt angefühlt, diese Nähe von etwas Ungeheuerlichem, dass er immer noch meinte, den Blick aus grausamen Augen auf der Haut zu spüren.

Was du spürst ist Kälte, ermahnte er sich sachlich. Kälte und Einsamkeit. Schlaf weiter, da draußen ist noch Tag.

Wie sehr er sich danach sehnte, wieder im Sonnenlicht leben zu dürfen, frei und ohne Angst über die Straße zu schreiten, eine sinnvolle Aufgabe zu haben …

 

„Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, egal ob Fürsten, Priester, Reiche, Adlige oder einfache Bürger.

Zauberschmiede sind allerdings nicht vollkommen menschlich, darum gelten für sie andere Regeln.“

1. Absatz der karsländischen Gesetzestafeln, von Haran bei Reichsgründung verfasst und seitdem unverändert übernommen.

 

esri saß zu seinen Füßen, so, wie Callin es liebte. Sie strahlte, wann immer er sie berührte, etwas, was seinem Gast deutlich missfiel. Selbstverständlich sprach dieser es nicht laut aus, dazu war er zu klug und erfahren; man spürte es lediglich an jeder Geste und den Blicken, mit denen er die junge Frau maß. Callin störte dieses unhöfliche Verhalten nicht. Sein Gast tat gut daran, misstrauisch zu sein, ungeachtet der Jahrzehnte, die sie bereits miteinander arbeiteten.

„Liebes, hol für uns ein wenig Obst“, bat er sie schließlich, als das Gesicht seines Gegenübers gewitterdunkle Züge annahm.

„Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, mein Freund“, versicherte Callin, sobald Nesri anmutig aus dem Raum getänzelt war. „Die Bindung ist wie stets vollständig gelungen, sie kann mich weder betrügen noch irgendetwas tun, um mich zu schädigen. Ihr kennt mich doch!“

„Ja. Trotzdem macht die westwindländische Brut mich nervös. Allesamt durchtrieben und hinterhältig, die lernen das Lügen schon an der Brust ihrer Mütter. Hättet Ihr keine anständige Karsländerin finden können?“

Callin lächelte gewinnend, zeigte mit keinem Wimperzucken, wie beleidigend diese Worte für ihn waren. Es bewies, wie perfekt er sich angepasst hatte, dass selbst jemand, der die Westwindreiche besucht hatte, ihn nicht als das erkannte, was er war; nur das zählte. Dass er Haar- und Augenfarbe von seinem Vater geerbt hatte, half dabei selbstverständlich.

„Ist es nicht besonders befriedigend, eine dieser verlogenen Intrigantinnen unterworfen und versklavt zu sehen, mein Freund?“, sagte er, den Tonfall seines Gastes nachahmend. „Oder erfreut es Euch mehr, wenn anständige karsländische Frauen ein solches Schicksal erleiden?“

Sein Gast brummte angewidert. Zumindest hielt er sich danach zurück und verfolgte nicht länger jede von Nesris Bewegungen mit ungehaltenen Blicken, als diese mit einem Tablett voller Äpfel, Pflaumen und Pfirsichen hereingeschwebt kam. Gerade letzteres war eine besondere Delikatesse, die man bloß im Süden von Karsland anbauen konnte – oder man musste ein Vermögen zahlen, um sie aus den Westwindlanden zu schmuggeln. Callin beobachtete zufrieden, wie sein Geschäftspartner sich die süßen Früchte schmecken ließ.

„Wir sind uns also einig, es weiter zu versuchen?“, fragte er, während er seine vom Fruchtsaft klebrigen Hände Nesri entgegenstreckte, die sich sofort darum kümmerte, sie zu reinigen.

„Eigentlich schon“, murmelte sein Gast zögerlich. „Wir haben zu viele Jahre und Anstrengung investiert, zu viele Leben sinnlos vergeudet, um jetzt aufzugeben. Auch wenn die Hoffnung auf Erfolg jämmerlich gering ist, wie Ihr zugeben müsst.“

„Hoffnung gab es nie, mein Freund. Es war von Beginn an reine Narretei. Doch es stärkt meine wie Eure Kräfte und hält Yaris zuverlässig beschäftigt. Gerade dieser zweite Aspekt müsste Euch sehr zusagen.“

„Ein Narrenspiel, Ihr sagt es. Wie alles hier.“ Schwerfällig stemmte sein Gast sich in die Höhe. Er hatte die ganze Zeit den Kapuzenumhang über dem Kopf belassen, um sich sofort verhüllen zu können, sollte jemand den Raum betreten. Ausschließlich Callin und mit Widerwillen Nesri durften sein Gesicht sehen. Eine weise Vorsichtsmaßnahme, schließlich war dieser Mann in gewissen Kreisen wohl bekannt und niemand sollte erfahren, dass er sich gerade in Haranstadt aufhielt.

„Ich muss aufbrechen, falls ich noch bei Tageslicht durch das Stadttor gelangen will, ich bin spät dran. Habt Dank für Eure Gastfreundlichkeit, sie war wie stets genauso erbaulich wie Eure Gesellschaft.“

Callin lächelte, gerade weil er sich der Zweideutigkeit dieser Worte bewusst war. Er wäre enttäuscht gewesen, hätte sein Gast nicht wenigstens versucht, seine Abneigung ihm gegenüber deutlich zu machen.

„Ich freue mich auf die Stunde unseres Wiedersehens. Nahib wache über Euch und gebe, dass Ihr immer so frohgemut sein werdet wie heute.“

Das Lächeln wurde erwidert und selbst Callin entdeckte keine Spur von Abscheu oder Unmut darin. Ein würdiger Gegner war sein Gast! Genau das war der Grund, warum er sich tatsächlich darauf freute, ihm möglichst bald wieder zu begegnen.

Wer braucht schon Freunde, wenn ein Feind doch viel unterhaltsamer sein kann!, dachte er schmunzelnd.

 

 

Jiru schlich durch die nächtlichen Gassen. Hierher verirrten sich nicht einmal die Nachtwächter der Garde, dafür gab es allerlei Gesindel, das ihm bloß deshalb nicht für seine schlichte Anwesenheit die Kehle durchschnitt, weil es ihn als den abgerissenen Straßenköter erkannte, der er war. Würde jemand ahnen, dass er Silberbesteck bei sich trug, wäre ihm allerdings ein rasches Ende gewiss.

Es stank erbärmlich aus den Gossen, in denen matschige Abfälle teilweise kniehoch lagen und verfaulten. Gerade jetzt im Sommer war es abscheulich, auf der Straße bei den Ärmsten der Armen hausen zu müssen. Die herrschaftlichen Viertel wurden selbstverständlich sorgsam gepflegt, jeder Bürger zahlte dort gerne seinen ‚Fegergroschen’, eine allmonatliche Abgabe in Höhe von fünf Kupferlingen, damit ein Heer von Straßenfegern alle Arten von Unrat beseitigten. In der nördlichen Unterstadt, wo teilweise drei Familien in einem einzigen Zimmer der bis zu fünfstöckigen Lehmbauten ausharrten, hatte niemand Geld für solchen Luxus. Die Hitze tagsüber machte alles nur noch schlimmer. Am liebsten hätte Jiru das Atmen vollständig aufgegeben, die Ausdünstungen und der Gestank der Kanäle waren betäubend.

Es kam mindestens einmal im Jahr zu verheerenden Feuersbrünsten, die ausschließlich deshalb die anderen Viertel verschonten, weil die Unterstadt vollständig von dem Fluss Gibre umgeben war. Seit seiner Zeit auf der Straße hatte Jiru bereits drei Mal miterlebt, wie dutzende Menschen sterben mussten, weil die Stadtbüttel sämtliche Brücken gesperrt hatten und die Unglücklichen in den Fluten ertranken. Er selbst war jedes Mal entkommen, da die alte Stadtmauer nah bei der Westbrücke lag.

Als er sein Ziel endlich erreichte, hastete er die Treppe zu einem Hinterhofkeller hinab. Dort unten hauste Giran, jener Halsabschneider, dem er das Besteck verkaufen konnte. Giran würde ihm kaum einen Bruchteil von dem geben, was das Zeug wert war, aber für zwei oder drei warme Mahlzeiten würde es wohl reichen. Mittlerweile bereute Jiru, dass er nicht skrupelloser zugegriffen hatte. In Markhalts Haus hatten genug kleine Gegenstände herumgelegen, die er mühelos hätte mitnehmen können. Jedes für sich war von geringem Wert, zusammen verkauft hätte es ihm sicher einen Tag länger weitergeholfen. Er war und blieb zu weichherzig … Was machte es schon, dass Anamia über den Verlust ihrer Tonschalen geweint hätte, da es Erbstücke ihrer Mutter waren? Wenn kümmerte es, dass die Messingfigürchen Jirus verstorbener Frau gehörten?

Verstohlen klopfte er an der niedrigen Tür: dreimal kurz, zweimal lang, einmal kurz. Das Zeichen, das er ein vertrauenswürdiger Verkäufer war. Beinahe sofort wurden Schritte auf der anderen Seite laut. Jiru runzelte verwundert die Stirn – Giran ließ sich normalerweise ewig Zeit, damit die Verkäufer sich ausreichend unwichtig fühlen konnten.

Ihm blieb ein weiterer Augenblick, in dem sein Instinkt ihn anbrüllte, sofort abzuhauen. Dann ging alles rasend schnell: Die Tür flog auf, Jiru wurde von kräftigen Händen gepackt, in den Raum gezerrt, zu Boden geschubst. Schon war die Tür wieder verriegelt. Jiru erkannte im flackernden Schein einer Laterne mindestens sechs Paar Füße, die in schweren Lederschuhen mit Eisenbeschlägen steckten. Stadtwächter also. Entmutigt sackte er in sich zusammen und wehrte sich nicht, als sie ihn absuchten und ihm das Silberbesteck entrissen. Hätte es nicht jemand sein können, der Giran umbringen und dessen Geschäft übernehmen wollte? Da wäre ihm zumindest die Hoffnung auf einen schnellen Tod geblieben, wenn man ihn nicht als Verkäufer übernehmen wollte. Im Kerker hingegen würde es ihm übel ergehen …

Hör auf zu jammern! Solange du lebst, kannst du das Beste draus machen!, ermahnte er sich selbst. Bis jetzt hatte er alles überstanden, was das Schicksal ihm aufgebürdet hatte. Vielleicht würde er auch das hier schaffen …

 

 

„Herr, da ist ein Bote der Stadtwache, der Euch dringend sprechen will.“

Callin blickte gereizt hoch, er mochte es nicht, während seiner Arbeit gestört zu werden. Ein Glück, dass er mit seinem Versuch, weißes Gold herzustellen, noch nicht begonnen hatte. Es konnte gefährlich werden, beim Experimentieren mit alchemistischen Ingredienzien zu pausieren. Vor Wochen hatte er es unabsichtlich erzeugt, als er mit weißer Tonerde, Felsspat und Quarz gearbeitet hatte, um zu sehen, ob er daraus einen edleren Stoff erhalten konnte. Was herausgekommen war, besaß ähnliche harte und doch formbare Eigenschaften wie Gold, war jedoch von einem sehr schönen Weiß. Sicherlich keine Errungenschaft, die die Menschheit zu einer höheren Bewusstseinsstufe verhelfen würde, doch Callin konnte sich vorstellen, aus diesem Stoff nützliche Gegenstände wie etwa Geschirr oder Vasen zu formen. Gleichgültig wie hübsch bemalt, Tongeschirr deprimierte ihn.

„Herr?“, brachte der Diener sich in Erinnerung.

„Sag ihm, dass ich gleich für ihn Zeit habe“, beschied ihm Callin nachlässig winkend. Der Diener verneigte sich ehrerbietig und eilte davon. Nur wenige durften dieses Kellergewölbe überhaupt betreten. Ausgewählte Diener, die Verschwiegenheit bewahrten, gleichgültig, was sie dort unten sahen. Oder hörten. Viele seiner Versuche waren weitaus weniger harmlos als die Spielerei mit Feldspat und Quarz und das Ergebnis auch weniger erbaulich als etwa seine Erfindung von bleifreiem Kristallglas, das mittlerweile in allen Ländern teuer gehandelt wurde und ihm zu seinem märchenhaften Reichtum verholfen hatte.

Sorgfältig räumte Callin alles fort, sperrte die besonders teuren und seltenen Gerätschaften zur Destillierung und Sublimierung der Elemente in einen magisch geschützten Schrank, den ausschließlich er allein öffnen konnte. Derjenige, der ihn störte, sollte besser einen gewichtigen Grund dafür haben! Es dauerte allein rund eine Stunde, bis er mittels Meditation den Zustand innerer Reinheit erreicht hatte, um sich der Alchimie widmen zu dürfen!

Missmutig eilte er hoch in die Empfangshalle, gerade so rasch, dass er nicht außer Atem geriet. Wenn die Stadtwache ihn behelligte, musste etwas passiert sein. Womöglich war jemand aus der Fürstenfamilie erkrankt?

„Herr, ich muss Euch bitten, mit mir mitzukommen“, murmelte der Bote, kaum dass er Callin erblickt hatte, und verneigte sich tief. Den verschreckten Ausdruck in seinem bleichen Gesicht hatte Callin trotzdem erhascht. Er drehte sich zur Seite, sodass er seinen Türwächter fragend ansehen konnte.

„Es warten vier Gardisten dort draußen, Herr“, sagte der Wächter sofort.

„Um was geht es?“, erkundigte Callin sich sachlich. Ein Gesuch, dass er seine Magie zugunsten des Reichsfürsten einsetzen sollte, konnte er ausschließen.

„Wir haben einen Zauberschmied aufgegriffen, Herr, der mit aller Gewalt die Stadt verlassen wollte, obwohl die Tore bereits geschlossen waren“, sagte der Bote, diesmal etwas lauter. „Gemäß den Gesetzen haben wir ihn in Gewahrsam genommen. Da er beweisen konnte, ein Zauberschmied zu sein, brauchen wir Eure Hilfe. Der Fremde behauptete, dass Ihr für ihn bürgt.“

„Ah, Haranstadt ist wirklich etwas Besonderes. Für gewöhnlich werden Leute eingesperrt, die irgendwo einbrechen, während ein Ausbruch doch eigentlich bloß aus dem Kerker eine Straftat sein sollte.“ Callin hatte seiner Stimme bewusst einen sanften Klang gegeben, um den vor Angst schlotternden Mann nicht noch mehr zu verschrecken. Schließlich kannte er die Wirkung, die seine Ausstrahlung als Zauberschmied auf normale Menschen hatte. Jeder konnte die Aura der Magie spüren, sein Verbündeter hatte sicherlich keine Mühe gehabt, einen Beweis zu erbringen. Er lächelte zusätzlich beruhigend und hielt sich absichtlich auf Abstand. Vergeblich – der junge Gardist schien den Tränen nah, als er stammelte:

„Herr, ich muss Euch dringend bitten mitzukommen, es ist nicht meine Schuld, ich …“

„Ganz ruhig, mein lieber Freund. Ich denke, ich brauche mich nicht umzukleiden, nicht wahr? In den Verliesen sieht sowieso niemand, ob ich ein präsentables Gewand trage oder nicht.“ Callin ignorierte den armen Jungen, der zweifellos von seinen Kameraden gezwungen wurde, vorzugehen und wandte sich stattdessen an Ardon, jenen Diener, der ihn aus dem Gewölbekeller gerufen hatte:

„Sorg bitte dafür, dass die Köchin von meiner Abwesenheit erfährt. Und gib Nesri Bescheid, damit sie nicht um mich fürchtet. Ich bin spätestens morgen früh wieder zurück, so lange sollte es aber eigentlich nicht dauern. Wollen wir?“ Die letzten Worte waren an den Gardisten gerichtet, der wie betäubt nickte. Mit einem Lächeln und einladender Geste überließ Callin ihm den Vortritt. Jetzt konnte er lediglich hoffen, dass die Stadtwächter mit einer Kutsche vorgefahren waren, er hatte wenig Lust, rund zwei Meilen zu Fuß laufen zu müssen. Ärgerlich, das Ganze, es warf seine schönen Pläne für den heutigen Abend über den Haufen. Dazu kamen die Unkosten für die Entwicklungen, die all dies zwangsläufig mit sich zogen.

Andererseits stand sein ungeliebter Verbündeter dadurch in seiner Schuld.

Letztendlich werde ich meinen Gewinn machen, das darf ruhig ein wenig kosten ... Kajuro, der Gott des Glücks, zeigte ihm heute sein liebliches Knabengesicht. Gewiss, das konnte sich mit jedem Atemhauch ändern, dann wäre es eine widerliche Dämonenfratze, die die zweite Facette von Kajuros Natur ausmachte. Glück war eine trügerische Brücke, man sollte nie darauf vertrauen, mit Glück allein über den Schlund tänzeln zu können.

Aber Vertrauen gehörte nicht zu den Charakterschwächen, für die Callin sich schämen müsste – so empfand er es –, darum war alles wie es sein sollte.

 

 

Die Tür flog auf.

Die Wärter stießen Jiru in das Verlies.

Die Tür krachte zu und wurde verriegelt.

Jiru blieb stöhnend auf dem dreckigen, kalten Boden liegen.

Diese Schweine hatten ihn geschlagen, bis er das Bewusstsein verloren hatte. Sehr gekonnt und wohldosiert, immer darauf bedacht, ihm Schmerz zuzufügen, ohne allzu offensichtliche Spuren ihres Tuns zu hinterlassen. Sprich, sie hatten sein Gesicht geschont und vermieden, ihn zum Krüppel zu prügeln. In Haranstadt war es verboten, Gefangene zu foltern, sofern kein Richter anwesend war.

Darauf wurde den Buchstaben nach durchaus geachtet … Wie auf alle anderen Gesetze auch.

Jiru wusste, dass er morgen früh seine rechte Hand verlieren würde. Die übliche Strafe für einen Dieb. Wäre er nicht so zerschlagen, wäre er sicherlich verängstigt und verzweifelt. Vielleicht sollte er den Wächtern dankbar sein. Andererseits hätte er sonst womöglich die Kraft gefunden, sich selbst zu erhängen und seinem Elend ein Ende zu bereiten.

„Was machen wir mit ihm?“ Eine kühle, harte Stimme. Jiru hatte zuvor niemanden bemerkt, offenbar gab es noch mehr Gefangene hier. Zugleich wurde ihm das Licht bewusst. Eine Laterne in einem Verlies? Mit dem Feuer könnte das Stroh entzündet werden, das als Liegestatt diente, und es war eine Waffe, die die Wächter niemals gestattet hätten.

„Bringt ihn um.“ Diese zweite Stimme klang rau und gleichgültig.

„Es gibt einiges, was dafür spricht, ja. Er hat uns gesehen, er wird gleich unsere Leute sehen und bei der Befreiung im Weg sein.“

„Also weg mit ihm.“

„Nichts überstürzen, mein Lieber. Lass uns mit Verstand an dieses Problem herangehen.“

Mühsam versuchte Jiru die Augen zu öffnen. Fantasierte er vielleicht? Er hatte durchaus einiges am Kopf abbekommen.

„Mein Freund, kannst du mich hören?“ Der Besitzer der harten Stimme stieß ihn mit dem Fuß an, es war fast schon ein Tritt. Jiru krümmte sich vor Schmerz, als seine von mehreren Stürzen geprellte Hüfte gegen die heftige Berührung protestierte.

„Das werte ich als ein Ja. Vielleicht nickst du mal, zur Bestätigung? Oder hebst eine Hand?“

Jiru wählte den zweiten Vorschlag. Sein schmerzender Schädel würde ein Nicken nicht verzeihen. Mindestens einmal hatte er sich den Kopf angeschlagen, seitdem war ihm übel und schwindelig.

„Mein Name ist Callin von Berken, vielleicht hast du schon von mir gehört? Mein treuer Gefährte zu meiner Rechten nennt sich zurzeit bevorzugt Tano. Wir diskutierten gerade über die Gründe, die gegen deine Ermordung sprechen. Ein Luxus, den ich sehr genieße, habe ich doch noch mindestens zwei Stunden Zeit, die andernfalls völlig nutzlos verstreichen müssten.“

Jiru brummte etwas zur Bestätigung, dass er zuhörte. Callin war ihm ein Begriff und selbst in seinem jetzigen Zustand wünschte er, vor Panik heulend in die nächste Ecke fliehen zu können. Callin von Berken. Der mächtigste Zauberschmied im weiten Umkreis. Der Alchemist, über den es mehr Gerüchte und düstere Erzählungen gab als über den Schlund mit dessen schaurigen Bewohnern!

Unwillkürlich öffnete Jiru die Lider, die er zuvor erschöpft geschlossen hatte. Er fantasierte, eindeutig.

Schwarze Sandalen aus feinstem Leder erfüllte sein Blickfeld. Callin kniete über ihm.

Nahib stehe mir bei …

„Wenn ich dich töte, würde das mein Schneidwerkzeug beschmutzen. Ich mag das nicht, es ist aus reinem Silber und die Putzerei anschließend sehr mühsam.“ Callin hielt Jiru einen Dolch mit schmaler, matt schimmernder Schneide vor die Nase. „Außerdem bist du jung, offensichtlich gesund …“ Callin packte ihn ruckartig am Kinn, wälzte ihn auf den Rücken, drehte und wendete ihn hin und her, zwang ihm sogar den Kiefer auf, um seine Zähne zu begutachten, als wäre er ein Pferd.

Jiru hielt starr dagegen, doch der große, eher schmale Mann war viel stärker als er. Callin schien nicht so alt zu sein, wie Jiru bei all den Erzählungen über ihn gedacht hatte, höchstens Mitte Dreißig. Rund zehn Jahre älter als er selbst. Von der Adlernase im scharf geschnittenen, sonnenverbrannten Gesicht hatte er gehört, von dem seelendurchbohrenden Blick aus dunklen Augen ebenfalls. Man erzählte sich, dass ihn wie jeder Zauberschmied beständig eine Aura von Kälte und Gefahr umgab, bloß stärker als sonst üblich, und das war offenkundig untertrieben. Niemand hatte ihn vorbereiten können, wie entsetzlich es war, sein Opfer zu sein. Hilflos spürte Jiru die kühlen Finger auf seiner Haut, musste zulassen, dass Callin an seiner Kleidung zerrte und all seine Verletzungen begutachtete. Vor Wut und Abscheu hätte er schreien mögen, was die Angst nicht erlaubte. Gegen diesen Mann, der ihn so gefühllos behandelte wie irgendein Ding, konnte er nichts ausrichten. Gerade diese Gefühllosigkeit war erschreckend. Würde Callin ihn mit Widerwillen, Verachtung oder vielleicht sogar Begehren anfassen, wäre es leichter zu ertragen als dieses wertende Taxieren.

„Jung, ja …“, murmelte Callin desinteressiert. „Wärst du ein Bauer oder ein braver Handwerkerbursche, würde ich sagen, von der Sorte hat man nie genug und es ist nutzlose Verschwendung, ein junges Leben dieser Art zu beenden. Allerdings verrät der Zustand deiner … ähm … Kleidung und deiner körperlichen, nun, Sauberkeit, dass du auf der Straße haust. Für einen Bettler bist du zu gesund, deine Armmuskeln sind gut ausgebildet, deine Waden und Schenkel zeigen, dass du schnell rennen kannst und es häufig tun musst. Ein Dieb also. Davon haben wir tatsächlich viel zu viele.“

Callin gab ihn endlich frei.

Schwer atmend lag Jiru still, unfähig zu denken oder etwas anderes zu empfinden als heillose Furcht.

„Du bist nicht übermäßig groß und zu schmal in den Schultern für einen echten Nordländer, aber bei solch weißblondem Haar hast du ein nordisches Elternteil. Deine Mutter, nehme ich an? Nordländische Väter vererben zumeist mehr Körperlänge.“

Jiru knurrte bestätigend, überrascht von dem Hass, der in ihm aufwallte. Wie konnte diese Pestbeule es wagen, von seiner Mutter zu sprechen?

„Tano, gebt Ihr mir bitte Euer Messer? Der junge Mann ist überflüssig und Ihr wisst ja, ich will meine Klinge nicht unnötig beschmutzen.“

Tano reichte widerwillig schnaubend ein Messer herüber, von Ausmaßen, die fast einem Kurzschwert gerecht wurden. Anscheinend wollte er auch nicht, dass seine schöne Waffe beschmutzt wurde. Jiru konnte im Dämmerlicht der Laterne von Callins Begleiter nichts erkennen, denn dieser hatte sich in einen dunklen Umhang gehüllt, der sein Gesicht verbarg.

Wie hatten die beiden es geschafft, ihre Waffen behalten zu dürfen?

Und welcher Wahnsinnige hat Callin verhaftet?

„Schaut, Tano, er denkt! Er wundert sich über uns und unsere Waffen. Ein kluger Dieb ist er!“ Das falsche, spotttriefende Verzücken, mit dem Callin ihn bedachte, war zutiefst erniedrigend. Jiru konnte seine plötzlich aufflammende Wut kaum beherrschen. Er begrüßte sie. Wut fühlte sich besser an als Angst, auch wenn sie ihm nicht helfen würde.

Callin packte ihn brutal am Schopf und hielt ihm das Messer seitlich an den Hals. Er war ein Linkshänder, stellte Jiru zusammenhanglos fest. Genau wie er selbst.

„Deine letzten Worte, bitte.“

Jiru schwieg. Callin drückte leicht zu, es brannte, Blut sickerte über Jirus Haut.

„Deine letzten Worte, jetzt!“

„Ich überlege noch!“, zischte Jiru.

„Willst du denn nicht um dein Leben flehen?“, fragte Callin betont freundlich.

„Ihr amüsiert Euch bereits prächtig, ich dachte nicht, dass ich Euch zusätzlich anfeuern muss.“

„Deine letzten Worte, ich verliere langsam die Geduld.“

„Ich habe keine!“, stieß Jiru heftig hervor. „Euch in den Schlund zu wünschen ist überflüssig. Göttlichen Beistand erflehen auch. Ihr kennt niemanden, dem Ihr meinen letzten Willen ausrichten könntet und ich habe keinen Besitz, um den es sich zu sorgen gilt. Nur zu, und schneidet bitte tief.“

„Hört Ihr, wie er spricht?“, fragte Callin an Tano gewandt. „Und dieser absonderliche Mangel von Respekt … Du bist nicht auf der Straße aufgewachsen, mein lieber Freund, nicht wahr?“

Jiru blieb stumm, seine Gedanken rasten.

Dieser Bastard genießt das alles! Warum spottet er? Einfach schneiden und Schluss!

„Nun, wenn du tatsächlich nichts mehr zu sagen hast …“

Der Druck verstärkte sich, Jiru stöhnte matt vor Schmerz, ohne den Blickkontakt mit seinem Mörder zu unterbrechen.

„Was wollt Ihr von mir?“, fragte er gepresst, als bloß der brennende Schmerz anstieg und sonst nichts weiter geschah. Dieses Schwein quälte ihn mit Absicht!

„Was könnte ich von dir wohl wollen, was denkst du? Sprich dich aus, mein Freund.“

„Ich weiß es nicht. Ihr habt vermutlich Langeweile und spielt deshalb mit mir. Für Eure Grausamkeit seid Ihr schließlich berüchtigt.“ Jedes einzelne Wort musste Jiru sich mühsam abringen, da Angst, Wut und Pein sich in seiner Kehle ballten; doch er konnte nicht aufhören zu reden. Solange er sprach, durfte er leben.

„Oh, bin ich das?“ Callin setzte die Klinge neu an, etwas höher, und durchbrach auch dort die Haut oberflächlich. Jiru wand sich vor Schmerz, soweit der Griff seines Peinigers es zuließ. Er war in Schweiß gebadet, seine Gliedmaßen bebten. Die nutzlose Wut verging. Nicht um Gnade zu winseln war alles, was er tun konnte.

„Was will ich von dir, denk nach, es könnte dein erbärmliches Leben retten.“

„Mein Körper kann es nicht sein, ich bin Euch zu schmutzig“, stammelte Jiru. Er hielt dem seelenzerreißenden Blick weiterhin stand, konnte sich nicht abwenden. Der irrationale Gedanke, dass er sterben würde, sobald er fortschaute, zwang ihn zum Durchhalten. „Besondere Talente hab ich nicht und ein guter Dieb würde nicht in diesem Loch sitzen.“

„Du machst das ganz wunderbar, nicht aufgeben, nicht bewusstlos werden, hm?“ Callin tätschelte ihm grob die Wangen, Jiru unterdrückte mühsam einen panischen Aufschrei. Fieberhaft dachte er nach. Was brauchte dieser Zauberschmied?

„Mich. Ihr braucht mich“, stieß er auf Geratewohl hervor.

„Richtig. Und warum ist das so?“

Weil ich zu dumm bin, mich vor Angst zu bepissen?

„Mut“, wisperte Jiru. „Ich bin mutig und ich renne schnell und …“

Die Klinge verschwand.

„In der Tat, sehr erstaunlich. Ja, ich kann einen Mann gebrauchen, der einem Zauberschmied in die Augen blicken kann und ein bis zwei Jahre als Dieb auf der Straße überlebt hat, obwohl er in Reichtum aufgewachsen durfte. Du kannst es nicht verbergen, man hört, dass einer der Nahibdiener dein Lehrer war, was nur den Reichen und Mächtigen vorbehalten ist. Ich benötige jemanden, der weiß, wie man sich verbirgt, der mutig ist und selbst in Todesangst seinen Kopf beisammen hält.“ Er strich die blutige Klinge an Jirus Gewand ab, bevor er sie Tano zurückgab. „Von dieser Sorte gibt es einige in der Gosse, aber den meisten ist es egal, wer dabei alles draufgeht, sie selbst eingeschlossen. Du willst überleben. Außerdem kannst du als ehemaliger Nahibschüler lesen, nicht wahr? Ein rares Talent. Womöglich kannst du auch reiten? Und was deine Fähigkeiten als Dieb anbelangt: Nun, ich sitze in demselben Loch wie du, nicht wahr? Auch wenn es bei mir etwas andere Umstände sind, die dazu geführt haben.“

Er fetzte Jiru ohne Vorwarnung das dünne Gewand vom Leib. Tanos verhüllte Gestalt erschien über Jiru, er fesselte und knebelte ihn mit den Stoffstreifen und verband ihm zusätzlich die Augen, trotz Jirus verzweifelten Kampfes.

„Wehr dich nicht, wenn es sich vermeiden lässt, sei so gut. Es kostet unnötig Kraft und du verletzt dich vielleicht noch mehr“, knurrte Callins geheimnisvoller Begleiter. Noch jemand, der sich offenbar mit Vorliebe mit gewähltem Spott ausdrückte … Eindeutig ein weiterer Zauberschmied, diesen Mann umgab ebenfalls eine Aura von Kälte, wie es für dieses Pack typisch war. Zudem hatte er auffällig darauf geachtet, den Klang seiner Stimme zu verbergen.

Die beiden ließen Jiru nun unbeachtet am Boden liegen. Nicht einmal die Schnittwunden hatten sie ihm verbunden, das Blut rann über seine entblößte Brust. Wenigstens war er zu elend, um Scham zu empfinden. Die Zauberschmiede redeten nicht miteinander, er hatte den Eindruck gehabt, dass sie eher Zwangsgefährten als Freunde waren. Das alles schien so bizarr, irreal wie ein Albtraum. Leider war ein Traum ausgeschlossen, da würde er nicht dermaßen leiden müssen.

Jetzt, wo die Todesangst abebbte, kühlte Jiru langsam aus und die Schmerzen drängten sich immer mehr in sein Bewusstsein. Jeden Schlag, den die Wächter ihm versetzt hatten, konnte er nachspüren, das Brennen der Messerschnitte war ebenso wenig zu ertragen wie der Knebel, der ihm das Atmen erschwerte. Die Übelkeit nahm zu, genau wie das harte Pochen in seinem verletzten Kopf. Eine Weile lang kämpfte Jiru tapfer darum, still zu liegen. Unsichtbar zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als sein Magen sich hob und ihn krampfhaft würgen ließ, hatte er keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren.

„Er ist schwerer verwundet als befürchtet, Callin“, sprach jemand in weiter Ferne. „Heilt ihn, wenn Ihr ihn tatsächlich benutzen wollt.“

„Ihr habt recht. Ja, ein Glück, dass ich etwas Nantei-Trank eingesteckt habe.“

Der Knebel wurde fortgezerrt, bittere Flüssigkeit über Jirus Lippen gezwungen.

„Trink, trink deine Medizin, mein lieber Freund.“

Der zähflüssige Trank brannte in Jirus Mund und den gesamten Weg hinab in seinen Magen. Hustend und stöhnend krümmte er sich, zu elend und erschöpft, um an irgendetwas zu denken.

Zunächst wurde alles schlimmer – die Schmerzen, Übelkeit, Schwindel, das harte Pochen seines Herzens. Doch nach und nach vergingen diese Qualen. Sein Bewusstsein schwand. Jiru begann zu dämmern, nicht ganz wach, nicht ohnmächtig.

Er hörte, dass draußen Tumult ausgebrochen war. Rufe, Klirren, Poltern. Es wurde sehr hell um ihn herum. Ob ein Feuer ausgebrochen war? Gleichgültig, das war weit entfernt …

„Nehmt ihn mit. Passt ein wenig auf, sein Kopf ist verletzt.“ Das war Callin. Oder hatte er bloß geträumt, dass er vom großen Zauberschmied bedroht worden war?

„Wird er schreien? Ein Knebel wäre sicherlich besser, Herr.“

„Nein, er ist betäubt und schläft tief. Lasst ihn so, es wird etliche Stunden dauern, bevor er erwacht.“

Jiru wurde hochgehoben. Die Welt schwankte und drehte sich. Schlaf, das wäre wirklich schön …

„Der Kerl ist mir zu schwer, pack mal mit an!“

Jiru prallte gegen einen harten Widerstand, ohne sagen zu können, ob man ihn hatte zu Boden fallen lassen oder ob eine Wand im Weg gewesen war. Wie es wohl aussehen würde, wenn man sich nicht bemühte, ihn sacht zu behandeln?

Kälte umgab ihn. Anscheinend hatten sie inzwischen das Gebäude verlassen. Oder nein – er befand sich in eisigem Wasser.

Das Aquädukt, dachte Jiru. Die meilenlangen Wasserleitungen waren praktisch der einzige Weg, unbemerkt die Stadt zu verlassen. Schwer vorstellbar, dass ein Mann wie Callin durch solch enge Tunnel kroch … Er hörte niemanden mehr, es schien, als wäre er allein mit zwei Männern, die ihn durchs Wasser schleiften. Seine Gedanken wurden fortgeschwemmt, Jiru versank in gnädige Bewusstlosigkeit. Ob er jemals wieder erwachen würde? Es kümmerte ihn nicht.

 

 

 

„Zauberschmiede vermögen die unglaublichsten Dinge zu vollbringen, indem sie einfachste Gegenstände mit ihrer Macht belegen, doch sie können nichts Lebendiges verzaubern oder ihre Magie direkt wirken. Daher ihr Name: Sie schmieden ihren Willen in tote Materie hinein. Die meisten Zauberschmiede sind zudem Alchemisten, also Meister im Brauen seltsamer Tränke und Erschaffen noch seltsamerer Stoffe. Es ist ein Segen, dass nur sie selbst diese verzauberten Dinge nutzen können und sie so selten geworden sind. Zauberschmiede sind gefährliche Geschöpfe von kaum zu unterschätzender Macht.“

Aus: „Jenseits des Schlundes: Von den Zauberwesen“, von Hatura Fanjatochter, Gelehrte und Priesterin des Jaliltempels zu Tarbas ; im Jahre 759 nach Harans Krönung

 

o bin ich?, dachte Jiru. Er fühlte sich zu schwach, um die Lider zu öffnen. Sein gesamter Körper war taub und schien nicht wirklich zu ihm zu gehören.

„Der Gefangene regt sich, Herr.“

Eine weibliche Stimme. Demütig und leise mit dem singenden Akzent der Westwindländer. Gewiss eine Sklavin. Nur die reichsten und mächtigsten Herrscher konnten sich noch Sklaven leisten, seit die Matriarchin von Cha’ari Fürst Antul im Krieg besiegt und die Raubzüge auf ihr Volk unterbunden hatte. Sie hatte Karsland nicht besetzt, lediglich die einzige sichere Passage über den Schlund zerstört, der die Grenze bildete. Ein Abgrund war das, maß an der breitesten Stelle mehrere Meilen; wie tief der Schlund war, darüber gab es endlose Gerüchte und kein gesichertes Wissen. Er durchschnitt das Karsland vom äußersten Westen bis hoch in den Norden. Der Krieg zwischen den Westwindländern und Karsland war kurz vor Jirus Geburt beendet worden seither wurde seine Heimat nicht mehr in Kriegsgeschehen verwickelt. Und dennoch gab es bis zum heutigen Tage Krüppel und verstümmelte Opfer dieses Kampfes, der über vierzig Jahre und unter wechselnden Herrschern auf beiden Seiten mit aller Härte geführt worden war. Vor rund zehn Jahren hatte es neue Streitigkeiten mit den Westwindländern gegeben, die zu den bis heute anhaltenden Handelsbeschränkungen durch die Matriarchin geführt hatten. Da Karsland regelrecht isoliert wurde, konnten die Händler nicht mehr ihren gewohnten Routen folgen, wodurch viele – ähnlich wie Jirus Familie – verarmten.

„Mein Freund, es wird Zeit, die Traumnetze zu verlassen, meinst du nicht?“

Jiru spürte, wie ihn jemand am Arm berührte und zuckte zusammen. Das löste eine Schmerzflut aus, die in Wellen durch seinen gesamten Körper ging. Stöhnend krümmte Jiru sich zusammen, der Schmerz war so intensiv, dass er nicht einmal schreien konnte.

„Sollte er nicht besser etwas dagegen erhalten?“, fragte die Sklavin an Jirus Seite.

„Nein, er muss bei Verstand sein und ich will nicht noch einmal zwei Tage und eine Nacht warten, bis er zu sich kommt. Seine Verletzungen waren schwerer als zunächst gedacht, sonst hätte ich ihn nicht über das Aquädukt hergeschafft.“

„Aber er wird überleben, Herr?“

„Zweifle nicht an meiner Zauberschmiedekunst, mein Liebstes, er wird ohne Schaden durchkommen.“

Callin von Berken. Jiru erinnerte sich plötzlich, was vor seiner Bewusstlosigkeit geschehen war. Hatte der Zauberschmied ihn tatsächlich in seiner Gewalt? Widerwillig öffnete er die Augen. Zunächst war alles verschwommen, dann konnte er Schatten unterscheiden und schließlich wurde seine Sicht klar. Er lag in einem Bett von grotesken Ausmaßen, inmitten von seidenen Kissen und Laken, umgeben von verschwenderischem Luxus aller Art. Die Matratze unter ihm war auf genau die richtige Weise weich, sicherlich hatte man sie mit Wolle von den nordländischen Bergschafen gestopft – das war die teuerste Variante, die er kannte. Das erhöhte hölzerne Kopfteil, auf dem er ruhte, mit Kissen gepolstert, wies wunderschöne Schnitzereien auf, soweit es erkennbar war. Die halb durchsichtigen Seidenvorhänge des Bettes waren beiseite gezogen und gaben den Blick frei in den übervollen Raum. Jiru konnte all den goldglänzenden Zierrat und die Unzahl an sinnlosen Gegenständen um sich herum nicht fassen. Vermutlich hätte je eine einzige dieser Jadefiguren, Statuen und Schmuck genügt, um ihn ein Jahr lang vor dem Hungertod zu bewahren. Da er kaum wusste, wohin er sehen durfte, um nicht von all dem Glitzern und Glimmen überwältigt zu werden, schloss er die Lider vorsichtig.

„Missfällt dir deine Unterkunft? Es ist lediglich ein Gästezimmer, ich hoffe, du verzeihst mir die einfache Einrichtung.“ Jemand setzte sich neben Jiru nieder und berührte ihn am Arm, was ihn dazu zwang, hastig die Lider aufzureißen. Es war Callin, der dicht bei ihm hockte. Viel zu dicht für seinen Geschmack, zumal ihm in diesem Moment bewusst wurde, dass er vollkommen nackt war und keine Decke seine Scham verhüllte. Zwar lag er auf der Seite und präsentierte sich dadurch weniger schutzlos, dennoch empfand er diese Situation als bedrohlich. Vor allem, da die Sklavin gerade den Raum verließ und er somit Callin allein ausgeliefert war.

„Entdeckte ich da Angst in deinen hübschen Nordland-Augen? Du bist sicherlich das Ebenbild deiner Mutter, nicht wahr?“

Jiru schwieg. Ja, er galt mit seinem weißblonden Schopf, der marmorhellen Haut und intensiv blauen Iriden als exotische Schönheit inmitten eines Volkes, das üblicherweise schwarzes Haar und dunkle Augen besaß, auch wenn sein karsländisches Vatererbe aufgrund seiner geringeren Größe nicht zu leugnen war – kein reinblütiger Nordländer maß weniger als zwei Schritt, Männer wie Frauen. Sein nordisches Aussehen hatte ihm ermöglicht, hohe Preise zu verlangen, als die Not ihn zwang, seinen Körper zu verkaufen … Keine zwei Tage hatte er das ertragen und sich danach darauf verlegt, als Dieb und Einbrecher zu überleben. Niemals wieder wollte er von gierigen Fingern betatscht, unter schwitzenden, stinkenden Leiber begraben und zu anderen Dingen gezwungen werden, die er sich zuvor nicht einmal hatte vorstellen können! Außerdem hatte er vor den Hurenwirten fliehen müssen, die nicht wollten, dass jemand auf eigene Rechnung arbeitete, statt sie mitverdienen zu lassen.

„Fürchtest du mich?“ Den Spott in Callins Stimme kannte Jiru bereits, doch da war ein deutliches Interesse in seinem Blick, das er im Kerkerloch nicht gezeigt hatte.

Gerade noch unterdrückte er einen Schrei, als Callin eine Hand auf seine nackte Schulter legte, obwohl es eine sachte Berührung blieb. Er atmete tief durch und mühte sich um Selbstbeherrschung. Sollte Callin seinen Körper fordern, nun, er würde es überleben. Wehren konnte er sich nicht, dazu war er zu erschöpft und schmerzgeplagt; also sollte er besser ruhig bleiben und seine schwachen Kräfte schonen.

„Du magst es nicht, wenn man dich streichelt, hm?“ Die Hand fuhr langsam über Jirus Rücken hinab zur Hüfte. „Ein schlechter Dieb kannst du nicht sein, du musstest nicht allzu viel Hunger leiden. Du siehst gut aus, mein Lieber. Hart und männlich und ausgesprochen nordisch. Ich wüsste einige Leute, die sich über einen Sklaven wie dich freuen würden.“

Schockiert schnappte Jiru nach Luft – o bitte, nicht das! Ein oder zweimal jemandem zu Willen zu sein war das eine, für den Rest seines Lebens anderen zu dienen, wann und wie auch immer die es wollten …

Callin schien es nicht zu stören, dass Jiru vollständig erstarrt war. Er ließ seine Hand wieder nach oben gleiten und griff in Jirus Haar.

„Meine Sklavin hat es eingestutzt, während du ohnmächtig warst, es waren zu viele verfilzte Strähnen, die sich nicht durchkämmen ließen. So sieht es deutlich hübscher aus, sehr gepflegt und ordentlich. Ein Glück, dass du kein Ungeziefer dabei hattest, sonst hätte sie dich kahl geschoren.“

Jiru spürte, dass sein Haar jetzt nicht mehr bis zu seinen Schulterblättern reichte, sondern kaum noch den Nacken berührte. Es war ihm vollkommen gleichgültig. Diese Bestie sollte endlich aufhören, mit ihm zu spielen!

Fast, als hätte Callin diesen Gedanken vernommen, ließ der plötzlich von ihm ab, tätschelte ihm demütigend die Wange und stand auf.

„Du bist mutig, Jiru Hetvursohn, deshalb habe ich dich aus dem Kerker geholt. Die meisten anderen haben in dieser Situation längst geheult und um Gnade gebettelt. Du bist genau der richtige Mann für meine Pläne.“

Ein gönnerhaftes Lächeln erhellte Callins düstere Züge, als Jiru erschrocken zusammenfuhr. Woher wusste der Zauberschmied …?

„Ja, ich habe deinen Namen herausgefunden. Das war leicht! Dein Akzent beweist, dass du in Haranstadt aufgewachsen bist. Ich halte alle Adligen im Blick und weiß, dass aus keiner der gehobeneren Familien in den letzten Jahren ein junger Mann verstoßen wurde. Also blieben bloß die reichen Händler und Großgrundbesitzer, unter denen viele Hab und Gut verloren haben. Deine Tempelerziehung hatte mich auf die falsche Fährte gelenkt, sonst hätte ich rascher herausgefunden, dass man dich als Kind nur dort angenommen hat, weil deine Familie früher fleißig für Nachschub an cha’arischen Wein gesorgt hatte … Mit dem Wissen, dass deine Mutter aus den Nordlanden stammte, war das Rätsel schnell gelöst. Bedauernswert, wie dieses wunderbare Land zugrunde geht und selbst seine einstige Elite durch die Gosse kriecht! Man sollte meinen, zehn Jahre Handelsbeschränkungen müssten reichen, um die Matriarchin milde zu stimmen, sie hat schließlich dadurch auch gewaltige Verluste.“

Bevor Jiru etwas sagen konnte, kniete Callin plötzlich über ihn und warf ihn auf den Rücken. Kaltes Metall legte sich um seine Handgelenke – sein Peiniger kettete ihm die Arme an die Wand, an Halterungen, die über dem Bett angebracht waren.

„Das alles ist sehr verwirrend, mein Hübscher, ich weiß“, flüsterte Callin ihm beschwörend zu. „Verwirrend und beängstigend. Sei unbesorgt, ich werde dir alle Fragen beantworten. Doch zunächst zum spannendsten Teil unser Zusammenarbeit.“ Er zückte eine Münze und hielt sie Jiru mit selbstgefälliger Geste vor die Nase. „Weißt du, was das ist?“

Jiru musste fast schielen, um die fein eingravierten Details erkennen zu können. Trotz seiner Angst keuchte er auf, als er die Münze erkannte: Es war eine der großen Tokar, auf der sich das Siegelzeichen von Fürst Haran, dem Gründer des Karslands befand: ein riesiger feuerspeiender Drachen, die Flügel hoch in der Luft, der gewaltige Schweif elegant eingerollt. In der Öffnung, die dadurch entstand, war Harans Name und das Prägejahr der Münze geschrieben: das Jahr 2 von Harans Thronbesteigung. Fast tausend Sommer hatte diese Münze demnach kommen und gehen sehen und war damit von unbezahlbarem Wert. Den Zauberschmied schien es nicht zu stören, einen solchen Schatz zu vernichten. Zumindest, wenn Jirus Ahnung zutraf, was ihm gleich widerfahren würde. Man munkelte davon, wie Zauberschmiede Menschen versklavten …

Da Callin auf seinem Brustkorb kniete, der heftig unter den Schlägen der Kerkerwächter gelitten hatte und noch nicht vollständig verheilt war, konnte Jiru lediglich stillhalten und versuchen, ausreichend Luft einzuatmen. Die Tokar-Münze wurde auf seiner Stirn platziert, zwischen seine Augen.

Nahib, was tut er da?

Callin fixierte die Münze einem Finger, schloss die Lider und begann einen monotonen Singsang. Das Metall auf Jirus Haut wurde erst warm, dann heiß.

„Hört auf, bitte, warum macht Ihr das mit mir?“, presste er entsetzt hervor, kaum fähig, die Schmerzensschreie zurückzuhalten. Was für einen Zauber schmiedete der Wahnsinnige dort in seinen Körper hinein?

„Hört auf!“ Jiru wollte sich wehren, riss in steigender Panik an den Ketten, versuchte, Callin von sich herabzuschleudern – vergebens. Der Schmerz wurde intensiver, unter gellenden Schreien wand und krümmte er sich, ohne dass die Münze sich um eine Haaresbreite bewegte.

„Hilfe! Nein, nein! Hilfe! Aufhören!“ Er brüllte, bis ihm Kraft und Luft ausgingen, flehte schluchzend um Gnade, bis er auch dafür zu schwach wurde und ertrug schließlich wimmernd, dass sich die Münze in seine Stirn einbrannte.

 

 

Callin glitt vorsichtig von dem erschlafften Körper herab und bewunderte sein Werk. Die Münze war mit Jirus Haut verschmolzen und hatte sich dabei in ein magisches Siegel gewandelt. Nur Zauberschmiede waren jetzt noch fähig, sie überhaupt zu sehen oder zu erspüren, für jeden anderen würde die Stirn des Diebes glatt und unversehrt wirken.

„Wasch ihm den Schweiß ab, meine Liebe, und zieh ihm dieses Gewand dort an. Sobald er erwacht, soll er soviel Wasser wie möglich trinken, und vielleicht auch etwas essen. Sollte er aufstehen wollen, halte ihn zurück, er ist zu geschwächt dafür. Wenn irgendetwas sein sollte, schicke einen Boten, ich ziehe mich in meine eigenen Gemächer zurück.“

„Ja, Herr.“ Nesri erhob sich, verneigte sich voller Anmut vor ihm und begann sofort mit ihrer Arbeit. Callin war sehr zufrieden mit sich. Das Bindungsritual war aufwändig und kraftraubend und die unvermeidlichen Nebenwirkungen würden sich bald zeigen. Doch das war es wert, denn nur so konnte er sicher sein, dass Jiru ebenso hingebungsvoll wie seine Nesri alles tun würde, um ihm, Callin, gefällig zu sein … Selbst wenn er sein Leben fordern würde.

„Herr, die Ketten hindern mich“, wisperte Nesri, als Callin schon halb den Raum verlassen hatte.

„Du hast recht, meine Liebe, wie gedankenlos von mir.“ Sanft strich er über ihre Wange, bevor er sich zu Jiru herabbeugte, um ihn von den Fesseln zu befreien. Dieser junge Mann war eine edle Errungenschaft für seine Sammlung. Callin brauchte es wie Luft zum Atmen, Schätze aller Art zu horten und von Schönheit umgeben zu sein. In seiner Jugend, im Palast der Matriarchin, hatte er es nicht anders gekannt, die Westwindländer waren viel sinnesfreudiger als die Menschen in diesem tristen Reich. Ah, er konnte nicht widerstehen, er musste einfach einen Kuss auf diese Lippen hauchen! Jiru verzog gequält das Gesicht, das nach der erlittenen Folter noch immer gerötet und tränenüberströmt war. Seltsam, dass ihm der Tokar als einziges passend erscheinen wollte, um seinen neuen Sklaven zu schmücken. Im Vergleich dazu war Nesri mit einem billigen Steinchen ausgestattet worden. Callin betrachtete diese kostbare Münze, eine der teuersten Schätze in seinem gesamten Haus. Was war in ihn gefahren, dass er dieses edle Stück an einen Sklaven verschwendete, der bald sterben würde? Und doch, wenn er Jiru damit sah, spürte er, dass es die einzig mögliche Wahl gewesen war. Nun, ein Mann, der keinen Schatz opfern konnte, war arm im Geiste, wie man in Karsland sagte.

„Ruh dich aus. Morgen früh wird es dir viel besser gehen“, flüsterte er zärtlich, küsste ihn ein weiteres Mal und wandte sich danach ab. Er brauchte ebenso dringend Schlaf und Ruhe wie sein Opfer, damit er das Bindungsritual morgen vollenden konnte.

„Träum süß, mein Liebling …“

 

 

„Bleib ruhig. Hab keine Angst, es ist alles in Ordnung“, hörte Jiru eine weibliche Stimme über sich. Ob sie diese winselnden Laute ausstieß, oder wurde da jemand in der Nähe grausam gequält? Ein feuchtes Tuch fuhr über sein Gesicht, es tat gut …

Das bin ich, dachte Jiru verwirrt. Er selbst wimmerte so erbärmlich.

„Durst“, krächzte er matt. Es war erschreckend, wie schwach er war. Irgendetwas musste geschehen sein. Ob er krank war?

Die Frau stützte ihn im Nacken und half ihm, etwas Wasser zu trinken. Jeder Schluck schmerzte, er schien wirklich krank zu sein. Oder verletzt? Seine Stirn stand in Flammen ...

Die Erinnerung schlug mit solcher Macht auf ihn ein, dass Jiru panisch hochfuhr. Callin! Wo war er, was hatte der Zauberschmied ihm angetan? Was würde er als nächstes tun?

„Ruhig!“, befahl die Sklavin energisch und drückte ihn mit überraschender Kraft zurück ins Kissen.

„Was …?“ Jiru tastete mit zittrigen Fingern über sein Gesicht, konnte aber keine Brandwunde oder Erhebung finden.

„Es ist nicht mehr zu sehen. Die Münze ist ein Teil deines Körpers geworden. Der Herr hat eine untrennbare Bindung geschmiedet.“

Darüber dachte Jiru eine Weile nach, fühlte tief in sich hinein, suchte, was immer die Magie mit ihm angerichtet haben mochte.

„Du wirst es spüren, sobald der Herr dich in Besitz genommen hat. Im Moment ist die Bindung eine rein geistige.“

„Bist du auch …?“

„Ja. Ich bin ebenfalls gezwungen, ihn zu lieben.“

Etwas an der Art, wie die junge Frau das sagte, war seltsam. Jiru musterte sie, überrascht über die Intensität des Hasses, der für einen Moment ihre ebenmäßigen Züge beherrschte. Sie besaß die goldbraune Haut der Westwindländer und trug ein halbdurchsichtiges weißes Kleid, wie es für Cha’ari typisch war. Ein seltsames Schmuckstück zierte eines ihrer Ohren, Jiru konnte nicht erkennen was es war.