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Ein junges Mädchen kämpft mit ihrer Schwester im Irland des späten 20. Jahrhunderts, zu Zeiten des Kriegs und des Terrors, ums Überleben. Alleine gelassen von der Mutter muss die 11-jährige Laurina für ihre kleine Schwester alles geben, damit sie diese schwere Zeit überstehen können. Eine junge Frau driftet immer mehr ab in ihre eigene kleine Welt, um einem schweren Kindheitstrauma zu entgehen. Auf ihrem Weg begegnen der jungen Annika Menschen, die ihr zeigen wollen, dass neben ihrer Traumwelt eine Wirklichkeit existiert. DIE KINDER DES GHETTOS BLACKWOOD und DAS FLÜSTERN IM WIND – zwei Romane, die sich um Themen drehen, die in der Öffentlichkeit nicht viel diskutiert sind – Missbrauch, Armut, Selbstzweifel, Überlebenskampf. Feinfühlig erzählt von Autor Elias J. Connor.
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Inhaltsverzeichnis
BUCH 1
Kapitel 1 – Ist so kalt der Winter
Kapitel 2 – Neue Schule
Kapitel 3 – Durch die Nacht
Kapitel 4 - Anfeindungen
Kapitel 5 - Angelina
Kapitel 6 – Finstere Nacht
Kapitel 7 – Zurück im Ghetto
Kapitel 8 – Der Anschlag
Kapitel 9 - Wegrennen
Kapitel 10 – Das Gefängnis
Kapitel 11 - Marktplatz
Kapitel 12 – Die Mauern von Fall Creek
Kapitel 13 – Suche in Belfast
Kapitel 14 – Sandy ist wieder da
Kapitel 15 – Zurück bei Amgelina
Kapitel 16 – Wieder wegrennen
Kapitel 17 – John, wer bist du?
Kapitel 18 – Vergib mir
Kapitel 19 – Der Weg nach Hamsdale
Kapitel 20 – Saint Cedric
Kapitel 21 – Laurinas Gebet
Kapitel 22 – Lieber Weihnachtsmann
BUCH 2
Kapitel 1 - Das Kind im Spiegel
Kapitel 2 - Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Kapitel 3 - Ohne ein Wort
Kapitel 4 - Der Psychologe
Kapitel 5 - Traurige Weihnacht
Kapitel 6 - Der erste Tag
Kapitel 7 - Flucht aus dem Märchenland
Kapitel 8 - Jenseits der Grenzen
Kapitel 9 - Ich kann dich hören
Kapitel 10 - Jane
Kapitel 11 - Laurins stummer Schrei
Kapitel 12 - Die Worte, die du sagst
Kapitel 13 - Verzerrte Wirklichkeit
Kapitel 14 - Taub, blind und stumm
Kapitel 15 - Tiefes Vertrauen
Kapitel 16 - Laurins verdrängte Erinnerungen
Kapitel 17 - Harry muss gehen
Kapitel 18 - Heimliches Treffen
Kapitel 19 - Der Ausflug in den Freizeitpark
Kapitel 20 - Er liebt mich, er liebt mich nicht
Kapitel 21 - Tiefes Schweigen
Kapitel 22 - Das Ende einer Freundschaft
Kapitel 23 - Lena stirbt
Kapitel 24 - Vater
Kapitel 25 - Der Stein des alten Hauses
Kapitel 26 - Weil wir deine Stimme hören
Impressum
DIE KINDER DES GHETTOS BLACKWOOD
In ihre dicke Decke war sie schon seit Stunden eingehüllt und saß noch immer auf ihrem kleinen Bett. Sie blickte aus dem Fenster und sah die Schneeflocken im Licht der gegenüber liegenden Laterne matt schimmern. An ihrem Fenster bildeten sich Eisblumen, die sie früher immer so liebte.
Früher.
Sie presste die Bettdecke fest an sich und winkelte ihre Knie an.
Bis Weihnachten waren es nur noch knapp zwei Wochen. Laurina hatte sich so sehr darauf gefreut. Ihr Vater und ihre Mutter wollten ihr ein ganz großartiges Geschenk machen, nämlich eine Reise nach Disneyland in Kalifornien. Sie wollten alle zusammen wegfahren – Laurina, ihre kleine Schwester Sandy und ihre Eltern. Schon als Laurina elf wurde, sprachen sie davon, nach Amerika zu fahren. Und das ist erst drei Monate her.
Plötzlich gab es einen Knall.
Laurina zuckte zusammen und presste sich noch tiefer in die Bettdecke rein. Vorsichtig lugte sie aus dem Fenster und sah, dass in das Nachbarhaus wohl ein Brandsatz hinein geflogen sein musste. Ein Fenster ging dabei zu Bruch, und kurz darauf hörte sie die Feuerwehrsirenen.
Laurina stand auf und ging zu dem anderen Bett in ihrem kleinen Zimmer. Sie beobachtete Sandy und streichelte dann über ihren Kopf, während das kleine, etwa siebenjährige Mädchen ihre Augen vorsichtig öffnete.
„Was war das?“, wollte Sandy wissen.
„Es ist nichts“, sagte Laurina tröstend. „Alles ist gut. Schlaf weiter.“
„Mir ist kalt“, flüsterte Sandy.
Laurina hüllte Sandy fest in ihre Decke ein, dann nahm sie ihre Decke und legte sie noch oben drauf.
Schließlich holte Laurina sich einen zweiten Pullover aus dem kleinen Schrank und zog sich ihre dicke Jacke an. Sie zitterte vor Kälte, aber vielleicht wäre Sandy erfroren, wenn sie ihr nicht ihre Bettdecke gegeben hätte, jetzt wo es draußen Minus 10 Grad waren und heute Morgen die Heizung abgestellt worden war.
Laurina setzte sich wieder auf ihr karges Bett und sah in die Nacht hinaus. Die Eisblumen am Fenster verschwanden, und neue bildeten sich. Früher hatte sie das so gerne gesehen, wenn sie in ihrem warmen Raum saß und in der Vorweihnachtszeit nach draußen schaute. Früher, als Daddy noch da war, da mochte sie die Eisblumen sehr.
Früher.
Laurina dachte nach, ohne dabei die Augen von ihrer kleinen Schwester abzuwenden, die seelenruhig schlief. Laurina dachte an die Kommunion vor eineinhalb Jahren. Es war eine riesengroße Feier. Ihr Vater hatte sich dafür mächtig ins Zeug gelegt, das konnte er sich leisten als Juniorchef einer Werbeagentur. Laurina feierte ihre Kommunion in einer großen Kirche, und anschließend gab es in einem teuren Hotel ein Bankett, bei dem Laurina der Star gewesen war. In ihrem weißen Kleid sah sie damals aus wie ein Engel.
Sandy hatte ihre Kommunion noch vor sich. So sehr hätte sich Laurina gewünscht, dass Sandy auch in einem so tollen Kleid auf einem Bankett der Star wäre.
Aber sie wusste jetzt nicht einmal, ob Sandy überhaupt eine Kommunion haben könnte, jetzt wo alles anders war.
Laurina stapfte leise ins nebenan liegende Wohnzimmer, das zweite Zimmer dieser kleinen Wohnung in der achten Etage eines Hochhauses. Ihre Mutter war noch immer nicht zurück. Eigentlich sollte sie längst wieder zurück sein. Wahrscheinlich aber hatte sie noch etwas gefunden, wo sie sich noch ein paar Pfund verdienen konnte. Vielleicht hatte sie noch einen spontanen Putzjob gefunden, oder wenn sie Glück hatte, einen spontanen Job in einem Pub, dort würde es sogar zehn Pfund die Stunde geben. Das wäre sehr viel Geld.
Sie spürte, dass ihr Magen knurrte. Laurina dachte kurz nach. Wann hatte sie das letzte Mal etwas gegessen? Vor einem Tag? Vor zwei?
Mom versprach, dass sie heute Abend etwas zu essen mitbringen würde.
Laurina kramte in einem der Schränke der kleinen Kochnische, wo ein alter Zweiplattenkocher auf einem unprofessionell angebrachten Sideboard stand. Sie fand eine angebrochene Packung Nudeln, eine Ketchup-Flasche und ein Glas Gurken.
Vorsichtig öffnete Laurina das Gurkenglas und holte sich eine Gurke raus, die sie dann aß.
Dann stellte sie das Glas zurück. Wer weiß, wann sie wieder was kriegen würden, und Sandy hätte bestimmt Hunger, wenn sie nachher aufwachte.
Laurina sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war drei Uhr nachts, als sich dann auf einmal die Eingangstüre der Wohnung öffnete.
„Kind“, sagte eine etwa 40-jährige Frau, als sie zur Türe herein kam. „Warum bist du wach?“
„Sie haben die Heizung abgestellt, Mom“, maulte Laurina.
„Was?“, stöhnte die Mutter. „Ich habe gestern das Geld überwiesen.“
„Und jetzt?“ Laurina lief eine kleine Träne über die Wange. „Sandy friert. Ich friere.“ Sie sah ihre Mutter an. „Wir haben nichts mehr zu essen da.“
Laurinas Mutter stellte eine Tüte auf dem Esstisch ab, der gleichzeitig der einzige Tisch im Wohnzimmer war. „Ich hab was mitgebracht“, sagte sie. „Ich habe in der Eckkneipe ausgeholfen und dreißig Pfund bekommen.“
Laurina schnaufte aus, während ihre Mutter die Konserven im Schrank verstaute, das Brot in den Brotkasten legte und eine neue Packung Nudeln auf das Sideboard stellte.
„Mom“, sagte sie schließlich. „Hast du uns in der Schule für das Mittagessen angemeldet, Sandy und mich?“
„Sieh mal“, sagte Laurinas Mutter, als sie eine kleine Tafel Schokolade Laurina in die Hand drückte. „Sie hat nur 60 Cent gekostet, und ich habe sie extra für dich und Sandy geholt.“
„Mom“, schimpfte Laurina. „Heute war der letzte Tag. Wenn du uns nicht angemeldet hast, kriegen Sandy und ich morgen in der Schule nichts zu essen.“
„Es tut mir leid, Schatz“, sagte die Mutter. „Ich hatte so viel um die Ohren.“
„Aber Mom“, sagte Laurina. „Wir werden den ganzen Monat nichts kriegen, wenn du uns nicht angemeldet hast. Was sollen Sandy und ich denn jetzt essen?“
„Ich werde abends für euch kochen“, sagte Laurinas Mutter.
„Du hast nichts, was du uns kochen könntest.“ Laurina weinte.
Ihre Mutter setzte sich zu ihr an den Tisch und streichelte über ihren Kopf.
„Ich werde Jobs finden“, sagte sie. „Ich jobbe jeden Tag woanders. Ich werde jeden Tag arbeiten gehen.“
Laurina weinte stärker.
„Ich hätte Daddy gerne auch noch hier“, sagte die Mutter. „Ich weiß, du vermisst ihn. Ich vermisse ihn auch.“
„Warum musste er sterben?“, weinte Laurina.
So traurig und so schlimm, dass sie ihren Daddy verlor. Denjenigen, der sich immer um die Familie kümmerte. Dem sie vertrauen konnten, dass er machte, dass es ihnen gut ging. Nichts ist geblieben. Sein Vermögen war ihnen vom Gericht nicht zugesprochen worden, weil sie Katholiken waren und ihr Daddy ein Protestant. Laurina hat das bis jetzt nicht richtig verstanden, aber sie wäre auch gerne ein armes Kind gewesen, hätte sie dafür nur ihren Daddy behalten können. Aber er starb bei einem mysteriösen Autounfall, kurz nachdem heraus kam, dass er nicht katholisch, sondern evangelisch war. Kurz nachdem heraus kam, dass die Ehe zwischen ihm und ihrer Mutter eigentlich gar nicht geduldet war und auf einer Lüge basierte, die die Familie bei Laurinas Geburt machen musste, weil sie ihr sonst Laurina weggenommen hätten.
Das ist zwei Monate her, und seit dem leben Laurina, Sandy und ihre Mutter ohne jedes Hab und Gut hier in dem Ghetto, das auch stadtweit als Ghetto Blackwood bekannt ist, und wo die Ärmsten der Armen wohnen.
„Versuche noch ein paar Stunden zu schlafen“, forderte die Mutter Laurina auf. „So lange wir noch Strom haben, musst du dir keine Sorgen machen. Ich wecke dich dann um sieben Uhr für die Schule.“
Laurina nickte zaghaft, dann trottete sie in ihr Zimmer zurück. Sie krabbelte unter die Bettdecken bei Sandy und kuschelte sich eng an ihre Schwester, während sie beide Decken über sich zog.
Dann schaute sie sich noch eine Weile die Eisblumen an und schloss ein paar Minuten darauf ihre Augen.
Der Schneematsch knirschte unter den Füßen der beiden Mädchen, als sie über die Straße liefen.
„Ist es noch weit?“, wollte Sandy wissen, während sie die Hände auf ihrer Jacke rieb.
„Nein“, beruhigte Laurina sie. „Nur noch ein paar Meter.“ Sie hielt ihre Schwester am Ärmel fest und sah sie scharf an. „Denke dran, sage niemandem, wo wir wohnen.“
„Warum nicht?“, quengelte Sandy.
Laurina schüttelte den Kopf. „Es soll keiner denken, dass wir so arm sind, dass wir nicht mal was zu essen haben.“
„Hat Mom uns fürs Essen eigentlich angemeldet?“, wollte Sandy wissen.
Laurina schnaufte aus und schüttelte den Kopf.
„Und wenn ich Hunger habe?“, schluchzte Sandy leise.
„Ich werde sehen, dass wir trotzdem etwas kriegen“, versprach Laurina ihr.
Der Schulhof war groß. Eigentlich fast zu groß für die einzige öffentliche Schule von Hamsdale, einem Vorort von Belfast. Hamsdale war nicht unbedingt ein schlechter Ort – hier lebte der breite Mittelstand, und von den Unruhen in Belfast bekam man hier nicht viel mit.
Außer in einer Gegend, die am Stadtrand lag – dem so genannten Ghetto. In der Blackwood Road war eine Plattenbausiedlung, in der die Ärmsten der Armen wohnten. Diejenigen, die nirgendwo anders etwas zum Wohnen bekamen, und diejenigen, die absolut nichts hatten, wohnten hier. Und wer hier wohnte, war im ganzen Ort Hamsdale verrufen. Demjenigen gab man keine Chancen – sei es im Job, im öffentlichen Leben oder in der Schule. Menschen aus dem Ghetto Blackwood durften nirgends einkaufen, weil man direkt vermutete, dass sie nicht bezahlen könnten. Menschen aus dem Ghetto Blackwood hatten bei keiner Bank die Möglichkeit, ein Konto zu eröffnen, und die Menschen von dort wurden ausgegrenzt. Und nirgendwo war die Kriminalitätsrate höher in der Stadt als in der Blackwood Road.
Seit etwa zwei Monaten wohnten Laurina und Sandy mit ihrer sehr oft verzweifelten Mutter Josephine ebenfalls im Ghetto Blackwood. Und erst jetzt hat es Josephine irgendwie geschafft, die beiden Mädchen an der öffentlichen Schule anzumelden. Kurz vor Weihnachten im Jahr 1987, dem Jahr, in dem sich für Laurina und Sandy alles veränderte und das Schicksal härter zuschlug als man es je hätte ertragen können.
Laurina nahm Sandy an die Hand, als sie in ihren zerlumpten Klamotten in der Kälte den Schulhof betraten. Das Gebäude war groß und hatte drei Stockwerke und ein Flachdach. Zur Eingangstüre führten einige Stufen, die Laurina und Sandy dann hinauf gingen.
Während sie die Türe öffneten, nachdem sie durch das Getümmel von anderen Kindern scheinbar unbeachtet hindurch gingen, rempelte plötzlich ein Junge von etwa 12 Jahren Laurina an.
Als er die beiden Mädchen sah, blieb er stehen und musterte sie eine Weile. Dann ging er weiter.
„Ich bringe dich in deine Klasse“, sagte Laurina zu Sandy.
„Holst du mich in der großen Pause ab? Ich will hier nicht alleine rum stehen“, meinte Sandy schließlich.
„Klar“, sagte Laurina.
Als sie Sandy ihren Klassenraum zeigte, ging Laurina zu ihrem eigenen Raum, wo einige Kinder schon saßen und warteten, dass der Lehrer käme und die Türe aufschloss.
„He“, hörte Laurina einen Jungen zu einem anderen flüstern. „Guck dir die mal an.“
„Ist wohl neu“, meinte der andere Junge.
Dann kam der Junge auf Laurina zu.
„Wieso haben wir eine neue Schülerin in der Mitte des Schuljahres?“, wollte der Junge von Laurina wissen.
Laurina sah verschüchtert zu Boden.
„Bist du neu hergezogen?“, fragte der Junge.
Laurina nickte zaghaft.
Der Junge flüsterte dem anderen Jungen dass etwas ins Ohr. Laurina sollte es nicht hören, aber sie verstand, was er sagte. „Sie stinkt“, hatte der Junge gesagt.
Als der Lehrer kam, lief Laurina als Letzte in die Klasse hinein und setzte sich in die letzte Reihe, wo ein einziger Platz neben einem blonden, etwa 12-jährigen Jungen frei war.
Laurina erkannte ihn wider. Es war der Junge, der sie vorhin angerempelt hatte.
„So, Schülerinnen und Schüler“, begann der Lehrer, um die Tumulte in der Klasse zu schlichten. „Wie ihr seht, haben wir eine neue Schülerin. Laurina Dillen, möchtest du dich kurz vorstellen?“
Laurina zuckte zusammen.
„Sag uns doch, wo du jetzt wohnst, und welche Hobbies du hast“, forderte sie der Lehrer auf.
„Ich…“, stammelte Laurina.
Was sollte sie jetzt nur sagen?
„Ich wohne in der Park Street“, log Laurina dann. „Ich spiele gerne Badminton und fahre gerne Rollschuh.“
„Oh, Rollschuh“, lästerte ein Junge fast zeitgleich.
„Ruhe jetzt“, mahnte der Lehrer. „Ich möchte, dass ihr nett zu Laurina seid.“
Dann begann der Unterricht.
Vorsichtig stupste der Junge, der neben ihr saß, Laurina an.
„Laurina“, flüsterte er. „Du wohnst aber noch nicht lange in der Park Street, oder?“
Laurina schüttelte den Kopf.
„Warum seid ihr hergezogen? Wo hast du früher gewohnt?“
„In Belfast“, sagte Laurina.
„Mitten in der Stadt? Cool“, meinte der Junge. „Ich heiße John. John Malfinger. Meine Eltern lassen mich nicht nach Belfast. Zu viele Unruhen, sagen sie immer. Ist so ein komisches Kirchending oder Religionsding. Bist du katholisch?“
Laurina nickte.
„War ja klar“, meinte er. „Protestantenkinder haben es hier echt schwer.“
Laurina sah den Jungen an. Ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Du“, meinte John dann. „Du siehst nicht unbedingt aus, als dass du in der Park Street wohnst. Da wohnen doch eher Familien, die…“ Er unterbrach sich selbst.
„Was?“, hauchte Laurina.
„Ich meine… wegen deinen Klamotten…“
Laurina schaute an sich herunter. Sie trug wirklich sehr ausgetragene, fast schon zerlumpte Klamotten. Die Hose hatte einige Löcher, der Pulli war verwaschen und hatte Flecken, und ihre Jacke war mit mehreren Nähten an einigen Stellen geflickt.
„Unsere Waschmaschine ist kaputt“, sagte sie leise.
„Ah, so“, machte John. „Du, heute gibt es Schweinebraten. Total lecker, ich freu mich schon.“
„Weißt du, wo ich hingehen muss, um mich nachträglich für den Lunch anzumelden?“, wollte Laurina dann schüchtern wissen.
„Wie, du bist nicht angemeldet?“, fragte der Junge.
„Mom hatte so viel um die Ohren“, sagte Laurina traurig.
„Ich glaube, dann wirst du Pech haben“, antwortete John. „Die Frist lief gestern ab für diesen Monat. Du stehst dann wohl nicht auf der Liste.“
„Ich…“, stammelte sie. „Macht nichts. Ich hab ein Pausenbrot dabei“, warf sie lügend nach.
In der großen Pause holte Laurina Sandy wie verabredet vor ihrer Klasse ab. Dann liefen sie beide zum Sekretariat, und vorsichtig klopfte Laurina an die Türe. Der Lehrer, der Laurina heute Morgen unterrichtete, öffnete die Türe.
„Laurina“, sagte er. „Gut, dass du kommst. Und du hast deine Schwester mitgebracht. Ich hätte sowieso gerne mal mit euch gesprochen. Kommt rein.“
Laurina und Sandy setzten sich auf zwei Stühle, die vor einem Schreibtisch standen, hinter dem sich der Lehrer platzierte.
„Wie gefällt euch beiden die neue Schule?“, fragte er.
Laurina sah ihn fragend an.
Der Lehrer holte einen Ordner heraus und öffnete ihn.
„Laurina, aus meinen Unterlagen geht hervor, dass du nicht in der Park Street wohnst, sondern in der Blackwood Road“, erläuterte er. „Hat sich eure Adresse geändert?“
Laurina schüttelte den Kopf.
„Dann wohnt ihr in der Blackwood Road?“
Laurina nickte.
„Ich kann verstehen, dass du nicht vor den anderen Kindern sagen wolltest, wo du wohnst“, meinte der Lehrer dann. „Mir ist aber auch aufgefallen, dass ihr sehr – ich sage mal – etwas verwahrloste Kleidung tragt. Bitte sage deiner Mutter, dass sie euch für morgen frische Kleidung heraus sucht, okay?“
Laurina nickte.
Wie sollte das gehen? Eine Waschmaschine hatten sie nicht mehr, und möglicherweise würde heute auch noch der Strom abgestellt werden. Die Sachen mussten von Hand gewaschen werden, aber nicht mal Geld für Waschmittel war im Haus.
„Was ist mit eurem Vater?“, fragte der Lehrer schließlich.
„Er… er starb vor zwei Monaten“, flüsterte Laurina traurig. „Deshalb sind wir auch hergezogen.“
„Verstehe“, antwortete der Mann. Er sah die Unterlagen weiter durch und blätterte auf die vorletzte Seite. „Das tut mir sehr leid“, warf er dann nach.
„Ich… ich habe eine Frage“, sagte Laurina dann leise. „Meine Mutter hat es versäumt, uns für den Lunch anzumelden. Ich… ich wollte fragen, ob wir dennoch diesen Monat mitessen können…“
„Nun“, sagte der Mann, als er den Ordner schloss. „Das ist schwierig, da das Essen genau abgezählt ist.“ Er dachte eine Weile nach. „Aber aus der achten Klasse haben sich zwei Kinder heute krank gemeldet, für die das Essen schon mitgeliefert wurde. Also, ich denke, heute könnt ihr essen.“
Laurina fiel so ein Stein vom Herzen, dass man ihn hätte laut fallen hören können.
„Vielen Dank“, sagte sie erleichtert.
Dann nahm sie Sandy an die Hand und wollte aufstehen und rausgehen. Aber der Lehrer hielt sie am Ärmel fest.
„Laurina, wenn du und deine Schwester in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, dann sagt es mir bitte“, warf er nach. „Ich werde versuchen, euch zu helfen.“
„Danke“, wiederholte Laurina
Dann gingen sie und ihre Schwester aus dem Sekretariat hinaus und liefen zurück zum Schulhof.
Draußen warteten bereits ein paar Kinder aus Laurinas Klasse auf die beiden Mädchen.
„Seht mal“, meinte ein Junge dann. „Da ist sie.“
„Bah“, machte ein anderer Junge. „Ihre kleine Schwester sieht ja noch schlimmer aus. Schaut euch die Klamotten an. Total zerfetzt.“
„Ih!“, rief ein dritter Junge aus. Dann ging er auf Laurina los und stieß sie nach hinten, so dass sie umfiel.
„Fass sie doch nicht an“, meinte der erste Junge wieder. „Du bekommst die Krätze.“
Laurina legte ihre Arme schützend um ihre kleine Schwester, nachdem sie wieder aufgestanden war, und die Kinder gingen dann angewidert weg.
Sandy lief eine Träne die Wange hinunter.
„Ist schon gut, Sandy“, flüsterte Laurina. „So lange ich bei dir bin, werden sie dir nichts tun.“
„Laurina, warum sind die so gemein?“, sagte Sandy leise.
Laurina streichelte mit ihrer Hand über Sandy Kopf.
„Wir brauchen frische Sachen zum Anziehen“, heulte Sandy. „Aber Mom kann uns nichts kaufen…“ Sie weinte stärker. „Sie kann nicht mal unsere Sachen waschen…“
„Ich weiß“, entgegnete Laurina tröstend. „Ich rede mit ihr, wenn sie heute Abend kommt.“
Laurina wusste sich selbst keinen Rat. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden verschwunden, und am Liebsten hätte sie Sandy dorthin mitgenommen. Dass in zwei Wochen Weihnachten sein würde, daran dachte Laurina nicht. Die meisten Kinder freuten sich auf ihre Geschenke. Laurina waren Geschenke egal, jetzt wo es so war wie es war. Sie wollte nur nicht, dass Sandy traurig ist. Sie konnte ihre kleine Schwester nicht weinen sehen, denn das brach ihr das Herz.
In den weiteren Pausen versteckten sich Laurina und Sandy in einer Ecke des Schulhofs, und in der Mittagspause nahmen sie ihren Teller und setzten sich an einen Tisch, an dem niemand Anderes saß. Stumm aßen sie.
Nach der Schule stapften die Mädchen durch den Schnee zurück zu ihrer Wohnsiedlung, dem verrufenen Ghetto Blackwood.
Sie bemerkten nicht, dass John ihnen heimlich mit seinem Fahrrad gefolgt ist.
Gerade, als sie zur Eingangstüre hinein wollten, zeigte sich John und fing sie ab.
„Ich dachte mir, dass ihr von hier seid“, sagte er ruhig.
Laurina sah ihm in die Augen, und Tränen füllten ihre Augen mit Wasser.
Und Sandy vergrub vor Scham ihren Kopf in Laurinas Schulter.
Laurina zitterte. Nicht nur wegen der Kälte, sondern auch weil sie Angst hatte.
„John… ich…“, flüsterte sie, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
John sah sie erschrocken an.
„Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“, wisperte er ihr zu. Dann setzte er sich auf sein Fahrrad und fuhr davon.
„Oh, nein“, wisperte Laurina leise zu sich selbst. „Bitte nicht…“
Laurina und Sandy saßen dick eingepackt in der kalten Küche, als Josephine nach Hause kam. Die letzten Sonnenstrahlen schimmerten im winterlichen Abendrot. In der Küche war es halbdunkel.
„Kinder“, sagte die Mutter. „Ich habe Ravioli gekauft. Habe heute 5 Pfund verdient.“
„Wir haben in der Schule gegessen“, erklärte Laurina. „Zwei Kinder haben gefehlt, und wir haben das Essen von denen bekommen.“
„Das ist schön“, sagte Josephine. „Dann heben wir die Ravioli für Morgen auf.“
„Aber du hast doch noch nichts gegessen“, dachte Laurina nach, während Sandy ihren Kopf auf den Tisch stützte.
„Ich hatte ein Brötchen beim Putzen bekommen“, erzählte Josephine. „Aber sagt mal, wie war es in der Schule?“
Laurina druckste herum.
„Mom“, sagte sie. „Wir haben die letzten Klamotten an, total verwaschen und verwahrlost.“
„Schatz, ich kann mir kein Waschpulver leisten“, sagte Josephine leise. „Wasch bitte die Sachen von dir und deiner Schwester in der Spüle.“
„Und womit?“, beschwerte sich Laurina. „Mit dem Bisschen Duschgel, was wir noch haben?“
„Ich kann es doch nicht ändern“, jammerte die Mutter.
„Die Sachen fallen auseinander, wenn wir sie noch mal waschen“, dachte Laurina nach. „Wir müssen irgendetwas zum Anziehen haben. Und wenn es nur etwas Gebrauchtes ist.“
Josephine setzte sich resigniert auf die Couch, die in der Ecke stand.
„Mom, der Lehrer hat heute mit uns gesprochen“, erzählte Laurina dann. „Ihm ist aufgefallen, dass wir verbrauchte Klamotten anhaben, und dass wir riechen. Und dass du dich nicht um das Essen in der Schule gekümmert hast, hat er auch bemerkt. Es wäre gut, wenn du mal zu ihm gehst. Er hat gesagt, wenn wir Hilfe brauchen, sollen wir ihn fragen. Vielleicht kann er uns Klamotten besorgen.“
„Ich habe keine Zeit, zu ihn zu gehen“, sagte die Mutter leicht aggressiv und resigniert. „Ich muss Jobs machen, um uns über Wasser zu halten.“
„Mom“, meinte Laurina.
Dann stand sie auf und wollte das Licht anknipsen… aber als sie den Schalter drehte, passierte nichts.
Laurina ging zu dem Lichtschalter in ihrem Zimmer und versuchte es dort… aber es tat sich nichts.
„Mom“, weinte sie leise. „Sie haben den Strom abgestellt.“
Josephine setzte sich an den Küchentisch und zitterte.
„Mom?“
„Muss gleich los“, stammelte Josephine. „In die Eckkneipe, da kann ich heute aushelfen…“
„Und was sollen wir im Dunklen und Kalten machen?“, hauchte Sandy leise.
„Mom, du kannst uns hier nicht alleine lassen“, beschwerte sich Laurina traurig.
Josephine dachte nach.
„Ich werde euch mitnehmen“, sagte sie. „Ihr müsst nur still in der Ecke sitzen. Aber in der Kneipe ist es warm.“
Josephine packte sich dann warm ein, und die Kinder hatten sowieso ihre Jacken schon an. Mit den gleichen Klamotten, die sie heute in der Schule trugen, liefen sie dann mit ihrer Mutter in das Lokal am Ende der Straße, was zu dieser Zeit gut besucht war. Sie wussten, sie hatten morgen Schule, und eigentlich sollten sie schlafen, aber Josephine hatte keine Wahl.
Als die drei die Kneipe betraten, brannte im Kamin schon ein kleines Feuer.
Sandy und Laurina setzten sich dann an einen Tisch ganz in der Ecke, der kaum einzusehen war. Und Josephine zog sich ihre Schürze an und machte sich hinter den Tresen.
„Guten Abend Ma’am“, sagte ein schon angeheiterter Gast. „Zapfen Sie mir ein Frisches, und für Sie ein Glas Wein gleich mit, okay?“
„Ich trinke nichts, danke sehr“, meinte Josephine dann, als sie dem Mann sein Bier gab.
„Kommen Sie“, ließ der Mann nicht locker. „Ich bin in Feierlaune.“
Ein anderer Mann kam dazwischen und gesellte sich neben den angetrunkenen Mann. „Lass sie in Ruhe, Digger“, sagte er. „Ihr Mann ist erst vor zwei Monaten gestorben.“
Digger sah die Frau an.
„Entschuldigung, Miss, wenn ich Sie provoziert habe“, sagte Digger. „Entschuldigung.“
Er musterte Josephine, die dabei war, einige Gläser zu spülen.
„War es eine schöne Beerdigung?“, fragte Digger dann schließlich.
Entrüstet knallte Josephine dann das Spültuch auf den Tresen, aber sie sagte nichts.
„Miss, ich kenne Sie doch“, überlegte Digger.
„Ich habe dir gesagt, lass sie in Ruhe“, mischte sich der andere Mann wieder ein.
„Nein“, beharrte Digger. „Ich kenne die Dame. Sagen Sie, ist Ihr Mann durch einen Autounfall gestorben?“
Josephine wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.
In der Zwischenzeit holte Laurina einen Zettel heraus. Auf der Vorderseite stand etwas, aber auf der Rückseite war er weiß.
Dann ging sie zum Wirt und zupfte an seinem Hemdärmel.
„Du“, sagte sie. „Kannst du uns einen Stift leihen? Wir wollen ein bisschen malen.“
Der Wirt sah das Mädchen an. Er betrachtete sie von oben bis unten.
„Wo kommst du denn her?“, fragte er schließlich.
„Meine Schwester und ich sitzen da hinten.“ Laurina schaute zu ihm hoch und kniff ihre Augen zusammen.
„Ich kann doch so spät keine Kinder in meiner Kneipe sitzen lassen“, meinte der Wirt. „Mit wem seid ihr denn hier?“
„Mit Mom“, hauchte Laurina.
Dann kam Josephine hinzu. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wusste nicht, wo ich sie lassen sollte. In unserem Haus ist ein Stromausfall, und die Heizung funktioniert nicht“, log sie schließlich.
„Wenn ich erwischt werde, dann bin ich dran“, sagte der Wirt. „Josephine, beim nächsten Mal müssen Sie ihre Kinder zu Hause lassen oder woanders abgeben. Haben Sie verstanden?“
„Es kommt nicht wieder vor“, meinte Josephine. „Sie werden keinen Mucks sagen. Niemand wird merken, dass sie da sind.“
Dann ging Josephine zu ihren Kindern, streichelte ihnen kurz über den Kopf und gab ihnen ihren Bleistift.
„Stromausfall im Haus, hä?“, machte Digger mit einem aggressiven Unterton. „Das klingt ganz nach Blackwood Road, da ist andauernd Stromausfall.“
„Da wohnen auch die miesesten Leute“, sagte ein anderer Mann, der mindestens genauso betrunken wie Digger war.
„Ich wohne nicht in der Blackwood Road“, log Josephine. „Ich wohne in einem Haus am Hügel.“
„Ich werde die ganze Zeit nicht los, dass ich dein Gesicht schon mal gesehen habe“, stammelte Digger zu Josephine. „Dein Mann war irgend so ein Werbefritze, habe ich Recht?“
Josephine sagte nichts.
„Ja“, machte Digger. „Sie haben es im Fernsehen gezeigt. Sie haben gesagt, dass er Protestant war, nicht katholisch.“
„Jetzt wo du es sagst“, meinte der andere Mann. „Ich hab es auch gesehen. Richtig so, dass sie ihm sein ganzes Vermögen weggenommen haben.“
„Zahlt keine Kirchensteuer“, machte Digger. „Und du warst mit so einem verheiratet? Mit einem Protestanten?“, richtete er seine Aggression gegen Josephine, die leise weinte.
„Was bist du?“, fragte der andere Mann. „Bist du katholisch? Und dann warst du mit einem Protestanten verheiratet? Deine armen Kinder sind Gottlose.“
„Meine Kinder sind keine Gottlosen“, schrie Josephine so laut, dass Laurina und Sandy es mitbekamen und sich umdrehten.
„Schlampe!“, schimpfte Digger.
Und Laurina lief zu ihrer Mutter. „Mom…“, hauchte sie.
Digger betrachtete das Kind.
„Moment mal…“, sagte er dann. „Ich kenne dieses Mädchen. Ich habe es heute an der Schule gesehen, als ich meinen Sohn abgeholt habe.“
Laurina erschrak.
„Der wird sich freuen, wenn ich ihm das morgen früh erzähle, dass er mit Gottlosen in die Schule geht.“ Digger ließ nicht locker. „Die Kinder werden ihres Lebens nicht mehr glücklich.“ Er wandte sich Laurina zu. „Warte nur ab, wenn du morgen zur Schule gehst.“
Laurina zitterte.
„Lassen Sie meine Kinder in Ruhe“, schrie Josephine. „Sie haben Ihnen nichts getan.“
Erst dann endlich ging der Wirt dazwischen.
„Digger, Schluss jetzt“, sagte er daraufhin. Dann wandte er sich Josephine zu. „Gehen Sie sich umziehen. Ich kann Sie hier nicht mehr gebrauchen. Sehen Sie zu, dass Sie ihre Kinder ins Bett kriegen, und kommen Sie nicht mehr her. Ich habe keinen weiteren Job für Sie.“
Wütend und weinend zugleich zog Josephine ihre Schürze aus und schmiss sie auf den Boden.
„Bekomme ich wenigstens mein Geld für heute?“, warf sie nach.
„Machen Sie, dass Sie weg kommen“, befahl der Wirt.
Und Josephine nahm Laurina und Sandy an die Hand und stapfte heraus aus dem Lokal und ging dann durch den matschigen Schnee nach Hause.
„Tut uns leid, Mom“, sagte Laurina traurig. „Wir sind Schuld…“
„Nein, Schatz“, versuchte Josephine ihre Tochter zu trösten, während sie die Türe aufschloss.
„Doch“, entgegnete Laurina verweint. „Wären wir zu Hause geblieben, wäre das nicht passiert.“
„Ich friere“, maulte Sandy. „Im Pub war es so schön warm. Und unser Bild haben wir auch liegen lassen.“
Oben in der Wohnung angekommen, lief Josephine als Erste rein, während Laurina und Sandy noch vor der Türe warteten. Josephine kramte blind im Schrank und fand eine Kerze, die sie dann in einen Ständer machte und anzündete.
„Kommt rein“, sagte sie dann.
Und die drei kuschelten sich dann im matten Kerzenschein im Wohnzimmer alle auf der Couch unter zwei dicke Decken.
„Ich hätte gerne einen Teddy zu Weihnachten“, meinte Sandy dann nach Minuten.
„Sandy“, sagte Laurina leise. „Wir bekommen dieses Jahr keine Weihnachtsgeschenke.“
„Aber ich habe dem Weihnachtsmann extra einen Brief geschrieben“, schluchzte Sandy traurig. „Es ist doch nur ein Teddy. Damit wird er doch nicht zu viel Arbeit haben.“ Sie sah Josephine an, die leise weinte. „Mom, hat der Weihnachtsmann uns vergessen?“
Josephine weinte stärker.
Und Laurina nahm ihre Schwester in den Arm.
„Nein, hat er nicht“, sagte sie leise. „Ich werde sehen, dass du deinen Teddy bekommst“, versprach sie ihr.
„Es tut mir so leid, Kinder“, weinte Josephine. „Wenn ihr nicht wärt, würde ich nicht mehr leben wollen.“
„Sag nicht so etwas“, sagte Laurina ernst.
„Ich weiß nicht mehr, was wir machen sollen“, weinte Josephine. „Ich weiß nicht, wie wir die nächsten Tage überstehen sollen…“
„Ich bleibe am Leben“, flüsterte Laurina leise. „Für uns. Für Sandy.“ Sie wischte sich eine Träne aus ihren Augen. „Sandy hält mich am Leben, Mom“, wisperte sie hinterher.
Als Sandy und Josephine unter Tränen auf dem Sofa einschliefen, blieb Laurina noch stumm wach. Die Kerze ging irgendwann aus, und das flackernde Licht einer Straßenlaterne von draußen schimmerte in das kleine Wohnzimmer mit Essbereich.
Laurina wusste nicht, wie sie einen Teddy für ihre kleine Schwester bekommen sollte, die noch an den Weihnachtsmann glaubte. Sandy. die sich verlassen fühlen würde, wenn sie ihn nicht bekäme, und erschüttert in ihrem Glauben an den Geist der Weihnacht wäre.
Laurina wusste, dass sie es möglicherweise nicht schafft, einen Teddy zu kriegen. Aber heute Nacht beschloss sie, dass sie es versuchen würde, und sie würde nicht locker lassen, bis es ihr gelingt.
Sie würde Sandy nie enttäuschen, das schwor sie sich heute Nacht.
„Ich bleibe am Leben, Sandy, für dich“, flüsterte sie ganz leise, während sie Sandy sachte über ihre Haare streichelte.
Josephine schlief noch.
Die Einzige, die wach war, war Sandy. Sie tapste in der Küche herum und suchte nach etwas zu essen. In dem Gurkenglas waren noch zwei Gurken drin. Sandy nahm sich eine und aß sie langsam. Dabei ließ sie sich den sanften Essiggeschmack auf der Zunge zergehen, so als hätte sie noch nie etwas Leckereres als Gurken gegessen.
Wenige Minuten darauf kam Laurina in die Küche getapst.
„Sandy, was machst du?“, wollte sie wissen.
„Essen“, sagte Sandy. „Laurina, wann kauft Mom ein?“
„Ich weiß nicht“, sagte Laurina leise. „Sie hat gestern kein Geld bekommen.“
Laurina schnaufte tief und sah zum Fenster raus, wo die ersten Sonnenstrahlen sich ihren Weg in das matt dunkle Zimmer bahnten.
„Wir müssen in die Schule“, sagte Laurina dann. „Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, jetzt wo der Strom abgestellt ist und unsere Uhr nicht mehr läuft. Aber ich denke, es ist Zeit für die Schule.“
„Ich mag nicht“, maulte Sandy.
Laurina nahm sie in den Arm. „Hab keine Angst“, tröstete sie ihre Schwester. „Dir wird keiner was antun. Ich beschütze dich.“
Sandy wischte sich eine Träne aus ihren Augen. „Du bist auch nicht immer da“, sagte sie leise.
„Hab keine Angst“, wiederholte Laurina.
Die Mädchen zogen sich dann ihre einzigen dicken Jacken an, die sie hatten. Ihnen war kalt, und das konnte man ihnen ansehen. Ihre durchlöcherten Hosen sahen staubig aus und verbraucht, aber sie hatten ja nichts Anderes, und zum Waschen hatten sie auch nichts.
Langsam verließen sie dann das Haus und liefen die Straße herunter.
Als sie an einem kleinen Spielwarenladen vorbei kamen, blieb Sandy stehen.
„Teddy“, hauchte sie leise, als sie im Schaufenster einen kleinen braunen Teddy sah, der ein Shirt mit der Aufschrift „My little darling“ trug.
Laurina weinte leise eine Träne. Zu gerne hätte sie Sandy diesen Wunsch erfüllt, aber der Teddy kostete viel zu viel. Laurina wusste, dass sie es im Leben nicht zusammenkriegen würde. Aber sie brachte es nicht übers Herz, Sandy zu sagen, dass sie den Teddy nicht bekommen könnte.
Die Mädchen ahnten nicht, dass John aus Laurinas Klasse sie beobachtete. Heimlich stand er hinter der Wand und sah den beiden Mädchen zu, wobei er sich bemühte, nicht von ihnen entdeckt zu werden.
Als Laurina und Sandy an der Schule ankamen, wurden sie schon von ein paar Kindern erwartet.
„Seht“, sagte ein Junge. „Da kommen die armen Dreckschleudern“
„Na, habt ihr eure Sachen wieder nicht gewaschen?“, meinte ein anderer Junge.
Und dann stieß er Laurina auf den Boden. Wehrlos blieb sie liegen.
Ein dritter Junge kam dann und trat Laurina in die Rippen.
„Sandy, lauf!“, schluchzte Laurina.
Und Sandy rannte in das Gebäude hinein.
Vier oder fünf Kinder traten Laurina immer weiter, spuckten auf sie und traten sie wieder.
Laurina weinte.
Ein Junge schlug ihr dann ins Gesicht.
„Verdammtes Protestantenpack“, sagte er. „Mein Vater war gestern in der Kneipe. Er weiß, dass dein Vater Protestant war. Du bist so dreckig und so schlecht und gottlos.“
Wieder trat er sie und spuckte ihr direkt ins Gesicht.
„Dein Vater war ein verdammtes Protestantenschwein“, schimpfte er. „Deiner Mutter hätte nichts Besseres passieren können als dass er stirbt.“
Laurina weinte stärker. Sie lag am Boden und konnte sich nicht wehren. Mehrere Jungs hielten sie fest, während der eine Junge immer wieder auf sie eintrat. Vor Schmerzen gekrümmt lag sie auf dem Boden und konnte sich nicht wehren.
Als die Schulglocke klingelte, ließen die Kinder endlich von ihr ab und gingen davon.
Laurina konnte nicht aufstehen. Sie hatte überall Schmerzen, im Bauch, an den Beinen, an den Armen. Sachte versuchte sie, sich mit einem Arm abzustützen, aber es gelang ihr nicht.
Als sie eine Viertelstunde da lag – die Schule hatte längst schon begonnen – kam ein Lehrer heraus.
„Du meine Güte“, sagte er. „Was ist passiert?“
Er hob Laurina auf, und sie setzte sich in die Hocke, so gut sie konnte. Sanft wischte sie sich Tränen aus ihrem Gesicht.
„Ich… ich bin hingefallen…“, log sie.
„Du hast überall blaue Flecken“, sagte der Lehrer. „Das kommt nicht vom Hinfallen. Wer hat dich so zugerichtet?“
Laurina sagte nichts.
„Wie ist dein Name?“, wollte der Lehrer dann wissen.
„Laurina“, sagte Laurina dann ganz leise.
Der Lehrer nahm Laurina dann erst einmal mit ins Büro. Dann holte er sich die Akten und sah sie durch.
„Hier steht, dass du und deine Schwester in der Blackwood Road wohnen, zusammen mit eurer allein erziehenden Mutter.“
Laurina nickte.
„Weswegen gab es heute Morgen Probleme?“, wollte der Lehrer wissen.
Laurina weinte leise.
„Laurina, wir können dir nicht helfen, wenn du uns nichts erzählst“, bekräftigte der Lehrer.
Aber Laurina konnte nichts sagen.
„Nun gut“, sagte der Lehrer. „Ich werde veranlassen, dass jemand deine Mutter aufsucht.“ Er stand auf. „Ihr müsst wenigstens ordentliche Kleidung tragen.“ Er beugte sich zu ihr herunter. „Ich kann verstehen, dass es nicht schön ist, wenn euch Klassenkameraden wegen eurer offensichtlichen Missstände hänseln. Aber dies ist umso mehr ein Grund für uns zu intervenieren. Offenbar ist eure Mutter nicht in der Lage, sich um euch zu kümmern.“
„Ich will nicht weg von zu Hause“, heulte Laurina. „Bitte trennen Sie mich nicht von Sandy.“
„Es ist ja nicht gesagt, dass euch jemand von zu Hause wegholt.“ Der Lehrer setzte sich wieder. „Aber wir müssen mit deiner Mutter reden, damit wir einen Weg finden, euch zu helfen.“
Laurina schüttelte den Kopf.
„Gehe jetzt in deine Klasse“, sagte der Lehrer.
Und Laurina ging aus dem Büro heraus, langsamen Schrittes.
In der Mittagspause eilte Laurina schnell zu Sandys Klasse, um sie abzufangen. Als Sandy heraus kam, sah Laurina, dass sie in die Hose gemacht haben musste. An ihrem Schritt war ein deutlicher Fleck zu sehen.
„Oh, nein, Sandy…“, sagte Laurina leise, während sie ihre kleine Schwester an die Hand nahm. Zusammen gingen sie in Richtung Toilette.
Laurina versuchte dann, so gut es ging, den Fleck abzuwaschen, aber je mehr sie es versuchte, desto deutlicher wurde er.
„Was ist geschehen?“, fragte Laurina Sandy.
„Ich musste in die Ecke und durfte nicht aufs Klo“, schluchzte Sandy. „Sie haben mich Protestantenschwein genannt, und die Lehrerin hat mich in die Ecke gestellt.“
„Sandy… das tut mir so leid…“, hauchte Laurina leise.
„Ich hab Hunger“, maulte Sandy dann.
Laurina wusste, dass die Mädchen heute nichts bekommen würden, denn die Frist für die Anmeldung ist ja abgelaufen, und Josephine hatte es ja versäumt, die beiden Mädchen zum Essen anzumelden.
Langsam gingen sie in eine hintere Ecke von Schulhof, wo sie warten wollten, bis es wieder klingelt.
Laurina und Sandy versteckten sich hinter einem Baum. Laurina hielt Sandy fest im Arm, hilflos wie sie schien, und merkte nicht mal, dass plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter lag.
„Laurina“, sagte ein etwa zwölfjähriger Junge dann zu ihr.
Laurina drehte sich zaghaft um… und sah dann in die Augen ihres Klassenkameraden John.
„Ich habe zwei Pausenbrote“, sagte John leise, worauf er Laurina eine kleine Brotdose gab.
Laurina sah ihn traurig an.
Wortlos nahm sie die Brotdose entgegen. Dann gab sie ein Brot an Sandy und aß das andere.
„Ich bin nicht gegen euch“, sagte John leise. „Mir ist es egal, ob ihr Protestanten seid oder Katholiken.“ Er sah den Mädchen zu, wie sie aßen. „Tut mir so leid, dass ihr so arm seid“, sagte er dann.
Laurina weinte leise.
„Komm bitte mal kurz mit, Laurina“, sagte John dann leise, als Laurina fertig gegessen hatte.
Und dann zog John Laurina in eine Ecke, wo Sandy sie nicht sehen konnte.
„Ich habe euch heute Morgen vor dem Spielwarenladen gesehen“, erklärte John. „Ich habe gesehen, wie sehr sich Sandy diesen Teddy wünschte.“
Und dann gab er ihr ein kleines Päckchen.
„Hier“, sagte er. „Schenke ihn Sandy zu Weihnachten. Ich habe mein Taschengeld dafür ausgegeben. Aber ich habe das gerne gemacht.“
Laurina nahm das Päckchen und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
„Ist schon gut, Laurina…“, versuchte John sie zu trösten.
„Du verstehst nicht“, flüsterte Laurina leise. „Sie hat ihn sich so gewünscht… ich hatte es ihr versprochen… ich weiß nicht, wie ich dir danken soll…“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und schenkte John daraufhin ein zaghaftes, dankbares Lächeln.
Und John nahm Laurina in den Arm. Dann gingen sie zurück zu Sandy, nachdem Laurina das Päckchen in ihrer Schultasche verstaut hatte.
Am Nachmittag versuchten Laurina und Sandy sich an den anderen Schülern vorbei zu schleichen… aber drei Jungs fingen die Mädchen ab.
„Pack!“, rief der eine Junge, der Laurina heute Morgen schon so getriezt hatte.
Laurina stellte sich schützend vor Sandy.
Und der Junge kam auf sie zu, aber dann fuhr auf einmal ein schwarzes Auto vor, und ein fremder, gut gekleideter Mann stieg aus.
„Lasst die Mädchen in Ruhe“, rief er.
Und zugleich rannten die Jungs davon.
Der Mann wandte sich dann Laurina und Sandy zu.
„Seid ihr Laurina und Sandy?“
Laurina nickte.
„Ich bin Mr. McLeod“, stellte sich der Mann vor. „Ich komme vom Jugendamt. Eure Mutter ist im Krankenhaus.“
Laurina stockte der Atem.
„Es ist nichts Schlimmes“, erklärte McLeod sofort. „Ihr müsst keine Sorge haben. Sie ist nur etwas schwach auf den Rippen derzeit, und im Krankenhaus kümmern sie sich um sie.“ Er setzte sich mit Laurina und Sandy auf eine Bank in der Nähe.
„Ich habe dafür gesorgt, dass ihr zusammen in einer Familie unterkommt“, erläuterte er dann. „Es ist nur vorübergehend. Aber dort werdet ihr erst einmal in sicherer Hand sein.“
Laurina hielt Sandy ganz fest im Arm.
„Ich will nicht weg von Mommy“, sagte Sandy daraufhin traurig.
„Es ist zu eurem Besten“, erklärte McLeod. „Die Verhältnisse, in denen ihr lebt, sind untragbar.“
„Was wird aus Mom?“, hakte Laurina dann nach.
„Man kümmert sich um sie“, sagte McLeod. „Aber es ist jetzt erst einmal das Wichtigste, dass ihr sicher untergebracht werdet.“ Er stand auf. „Kommt. Ich bringe euch jetzt in euer neues Zuhause.“
Zitternd stand Laurina auf und nahm Sandy an die Hand, bevor sie zum Auto gingen und einstiegen.
In den Schneewehen, die am Nachmittag aufkamen, fuhr der schwarze Wagen dann davon.
Das Haus war nicht sehr groß. Es sah alt aus, und es war dreckig an vielen Stellen, wie man von außen sehen konnte. So sehr sie Angst hatten, weil sie nicht mehr bei ihrer Mutter waren, so sehr verstärkte sich die Angst noch mehr, als das Auto schließlich vor dem Haus hielt und ein Mann und eine Frau in dunkler Kleidung herauskamen, die sehr ernst schauten.
Laurina hielt Sandys Hand ganz fest, als die Türe des Autos von außen aufgemacht wurde.
„Kommt raus“, sagte der Mann.
Laurina und Sandy verließen zögernd das Auto, und dann bekamen sie vor lauter Schockzustand nicht mit, wie der Sozialarbeiter noch mit dem Mann redete. Und bald darauf fuhr er davon und ließ die beiden Mädchen hier.
„Ihr bekommt hier zu Essen, und eine Heizung haben wir auch“, meinte die Frau dann.
„Ihr seht dreckig aus“, ergänzte der Mann dann. „Ihr werdet ein Bad nehmen, und in der Zwischenzeit suchen wir für euch Sachen zum Anziehen heraus.“
Stumm folgten Laurina und Sandy dem Mann dann in das obere Stockwerk, wo das Badezimmer war.
„Türe abschließen ist nicht“, sagte der offenbar strenge Mann. „Lasst euch das Wasser selbst ein.“
Dann verließ er den Raum.
„Laurina, es gefällt mir hier nicht“, stellte Sandy klar, als die beiden Mädchen dann splitternackt in der Wanne lagen.
„Ich weiß“, flüsterte Laurina. „Das sind komische Leute.“
„Was ist, wenn wir hier bleiben müssen? Was ist, wenn wir nicht zurück zu Mom können.“ Sandy wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
„Wir werden zu ihr zurück gehen“, versprach Laurina dann. „Sobald wir können.“
„Aber dieses Bad tut gut“, stellte Sandy fest. „Ich habe schon vergessen, wie es ist, sauber zu sein… zu duften nach… was ist hier eigentlich drin?“
Laurina schnaufte. „Würde mich nicht wundern, wenn es Essigessenz wäre.“
„Laurina“, stammelte Sandy schließlich nach Minuten. „Wie geht es jetzt weiter?“
Laurina schüttelte ihren Kopf. „Ich weiß es nicht“, sagte sie.
„Was ist das hier?“, fragte Sandy. „Ist das so eine Art Kinderheim?“
„Glaube ich nicht“, sagte Laurina schließlich. „Dann wären ja noch andere Kinder hier.“
Kaum, dass Laurina das gesagt hatte, ging die Türe vom Badezimmer auf, und ein Mädchen von vielleicht 16 oder 17 Jahren mit langen blonden Haaren im Nachthemd gekleidet kam herein.
„Hee!“, machte Laurina, die sich sofort schützend vor Sandy warf.
„Schnauze!“, brüllte das fremde Mädchen.
Sie stellte sich dann vor den Spiegel und begann sich zu schminken ohne Rücksicht auf die in der Wanne liegenden Mädchen.
„Wir sind am Baden“, meinte Laurina etwas schüchtern.
„Interessiert mich nicht“, sagte das Mädchen, ohne ihr einen Blick zu würdigen.
„Wer bist du?“, fragte Laurina schließlich, als sie aus der Wanne stieg und sich ein Handtuch umband.
„Der Chef hier im Haus“, antwortete das fremde Mädchen, während sie ihre gewellten Haare kämmte.
„Wir… wir wussten nicht, dass noch andere hier leben…“, sagte Laurina verwundert. Sie packte Sandy hoch und legte ihr ebenfalls ein Handtuch um.
Dann drehte das fremde Mädchen sich um.
„Hört zu“, begann sie. „Ihr seid die Neuen im Haus, hab ich Recht?“
Laurina nickte.
Das fremde Mädchen musterte Laurina und ihre Schwester von oben bis unten. „Könnte mit dir was werden“, sagte sie zu Laurina. „Aber die da ist noch zu klein.“ Sie kam näher zu Laurina heran. „Also – ich bin die Älteste hier. Außer mir leben noch drei andere Kinder hier, ein Junge und zwei Mädchen. Sie müssten bald nach Hause kommen, sind noch Geschäfte am Machen. Und hier gilt ein Gesetz: Was Angelina sagt, das wird getan und befolgt. Und nichts anderes.“
„Wer ist Angelina?“, wollte Laurina dann wissen.
Das fremde Mädchen sah Laurina fassungslos an. „Ja, spinn ich? Wie blöd bist du? Hab ich dir nicht gerade gesagt, wer hier Chef ist?“
„Und… was ist mit den Eltern?“
Angelina lachte. „Eltern? Hahaha… die füttern uns bloß. Sind den ganzen Tag weg und haben mir die Aufsicht übertragen.“ Sie grinste. „Man darf sich nur nicht erwischen lassen. Frag Joshua, Kelly und Molly.“
Laurina schnaufte laut aus.
„Das sind die anderen Kinder, die hier noch wohnen“, erläuterte Angelina. „Joshua ist 15, gut zu gebrauchen, hat gute Connections. Kelly ist 13 und eigentlich auch schon ganz fit. Sie leistet Dienste.“
„Was meinst du damit?“, wollte Laurina in Erfahrung bringen.
Angelina sah Laurina an. „Könntest du auch machen, das gibt einen guten Nebenverdienst.“
„Und… Molly?“, fragte Laurina.
„Die ist nur still“, sagte Angelina. „Sie ist mit neun Jahren die Jüngste. Sie sagt keinen Ton. Ab und zu benutze ich sie als Kurier, ist ideal, weil sie nicht redet.“
Laurina sah Angelina fragend an. „Als Kurier für was?“
„Hahaha…“, lachte Angelina. „Für Waschmittelpulver, weißt du?“
Laurina zuckte mit den Schultern. „Ah, so“, machte sie.
„Wie alt seid ihr?“, wollte Angelina dann wissen.
„Ich bin elf“, sagte Laurina. „Sandy ist sieben.“
„Oh… Nesthäkchen“, machte Angelina abwertend.
Daraufhin zog Angelina sich das Nachthemd aus und streifte eine Jeans und ein T-Shirt drüber. Anschließend zog sie sich einen Pullover an.
„Wisst ihr, die Hearts sind eigentlich ganz okay“, erklärte das blonde Mädchen. „Haben ihren Namen zwar nicht verdient, aber sie lassen uns in Ruhe. Wir haben hier jeden Tag eine warme Mahlzeit, wir haben warmes Wasser und was zum Anziehen. Was wir sonst noch wollen, müssen wir uns verdienen.“
„Verdienen?“, fragte Laurina.
„Komm, geh mir nicht auf die Nerven“, maulte Angelina dann, und kurz darauf verließ sie das Badezimmer.
„Das ist ein ganz komisches Mädchen“, überlegte Sandy flüsternd.
Laurina nickte. „Ich weiß“, ergänzte sie.
Laurina nahm Sandy dann bei der Hand, und sie wanderten den Flur entlang in das Zimmer, welches für die beiden Mädchen bestimmt war.
„Sieh mal“, machte Sandy dann, als sie frische Anziehsachen auf den Betten entdeckte.
„Was Frisches zum Anziehen“, stieß es aus Laurina heraus.
Eilig zogen sich die beiden Mädchen die Hosen, T-Shirts und Pullover an, vor allem, weil sie Angst hatten, dass jemand käme und ihnen die Sachen wegnahm.
Sandy hob einen Ärmel und hielt ihn sich an die Nase. Dann roch sie den frischen Weichspülerduft, den das Kleidungsstück ausstrahlte.
„Das riecht gut“, machte sie leise.
„Mir gefällt es hier trotzdem nicht“, dachte Laurina nach.
„Ich vermisse Mom“, flüsterte Sandy, während sie sich eine Träne aus dem Gesicht wischte.
Plötzlich hörten die Mädchen ein Poltern aus dem Erdgeschoss.
Leise schlichen sie sich zur Treppe und setzten sich dann auf die oberste Stufe. Hier schienen sie nicht zu sehen zu sein, aber sie konnten den Flur vor der Haustüre gut beobachten.
Die Türe stand offen. Angelina stand da mit einem jungen Mann, der einen Dreitagebart trug. Er hatte ein Päckchen, offenbar mit weißem Pulver, in der Hand.
„Hundertfünfzig war ausgemacht“, fluchte Angelina. „Das ist reines Zeug.“
„Wie soll ich das wissen?“, meinte der Mann. „Meine Kunden sind sehr anspruchsvoll, wollen nur das beste Zeug. Woher hast du es?“
„Das binde ich dir gerade auf die Nase“, meinte Angelina störrisch.
Dann packte der Mann Angelina am Kragen und schüttelte sie durch. „Ich will nicht ungemütlich werden. Also, woher ist es?“
„Aus dem Ghetto“, sagte Angelina ängstlich.
Daraufhin schlug der Mann Angelina ins Gesicht.
„Fick dich und deinen Stoff“, sagte er. „Wenn du mit mir Geschäfte machen willst, musst du mir schon was Besseres bieten.“
„Aber… es ist gutes Zeug.“ Angelina versuchte, sich zu befreien. Als es ihr gelang, sah der Mann sie ernst an.
„Aus dem Ghetto“, sagte er dann.
„Ich habe dort Freunde“, sagte Angelina. „Sie besorgen dir alles, was du willst. Zu guten Konditionen.“
Der Mann sah sie mit einem fordernden Blick an. „Was hast du anzubieten?“
Und Angelina schnaufte aus. „Hier gibt’s zwei Neuzugänge“, erklärte sie. „Die Kleine ist zu jung, aber die Ältere könnte was für deinen Kumpel sein.“
„Für meinen Kumpel?“, wiederholte der Mann.
„Der, von dem du mir erzählt hast“, erinnerte ihn Angelina. „Ich könnte was klar machen.“ Sie sah ihn an. „Vergiss die Drogen. Gib mir die Hundertfünfzig, und ich mache für deinen Kumpel etwas klar.“ Sie sah ihn ernst an. „Komm schon, du weißt, er zahlt locker das Dreifache.“ Angelina streifte sich durch die Haare.
„Wer ist sie?“, richtete der Mann seine Frage an Angelina, nachdem ihm klar wurde, was sie meinte.
„Sie ist 11, sieht aber jünger aus“, erklärte Angelina. „Aber für die Session ist sie total geeignet. Ich habe sie nackt gesehen.“
„Gut“, meinte der Fremde. „Könnte meinem Kumpel gefallen. Du weißt ja, worauf er steht, und Kelly wird ihm langsam zu langweilig.“
Schließlich gab der Mann ihr das Geld.
„Geht doch“, meinte Angelina. „Morgen im Ghetto. Vier Uhr nachmittags. Und dein Kumpel soll pünktlich sein.“
Sie schubste den Mann dann aus dem Haus und machte die Haustüre zu.
Als sie zur Treppe sah… sah sie, dass Laurina und Sandy dort saßen.
„He, ihr Beiden“, lächelte Angelina.
Laurina hatte eigentlich erwartet, dass Angelina sauer ist. Aber das schien sie nicht zu sein.
„Habt ihr irgendwas gehört oder gesehen?“, sagte sie zu ihnen.
Laurina und Sandy schüttelten ängstlich den Kopf, während Angelina zu ihnen hoch kam.
„Nun gut“, sagte Angelina. „Wir drei werden morgen einen kleinen Ausflug machen.“
„Ich will nicht“, schimpfte Sandy.
„Klappe!“, sagte Angelina wütend. „Ihr kommt morgen mit mir, und damit basta.“
„Wo… wo sollen wir hin?“, wollte Laurina wissen.
„Das werdet ihr morgen sehen“, sagte sie dann. „Und wenn ihr – vor allem du, Laurina, brav mitmacht, könnt ihr euch ein kleines Taschengeld verdienen.“
Dann stapfte Angelina in die Küche, die an den Flurbereich im Erdgeschoss grenzte.
Laurina und Sandy gingen dann in ihr Zimmer… und sahen plötzlich ein kleines, etwa neunjähriges Mädchen auf Sandys Bett sitzen.
„Laurina, wer ist die?“, wollte Sandy wissen.
Laurina ging zu dem Mädchen. „Du bist bestimmt Molly“, sagte sie.
Und das Mädchen sah sie an. Zaghaft nickte sie.
„Hast du dich im Zimmer geirrt?“, fragte Laurina.
Das Mädchen schüttelte ihren Kopf.
„Du kannst nicht reden, stimmt’s?“
Das Mädchen nickte fast unsichtbar.
„Kleine… kleine…“, flüsterte sie ganz leise.
Sandy setzte sich zu ihr. „Wenn du willst, kannst du heute Nacht in meinem Bett schlafen“, sagte sie zu dem Kind. „Ist genug Platz für uns beide.“
„Nicht gehen…“, hauchte das Mädchen. „Molly nicht gehen…“
„Wir gehen nicht weg, Molly“, versuchte Laurina das Mädchen zu trösten.
Sie wussten ja nicht, was Molly meinte. Sie wussten ja nicht, dass Molly sie eindringlich warnen wollte, morgen mit Angelina mitzugehen.
Und Molly sah Laurina und Sandy mit großen Augen an, aber sie brachte keinen weiteren Ton heraus.
Wenig später klingelte eine Glocke.
„Das muss das Signal zum Abendessen sein“, dachte Laurina nach. „Komm, gehen wir.“
„Ich hab Angst, Laurina“, stammelte Sandy.
„Ich bin doch bei dir“, sagte Laurina. „Ich beschütze dich.“
Als die Mädchen zur Türe raus wollten, stand Angelina plötzlich vor ihnen.
„Hört zu“, sagte sie dann streng. „Wenn ihr auch nur ein Sterbenswörtchen von dem sagt, was ihr vorhin vielleicht gesehen habt, dann komme ich heute Nacht und schnüre euch im Schlaf die Kehle ab. Habt ihr verstanden?“
Sandy und Laurina zitterten.
Und Angelina gab Laurina daraufhin eine dicke Backpfeife. Sofort stellte sich Laurina schützend vor Sandy. Für den Fall, dass Angelina sie auch schlagen wollte.
„Habt ihr verstanden?“, wiederholte Angelina. „Ihr habt nichts gesehen.“
Laurina nickte.
Beim Essen durfte nicht geredet werden. Mr. und Mrs. Heart saßen nur stumm da und schauten während dem Essen alle Kinder mahnend an.
Gerne hätte Laurina mit Joshua und Kelly gesprochen, die sie heute kennen lernte. Joshua machte einen wenig ängstlichen Eindruck, Kelly schon eher.
„Nun“, sagte Mr. Heart. „Wie war der Nachmittag?“ Er sah Laurina an. „Habt ihr euch eingelebt?“
Laurina sagte nichts und sah ihren Pflegevater nur mit großen Augen an.
„Ihr werdet das tun, was Angelina sagt“, erklärte er dann. „Solange wir weg sind, hat sie hier die Aufsicht. Verstanden?“
Laurina nickte.
„Wie lief es heute, Angelina?“, fragte die Pflegemutter.
Angelina schnaufte genervt aus. „Ganz gut“, sagte sie. „Ich hab den beiden Neuen ihr Zimmer gezeigt. Morgen werde ich mit ihnen einen Ausflug in die Stadt machen.“ Sie sah Laurina und Sandy streng an. „Stimmt’s? Ihr freut euch schon sehr darauf.“
Laurina zitterte. Wie gerne hätte sie jetzt geschrieen. Wie gerne hätte sie dem Pflegevater jetzt gesagt, dass Angelina sie bedroht hatte. Wie gerne hätte sie jetzt gesagt, dass sie und Sandy Angst hatten.
Aber sie sagte nichts.
„Lass sie nicht aus den Augen, wenn du mit ihnen losgehst“, ermahnte Mr. Heart Angelina. „Wir haben viel Geld für die beiden Pflegefälle bekommen.“
„Ist gut“, schnaufte Angelina genervt aus. „Ich pass auf.“
Und sie warf Laurina und Sandy einen strengen Seitenblick zu.
„Schlafenszeit“, ermahnte der Pflegevater alle Kinder. „Alle außer Angelina gehen jetzt in die Federn.“
Der Mond schien hell in das dunkle aber warme Zimmer, in dem Laurina und Sandy lagen. Eng umschlungen lagen sie unter der Bettdecke und kuschelten sich aneinander.
„Laurina?“, fragte Sandy dann nach gefühlten Stunden.
„Ja?“
„Wann können wir wieder nach Hause?“
„Ich weiß es nicht…“, antwortete Laurina. „Ich weiß es nicht…“
Laurina zitterte.
Es war ihr nicht kalt. Sie bebte nur vor Angst, während sie ihren Blick im matt-dunklen Raum nicht von ihrer Schwester Sandy wandte. Ab und an schimmerte der winterliche Mondschein durch die Gardinen hindurch und ließ Sandys Gesicht aufblitzen.
Laurina merkte, dass Sandy noch schlief. Da sie nicht wusste, wie viel Uhr es war, krabbelte sie dann vorsichtig aus ihrem Bett heraus und lief leise zu der Türe ihres Zimmers.