Drei Erzählungen - Ricarda Huch - E-Book

Drei Erzählungen E-Book

Ricarda Huch

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Beschreibung

In dem Band "Drei Erzählungen" veröffentlichte Ricarda Huch 1897 drei ihrer Frühwerke im Bereich der Belletristik. Es handelt sich dabei um die Schriften "Der Mondreigen von Schlaraffis", "Teufeleien" und "Haduvig im Kreuzgang."

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Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Drei Erzählungen

 

RICARDA HUCH

 

 

 

 

 

 

 

Drei Erzählungen, Ricarda Huch

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783988681607

 

Der Text folgt dem Buch "Erzählungen" (1922), erschienen im Haessel Verlag Leipzig, abrufbar unter https://archive.org/details/erzhlungen02huch/page/8/mode/2up

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Haduvig im Kreuzgang. 1

Der Mondreigen von Schlaraffis.31

Teufeleien. 71

Lügenmärchen. 106

 

Haduvig im Kreuzgang

 

Haduvig Sturm war ein Sonntagskind. Dies war die Ursache, dass ihr die allerseltsamsten Zufälle zu begegnen pflegten, solche, die sich dem vernünftigen, ursächlichen Zusammenhang der sichtbaren Welt in keinerlei Weise einfügen lassen. Sie brauchte nur nachts aus dem Fenster zu sehen, und sie ertappte den uralten Glockenturm der Emmerichskirche auf einem einsamen Tänzlein im altmodisch schleifenden Walzerschritt, wobei er den goldfarbigen Mondschein wie ein Ballkleid um seinen verwitterten Leib gehängt hatte. Oder sie erblickte einen der unterirdischen Zwerge im Kies des Promenadenweges suchen und zuweilen ein gefundenes, langes Frauenhaar prüfend in die Höhe halten, ob es auch ein blondes sei, denn solche stehen bei den Zwergen im Ruf besonderer Heilkraft.

Sogar am hellen Tage, wenn Haduvig zur Schule ging, drängten sich ihrer Beobachtung die erstaunlichsten Vorgänge auf, wie sie denn einmal deutlich das anmutige Rundgesicht eines jungen Kätzchens sich vor ihren Augen verwandeln sah, bis es das Antlitz einer verstorbenen Kameradin darstellte, welche sie schelmisch und wehmütig zugleich ansah.

Alle diese Dinge fanden wegen ihrer offenbaren Unzweckmäßigkeit wenig Glauben bei den meisten Leuten, denen Haduvig sie vortrug, obgleich ihre braunen Augen sich im Erzählen vor Ernst und Eifer verdunkelten und ein unverkennbares Spiegelbild innerer Unschuld und Aufrichtigkeit in die zweifelstolze Welt strahlten. Wenigstens hatte das die Wirkung, dass die Leute sich in aller Milde begnügten, Haduvig für ein merkwürdiges und phantastisches Mädchen zu erklären, auch wohl einmal wohlwollende Neugierde an den Tag zu legen, welchen Grad von Tauglichkeit diese Geistesbeschaffenheit später bei näherer Berührung mit der kalten, rauen Welt ausweisen würde.

Während ferner Stehende denselben für unendlich gering hielten und das Kind infolgedessen mit erbarmungsvoller Nachsicht behandelten, wie einen von überstrengen Richtern zum Galgen verurteilten Taugenichts, sahen die Eltern Sturm voll behäbiger Hoffnung in die Zukunft, in der Meinung befangen, der Himmel müsse, wie sie selbst, ein ganz besonderes Vergnügen an dem zierlichen Geschöpfchen Haduvig haben.

Ihre Zuversicht erwies sich zuerst nicht als trügerisch. In der Schule fand Haduvig ein gutes Fortkommen trotz mannigfachen Tadels wegen Flüchtigkeit, zerstreuten Wesens und einer mit Lachen verbundenen unzeitgemäßen Zufriedenheit während der Schulstunden. Denn abgesehen von diesem nicht ganz vorwurfsfreien Wandel hatten die Antworten, welche Haduvig gab, und die Arbeiten, die sie ablieferte, das Gepräge eindringlichen Verständnisses, und es gab Lehrer, die das kleine Wesen insgeheim für gescheiter hielten als sich selbst, was sie sich nur deswegen zugestanden, weil die derartig monströs angelegte Person dem sonst so benachteiligten weiblichen Geschlechte angehörte.

Vor allem war es der Rechenlehrer, Herr Mathias Bumper, welcher dem geistigen Vermögen seiner Schülerin Haduvig den allerhöchsten Wert beimaß. Herr Bumper war übermäßig mit Phantasie begabt, deren er zum Rechnen wenig oder gar nicht benötigte. Sie verkümmerte aber nicht etwa infolge mangelnden Gebrauchtwerdens, wie irdische und erlernte Fähigkeiten wohl tun, sondern die Trägheit bekam ihrer göttlichen Natur wohl und sie zappelte beständig wie ein kräftig entwickeltes Kind in der Wiege, welches auf die Beinchen gestellt zu werden verlangt, um sein Glück in der echt menschlichen Gepflogenheit des Aufrechtschreitens zu versuchen. Auf Grund seiner Phantasie gewann Herr Bumper ein wundervolles Verhältnis zu Haduvig, obgleich sie in seiner amtlichen Wissenschaft, dem Rechnen, nur sprunghafte und eigentlich unbewusste Verdienste für sich hatte. Nämlich im Kopfrechnen blieb Haduvig auf einer wahrhaft kindlichen Zehnerstufe stehen, was zum Teil daher rührte, dass ihr eine so lange Zeit, wie das Verfahren mit mehrstelligen Zahlen beanspruchte, selten ohne den artigsten Einfall oder eine Erinnerung aus ihrem abenteuerlichen Leben verstrich, welche sie dann weit ab von dem steinigen Acker der öden Zahl in liebliche Sommergärten voll Paradiesvögel und unmöglicher Blumen führte. Konnte sie deshalb auch Herrn Bumper selten mit dem bescheidenen Selbstbewusstsein, das eine richtige Lösung verleiht, gegenübertreten, so sah sie ihn anstatt dessen so unschuldsvoll und verwundert an, wenn er seine breite Erdengestalt plötzlich fragend mitten zwischen ihre schwebenden Gärten schob, dass er in ihren Mienen noch die Trümmer des Traums zu erkennen glaubte, den er soeben zerstört hatte. Und diese Trümmer kamen ihm oft so wunderbar und schön vor, dass er das Verdienst, sie aufgebaut zu haben, höher anschlug, als die Unfähigkeit, ein Rechenexempel zu lösen, was ihm selbst schmählich einfach und selbstverständlich erschien.

Rechnete Haduvig auf der Tafel und später auf dem Papier, so geschah es häufig genug, dass die krauser gestalteten Ziffern verfängliche Dämonengesichter annahmen und die rechnende Haduvig von ihrer ernsten und tugendhaften Beschäftigung hinweg auf allerhand vorgespiegelte Irrwege lockten, um sie hernach grinsend zu verhöhnen.

Diesen Misserfolgen gegenüber nahm es sich prächtig und eindrucksvoll aus, wenn Haduvig plötzlich, ohne ersichtliche Ursache, ein besonders schwieriges Exempel mit spielender Beherrschung aller Regeln löste, worüber sie selber am meisten erstaunt zu sein pflegte. Es waren dies eigentlich nur glückhafte Ausnahmefälle, aber Herr Bumper betrachtete gerade das in solchen Leistungen geoffenbarte Können als den Normalzustand Haduvigs, den sie nur zuweilen verließe, um hohen Idealen nachzufliegen.

Hausaufgaben löste das seltene Mädchen oft in musterhafter Weise. Sprach Herr Bumper dann seine Anerkennung in freudig bewegten Worten aus, so hörte sie anfangs mit halb geöffneten, erwartungsvoll zitternden Lippen zu, um am Ende in ein klingendes Schelmengelächter auszubrechen und zu sagen: "Vetter Fritz hat es alles für mich gemacht!" was Herr Bumper teils reizend genialisch fand, teils nicht glaubte, sondern für ein Schillern des in tausend Brechungen geschliffenen Geistes seiner begabten Schülerin hielt.

Hingegen rechnete Vetter Fritz in Wahrheit oft Haduvigs Aufgaben, obgleich er solche Unterstützung der Faulheit grundsätzlich missbilligte. Er ließ sich nur dazu herbei, weil Haduvig ein Mädchen war, und noch dazu ein quirliges und flunkerhaftes, aus dem etwas Gründliches doch nicht werden konnte.

Er selbst widmete sich am Polytechnikum der Mathematik, Mechanik, Statik, überhaupt allen Wissenschaften, an denen ein Architekt sich heranbilden muss. Er hatte starre, blonde Haare und ruhige, graue Augen, die eigens für das Baufach geschaffen zu sein schienen, so berechnend, abwägend, durchdringend und anschauungsvoll zugleich sahen sie aus. Alte seine Gesichtszüge stimmten so zueinander, dass die Gesamtwirkung einer schlichten Harmonie gleichkam, die dem Beschauer ruhige Zufriedenheit einflößt, beruhigt, aber nicht beschäftigt. Er hatte im Äußeren etwas Griechisches, näher bestimmt Dorisches.

Haduvig betrachtete dies Gesicht häufig misstrauisch von der Seite und bemühte sich gering davon zu denken, was ihr nicht zu allen Zeiten gleich mäßig gut, im Ganzen aber doch mit achtbarem Erfolg gelang.

Merkwürdigerweise hatte sie eine Neigung, gerade dem Vetter Fritz ihre geheimnisvollen Beobachtungen und Erlebnisse mitzuteilen, obwohl in seinen durchsichtig klaren, grauen Augen nicht das mindeste Verständnis dafür wahrzunehmen war. Aber sein kühles Befremden und sein gelegentlicher Unwille lockten ihr Zutrauen mehr hervor, als die Neugierde der Leute, die auch einmal etwas hatten läuten Horen von den merkwürdigen Dingen zwischen Himmel und Erde und dabei doch vor lauter Unkenntnis die Geister der Abgeschiedenen und die ursprünglichen Naturgeister ganz arglos miteinander verwechselten, die vom Vor- und Nachleben der Tiere nur die ungenügendsten Vorstellungen hatten und, was das Abgeschmackteste und Unerträglichste war, beständig nach vernunftgemäßen Erklärungen der fabelhaften Dinge jagten, die sie sich doch so gern erzählen ließen.

Zu diesen gehörte Fritz Sturm nicht; er verwarf von vornherein alles, was sein Dasein nicht an der Hand mathematischer Zwangsgründe beweisen konnte. Alles andere hielt er für die Ausgeburt müssiger Köpfe, und zu diesen rechnete er seine Cousine sowieso.

Herr Mathias Bumper war einer jener wenigen Weisen, die ein vollkommenes und richtiges Verständnis für Haduvigs zweite Welt hatten, so dass er ihr oft das Ende einer begonnenen Geschichte von den Lippen ablesen konnte. So zum Beispiel erzählte sie ihm einmal, wie sie einer Steinfratze an einem Säulenkapitell des Kreuzganges zugenickt habe. "Und da nickte die Fratze und steckte die Zunge aus", vollendete Herr Bumper ruhig und mit einfachem Lächeln, als hätte sie gesagt: 2 mal 2, und er führe fort: macht vier.

Es war nämlich das Schulhaus der alten Stadt, wo Haduvigs Eltern als stattliche Bürgersleute lebten, an eine dem heiligen Emmerich geweihte Kirche angebaut. Vorzeiten hatte an die Kirche ein Mönchskloster gegrenzt, von dem noch ein anmutsvoller Kreuzgang Zeugnis ablegte. Derselbe hatte die reizende Eigentümlichkeit, dass eine jede seiner Säulen mit anderen Kapitälchen geziert war, so dass man aufs angenehmste unterhalten zwischen ihnen hindurch wandelte. Dazu waren sie nach der Weise jener kindlichen Zeit, in der das Kloster erbaut war, keineswegs in bedeutungsvoll kirchlichem Sinne geschmückt, vielmehr mit Drachen und Ungetümen, wilden Fratzen und höllischen, stacheligen Kräutern, kurz mit allerhand Getier, das lebendig Angst und Entsetzen erregt haben würde, dem aber seine steinerne Beschaffenheit die nötige Gemütlichkeit zum phantastischen Reiz hinzu verlieh. Der Kreuzgang bildete ein mäßig großes Viereck, das von dem grünen Klostergärtchen kühl und schattig ausgefüllt war.

Von der Sonne wurde es inmitten seiner hohen Mauern wenig besucht, aber gerade das stand ihm wohl an. Blühendes war nicht darin außer einigen blass roten Monatsrosen; im Übrigen sah man ein paar dunkle Zypressen mit fast immer unbewegten Wipfeln, und gerade in der Mitte befand sich ein unablässig plätschernder Brunnen. Die silberklare Wasserflut quoll aus dem Rachen eines gräulichen steinernen Lindwurms hervor, der über seine Absonderung von den anderen Ungetümen in eine bedrohliche, weltverschlingende Stimmung geraten zu sein schien.

Das Himmelsdach über diesem stillen Garten sah nicht wie der allgemeine, natürliche Welthimmel aus, sondern wie einzig über dies Stückchen Erde hingebogen und aus Milchglas hergestellt; zuweilen rückten, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, Wolkengebilde und Gestirne über die feste, wenig gewölbte Kuppel hin.

Aus dem Kreuzgang führte eine meist geschlossene, eherne Pforte in die Kirche, eine andere, hölzerne, in das Schulhaus. Diese diente einer lieblichen Einrichtung: in den Pausen strömte die ganze Schar der Mägdlein daraus hervor in den Kreuzgang hinein, um sich dort eine Viertelstunde lang von der erlittenen Bildung zu erholen und das jeweilig Erlernte durch Tanzen und Springen gehörig im Kopf herum zu rütteln, bis es sich verteilt hatte und keinen einseitigen Druck mehr ausübte.

Da erhob sich nun ein beispielloses Leben. Zwischen den unerschütterlichen Säulengreisen tanzten die feinen Geschöpfchen umher in blauen und roten Kleidern, lachten, zwitscherten und jubelten, dass es wie in einer Vogelhecke ertönte. Beim Haschenspiel wurde gewöhnlich eine Freisäule erwählt, welche allen, die sie umklammerten, unbedingten Schuh vor der Verfolgerin gewährte. Auf diese flogen die Gejagten zu, umschlangen sie mit ihren zierlichen Armen und pressten das glühende, lachende Gesicht dagegen.

Für gewöhnlich verriet keine Regung in den wilden Fratzen zu Häupten der Säule, ob sie spürten, wie die warmen Menschenherzen schnell und lustig an ihren Schaft schlugen. Einzig Haduvig wusste über den belebenden Erfolg dieser Einwirkung Bescheid: oft hatte ihr ein zähnefletschender Dämon mit ausgezackten Ohren schalkhaft zugeblinzelt, ja, als sie einmal von ihm abgewandt, hinter der Säule hervor nach ihren Gespielinnen auslugte, zupfte er sie an ihren schwarzbraunen Löckchen, obwohl nicht einzusehen war, wie, da er sich dem unbefangenen Beschauer als ein Kopf schlechthin, ohne Ausstattung mit Armen und Händen darstellte.

Besonders tapfere Mädchen wagten es in angeregter Stimmung ihre ängstlich zur Faust zusammengeballte Hand ein wenig in den zwanzigfach größeren Lindwurmrachen des Brunnens hineinzuschieben. Die persönlich Unbeteiligten sahen vorgebogenen Leibes erwartungsvoll zu, bis die Tollkühne ihre gefährdete Hand blitzschnell wieder zurückzog, noch ehe der Lindwurm hätte zuschnappen können, worauf dann alle mit ungeheurem Geschrei und Gelächter davonstürzten und im Gefühl, dem Verderben entronnen zu sein, voller Seligkeit Zwischen den Säulen und Zypressen herumhüpften.

An einem heißen Hochsommernachmittage ereignete es sich, dass Haduvig die Zeit ungeeigneter als je für eine Rechenstunde ansah. In der Dreiuhrpause tollten die Mädchen der kräftigen Hitze ungeachtet im Kreuzgang umher. Dabei entdeckte Haduvig, dass die eherne Kirchtür unverschlossen war, und sie schlüpfte in den geheiligten Raum hinein, um die andern durch ihr Verschwinden zu necken.

Drinnen war es lieblich kühl und still. Die Kirche war zum Teil nach einem Brand in gotischer Zeit erneuert worden. Edle Säulen hoben nun das Gewölbe so hoch empor, dass man seiner fast vergaß und frei atmete wie unterm Himmel. An den Chorstühlen gab es geschnitzte Heilige zu sehen, voll Tugend und Verstand in den ernsten Gesichtern. Die meisten trugen das Werkzeug in der Hand, mit dem sie einst auf Erden waren gemartert worden. Diese leidensvollen Männer und Frauen betrachtete Haduvig einen nach dem andern, prüfte auch schaudernd ihre Attribute und fing an darüber nachzudenken, wie sie sich als gepeinigte Märtyrerin benehmen würde. Da sie aufrichtig genug war, sich in dieser eingebildeten Lage die kläglichste Rolle der Welt spielen zu lassen, wurde sie immer nachdenklicher und verfiel in böse Zweifel über ihre Seelenbeschaffenheit, wie wenn die Bestimmung jedes auf Rechtlichkeit Anspruch machenden Menschen wäre, auf einem Roste langsam gebraten zu werden. Hierüber vergaß Haduvig nicht ungern die Rechenstunde, machte sich überhaupt darüber weniger Gedanken als über ihre geringe Begabung zum Märtyrertum und fuhr fort, als einmal die Rechenstunde unwiederbringlich versäumt war, die andachtsvolle Feierlichkeit der Kirchenhalle in sich hinein zu atmen.

Als ihr nach geraumer Zeit der Nachmittagskaffee in den Sinn kam, begab sie sich in den Klostergarten, fand aber die Tür, die in das Schulhaus führte, abgeschlossen, denn es war bereits mehr als eine Stunde seit dem Abschluss dieses Schultages verflossen.

Der Schrecken hierüber veranlasste die einsame Haduvig, sich einen zarten roten Schimmer um die braunen Augen zu weinen, dann trocknete sie ihre Tränen mit einem unverhältnismäßig großen Taschentuch und bedachte ihre Lage. Dieselbe hatte sich insofern verändert, als inzwischen der Küster auch die eherne Tür geschlossen hatte, so dass das abenteuernde Schulmädchen nun ganz in den Kreuzgang und den Klostergarten gebannt war. Es gab da immerhin genug zu sehen und zu beobachten, und Haduvig fing allmählich an, sich sehr wohl aufgehoben und zu Hause zu fühlen.

Die Mauer, welche den Garten einfriedigte, war in der Höhe des Kreuzganges ganz von bogentragenden Säulchen durchbrochen; zwischen je zweien war gerade Platz genug für ein schmales Ding wie Haduvig war. Dort hinauf schwang sie sich, setzte sich gemütlich zurecht und betrachtete bald die feierliche Gestalt der Zypressen, bald die kurzen Säulenstämmchen neben sich oder gegenüber, bis sie in aller Zufriedenheit fest einschlief.

Als Haduvig wieder erwachte, war es tiefe Dämmerung geworden. Der Milchglashimmel war dunkelblau angelaufen und mit mehreren Sternen besetzt, unter denen ein großer, stiller Planet war. Der kleine Garten war schwach beleuchtet. Es schien, als hätten sich die Zypressen höher gereckt, und der Brunnen plätscherte anders als am Tage, gleichsam den Anfang einer süßen Melodie, die er zwar nie vollendete, dadurch aber die lauschende Seele in banger und dennoch wonniger Spannung hielt. Haduvig wagte nicht, sich zu rühren, und wusste nicht, ob sie sich freute oder fürchtete. Wie alles so unverändert still und schön blieb, kam sie sich wie verzaubert vor und die allerwundervollsten Gedanken spielten in ihrem Kopfe. So dachte sie daran, wie es wäre, wenn sie als ein Klosterschülerlein dasäße, eins von denen, deren feine, bleiche Knochen irgendwo da herum, seit vielen hundert Jahren unterm Grabstein verscharrt sein mochten.

Indem sie sich mit schwesterlicher Zärtlichkeit das ernsthafte und kunstreiche Bübchen vorzustellen bemühte, wurde sie gewahr, wie sich im Kreuzgang, der den Garten auf der Seite, ihr gerade gegenüber begrenzte, etwas bewegte. Sie erschrak heftig und umklammerte die Säule, an die geschmiegt sie saß. Deutlich unterschied sie, dass es ein Mönch war, der, eine Kerze in der Hand, sich langsam fortbewegte. Sein Haupt war gesenkt und die Kutte fiel halb darüber. Er kam nur langsam, langsam vorwärts, obgleich er mehr schwebte als schritt; Haduvig gewann Zeit, ihrem laut klopfenden Herzen beschwichtigend zuzusprechen. Sie machte sich klar, dass sie es mit einem jener Mönche zu tun hatte, die hier vor wer weiß wie langer Zeit ihr verschwiegenes Leben geführt hatten.

Am Tage toste die Windsbraut der Mädchenschule in diesen stillen Räumen. War es nicht billig, dass sie wenigstens in der Nacht wieder denen gehörten, denen sie so lange eine teures Heim und eine heilige Stätte gewesen waren? Während Haduvig sich das überlegte, war der Wandelnde ihr immer nähergekommen, so dass sie sein Gesicht sehen konnte.

Er war noch jung; unter der Kutte hervor fielen Haare von einer Farbe wie Sonnenstrahlen, auf die man Asche gestreut hat. Sehr merkwürdig war das Blau seiner Augen, nämlich ähnlich dem der Waldglockenblume, in deren Kelch aber, statt des Stempels, eine Flamme eingehüllt wäre und sie durchleuchtete. Mehr noch glichen die Augen einem Amethyst, denn sie waren voll Feuer und Licht und kalt zugleich wie Edelsteine. Das Schönste aber in seinem Gesicht und das Traurigste war sein Mund, den man fast nicht ansehen konnte, ohne zu weinen.

Der Mönch war in sein Beten versunken, die Augen senkte er jedoch dabei nicht, sondern richtete seinen Blick gerade vorwärts, als betrachte er etwas, das vor ihm hange oder schwebe, oder als erwarte er, dass es erscheine. So außerordentlich schmerzhaft war die Sprache seiner Mienen, dass Haduvig vom allerheftigsten Mitleid bewegt wurde und bereits nach dem Mute rang, ihn um die Ursache solchen Leidwesens zu befragen. Dennoch wagte sie es nicht, als er ganz nahe an ihr vorbeikam; sie beschloss zu warten, bis er das zweite Mal an dieselbe Stelle gelangt sei. Sie sah nun auch, dass seine Füße nackt waren. Sie waren schlank geformt und seltsamerweise durchsichtig, ebenso wie seine Hände, von denen eine die wächserne Kerze trug, während die andere einen dunklen Rosenkranz durch die Finger perlen ließ.

Der Mönch ging an Haduvig vorüber, ohne Menschennähe zu ahnen. Jedes Mal wenn eine Säule den langsam Wallenden verdeckte, stand ihr Herz still vor Angst, er möchte ganz und gar verschwinden, bis er sich wieder ablöste von dem steinernen Stamme und dem nächsten zuglitt. Alle Furcht hatte sie nun von sich geworfen. Sie wartete, bis der Mönch wieder in ihre Nähe käme, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, und nahm sich vor, folgendes zu sagen: "Du, friert es dich nicht an den Füßen, oder sind sie von Glas?" einesteils, weil dieser Umstand wirklich ihre Neugierde spannte, anderseits weil es ein unschuldiger und gefahrloser Beginn für eine Unterhaltung mit einer so unaufgeklärten Erscheinung zu sein schien.

Sie beugte sich etwas vor, als er näherkam, damit er sie gleich sähe. In dem Augenblicke, als er ihr gerade dicht gegenüber war, wandte er plötzlich den Kopf nach ihr und sah sie an mit seinen amethystfarbigen Augen. Der Blick war zu fühlen, als hätte er mit seinen Augen ein glühendes Häkchen in ihre geworfen, nach der Art wie es Schiffe tun in einer Seeschlacht; es war schön und unheimlich zugleich. Haduvig konnte ihm nun ganz ins Gesicht sehen; so unglaublich wehmutsvoll war dessen Ausdruck, dass sie voller Mitleid und Schrecken die Hände faltete und ihre Frage nach den Glasfüßen vergaß.

Der Mönch glitt weiter, obwohl er das in das Bogenfenster geschmiegte Mägdlein noch immer ansah. Da war es ihr, als verscherze sie den hehrsten Augenblick ihres Lebens, wenn sie den Mönch jetzt weitergehen ließe, ohne ihn anzurufen, und eben öffnete sie die zitternden Lippen, als die Schulhaustür in ihren Angeln krachte und sie bewog, nach jener Richtung zu blicken.

Es erschienen nun in dem Kreuzgang Haduvigs Vater und der Rechenlehrer Mathias Bumper, der letztere mit einer Laterne ausgerüstet, beide in Schlapphüten und großen Mänteln. Aber sie hatten freilich nicht gewusst, wann und wo sie die vermessene Ausreißerin finden würden.

"Papa," rief Haduvig, welcher eine Ahnung von den inzwischen vorgefallenen Ereignissen der Oberwelt aufging.

"Haduvig, Kind, Maus!" antwortete der Vater, ohne noch zu wissen, woher sich das Stimmlein zu ihm geschwungen hatte.

Als er sie nun aber in dem zierlichen Steinrahmen schweben sah, halb neugierig, halb ängstlich auf ihn herunterblickend, konnte er sich lauten Lachens nicht erwehren, fing das herunterhüpfende Ding in seinen verhältnismäßig gewaltigen Armen auf und trug sie wie einen erkämpften Beutepreis mit sich davon, so dass der leuchtende Mathias Bumper kaum zu folgen vermochte.

"Aber Haduvig, wie bist du denn da hinaufgekommen? Und war es dir denn nicht bange?" fragte er keuchend und geneigt, diesen Streich seiner Schülerin als bewunderungswürdige Unternehmung aufzufassen.

Vater Sturm dachte hierin unbefangener und sagte: "So ein Knirps hat noch gut klettern, Herr Bumper. Wenn die auf die Füße springt, so tanzt sie wie ein Ball um das Doppelte in die Höhe. Und fürchten tut sich die Hexe mehr vor der Rechenstunde, als wenn es um Mitternacht Kobolde schneite. Oh du Irrwisch, was für Sorgen hast du deinen beklagenswerten Eltern gemacht!'"

"Ich wollte, ihr wäret eine halbe Stunde später gekommen", sagte Haduvig etwas kleinlaut, aber aufrichtig.

"So" rief der Vater, "sollen wir dich etwa wieder auf deinen Platz tragen und vor der Tür warten, bis es dir verleidet? Oh Haduvig, ich fange an zu bemerken, dass wir dich ganz ungenügend erzogen haben! Jetzt kommst du augenblicklich ins Bett und nimmst eine heiße Suppe, oder was dir deine Mutter unterdessen bereitet hat, und schläfst ohne Widerworte."

Diese Androhung ließ Haduvig über sich ergehen und schlang ihre Ärmchen mit besonderer Zärtlichkeit um den väterlichen Hals, obwohl sie im Herzen sehnlichst an den Klostergarten dachte. Herr Mathias Bumper geleitete den Vater schweigend nach Hause, seinerseits in Gedanken versunken, und behielt sich vor, auf dem Wege liebevoller Ermahnung diesem Ereignis noch gründlicher auf die Spur zu kommen.

So sehr sich aber Haduvig von dem sinnigen Wesen ihres Lehrers angemutet stählte, in diesem einen Falle blieb sie auch ihm gegenüber verschlossen, sogar als er folgendermaßen zu ihr sprach: "Mich nimmt wunder, wie es mit der Aussage meines seligen Freundes, des Professors Johann Kaspar Blinzel, beschaffen ist, der ein achtbarer und zuverlässiger Mann war und gehört haben will, wie nachts draußen im Kreuzgang von hohlen Jammerstimmen das Media vita gesungen wurde. Als er die Tür ein wenig öffnete und durch die Spalte hinauslugte, erblickte er auf und ab tanzende Lichtchen wie eine Kette von Glühwürmern oder Johanniskäfern zwischen den Säulen; es waren das die Kerzen gespenstischer Mönche, die hier eine mitternächtliche Prozession aufführten. Alter Spuk und Zauber verschwand, als mein würdiger Kollege und Freund mit einer irdischen Laterne völlig in den Garten heraustrat. Dass dies wahr ist, könnte ich selbst eidlich erhärten. Der Verstorbene nahm mir damals das Versprechen steten Stillschweigens ab, damit die kindlichen Gemüter nicht verstört würden, welches ich hiermit dir gegenüber breche, da du ja selbst an diesem Orte wärest und ähnliche Erfahrungen gemacht haben kannst."

So wichtig diese Eröffnung aber auch für Haduvig war, ließ sie sich davon doch nichts anmerken und behauptete kühnlich, sie habe nichts gesehen als ein paar Sterne und nichts gehört als das rieselnde Brünnlein.

Von nun an ging mit dem vierzehnjährigen Irrwisch eine solche Veränderung vor sich, dass nichts an ihr gleichblieb als ihre Unzulänglichkeit im Rechnen. Träumerisch war sie wohl von jeher gewesen, aber in sprunghafter Weise –– nun hingegen andauernd, zweckmäßig und methodisch. Denn sie dachte immerwährend an den Mönch mit den amethystfarbigen Augen und was die Ursache seiner unerhörten Traurigkeit sein könnte. Sie wäre für ihr Leben gern wieder einmal im Kreuzgang geblieben, aber es. war leicht einzusehen, dass man sie bei einer zweiten Gelegenheit zuallererst dort suchen würde. So blieb ihr nichts, als der erlebten Begegnung nachzusinnen und eine dereinst folgende sich auszumalen. In diesem letzteren war sie unerschöpflich. Da sie aus Erfahrung wusste, dass Erwünschtes, wenn es kommt, stets anders in Erscheinung tritt, als man es sich vorstellte, nahm es sie bei jeder neuen Variation ihres Geistes mehr wunder, wie die erfinderische Wirklichkeit sich wohl aushelfen würde, um sie mit etwas Eigenem, Ungeahntem zu überraschen.

Im übernächsten Winter erhielt Haduvig Tanzstunde,-ihre Eltern erhofften davon eine erfrischende Wirkung auf das kopfhängerisch gewordene Hexlein und Sonntagskind. Sie aber verachtete die langen, gesunden Bengel und Gymnasiasten über alle Maßen, und wenn sie deren ungestalte Lederstiefel durcheinander stolpern sah, mahnte es sie mit einem holden Schauer an die durchsichtigen Geisterfüße des nachtwandelnden Mönchs. Sie selbst war zwar leicht wie eine Feder und flink wie ein Hase, aber das Schleifen, Neigen und Wiegen im Takte wollte der rastlosen Seele nicht gut gelingen, und sie machte die mühseligsten Erfahrungen mit dem Tanzlehrer, welcher keinen Spaß verstand.

Freilich war sie trotzdem die allerniedlichste und allerbegehrteste Tänzerin und gerade der Umstand, dass sie wenig und dann meist abfällig, oft mit vernichtender Herbigkeit redete, brachte den schuldlosen Gymnasiasten eine überaus günstige Meinung von ihr bei.

Indessen sind unklare Verhältnisse in Tanzstunden unzulässig, da man nicht viel Zeit hat und die Paare beieinander sein müssen, wenn es ans Tanzen geht. Daher griffen die Knaben herzhaft zu und die persönliche Auslese, das Zeichen einer erhabenen Kulturstufe, wurde durch die dringliche Not der Zeit etwas beeinträchtigt. Haduvig, obwohl mancher sie gern zur Partnerin gehabt hätte, bekam infolge ihrer umständlichen Sprödigkeit keinen Stammgast des Herzens, blieb hingegen immer umschwärmt und eine angesehene Ausnahmeperson.

Diese Verhältnisse wurden von niemand mit mehr Ungunst betrachtet als von Vetter Fritz. Es missfiel ihm, der auch einmal Tanzstunde gehabt hatte und wusste, was anständig und üblich war, dass Haduvig gegen alles Herkommen keinen besonderen, im Wechsel dauernden Tänzer hatte. Den Zustand, der sich anstatt dessen herausgebildet hatte, nannte er Haduvigs Koketterie.

Er wählte einen Augenblick, wo seine Cousine in einem weißen Kleid mit winzigen blutroten Pünktchen, wie ein tropischer Schmetterling, zur Tanzstunde bereit saß, ihr diese Entartung in scharfen Worten vorzuhalten. Altes Lebensfeuer wurde in Haduvig angefacht, ein Funke um den andern sprühte von ihren Augen ab, bis die lichten Flammen herausschlugen.

"Erstens", sagte sie, "hast du mir überhaupt nichts zu sagen."

Über diese grundsätzliche Frage erhob sich ein Streit, der zu keinem abschließenden Ergebnis führte. Haduvig brach ihn deswegen ab, indem sie sagte, "und überhaupt, was du von Koketterie sagst, das lügst du."

Fritz hätte gern zuerst die Frage erledigt, ob man in feiner Gesellschaft und unter Verwandten, nun gar vom jüngeren zum älteren Verwandten, sich Lügen vorwerfen dürfe. Allein Haduvig erledigte das wieder mit der überzeugenden Erklärung: "Lögest du nicht, brauchte ich es dir nicht vorzuwerfen. Du lügst aber, denn erstens warst du nie in der Tanzstunde und hast mich also nie dort gesehen. Und zweitens, wenn du mich auch vielleicht Schlittschuhlaufen gesehen hast, so kann ich nichts dafür, wenn die Jungen mir nachlaufen, und ich ginge überhaupt viel lieber ins Kloster als in die Tanzstunde."

Über diese letzte, unerwartete Mitteilung brach Haduvigs Vater, welcher dem Streit mit unparteiischer Teilnahme zugehört hatte, in ein unbändiges Gelächter aus, was seine Tochter veranlasste, erst die Locken zu schütteln wie ein Pudel nach dem Bad und dann versuchsweise ein wenig mit dem Fuße zu stampfen. Dies wiederum hielt ihr Fritz als unmädchenhaftes Betragen vor, so dass es zu den tödlichsten Auseinandersetzungen hätte kommen können, wenn die Mutter nicht dem rotpunktierten Kind einen großen Mantel umgebunden, ihm eine Kapuze aufgesetzt und es dergestalt mit sich fortgezogen hätte. Fritz begleitete die Verwandtschaft bis zum Tanzstundenhaus, unzufrieden mit sich selbst und von Haduvig in Ungnade entlassen.

Seitdem betrachtete sie ihren Vetter als ihren ausgemachten Feind. Ihm hingegen war es noch peinlicher zumute: in der höllischen Beleuchtung gerüchteweiser Koketterie fing ihm seine Cousine an neu und anziehend zu erscheinen, wenn auch als der Rettung und Besserung bedürftig. Mit einem Male war sie ihm nähergetreten als je zuvor und zugleich ins Grenzenlose entrückt. In seinem Herzen gewann der Hass gegen sich selbst über den Hass gegen den bunten Tanzstundenschmetterling die Oberhand, je mehr der Verlauf der Ereignisse ihn über das Unbegründete seiner einst erhobenen Anklage belehrte.

Haduvig war, vermöge langen Grübelns, dem heimlichen Kummer des Mönchsbildes auf die Spur gekommen. Sie überlegte sich, dass der Kreuzgang mit dem Garten das letzte Übergebliebene eines ehemaligen Klosters war, das fromme Inbrunst einst erbaut und kriegerischer Mut der Protestanten niedergerissen hatte. Vernunftvolles Predigen ergoss sich in der Kirche, wo einst der Leib des Herrn erhöht und der schwärmerische Weihrauch verbrannt war, wo die prächtigen lateinischen Hymnen feierlich erklungen waren. Das alles hatte man Haduvig als päpstisches Geplärr und leeres Geklingel geringschätzen gelehrt, denn ihre Vaterstadt war eine der Erstlinge der neuen Religion gewesen und hatte mit streitbaren Fäusten den verweichlichten Katholizismus niedergestreckt, worüber die Epigonen noch fortfuhren, sich behaglich in die Brust zu werfen und ein unschuldiges Siegerbewusstsein im Geiste aufzubewahren.

Zum ersten Mal fiel es Haduvig ein, alle diese Dinge von einem entgegengesetzten Standpunkt zu betrachten. Waren es nicht dieselben, die der stille, schöne Mönch seit Jahrhunderten verzweifelnd und ruhelos suchte auf der Stätte seines Erdenwandelns?! Bei jungen Jahren lernte Haduvig so die schwindelhafte Wonne des Rebellierens kennen und die waghalsige, bängliche Lust, im eigenen Geistesschiffchen auf Entdeckungsreisen auszufahren. Obwohl es ihr aber dazu nicht an Kühnheit und Abenteuerlust gebrach, diese Eigenschaften waren doch nur ein ziervolles Gerank um einen festen, bürgerlichen Kern herum, der breitspurig dastand wie eine ägyptische Pyramide. Täglich empfingen Pyramide sowohl wie Gerank Nahrung und Befestigung in dem eines Herbstes beginnenden Konfirmationsunterricht.

Der erste Mensch, dem Haduvig etwas von ihren Zweifelsqualen mitteilte, war Herr Mathias Bumper. Seinen Rechenstunden war sie allerdings mittlerweile entwachsen, aber sie bewahrte ihm ein ehrenvolles Gedächtnis und setzte ihm einen Denkstein in dem verlorenen Paradies ihrer Jugend. Denn das schien ihr weit dahinten zu liegen, seit sie sich in das Schlachtgemenge zweier entgegengesetzten Geistesrichtungen geworfen hatte.

Eines Nachmittags verließ Haduvig gleichzeitig mit Herrn Bumper das Schulhaus. Nachdem sie ihm Erlaubnis erteilt hatte, das traute Du der unteren Klassen beizubehalten, wagte er es, sich väterlich nach ihrem Tun und Treiben zu erkundigen, vor allem nach der Ursache ihres veränderten Wesens voll ernsthafter Zerstreutheit, Wangenblässe und Menschenscheu. Indem Haduvig diese Frage beantworten wollte und einsah, wie ganz unvermögend sie dazu war, kam ihr erst recht zum Bewusstsein, was sie alles in letzter Zeit gelitten hatte. Sie sah so kummervoll aus wie eine Elfenjungfrau, die vor dem christlichen Läuten und Beten aus ihrem angestammten Walde flüchten muss. Einleitungsweise begann sie: "Die Konfirmandenstunde ist mir ein Leidwesen."